Fremde Gäste - Sarah Waters - E-Book

Fremde Gäste E-Book

Sarah Waters

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Beschreibung

London, 1922. Die 28-jährige Frances Wray und ihre Mutter sind gezwungen, Untermieter in ihrem Stadthaus aufzunehmen, um über die Runden zu kommen, seit der Vater und die beiden Brüder im Krieg gefallen sind. Mit der Ankunft von Lilian und Leonard Barber, einem modernen jungen Ehepaar, ändern sich die Atmosphäre und die Routinen des Hauses auf ungeahnte Weise. Und als sich eine zarte Liaison zwischen den beiden jungen Frauen anbahnt und das anfängliche Misstrauen des Ehemannes in blanken Hass umschlägt, nimmt eine Tragödie unaufhaltsam ihren Lauf ...

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Seitenzahl: 991

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungErster Teil123456Zweiter Teil78910Dritter Teil11121314151617Anmerkung der AutorinDanksagung

Über dieses Buch

London, 1922. Die 28-jährige Frances Wray und ihre Mutter sind gezwungen, Untermieter in ihrem Stadthaus aufzunehmen, um über die Runden zu kommen, seit der Vater und die beiden Brüder im Krieg gefallen sind. Mit der Ankunft von Lilian und Leonard Barber, einem modernen jungen Ehepaar, ändern sich die Atmosphäre und die Routinen des Hauses auf ungeahnte Weise. Und als sich eine zarte Liaison zwischen den beiden jungen Frauen anbahnt und das anfängliche Misstrauen des Ehemannes in blanken Hass umschlägt, nimmt eine Tragödie unaufhaltsam ihren Lauf …

Über die Autorin

Sara Waters stammt aus Wales und lebt als freie Schriftstellerin in London. In UK ist sie längst ein Star mit einer begeisterten Leserschaft. Nun hat sie auch im Ausland für Furore gesorgt: Ihr für den Booker Prize und den Orange Prize nominiertes, in unzähligen Rezensionen hochgelobtes, für eine Verfilmung optioniertes neuestes Werk, The Little Stranger, wurde in 35 Länder verkauft.

Sarah Waters

FREMDEGÄSTE

Roman

Aus dem Englischenvon Ute Leibmann

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Paying Guests«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Sarah Waters

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Massimo Peter

Einband-/Umschlagmotiv: © Arcangel/Nic Skertena

E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-2304-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Judith Murray,

Erster Teil

1

Die Barbers hatten angekündigt, dass sie gegen drei kommen wollten. Es ist, als würde man auf den Beginn einer Reise warten, dachte Frances. Ihre Mutter und sie hatten den ganzen Vormittag immer wieder angespannt auf die Uhr geschaut. Gegen halb drei hatte Frances noch einmal wehmütig die Zimmer durchgewischt – zum letzten Mal, wie sie glaubte –, anschließend hatte sie versucht, sich innerlich für das zu rüsten, was da kommen würde, darauf war eine Phase zunehmender Ernüchterung gefolgt, und nun, um beinahe fünf Uhr, war sie schon wieder hier und lauschte dem Widerhall ihrer eigenen Schritte. Sie verspürte keinerlei Sympathie für die karg möblierten Zimmer und wartete nur noch ungeduldig darauf, dass das Ehepaar endlich ankam und einzog, damit sie es hinter sich hatten.

Sie stand am Fenster des größten Raumes, der noch vor Kurzem das Schlafzimmer ihrer Mutter gewesen war und jetzt den Barbers als Wohnzimmer dienen würde, und blickte auf die Straße hinaus. Es war ein sonniger, aber diesiger Nachmittag. Der Wind wehte kleine Staubwolken vom Bürgersteig und der Straße auf. Die stattlichen Villen auf der anderen Straßenseite starrten ihr mit sonntäglicher Leere entgegen – doch das taten sie eigentlich an jedem Tag der Woche. Hinter der nächsten Straßenecke befand sich ein größeres Hotel, und gelegentlich kamen Autos und Pferdedroschken auf ihrem Weg dorthin durch diese Straße; manchmal spazierten auch Leute am Haus vorbei, vielleicht um frische Luft zu schnappen. Doch alles in allem blieb Champion Hill eher für sich. Die Häuser hatten große Gärten mit dicht belaubten Bäumen. Man würde niemals vermuten, dass gleich am Fuße des Hügels das schäbige Camberwell lag. Und man konnte sich erst recht nicht vorstellen, dass nur ein paar Kilometer weiter nördlich London war, Glanz und pralles Leben.

Sie hörte ein Motorengeräusch und wandte den Kopf. Ein Lieferwagen näherte sich dem Haus. Das konnten sie doch wohl nicht sein? Sie hatte mit einem Pferdewagen gerechnet oder sogar damit, dass das Ehepaar zu Fuß ankommen würde. Aber tatsächlich: Der Lieferwagen hielt mit ohrenbetäubend quietschenden Bremsen am Straßenrand, und jetzt konnte sie auch die Gesichter in der Fahrerkabine ausmachen, die zu ihr emporschauten: der Fahrer, Mr Barber und in der Mitte zwischen beiden Mrs Barber. Plötzlich fühlte sie sich hinter ihrer Fensterscheibe wie auf einem Präsentierteller und hob zaghaft lächelnd die Hand zu einem Gruß.

Dann ist es nun also so weit, sagte sie sich, das Lächeln immer noch im Gesicht festgefroren.

Es war ganz und gar nicht wie der Beginn einer Reise, eher wie das Ende, wenn man gar nicht aus dem Zug aussteigen will. Widerstrebend verließ sie ihren Platz am Fenster, ging die Treppe hinunter in die Eingangshalle und rief mit übertriebener Fröhlichkeit in den Salon: »Sie sind da, Mutter!«

Während sie die Vordertür öffnete und auf die Vortreppe hinaustrat, waren die Barbers aus dem Lieferwagen gestiegen und schon damit beschäftigt, ihre Sachen von der Ladefläche herunterzuholen. Der Fahrer, ein junger Mann, half ihnen dabei. Genau wie Mr Barber trug er einen Blazer und einen gestreiften Schlips. Er hatte auch ein ähnlich schmales Gesicht und leger frisiertes Haar ohne Pomade, sodass Frances einen Moment lang unsicher war, bei welchem der beiden Männer es sich eigentlich um Mr Barber handelte. Sie war dem Ehepaar erst ein Mal begegnet, an einem regnerischen Aprilabend vor knapp zwei Wochen, und da war der Ehemann direkt aus dem Büro gekommen und hatte Regenmantel und Melone getragen.

Doch jetzt erinnerte sie sich wieder an seinen rötlichen Schnauzbart und den rotgoldenen Ton seiner Haare. Der andere Mann hatte blondes Haar. Die Ehefrau, die beim letzten Mal eher schlicht und unscheinbar gekleidet gewesen war, trug nun einen fransenbesetzten Rock und einen dunkelroten Pullover. Der Rocksaum endete bestimmt fünfzehn Zentimeter oberhalb ihrer Knöchel. Der Pullover war lang, und obwohl er keineswegs eng anlag, betonte er doch die Rundungen ihrer Figur. Ebenso wie die beiden Männer trug sie keinen Hut. Ihr dunkles Haar war kurz geschnitten; vorn lockte es sich über ihre Wangen, im Nacken dagegen war es so kurz, dass es an eine raffiniert geschnittene schwarze Kappe erinnerte.

Wie jung sie aussahen! Die Männer wirkten kaum älter als Schuljungen, und dabei hatte Frances bei ihrer letzten Begegnung geschätzt, dass Mr Barber etwa in ihrem Alter war, sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig. Mrs Barber hatte sie auf dreiundzwanzig geschätzt. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Während sie den gepflasterten Vorgarten durchquerte, hörte sie ihre aufgeregten, sorglosen Stimmen. Sie hatten einen Schrankkoffer vom Wagen geladen und so unvorsichtig abgesetzt, dass Mr Barber sich dabei offensichtlich die Finger eingeklemmt hatte. »Jetzt lach doch nicht!«, rief er seiner Frau gespielt vorwurfsvoll zu. Da erinnerte sie sich wieder an ihren aufgesetzt kultivierten Akzent, der klang, als hätten sie ihn mühevoll in der Sprecherziehung eingeübt.

Mrs Barber ergriff seine Hand. »Lass mal sehen. Ach, da ist doch gar nichts!«

Er zog die Hand wieder zurück. »Ja, jetzt ist da nichts. Aber warte mal ein paar Minuten ab. Menschenskind, das tut vielleicht weh!«

Der andere Mann rieb sich die Nase. »Seht mal.« Er hatte Frances am Gartentor erblickt. Die Barbers wandten sich, immer noch lachend, um, sodass es plötzlich schien, als gelte das Gelächter ihr, was nicht sehr angenehm war.

»Da sind Sie ja«, sagte sie und trat zu den dreien auf den Bürgersteig hinaus.

Mr Barber, immer noch halb lachend, erwiderte: »Ja, da sind wir! Und wie man sieht, schaden wir schon dem Ansehen der Straße!«

»Ach, das erledigen meine Mutter und ich schon.«

Mrs Barber sprach mit größerer Ernsthaftigkeit. »Es tut uns leid, dass wir erst so spät kommen, Miss Wray. Ich weiß gar nicht, wo die Zeit geblieben ist. Sie haben doch hoffentlich nicht auf uns gewartet? Man könnte wirklich meinen, wir wären aus dem nördlichsten Winkel Schottlands angereist.«

Tatsächlich waren sie aus Peckham Rye gekommen, keine zwei Meilen entfernt. »Manchmal dauern die kürzesten Reisen eben am längsten«, sagte Frances.

»In der Tat«, stimmte Mr Barber zu. »Vor allem, wenn Lilian dabei ist. Mr Wismuth und ich waren Punkt eins abfahrbereit. – Das ist übrigens mein Freund Charles Wismuth, der uns netterweise den Lieferwagen seines Vaters zur Verfügung gestellt hat.«

»Ihr wart gar nicht fertig!«, rief Mrs Barber, während Mr Wismuth grinsend vortrat und Frances die Hand schüttelte. »Miss Wray, die beiden waren wirklich nicht fertig!«

»Wir haben doch längst auf dich gewartet, während du immer noch deine Hüte sortiert hast!«

»Wie auch immer«, sagte Frances, »nun sind Sie ja hier.«

Möglicherweise hatte ihr Tonfall ein wenig kühl geklungen. Die drei jungen Leute wirkten plötzlich, als habe man sie gescholten, und mit einem Blick auf seinen verletzten Fingerknöchel begab sich Mr Barber wieder zur Ladefläche des Lieferwagens. Über seine Schulter hinweg gelang es Frances, einen Blick auf das zu erhaschen, was sich im Wagen befand: ein Durcheinander von prall gefüllten Koffern, ineinander verhakten Stuhl- und Tischbeinen, etliche Bündel Bettzeug, gerollte Teppichläufer, ein tragbares Grammofon, ein Vogelkäfig aus Weidenrohr, ein bronzeglänzender Aschenbecher auf einem Marmorständer. Die Vorstellung, dass alle diese Gegenstände gleich in ihr Haus getragen würden – und dass diese Leute, die nicht ganz dem Ehepaar aus ihrer Erinnerung entsprachen, die jünger und unbesonnener waren, sie gleich hereintragen und aufstellen und sich darin häuslich einrichten würden –, diese Vorstellung löste einen Moment lang Panik in ihr aus. Was um alles in der Welt hatte sie nur getan? Plötzlich hatte sie das Gefühl, als öffnete sie Dieben und Eindringlingen das Haus.

Aber es gab ja keine andere Lösung, um das Haus überhaupt zu halten. Mit einem entschlossenen Lächeln trat sie zum Lieferwagen und bot ihre Hilfe an.

Die Männer wollten jedoch nichts davon wissen. »Kommt gar nicht infrage, Miss Wray.«

»Nein, wirklich, das ist nicht nötig«, versicherte auch Mrs Barber. »Len und Charlie kümmern sich darum. Es ist ja auch kaum was zu tun.« Dabei betrachtete sie die Gegenstände, die sich um sie herum sammelten, und tippte sich nachdenklich mit dem Finger an den Mund.

Nun erinnerte sich Frances wieder an diesen Mund: ein Mund, der, wie sie für sich gedacht hatte, mehr aus dem Außen als einem Innen zu bestehen schien. Heute trug er einen Hauch Farbe, den sie beim letzten Mal nicht gesehen hatte, und jetzt fiel ihr auch auf, dass Mrs Barbers Augenbrauen schmal und in Form gezupft waren. Diese modischen Details verstärkten noch ihr Gefühl der Unsicherheit; sie kam sich altjüngferlich vor mit ihren hochgesteckten Haaren, dem kantigen Körper und der Bluse, die sie in den Rock mit der hochgeschnittenen Taille gesteckt hatte, wie es zu Kriegszeiten Mode gewesen war. Schließlich war der Krieg schon seit vier Jahren vorüber. Als sie sah, wie Mrs Barber, ein Tablett voller Zimmerpflanzen im Arm, mühsam versuchte, ihre Hand durch den Griff einer Basttasche zu schieben, sagte sie: »Lassen Sie mich wenigstens die Tasche tragen.«

»Oh, das schaffe ich schon.«

»Also, irgendwas kann ich wirklich tragen.«

Schließlich bemerkte sie, dass Mr Wismuth ihr den hässlichen Standaschenbecher aus dem Wagen reichte. Sie nahm ihn entgegen, ging damit durch den Vorgarten und hielt die Haustür auf. Mrs Barber folgte ihr vorsichtig die Treppen zum Eingang hinauf.

Auf der Schwelle zögerte sie jedoch einen Moment, schaute an dem Farnkraut auf ihren Armen vorbei in die Eingangshalle und lächelte.

»Es ist genauso hübsch, wie ich es in Erinnerung habe.«

Frances wandte sich um. »Tatsächlich?« Wenn sie sich umblickte, schrie ihr von überall nur Unaufrichtigkeit entgegen: die Schrammen und Risse im Putz, die sie mühevoll übertüncht hatte, die kahle Stelle, vor der einmal die große Standuhr platziert gewesen war, die sie bereits vor sechs Monaten hatten verkaufen müssen; der blank geputzte Gong, der schon seit Jahren nicht mehr genutzt wurde, um zu den Mahlzeiten zu rufen. Sie wandte sich zu Mrs Barber um, die immer noch zögerlich an der Schwelle stand. »Treten Sie doch ein. Es ist jetzt auch Ihr Haus.«

Mrs Barber hob die Schultern, biss sich auf die Lippen und hob die Augenbrauen, um ihre freudige Erregung anzudeuten. Als sie vorsichtig in den Flur trat, traf ihr Absatz sofort eine lose Fliese und setzte diese in Bewegung. Sie kicherwte verlegen: »Ach du je!«

Frances’ Mutter tauchte an der Tür zum Salon auf. Vermutlich hatte sie gleich dahinter gewartet und sich innerlich auf ihren Begrüßungsauftritt vorbereitet.

»Herzlich willkommen, Mrs Barber«, grüßte sie mit einem Lächeln. »Was für hübsche Pflanzen! Das ist doch Tüpfelfarn, nicht wahr?«

Mrs Barber manövrierte Tablett und Tasche so in eine Hand, dass sie ihr die andere reichen konnte. »Ich muss gestehen, ich habe keine Ahnung.«

»Ich glaube schon. Es ist Tüpfelfarn – wirklich hübsch. Haben Sie gut hierhergefunden?«

»Ja, danke. Es tut uns leid, dass wir so spät dran sind.«

»Ach, das macht doch nichts. Die Zimmer laufen Ihnen ja nicht weg. Jetzt müssen wir Ihnen unbedingt erst mal einen Tee anbieten.«

»Oh, machen Sie sich bitte keine Mühe.«

»Aber Sie müssen einen Tee trinken. Man hat doch immer gern Tee, wenn man umzieht, und dann kann man die Kanne nicht finden. Ich bereite etwas vor, während meine Tochter Ihnen oben alles zeigt.« Sie betrachtete mit zweifelndem Blick den Aschenbecher. »Du hilfst auch mit, Frances?«

»Es erschien mir nur recht, da Mrs Barber so schwer beladen war.«

»Aber nein, Sie brauchen wirklich nicht zu helfen«, sagte Mrs Barber, kicherte wieder nervös und fügte hinzu: »Das wäre wirklich zu viel verlangt.«

Frances, die vor ihr die Treppen emporstieg, dachte: Wie sie lacht!

Am oberen Treppenabsatz angekommen, mussten sie wieder kurz innehalten. Die Tür zu ihrer Linken war geschlossen – sie führte in Frances’ Schlafzimmer, das einzige Zimmer im Obergeschoss, über das sie und ihre Mutter noch verfügen würden –, doch alle anderen Türen standen offen, und das sattgelbe Licht der Nachmittagssonne fiel durch die beiden Zimmer an der Frontseite des Hauses bis fast zum Treppenflur. Es zeigte unbarmherzig die Risse in den Teppichen, hob aber zugleich den Glanz des Regency-Parketts hervor, das Frances in dieser Woche mehrere Vormittage lang mit gebeugtem Rücken gebohnert hatte, bis es leuchtete wie dunkler Toffee. Mrs Barber zögerte, die polierten Dielen mit ihren hochhackigen Schuhen zu überqueren. »Das macht nichts«, sagte Frances. »Die Oberfläche wird ohnehin bald wieder stumpf.« Doch Mrs Barber erwiderte entschlossen: »Nein, ich will das Parkett nicht verderben«, stellte ihre Tasche und das Tablett mit den Pflanzen auf den Boden und streifte die Schuhe ab.

Sie hinterließ kleine feuchte Fußabdrücke auf dem Wachs. Ihre Strümpfe waren schwarz, am dunkelsten im Zehen- und Fersenbereich, wo die Seide mit aparten kleinen Verstärkungen versehen war. Während Frances in der Tür stehen blieb, betrat Mrs Barber das größte der Zimmer, wo sie sich genauso aufmerksam und anerkennend umblickte wie im Eingangsflur und jedem antiken Detail ein wohlwollendes Lächeln schenkte.

»Was für ein hübsches Zimmer! Es kommt mir sogar noch größer vor als beim letzten Mal. Len und ich werden uns darin verlaufen! Bis jetzt hatten wir doch nur unser Schlafzimmer bei seinen Eltern. Und deren Haus ist – nun ja – nicht wie dieses hier.« Sie ging durch das Zimmer zum linken Fenster, dem Fenster, an dem Frances noch vor ein paar Minuten gestanden hatte, und hielt die Hand zum Schutz gegen die Sonne vor die Augen. »Sehen Sie nur, wie schön die Sonne scheint. Beim letzten Mal, als wir hier waren, war es ganz bedeckt.«

Frances trat neben sie. »Ja, in diesem Zimmer hat man am meisten Sonne. Ich fürchte bloß, der Ausblick ist nichts Besonderes, obwohl wir so weit oben sind.«

»Aber man kann doch ein bisschen Grün zwischen den Häusern hindurch sehen.«

»Zwischen den Häusern, ja. Und wenn Sie nach Süden schauen – da runter …«, sie deutete mit der Hand in die entsprechende Richtung, »dann können Sie die Türme vom Chrystal Palace sehen. Sie müssen näher an die Scheibe kommen … Können Sie sie jetzt sehen?«

Einen Moment lang standen sie dicht nebeneinander, Mrs Barbers Gesicht berührte fast die Scheibe, ihr Atem beschlug das Glas. Ihre Augen unter den dunklen Wimpern blickten suchend in die Ferne und verharrten dann. »Oh ja, da!« Sie klang entzückt.

Doch im nächsten Moment trat sie einen Schritt zurück, blickte auf die Straße hinunter und sagte mit gutmütigem Spott in der Stimme: »Da, schauen Sie sich nur Len an – wie der herumjammert! Er ist richtig schwächlich!« Sie klopfte gegen die Scheibe und rief gestikulierend nach unten: »Lass Charlie das lieber tragen! Komm rauf und schau dir die Sonne an! Die Sonne. Siehst du nicht? Die Sonne!« Sie ließ die Hand sinken. »Er kann mich nicht hören. Egal. Wie komisch es ist, unsere Sachen da stehen zu sehen. Richtig armselig sieht das aus – wie auf einem Flohmarkt! Was mögen sich bloß Ihre Nachbarn denken, Miss Wray?«

Ja, was mochten die sich denken? Frances konnte schon die neugierige Mrs Dawson von gegenüber sehen, die so tat, als richtete sie etwas an der Verriegelung des Wohnzimmerfensters. Und da war auch Mr Lamb, der in High Croft ein Stück hügelabwärts wohnte. Er hielt in seinem Spaziergang inne und betrachtete verwirrt die prall gefüllten Koffer, die verbeulten Blechkisten, die Taschen, Körbe und Teppichläufer, die Mr Barber und Mr Wismuth der Bequemlichkeit halber an die niedrige Gartenmauer gelehnt hatten.

Sie sah, wie die beiden Männer ihm zunickten, und hörte sie grüßen. Mr Lamb zögerte und konnte sie offenbar nicht recht einordnen, vielleicht wegen ihrer gestreiften Krawatten.

»Wir sollten helfen gehen«, schlug sie vor.

Mrs Barber erwiderte: »Ja, ich gehe schon.«

Doch als sie das Zimmer verlassen hatte, ging sie nicht nach unten, sondern schlenderte in das benachbarte Schlafzimmer. Und von dort aus betrat sie das letzte Zimmer, das kleine Hinterzimmer, das gegenüber von Frances’ Schlafzimmer an der Biegung der Treppe lag. Frances und ihre Mutter nannten diesen Raum immer noch »Nellys und Mabels Zimmer«, obwohl dort seit 1916 weder Nelly noch Mabel noch irgendwelche anderen Hausmädchen gewohnt hatten, denn alle waren damals in die Munitionsfabriken gegangen. Inzwischen war das Zimmer in eine Küche umgewandelt worden, mit Anrichte und Spülbecken, mit Gasbeleuchtung und einem Gasofen sowie einem münzbetriebenen Gaszähler. Frances hatte selbst die Tapete überstrichen und den Boden abgebeizt. Den Küchenschrank und den Tisch mit der Aluminiumplatte hatte sie aus der Spülküche im Erdgeschoss nach oben geschleppt, als ihre Mutter einmal unterwegs war und ihr nicht dabei zuschauen konnte.

Sie hatte ihr Bestes getan, alles richtig zu machen. Doch als sie jetzt sah, wie Mrs Barber umherging und alles in Besitz nahm, wie sie überlegte, was hierhin und was dorthin sollte, kam sie sich eigenartig überflüssig vor, so als sei sie ein Geist ihrer selbst geworden. Verlegen sagte sie: »Ja, wenn Sie jetzt alles haben, was Sie brauchen, werde ich mal nach dem Tee schauen. Ich bin unten, falls es irgendwelche Probleme gibt. Am besten kommen Sie gleich zu mir, wenn etwas ist, und nicht zu meiner Mutter. Und … ach ja …« Sie hielt inne und griff in ihre Tasche. »Die gebe ich Ihnen lieber jetzt gleich, ehe ich es vergesse.«

Sie zog die Hausschlüssel aus der Tasche, zwei separate Schlüsselbunde. Es kostete sie Überwindung, die Schlüssel abzugeben, sie tatsächlich dieser Frau in die Hand zu legen – dieser jungen Frau, einer nahezu völlig fremden Person, die erst durch ein Inserat in der South London Press in ihr Leben getreten war. Doch als Mrs Barber den Schlüssel entgegennahm, neigte sie den Kopf in einer Geste der Anerkennung, die zeigte, dass sie die Tragkraft des Moments erkannte. Und sie sagte mit überraschendem Zartgefühl: »Danke, Miss Wray. Vielen Dank, dass Sie alles so hübsch hergerichtet haben. Ich bin sicher, dass Leonard und ich uns hier sehr wohlfühlen werden. Ja, das werden wir bestimmt. Ach ja, ich habe Ihnen natürlich auch was mitgebracht«, fügte sie hinzu, während sie die Schlüssel in ihre Basttasche räumte. Sie reichte ihr einen zerknitterten braunen Umschlag.

Darin befand sich die Miete für zwei Wochen. Achtundfünfzig Schilling. Frances konnte schon das Knistern der Geldscheine und das Klimpern der Münzen hören. Sie bemühte sich um einen geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck, während sie den Umschlag von Mrs Barber entgegennahm und ihn dann betont beiläufig in die Tasche steckte – als könne sie dadurch den Eindruck vermitteln, dass das Geld eine reine Formsache sei und nicht das Wesentliche, das Herzstück, der schäbige Kern der ganzen Angelegenheit.

Während die Männer unten keuchend eine schwere Nähmaschine mit Tretkurbel vorbeischleppten, schlüpfte sie kurz in den Salon, um einen raschen Blick auf das Geld zu werfen. Sie löste die Gummierung des Umschlags – und da war es, das ganze Geld, so wirklich, so ganz und gar ihres, dass sie am liebsten die Lippen gesenkt und die Scheine geküsst hätte. Sie faltete den Umschlag wieder zusammen, steckte ihn in die Tasche und ging mit beflügelten Schritten durch die Eingangshalle und den Flur in die Küche.

Ihre Mutter stand am Herd und hob gerade den Kessel von der Kochplatte. Dabei hatte sie den leicht gehetzten Gesichtsausdruck, den sie immer bekam, wenn sie allein in der Küche war, wie ein Passagier auf einem havarierten Kreuzfahrtschiff, den man gerade in den Maschinenraum gerufen und damit beauftragt hat, die Druckluftanzeigen zu beaufsichtigen. Sie reichte den Kessel in Frances’ ruhigere Hände weiter und machte sich daran, das Teegeschirr, Milchkännchen und Zuckerdose zusammenzusuchen. Sie stellte drei Tassen mit Untertassen auf ein Tablett für die Barbers und Mr Wismuth, dann zögerte sie mit zwei weiteren Untertassen in der Hand. Mit gesenkter Stimme fragte sie Frances: »Was meinst du, sollten wir mit ihnen Tee trinken?«

Frances zögerte ebenfalls. Wie waren die Gepflogenheiten in einem solchen Falle?

Ach, wen scherte das schon. Schließlich hatten sie das Geld. Sie nahm ihrer Mutter die Untertassen ab. »Nein, damit wollen wir lieber gar nicht erst anfangen. Nachher wird das noch zur Gewohnheit. Wir bleiben im Salon, die können ihren Tee oben bei sich trinken. Ich stelle ihnen noch einen Teller mit Keksen dazu.« Sie nahm den Deckel von der Keksdose und wollte hineingreifen.

Doch dann zögerte sie wieder. War Gebäck wirklich notwendig? Sie legte drei Kekse auf einen Teller, stellte diesen neben die Teekanne – im nächsten Moment jedoch überlegte sie es sich anders und nahm ihn wieder herunter.

Aber dann musste sie an die freundliche Mrs Barber denken, wie sie behutsam über den gebohnerten Boden gegangen war; sie dachte an die raffiniert genähten Fersenverstärkungen ihrer Strümpfe – und stellte den Teller wieder auf das Tablett zurück.

Die Männer liefen eine weitere halbe Stunde die Treppen rauf und runter, und danach konnte man längere Zeit hören, wie Möbel über den Boden geschleift und Kisten und Koffer hin- und hergeschoben wurden. Mitunter riefen sich die Barbers von einem zum anderen Zimmer etwas zu, und einmal dröhnte kurz laute Musik aus dem tragbaren Grammofon, woraufhin Frances und ihre Mutter sich entsetzt ansahen. Doch um sechs machte sich Mr Wismuth auf den Heimweg, klopfte kurz an die Salontür, um sich höflich zu verabschieden, und nachdem er fort war, wurde es ruhiger im Haus.

Allerdings war deutlich zu spüren, dass das Haus nicht mehr dasselbe war wie noch vor zwei Stunden. Frances und ihre Mutter saßen mit ihren Büchern an der Flügeltür zum Garten, um noch das letzte bisschen Tageslicht zu erhaschen, denn in den letzten Jahren hatten sie sich solche kleinen Sparmaßnahmen angewöhnt. Doch über diesem Zimmer – einem hübschen Raum, der sich über die gesamte Tiefe des Hauses erstreckte und durch Doppeltüren unterteilt wurde, die sie im Frühjahr und Sommer offen ließen – lagen zwei Zimmer der Barbers, ihr Schlafzimmer und ihre Küche, und während Frances die Seiten ihres Buches umblätterte, wurde sie sich der Anwesenheit des Ehepaares über ihnen zunehmend bewusst, störend und ungewohnt wie ein Staubkorn im Auge.

Eine Zeit lang gingen sie im Schlafzimmer auf und ab, sie hörte, wie Schubladen geöffnet und wieder geschlossen wurden. Doch dann betrat einer von ihnen die Küche, und nach einer gezielten Pause erklang ein schepperndes Geräusch, wie das uhrwerkartige Schlucken eines Monsters aus Metall. Ein Schluck, zwei Schlucke, drei Schlucke, vier. Sie starrte verwirrt zur Decke empor, bis sie begriff, dass dort oben Schillingstücke in den Zähler geworfen wurden. Kurz danach hörte man Wasser laufen, und dann erklang ein weiteres eigenartiges Geräusch, eine Art Pulsieren oder Hecheln, vermutlich wieder der Zähler, durch den nun das Gas lief. Wahrscheinlich hatte Mrs Barber einen Kessel Wasser aufgesetzt. Nun war ihr Mann bei ihr. Man hörte gedämpfte Stimmen und Gelächter … Frances ertappte sich bei dem Gedanken: Die fühlen sich offenbar ganz wie zu Hause.

Dann wurde ihr die Tragweite dieser Worte bewusst, und ihre Stimmung sank.

Während sie in der Küche ein kaltes Abendbrot improvisierte, kam das Ehepaar herunter und klopfte an die Küchentür; zuerst sie, dann er: Die Toilette war draußen im Hof, nur über die Hintertür zu erreichen, und sie mussten jedes Mal die Küche durchqueren, um dorthin zu gelangen. Sie verzogen entschuldigend das Gesicht, Frances entschuldigte sich ebenfalls. Vermutlich war diese Gegebenheit den Barbers ebenso unangenehm wie ihr. Doch bei jeder neuerlichen Begegnung nahm ihre Zuversicht ein bisschen mehr ab. Selbst die achtundfünfzig Schilling in ihrer Tasche verloren allmählich ihre Zauberkraft, und ihr schwante, wie hart sie sich dieses Geld würde verdienen müssen. Sie war einfach nicht auf den Anblick und die Geräusche der Barbers vorbereitet gewesen, die von Zimmer zu Zimmer gingen, als gehörte das Haus ihnen. Als Mr Barber beispielsweise von seinem Besuch auf dem stillen Örtchen zurückkehrte, hörte sie, wie er in der Eingangshalle stehen blieb. Sie fragte sich, was ihn da wohl aufhalten könne, riskierte einen Blick in den Durchgangsflur zwischen Küche und Eingangshalle und sah, dass er die Bilder an den Wänden musterte wie ein Museumsbesucher. Während er sich vorbeugte, um einen Kupferstich der Kathedrale von Ripon aus der Nähe zu betrachten, griff er in seine Hosentasche und zog ein Streichholz hervor, mit dem er sich dann in aller Seelenruhe zwischen den Zähnen herumstocherte.

Ihrer Mutter gegenüber ließ sie nichts von alldem verlauten. Sie hielten sich ungerührt an ihr gewohntes Abendprogramm, spielten nach dem Abendessen einige Partien Backgammon, tranken um Viertel vor zehn jede eine Tasse wässrigen Kakao und machten sich dann an ihre allabendliche Runde – das Zusammenräumen, Falten, Aufschütteln, Zuziehen und Abschließen –, die das Zubettgehen einleitete.

Frances’ Mutter verabschiedete sich als Erste. Frances verbrachte noch einige Zeit in der Küche, räumte auf und kümmerte sich um den Herd. Sie ging zur Toilette, deckte den Frühstückstisch; sie brachte die Milchkanne in den Vorgarten und hängte sie neben das Gartentor. Doch als sie wieder im Haus war und das Gaslicht im Flur herunterdrehte, sah sie, dass unter der Schlafzimmertür ihrer Mutter noch ein Lichtschein hervordrang. Obwohl sie für gewöhnlich nicht mehr zu ihrer Mutter hineinging, wenn diese sich für die Nacht zurückgezogen hatte, schien das Licht sie zu rufen. Sie klopfte an die Tür.

»Darf ich reinkommen?«

Ihre Mutter saß aufrecht im Bett, die Haare gelöst und zu Zöpfen geflochten, die herabhingen wie ausgefranste Seile. Vor dem Krieg war ihr Haar braun gewesen, so sattbraun wie Frances’ Haare, doch im Laufe der letzten Jahre war es immer stärker ausgeblichen und spröde geworden, und jetzt, mit fünfundfünfzig Jahren, hatte sie das weiße Haupt einer alten Dame. Einzig ihre Augenbrauen schwangen noch dunkel und entschlossen über ihren hübschen nussbraunen Augen. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß, ein Reisebüchlein mit dem Titel Kreuzworträtsel und andere Denksportaufgaben, und versuchte sich gerade an der Lösung eines Akrostichons.

Als Frances eintrat, ließ sie das Buch sinken und betrachtete sie über die Gläser ihrer Lesebrille hinweg.

»Alles in Ordnung, Frances?«

»Ja. Ich wollte bloß mal hereinschauen. Aber mach ruhig mit deinem Rätsel weiter.«

»Ach, das ist nur ein bisschen Zeitvertreib, damit ich gleich besser einschlafen kann.«

Doch sie blickte wieder auf die Seite herab, und anscheinend war ihr eine Lösung eingefallen, denn sie probierte das Wort lautlos vor sich hin buchstabierend aus, während sie den Stift über die Kästchen bewegte. Die ungenutzte Betthälfte neben ihr war flach wie ein Bügelbrett. Frances streifte die Hausschuhe ab und legte sich darauf, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

Dieses Zimmer war noch vor einem Monat das Esszimmer gewesen. Frances hatte die alte rote Tapete überstrichen und die Bilder umgehängt, doch genau wie bei der neu eingerichteten Küche im Obergeschoss war das Ergebnis nicht ganz zufriedenstellend. Die Schlafzimmermöbel ihrer Mutter standen so unbehaglich herum wie unwillkommene Besucher bei einer Abendeinladung; es schien ihr, als sehnten sie sich nach ihren gewohnten Dellen im Boden des oberen Zimmers. Zudem hatten einige Esszimmermöbel in diesem Raum bleiben müssen, weil sich im Haus kein anderer Platz für sie fand, und infolgedessen wirkte der Raum vollgestellt, irgendwie unzeitgemäß, und ließ – wenn auch nur vage – an das Krankenzimmer eines älteren Menschen denken. Es erinnerte sie an die Besuche bei siechen Großtanten während ihrer Kindheit. Eigentlich fehlt nur noch der schwache Geruch nach Nachtstuhl und eine Glocke, mit der sie die altjüngferliche Tochter herbeiklingeln kann, dachte sie.

Schnell verdrängte sie dieses Bild wieder. Aus dem Obergeschoss konnte man hören, wie einer der Barbers durch das Wohnzimmer lief – Mr Barber, vermutete sie, nach dem forschen, kräftigen Klang der Schritte zu urteilen. Mrs Barbers Gang klang gemessener. Sie schaute zur Zimmerdecke empor und folgte den Schritten mit ihrem Blick.

Ihre Mutter blickte ebenfalls empor. »Ein Tag der Veränderungen«, sagte sie mit einem Seufzer. »Packen sie immer noch aus? Wahrscheinlich sind sie ganz aufgeregt. Ich kann mich noch erinnern, wie dein Vater und ich hier eingezogen sind, damals waren wir auch ganz aufgeregt. Das Haus scheint ihnen zu gefallen, meinst du nicht?« Sie senkte die Stimme. »Das ist ja immerhin etwas.«

Frances erwiderte in ebenfalls gedämpftem, beinahe verschwörerischem Tonfall: »Ihr jedenfalls gefällt es, sie scheint ihr Glück kaum fassen zu können. Bei ihm bin ich mir da nicht so sicher.«

»Es ist ja auch ein schönes altes Haus. Ein eigener Hausstand – das ist viel wert, wenn man frisch verheiratet ist.«

»So ganz frisch verheiratet sind sie doch eigentlich nicht, oder? Haben sie nicht gesagt, dass sie schon seit drei Jahren verheiratet sind? Gleich nach dem Krieg, nehme ich an. Aber Kinder haben sie nicht.«

Der Tonfall ihrer Mutter änderte sich beinahe unmerklich. »Nein.« Und einen Moment später, so als ob der eine Gedanke unweigerlich zum nächsten führte, fügte sie hinzu: »Ein Jammer, dass die jungen Frauen von heute alle meinen, sie müssten sich schminken.«

Frances nahm das Buch in die Hand und betrachtete das Akrostichon. »Ja, das ist es. Und noch dazu an einem Sonntag!«

Sie spürte den prüfenden Blick ihrer Mutter. »Denk bloß nicht, dass ich es nicht merke, wenn du dich über mich lustig machst, Frances!«

Im Obergeschoss lachte Mrs Barber. Irgendein leichter Gegenstand fiel herunter oder wurde auf den Boden geworfen und rutschte über das Parkett. Frances gab die Beschäftigung mit dem Rätsel auf. »Was glaubst du, aus welchen Verhältnissen sie wohl kommt?«

Ihre Mutter klappte das Buch zu und legte es beiseite. »Wer?«

Sie deutete mit dem Kinn nach oben. »Na, Mrs B. natürlich. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr Vater so eine Art Filialleiter ist, oder? Die Mutter ist wahrscheinlich sehr bemüht, zu Hause hören sie »Indian Love Lyrics« auf dem Grammofon. Vielleicht hat sie noch einen Bruder, der es in der Handelsmarine zu was gebracht hat. Klavierunterricht für die Mädchen. Einmal im Jahr ein Ausflug in die Royal Academy.« Sie gähnte, verbarg das Gähnen hinter ihrem Handrücken und fuhr fort: »Ein Gutes hat es ja, dass sie so jung sind! Sie können uns nur mit dem Leben bei seinen Eltern vergleichen. Sie werden nicht merken, dass wir keine Ahnung von dem haben, was wir hier machen. Solange wir unsere Rolle als Hauswirtinnen überzeugend spielen, wird man sie uns auch abnehmen.«

Ihre Mutter zog ein gequältes Gesicht. »Musst du das denn so drastisch formulieren? Man könnte meinen, du wärest die Pensionswirtin vom ›Haus Meerblick‹ in Worthing.«

»Aber es ist doch keine Schande, Hauswirtin zu sein, jedenfalls nicht in der heutigen Zeit. Ich für meinen Teil habe vor, als Hauswirtin mein Bestes zu geben.«

»Wenn du nur dieses Wort nicht dauernd benutzen würdest!«

Frances musste lächeln. Doch ihre Mutter zupfte nervös an der seidenen Einfassung der Bettdecke herum, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck echter Verzweiflung angenommen. Frances wusste genau, dass sie kurz davor war auszurufen: »Ach, das hätte deinem Vater das Herz gebrochen!« Und da Frances beim Gedanken an ihren Vater selbst jetzt, fast vier Jahre nach seinem Tod, noch immer den Drang verspürte, mit den Zähnen zu knirschen, zu fluchen oder etwas entzweizuschlagen, wechselte sie rasch das Thema. Ihre Mutter war an der Organisation von zwei oder drei Wohlfahrtsaktivitäten der Gemeinde beteiligt, nach deren Entwicklung sie sich jetzt erkundigte. Sie unterhielten sich einige Zeit über den nahenden Wohltätigkeitsbasar.

Als Frances merkte, dass sich die Gesichtszüge ihrer Mutter wieder entspannten und sie lediglich müde und alt aussah, erhob sie sich vom Bett.

»Hast du alles, was du brauchst? Möchtest du vielleicht einen Keks, falls du nachts aufwachst?«

Ihre Mutter bereitete sich auf das Einschlafen vor. »Nein, ich möchte keinen Keks. Aber könntest du bitte das Licht ausschalten, Frances?«

Sie hob die Zöpfe von den Schultern und ließ den Kopf in die Kissen sinken. Ihre Brille hatte kleine Abdrücke auf ihrem Nasenrücken hinterlassen. Als Frances die Hand ausstreckte, um die Lampe zu löschen, hörte sie wieder Schritte aus dem Zimmer über ihnen, und ihre Mutter richtete ihre braunen Augen zur Decke.

»Man könnte fast denken, dass Noel oder John Arthur da oben wären«, murmelte sie, während das Licht erlosch.

Ja, tatsächlich, dachte Frances einen Augenblick später, als sie im dämmrigen Flur verharrte, das hätte man wirklich denken können, denn nun roch es auch nach Zigarettenrauch, und sie hörte Männergemurmel aus dem oberen Korridor, gefolgt von klappernden Männerpantoffeln. Und plötzlich, ohne jede Vorwarnung, als habe sie einen unerwarteten Stoß an der falschen Stelle erhalten, verspürte sie ein schmerzhaftes Ziehen im Herzen. Wie die Trauer einen immer noch überfallen konnte, nach all der Zeit. Sie musste am Fuß der Treppe innehalten, während der Schmerz sie durchfuhr. Wenn doch nur, dachte sie beim Emporsteigen der Stufen, wenn doch nur oben am Treppenabsatz einer ihrer Brüder wäre: der hagere, belesene, aber ein bisschen weltfremde John Arthur zum Beispiel, der in seinem braunen Bademantel von Jaeger und den derben Sandalen immer wie ein schrulliger Mönch gewirkt hatte.

Doch oben stand nur Mr Barber, eine Zigarette in den Mundwinkel geklemmt. Er hatte das Jackett abgelegt, die Hemdsärmel hochgekrempelt und machte sich an einem abscheulichen Objekt zu schaffen, das er offenbar gerade im oberen Flur aufgehängt hatte, eine Mischung aus Barometer und Kleiderbürste, in grellem Orange lackiert. Solche grellen Farbtupfer gab es überall, stellte sie zu ihrer Bestürzung fest. Es war, als hätte ein riesiges Maul eine Tüte bunter Bonbons gelutscht und dann das Haus abgeleckt. Der verblichene Teppich im ehemaligen Schlafzimmer ihrer Mutter war unter falschen Perserteppichen verschwunden. Rund um den schönen Trumeauspiegel war ein fransenbesetzter indischer Schal drapiert worden. Ein Bild an der Wand schien ein weiblicher Akt im Stile Lord Leightons zu sein. Der Vogelkäfig aus Weidenrohr drehte sich langsam an einem Band, das mit einem Haken an der Decke befestigt war. Im Käfig thronte ein künstlicher Papagei aus Seide und gefärbten Federn auf einer Pappmascheestange.

Das Licht im Treppenhaus war voll aufgedreht und zischte wie ein wütendes Tier. Frances fragte sich, ob das Ehepaar bedacht hatte, dass sie und ihre Mutter dafür zahlen mussten. Sie begegnete Mr Barbers Blick und sagte in einem Tonfall, der die grelle Fröhlichkeit der Einrichtung spiegeln sollte: »Haben Sie sich schon fertig eingerichtet?«

Er nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und unterdrückte ein Gähnen. »Fix und fertig, Miss Wray – ich jedenfalls. Mir reicht’s für heute. Ich habe meinen Teil getan und die Heiligtümer nach oben geschleppt. Das Hübschmachen überlasse ich Lilian. Sie liebt das – sie ist Weltmeisterin im Dekorieren!«

Frances hatte ihn zuvor noch gar nicht genauer betrachtet. Sie hatte sein Auftreten auf sich wirken lassen – die scherzhafte Nörgelei, die ihn begleitete wie ein musikalisches Thema – und dabei kaum auf seine körperliche Erscheinung geachtet. Im schwachen Licht des Korridors nahm sie nun auch sein Äußeres wahr, die penible Gepflegtheit des Büroangestellten. Ohne Schuhe war er nur ein paar Zentimeter größer als sie. »Schwächlich«, hatte seine Frau ihn genannt, doch dafür wirkte er zu lebhaft. Er hatte rötliche Bartstoppeln und winzige Pickelnarben im Gesicht, seine Kieferpartie war schmal, die Zähne standen ein wenig zu dicht aneinander. Er hatte rotblonde, kaum wahrnehmbare Wimpern. Die Augen selbst waren von einem durchdringenden Blau und machten ihn irgendwie zu einer attraktiven Erscheinung, beinahe gut aussehend – jedenfalls attraktiver, als sie zunächst gedacht hatte.

Sie wandte den Blick ab. »Also, ich gehe jetzt zu Bett.«

Er kämpfte mit einem neuerlichen Gähnen. »Sie Glückliche! Ich fürchte, Lily ist immer noch dabei, unseres zu dekorieren!«

»Ich habe die Lichter unten gelöscht. Der Glühstrumpf im Flur ist ein bisschen schwierig zu bedienen, deshalb dachte ich, ich mache das Licht selbst aus. Aber wahrscheinlich hätte ich Ihnen lieber zeigen sollen, wie es funktioniert.«

»Dann zeigen Sie es mir doch jetzt«, schlug er vor.

»Nun ja, meine Mutter versucht gerade einzuschlafen. Ihr Zimmer ist gleich unten neben der Treppe.«

»Ach so. Ja, dann zeigen Sie es mir morgen.«

»Das mache ich. Ich fürchte bloß, dass es im Treppenhaus dunkel ist, wenn Sie oder Mrs Barber heute noch mal nach unten müssen.«

»Ach, wir finden uns schon zurecht.«

»Vielleicht nehmen Sie sich eine Lampe mit?«

»Das ist natürlich eine Idee! Oder – wissen Sie was?« Er grinste. »Ich schicke Lil vor, an einem Seil. Und wenn’s irgendwelche Schwierigkeiten gibt, dann … zieht sie einmal kurz!«

Er hielt den Blick auf sie gerichtet, während er den kleinen Scherz äußerte. Doch irgendetwas an seiner Art war befremdlich und verunsicherte sie. Sie zögerte mit der Antwort, und er führte die Zigarette zum Mund, wandte sich ab, um daran zu ziehen und den Rauch in eine andere Richtung zu blasen, fixierte sie dabei aber immer noch mit seinen lebhaften blauen Augen.

Dann änderte sich sein Verhalten von einem Moment zum anderen. Die Tür zum Schlafzimmer wurde geöffnet, und seine Frau stand da, mit einem Bild in den Händen – einem weiteren Akt Lord Leightons, wie Frances befürchtete –, woraufhin ihr Mann den nächsten spöttischen Kommentar abgab.

»Mein Gott, Weib, bist du immer noch zugange!«

Sie lächelte Frances zu. »Ich möchte doch nur, dass es überall hübsch aussieht!«

»Die arme Miss Wray möchte aber schlafen gehen. Sie ist gekommen, um sich über den Lärm zu beschweren.«

Ein Schatten senkte sich über Mrs Barbers Miene. »Oh, Miss Wray, das tut mir leid!«

»Sie haben gar keinen Lärm gemacht«, beeilte sich Frances zu sagen. »Mr Barber macht nur Spaß.«

»Eigentlich wollte ich den Rest morgen machen. Aber jetzt, wo ich einmal angefangen habe, finde ich einfach kein Ende.«

Plötzlich kam es Frances im oberen Flur unglaublich eng vor, wie sie zu dritt da standen. Würden sie sich jetzt jeden Abend hier begegnen und Höflichkeiten austauschen müssen? »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Allerdings …«, sie hatte sich schon auf ihre Tür zubewegt und hielt wieder inne, »Sie denken doch bitte daran, dass meine Mutter unten in dem Zimmer schläft?«

»Aber ja, natürlich«, sagte Mrs Barber. Und »Ja, selbstverständlich denken wir daran«, wiederholte ihr Mann betont ernsthaft.

Frances wünschte, sie hätte kein Wort darüber verloren. Mit einem verlegenen »Na dann, gute Nacht« öffnete sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Sie ließ sie einen Moment offen stehen, während sie die Kerze auf dem Nachttisch anzündete, und als sie die Tür wieder schließen wollte, sah sie Mr Barber, der im Flur an seiner Zigarette zog und zu ihr herüberschaute; er lächelte sie an und wandte sich dann ab.

Nachdem sie die Tür geschlossen und den Schlüssel leise im Schloss gedreht hatte, fühlte sie sich schon wohler. Sie streifte ihre Hausschuhe ab, zog Bluse, Rock, Unterwäsche und Strümpfe aus – und war schließlich wieder sie selbst. Wie eine korpulente Matrone, die sich ihres Korsetts entledigt. Sie reckte die Arme empor und blickte sich im Halbdunkel des Zimmers um. Wie herrlich ruhig und leer es hier drinnen war! Auf dem Kaminsims standen zwei silberne Leuchter und sonst gar nichts. Das Bücherregal war zwar voll mit Büchern, aber alle standen ordentlich in Reih und Glied, auf dem dunklen Dielenboden lag ein einziger kleiner Teppich; die Wände waren hell – sie hatte die Tapete entfernt und sie weiß getüncht. Selbst die gerahmten Drucke strahlten Ruhe aus: ein japanisches Zimmer, eine Landschaft von Caspar David Friedrich, verschneite Berggipfel vor einem blassvioletten Hintergrund, die man im Kerzenlicht gerade eben noch erahnen konnte.

Gähnend tastete sie nach den Haarnadeln auf ihrem Kopf und zog sie heraus. Sie füllte die Waschschüssel, wusch sich mit einem Lappen das Gesicht, den Hals und die Achseln, putzte sich die Zähne und rieb sich Vaseline auf die Wangen und die angegriffenen Hände. Da sie die ganze Zeit über Mr Barbers Zigarette gerochen und der Geruch sie ganz unruhig gemacht hatte, öffnete sie schließlich die Schublade ihres Nachtschränkchens und holte eine Dose Tabak und ein Päckchen Zigarettenpapier heraus. Sie drehte sich eine kleine Zigarette, zündete sie an der Kerze auf dem Nachttisch an, stieg ins Bett und pustete die Kerze aus. Sie rauchte gern so – nackt zwischen den kühlen Bettlaken, während nur die glühend rote Zigarettenspitze ihre Finger in der Dunkelheit erhellte.

Heute war das Zimmer natürlich nicht ganz dunkel: Vom Korridor fiel ein dünner Streifen Licht unter ihrer Tür herein. Was machten sie da draußen gerade? Sie konnte das Gemurmel ihrer Stimmen hören. Womöglich diskutierten sie, wo sie das schauderhafte Bild aufhängen sollten. Wenn sie jetzt einen Nagel in die Wand hämmerten, würde sie hingehen und etwas sagen müssen. Wenn sie das Licht auf dem Treppenabsatz so stark aufgedreht ließen, würde sie ebenfalls etwas sagen müssen. Sie probierte im Geiste verschiedene Satzanfänge aus.

Es tut mir leid, aber ich muss Sie darauf hinweisen …

Erinnern Sie sich noch, dass wir kürzlich besprochen haben …

Vielleicht könnten wir …

Es wäre besser, wenn …

Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht.

Nein, das durfte sie nicht denken. Dafür war es nun zu spät. Dafür war es eigentlich schon seit Jahren zu spät.

Schließlich schlief sie doch noch gut. Sie wachte um sechs am nächsten Morgen auf, als in der Ferne die ersten Fabriksirenen losgingen. Sie döste noch eine Stunde vor sich hin und wurde schließlich von einem hektischen, an einen Bohrer erinnernden Ton aus ihrem verworrenen Traum gerissen. Verschlafen wie sie war, konnte sie das Geräusch erst gar nicht einordnen, doch dann ging ihr auf, dass es sich um den rasselnden Wecker der Barbers handelte. Es schien keine Minute her, dass sie hier gelegen und dem Gemurmel des Paares auf dem Weg ins Bett gelauscht hatte. Nun bekam sie das Ganze in umgekehrter Reihenfolge mit: Murmelnd und gähnend erhoben sich die Eheleute; sie schlichen die Treppe hinunter in den Hof, klapperten dann in ihrer Küche herum, kochten Tee und brieten sich etwas zum Frühstück. Sie zwang sich, alles aufmerksam zu verfolgen, das zischende Geräusch des Specks in der Pfanne, das Klappern des Rasierers, der an der Spüle abgeklopft wurde. Sie musste sich daran gewöhnen, sich den Gegebenheiten anpassen – denn so würden ihre Tage von nun an immer beginnen.

Die achtundfünfzig Schilling fielen ihr wieder ein. Während Mr Barber seine Sachen fürs Büro zusammensuchte, stand sie auf und zog sich leise an. Er verließ das Haus um kurz vor acht; zu diesem Zeitpunkt war seine Frau bereits wieder in das gemeinsame Schlafzimmer zurückgekehrt. Frances wartete noch ein paar Minuten, damit es nicht zu offensichtlich war, dass sie Mr Barbers Aufbruch abgepasst hatte, schloss dann ihre Zimmertür auf und stieg die Treppe hinunter. Sie kehrte die Aschereste aus dem Ofen und fachte ein neues Feuer an. Anschließend ging sie auf die Toilette im Hof, kehrte wieder ins Haus zurück, wünschte ihrer Mutter einen guten Morgen, bereitete den Tee zu, kochte Eier. Und während all dieser Verrichtungen rechnete sie still vor sich hin. Nachdem ihre Mutter und sie gefrühstückt hatten und der Esstisch abgeräumt war, setzte sie sich mit ihrem Haushaltsbuch an den Sekretär und ging den Stapel Rechnungen durch, der sich im Laufe des letzten Jahres hinten im Buch angesammelt hatte.

Der Metzger und der Fischhändler müssen sofort eine große Summe ausgezahlt bekommen, beschloss sie. Die Wäscherei, der Bäcker und der Kohlenhändler konnten mit kleineren Beträgen hingehalten werden. Die Grundsteuern für das Haus wären in ein paar Wochen fällig, zusammen mit der vierteljährlichen Gasrechnung, die höher als sonst ausfallen würde, denn darin enthalten wären die Kosten für den Einbau des Herdes und des Gaszählers sowie für Rohre und Leitungen, die im ersten Stock verlegt worden waren. Und auch für weitere Maßnahmen, die sie für den Einzug der Barbers getroffen hatten, musste noch Geld bezahlt werden: für Leimfarbe und Lack beispielsweise. Es würde drei oder vier Monate dauern, bis mindestens August oder September, ehe sich die Mieteinahmen als Reingewinn auf dem Familienkonto darstellen würden.

Immerhin im August oder September – das war besser als nie, und so räumte sie das Haushaltsbuch in gehobener Stimmung wieder beiseite. Der Mann von der Bäckerei kam, gefolgt vom Metzgersjungen, und endlich einmal konnte sie Brot und Fleisch guten Gewissens entgegennehmen und nicht mit dem Gefühl, als sei sie in zwielichtige Händel mit nicht bezahlter Ware verwickelt. Das Fleisch war ein Lammnacken, den konnte sie später in einem Eintopf verwenden. Sie hatte kein großes Interesse am Essen, weder an seiner Zubereitung noch am Verspeisen selbst, doch während des Krieges hatte sie ein gewisses, aus der Not geborenes Geschick zum Kochen entwickelt; jedenfalls gefiel ihr die praktische Herausforderung, aus einem billigen Stück Fleisch mehrere Mahlzeiten zubereiten zu müssen. Ähnliches empfand sie im Hinblick auf die Hausarbeit: Auch dort fand sie Gefallen an eher abseitigen Tätigkeiten wie dem Entrußen des Ofens oder dem Reinigen von Geländerstangen – Arbeiten, welche Planung, eine gewisse Strategie, besondere Chemikalien oder spezielle Werkzeuge erforderten.

Die meisten ihrer Haushaltspflichten waren allerdings eher profan. Das Haus war durch und durch unpraktisch ausgestattet, hier Bilderschienen, da Stuckarbeiten und überall kunstvolle Sockelleisten, die mehr oder weniger täglich abgestaubt werden mussten. Das Mobiliar bestand durchgängig aus dunklem Holz, was ebenfalls regelmäßiges Abstauben erforderlich machte. Ihr Vater hatte eine Vorliebe für das »gute alte England« gehabt, einen Stil, der ganz und gar nicht zu den verspielten Regency-Elementen des Hauses selbst passte, und in beinahe jedem Winkel befand sich ein jakobinischer Stuhl oder eine Kommode – »Vaters Sammlung«, wie diese Stücke zu Lebzeiten des Vaters genannt wurden. Ein Jahr nach seinem Tod hatte Frances diese Möbel schätzen lassen und erfahren, dass es sich dabei durchweg um Fälschungen aus viktorianischer Zeit handelte. Der Händler, der ihnen die Standuhr abgekauft hatte, bot ihnen für den ganzen Schwung drei Pfund. Sie hätte das Geld am liebsten dankend eingesteckt, um die unseligen Möbel aus den Augen zu haben, doch darüber hatte ihre Mutter sich ereifert. »Egal ob sie echt sind oder nicht«, hatte sie gesagt, »das Herz deines Vaters hat daran gehangen!« Eher seine Dummheit, hatte Frances im Stillen gedacht. Also waren die Möbel im Haus geblieben, was zur Folge hatte, dass sie mehrmals wöchentlich im Krebsgang die guten Stücke umrunden und mit dem Staubtuch die Windungen wackliger Tischbeine und Schnörkel und Rauten der grob gedrechselten Stühle abreiben musste.

Den schwersten Teil der Hausarbeit sparte sie sich für jene Vor- und Nachmittage auf, an denen sie sicher sein konnte, dass ihre Mutter aus dem Haus war. Da heute Montag war, hatte sie sich viel vorgenommen: Den Montagvormittag verbrachte ihre Mutter immer beim Gemeindepfarrer, und während ihrer Abwesenheit konnte Frances sich das gesamte Erdgeschoss vornehmen.

Kaum war die Eingangstür zugeschlagen, krempelte sie auch schon die Ärmel hoch, band sich eine Schürze um und verbarg die Haare unter einem Tuch. Als Erstes nahm sie sich das Schlafzimmer ihrer Mutter vor, dann begab sie sich zum Staubwischen in den Salon – eine endlose Tätigkeit, so schien es ihr. Wo um alles in der Welt kam der ganze Staub nur her? Es kam ihr beinahe so vor, als ob das Haus den Staub aus sich selbst hervorbrachte, so wie ein Körper Schweiß absondert. Sie konnte minutenlang Teppiche oder Kissen ausschlagen – und immer noch kam Staub heraus. Im Salon stand eine Vitrine mit fest schließenden Glastüren, doch selbst das Porzellan darin staubte ein und musste abgewischt werden. Gelegentlich verspürte sie den Drang, jede einzelne der verschnörkelten Tassen herauszuholen und entzweizuschlagen. Einmal hatte sie aus lauter Verzweiflung eine der apfelwangigen Staffordshire-Figuren geköpft: Sie hatte den Kopf zwar rasch wieder angeklebt, doch er saß immer noch ein wenig schief.

Heute verspürte sie dieses zerstörerische Verlangen nicht. Sie arbeitete mit energischer Effizienz, trug Handfeger und Kehrblech vom Salon die Treppe hinauf und arbeitete sich dann Stufe für Stufe wieder nach unten. Anschließend füllte sie einen Eimer mit Wasser, holte ihre Kniematte und begann den Boden im Eingangsflur zu wischen. Dafür verwendete sie nur Essig. Seife hinterließ Streifen auf den schwarzen Fliesen. Das erste, nasse Reiben war wichtig, um den Schmutz zu lösen, doch wirklich entscheidend war der zweite Teil, wenn sie den ausgewrungenen Lappen in einer geschmeidigen, nahtlosen Bewegung über den Boden gleiten ließ. Da! Wie herrlich jede einzelne Fliese glänzte. Der Glanz würde innerhalb von fünf Minuten wieder verschwinden, wenn die Oberfläche trocknete; doch schließlich war alles im Leben hinfällig. Entscheidend war nur, die wenigen glanzvollen Momente richtig zu würdigen. Es hatte keinen Sinn, sich mit den abgenutzten Stellen aufzuhalten. Sie war jung, körperlich fit und gesund. Sie hatte … ja, was hatte sie schon? Kleine Freuden wie diese hier. Kleine Erfolge in der Küche. Die Zigarette am Ende des Tages. Den Kinobesuch mit ihrer Mutter am Mittwoch. Regelmäßige Ausflüge in die Innenstadt. Hin und wieder gab es Phasen, in denen sie eine gewisse Ruhelosigkeit verspürte, aber wer hatte die nicht? Sie hatte Wünsche und Sehnsüchte … Doch die waren überwiegend körperlicher Natur, und sie war keineswegs so gehemmt, dass sie sich nicht zu helfen gewusst hätte. Es ist schon erstaunlich, dachte sie, während sie die Kniematte und den Eimer weiterschob und sich eine neue Parzelle des Bodens vornahm, es ist erstaunlich, wie einfach und zufriedenstellend man sich dieser Sache selbst annehmen kann. Mitten am helllichten Tag, sogar wenn ihre Mutter im Haus war. Sie brauchte nur ein paar Minuten in ihrem Schlafzimmer zu verschwinden – vielleicht als kleine Pause beim Schälen von Pastinaken oder während sie darauf wartete, dass der Teig aufging.

Eine Bewegung am Treppenabsatz ließ sie zusammenfahren. Sie hatte die Mieter völlig vergessen. Nun blickte sie auf und sah durch das Geländer Mrs Barber zögerlich die Treppe herunterkommen.

Sie spürte, wie sie errötete, gerade so, als hätte man sie auf frischer Tat ertappt. Doch Mrs Barber wurde ebenfalls rot. Obwohl es schon weit nach zehn Uhr war, hatte sie immer noch ihr Nachthemd an, darüber trug sie eine Art japanischen Morgenmantel aus Satin – Kimono hieß so etwas, glaubte Frances. Mrs Barbers Füße in den türkischen Pantoffeln waren nackt. Sie trug ein Handtuch und einen Kulturbeutel. Während sie Frances grüßte, schob sie sich eine vom Schlaf platt gedrückte Haarlocke aus dem Gesicht und sagte dann schüchtern: »Ich habe überlegt, ob ich vielleicht ein Bad nehmen dürfte.«

»Ach so«, erwiderte Frances. »Ja.«

»Aber nur wenn es keine Umstände macht. Ich bin wieder eingeschlafen, nachdem Len zur Arbeit gegangen ist, und …«

Frances erhob sich vom Boden. »Es macht keine Umstände. Ich muss nur den Badeofen für Sie anmachen. Meine Mutter und ich machen ihn tagsüber normalerweise nicht an. Das hätte ich vielleicht gestern Abend noch erwähnen sollen. Können Sie hier rübersteigen? Sie müssen einen kleinen Sprung machen.« Sie stellte den Eimer beiseite. »Schauen Sie, hier ist eine trockene Stelle.«

Mrs Barber war indessen weiter die Treppe hinuntergestiegen. Sie errötete noch tiefer und starrte peinlich berührt den Staublappen auf Frances’ Kopf an, ihre hochgerollten Ärmel und rot leuchtenden Hände, die Matte zu ihren Füßen, auf der immer noch die Abdrücke ihrer Knie sichtbar waren. Diesen Blick kannte Frances nur zu gut, sie konnte ihn schon nicht mehr sehen, denn sie war ihm allzu oft begegnet: in den Gesichtern der Nachbarn, der Handwerker und der Freundinnen ihrer Mutter, die zwar allesamt den schlimmsten Krieg in der Geschichte der Menschheit überstanden hatten, aber dennoch aus irgendeinem Grund nicht damit zurechtkamen, wenn eine Frau aus gutem Hause die Arbeit einer Putzfrau verrichtete. Aufmunternd sagte sie: »Sie erinnern sich doch noch, dass ich Ihnen erzählt habe, wir hätten keine Hilfe? Ich habe das ernst gemeint. Das Einzige, was ich nicht mache, ist die Wäsche, die geben wir zum größten Teil raus. Doch um alles andere kümmere ich mich selbst. Ob Böden wienern oder Silber polieren – es gibt nichts, worauf ich mich nicht verstehe!«

Endlich erschien ein Lächeln auf Mrs Barbers Gesicht. Doch als sie die Bodenfläche sah, die noch gewischt werden musste, schien sie erneut peinlich berührt zu sein, wenn auch aus anderem Grunde.

»Ich fürchte, Len und ich haben hier gestern alles schmutzig gemacht. Das war wirklich gedankenlos!«

»Ach«, sagte Frances, »diese Fliesen werden von ganz allein schmutzig. So wie alles in diesem Haus.«

»Wenn ich mich angezogen habe, wische ich für Sie weiter.«

»Das kommt gar nicht infrage. Sie haben Ihre eigenen Zimmer, die Sie in Ordnung halten müssen. Wenn Sie es ohne Zimmermädchen schaffen, warum sollte ich das nicht auch? Außerdem würden Sie staunen, welche Wunder ich mit dem Mopp bewirken kann. Moment, ich helfe Ihnen.«

Mrs Barber war an der untersten Treppenstufe angelangt und offenbar unsicher, wohin sie ihren nächsten Schritt setzen sollte. Nach kurzem Zögern ergriff sie die Hand, die Frances ihr entgegenstreckte, und machte dann einen kleinen Satz auf die noch nicht gewischte Seite des Bodens. Dabei teilte sich ihr Kimono, enthüllte ein weiteres Stück ihres Nachthemds und erlaubte eine beunruhigende Ahnung von dem rundlichen, wohlgeformten, durch nichts gestützten Körper, der sich darunter verbarg.

Gemeinsam gingen sie durch die Küche in die Spülküche. Dort stand die Badewanne, gleich neben dem Spülbecken. Die Wanne hatte eine ausgeblichene Holzabdeckung, die Frances als Abtropfbrett für das Geschirr nutzte. Mit geübtem Griff hob sie die Abdeckung herunter und lehnte sie an die Wand. Die Wanne war alt und schon mehrmals neu emailliert worden, das letzte Mal hatte Frances den Lack selbst aufgetragen, mit eher zweifelhaftem Ergebnis: Die unregelmäßige Oberfläche des Eisens erinnerte entfernt an Lepra-Geschwüre, was ihr heute ganz besonders ins Auge fiel. Auch der Badeofen der Firma Vulcan wirkte ziemlich furchteinflößend: ein grünlicher genieteter Kessel auf drei gebogenen Füßen. Um etwa 1870 musste er das Spitzenmodell des Herstellers gewesen sein, doch inzwischen sah er eher aus wie ein Gefährt aus einem Jules-Verne-Roman, gebaut, um darin eine Reise zum Mond anzutreten.

»Ich fürchte, er ist ein bisschen launisch«, sagte sie und erklärte Mrs Barber den Mechanismus. »Sie müssen an diesem Hahn drehen, dürfen aber auf keinen Fall diesen hier bewegen; wenn Sie das tun, fliegen wir womöglich alle in die Luft. Hier muss man ihn anzünden.« Sie riss ein Streichholz an. »Am besten schaut man währenddessen in die andere Richtung. Mein Vater hat nämlich dabei schon mal seine Augenbrauen eingebüßt. Da!«

Mit einem Zischen hatte die Flamme zum Gas gefunden. Der Kessel fing an zu ticken und zu rattern. Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd, die Hände in die Hüften gestemmt. »Er ist ein richtiges Ungetüm. Tut mir leid, Mrs Barber.« Sie blickte sich in der Spülküche um – die altmodische Steinspüle, der Kupferkessel in der Ecke, die Leichenhausfliesen an der Wand. »Ich wünschte wirklich, das Haus wäre für Sie moderner eingerichtet.«

Doch Mrs Barber schüttelte den Kopf. »Ach bitte, so dürfen Sie nicht denken.« Sie schob sich eine weitere Haarlocke hinter die Ohren; dabei bemerkte Frances, dass sie Ohrlöcher hatte, kleine Vertiefungen in ihren Ohrläppchen. »Das Haus gefällt mir so, wie es ist. Es ist eben ein Haus mit Geschichte, nicht wahr? Ich finde, die Dinge müssen nicht immer nur modern sein. Sonst hätten sie gar keine Persönlichkeit, keine Eigenheiten.«

Und da war sie wieder, dachte Frances, diese Freundlichkeit, die nette Art, das Feingefühl. Lachend entgegnete sie: »Na ja, was die Eigenheiten betrifft, so hat dieses Haus eher zu viele!« Dann fügte sie etwas weniger flapsig hinzu: »Aber ich bin froh, dass es Ihnen gefällt. Sehr froh. Ich mag das Haus eigentlich auch, obwohl ich das immer wieder mal vergesse. Doch wir sollten diesen Badeofen lieber nicht zu heiß werden lassen, ohne dass wir Wasser durchlaufen lassen, sonst ist am Ende womöglich gar kein Haus mehr übrig – und wir sind auch nicht mehr da, um uns daran zu erfreuen. Kommen Sie jetzt allein zurecht? Wenn die Flamme ausgeht – und das tut sie leider manchmal –, rufen Sie mich ruhig.«

Mrs Barber lächelte und zeigte dabei ihre geraden weißen Zähne. »Ja, das tue ich. Vielen Dank, Miss Wray.«

Frances überließ sie ihrem Schicksal und begab sich wieder an das Wischen des Bodens. Die Tür zur Waschküche schloss sich hinter Mrs Barber und wurde leise von innen verriegelt.

Die Tür zwischen Küche und Durchgang zur Waschküche war allerdings nur angelehnt, und während Frances den Wischlappen wieder aufnahm, konnte sie überdeutlich hören, wie Mrs Barber sich auf ihr Bad vorbereitete: Die Kette klapperte gegen den Wannenrand, dann folgte das stotternde Einlaufen des Wassers. Der Vorgang dauerte ziemlich lange, wie ihr schien. Was die Benutzung des Badeofens anging, so hatte sie sich in eine kleine Notlüge gerettet. Es war keineswegs so, dass ihre Mutter und sie den Badeofen häufig benutzten, dazu war ihnen der Betrieb zu teuer, vielmehr bereiteten sie sich ihr Badewasser im Warmwasserkasten des altmodischen Küchenherdes zu. Tatsächlich badeten sie auch höchstens einmal in der Woche und verwendeten dabei oft beide dasselbe Badewasser. Falls Mrs Barber vorhatte, täglich solche extensiven Bäder zu nehmen, würde sich ihre Gasrechnung verdoppeln.

Endlich wurde das Wasser abgestellt. Man hörte ein Plätschern und das leicht quietschende Geräusch von Fußsohlen, die den Wannenboden berührten, dann folgte ein volleres, satteres Platschen, als Mrs Barber sich in der Wanne niederließ. Danach war es still, man hörte nur noch das gelegentliche »Plink« von Tropfen aus dem Wasserhahn.

Diese Geräusche waren verstörend, genau wie der auseinanderklaffende Kimono, doch am meisten verstörte Frances die Stille. Kurz zuvor, an ihrem Sekretär sitzend, hatte sie ihre Mieter noch unter rein finanziellen Aspekten betrachtet – wie zwei umherwatschelnde Schillinge mit Beinen. Doch Mieter zu haben, dachte sie, während sie rückwärts über die Fliesen rutschte, Mieter zu haben war genau das: diese eigenartige unpersönliche Nähe, dieser halb entblößte Moment, in dem zwischen ihr und der nackten Mrs Barber lediglich ein paar Meter Küche und eine dünne Tür lagen. Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf: das wohlgerundete Fleisch, das sich in der Hitze des Bades rötete.

Sie rückte auf der Kniematte hin und her, packte ihren Lappen und scheuerte mit energischen Bewegungen den Boden.

Die Wände der Spülküche waren immer noch vom Dampf beschlagen, als ihre Mutter um die Mittagszeit zurückkehrte. Frances erzählte ihr von Mrs Barbers Bad, und ihre Mutter blickte sie ungläubig an.

»Um zehn Uhr? Im Morgenmantel? Bist du sicher?«

»Das bin ich. Noch dazu aus Satin. Ein Glück, dass du den Pfarrer besucht hast und nicht umgekehrt, oder?«

Ihre Mutter erblasste, erwiderte jedoch nichts.

Sie aßen zu Mittag – überbackenen Blumenkohl – und ließen sich dann im Salon nieder. Mrs Wray machte sich Stichworte für einen Artikel im Gemeindeblatt. Frances arbeitete sich durch einen Flickkorb, neben sich auf die Sessellehne hatte sie die Times gelegt.

Was gab es Neues? Unbeholfen blätterte sie die druckschwarzen Seiten um. Doch es war nur das übliche triste Zeug. Horatio Bottomley stand ein Strafprozess im Old Bailey bevor, weil er die Öffentlichkeit um eine Viertelmillion betrogen hatte. Ein Parlamentsabgeordneter verlangte, dass Kokainhändler ausgepeitscht werden sollten. Die Franzosen schossen auf die Syrier, die Chinesen erschossen einander, eine Friedenskonferenz in Dublin war ergebnislos verlaufen; in Belfast hatte es wieder Tote gegeben … Aber der Prince of Wales nahm gut gelaunt an einem Angelausflug in Japan teil, und die Marchioness of Carisbrooke wollte einen Ball organisieren, »um die Freunde der Armen zu unterstützen«. Das rechtfertigt dann wohl den ganzen Aufwand, dachte Frances grimmig. Sie mochte die Times nicht. Aber sie hatten nicht genug Geld, um eine zweite, weniger konservative Zeitung zu beziehen. Ohnehin fand sie es mittlerweile deprimierend, die Nachrichten zu lesen. In Kriegszeiten, als sie noch jung und naiv war, hätten die Ereignisse sie zu Aktivitätsstürmen hingerissen, sie hätte Briefe geschrieben, an Versammlungen teilgenommen. Doch inzwischen schien ihr die Welt so kompliziert geworden zu sein, dass ihre Probleme jeder Lösung trotzten. Es gab nur ein Durcheinander von Interessenskonflikten; das Ganze erfüllte sie mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit. Sie legte die Zeitung beiseite. Morgen würde sie sie zerreißen, die Schnipsel konnten dann zum Anzünden des Feuers dienen.

Wenigstens war es jetzt still im Haus; beinahe so wie früher. Bis eben hatte man dumpfes Poltern und Quietschen gehört, während Mrs Barber weitere Möbel verrückte, doch jetzt musste sie in ihrem Wohnzimmer sein. Und was machte sie da? War sie noch im Kimono? Aus irgendeinem Grunde hoffte Frances das.