Fremde - Mort Castle - E-Book

Fremde E-Book

Mort Castle

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Beschreibung

Sie sehen Ihn bei Elternversammlungen, wie er seinen Rasen mäht, Erdnüsse für Kiwanis verkauft. Michael Louden ist ein ganz normaler, netter Kerl, Ihr Nachbar, Ihr Freund - nur dass er Sie, Ihre Familie, Ihren Hund umbringen will. Er ist der Serien-Psychopath von nebenan, Jack the Ripper in Willy Lomans gut geputzten Schuhen - und John Wayne Gacy in seinem Clownskostüm. Und er ist nicht allein. Michael Louden und andre wie er, Fremde, warten nur auf ihren Moment der Geschichte - um jede Hoffnung auf eine Zukunft zu zerstören.

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2024

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In dieser Reihe bisher erschienen:

001 Stefan Melneczuk Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon Endstation

7005 Angelika Schröder Böses Karma

7006 Guido Billig Der Plan Gottes

7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz Kehrwieder

7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer Das Konzept

7012 Stefan Melneczuk Wallenstein

7013 Alex Mann Sicilia Nuova

7014 Julia A. Jorges Glutsommer

7015 Nils Noir Dead Dolls

7016 Ralph G. Kretschmann Tod aus der Vergangenheit

7017 Ralph G. Kretschmann Aus der Zeit gerissen

7018 Ralph G. Kretschmann Vergiftetes Blut

7019 Markus Müller-Hahnefeld Lovetube

7020 Nils Noir Dark Dudes

7021 Andreas Zwengel Nützliche Idioten

7022 Astrid Pfister Bücherleben

7023 Alfred Wallon Der Sohn des Piratenkapitäns

7024 Mort Castle Fremde

7025 Manuela Schneider Die Waffe des Teufels

FREMDE

ALLGEMEINE REIHE

BUCH VIER­UND­ZWANZIG

MORT CASTLE

Übersetzt vonCHRISTIAN VEIT ESCHENFELDER

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

Copyright © 2024 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier

Redaktion: Danny Winter

Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Umschlaggestaltung: Mario Heyer

Satz: Gero Reimer

Alle Rechte vorbehalten.

www.blitz-verlag.de

7023 vom 12.09.2024

ISBN: 978-3-68984-070-9

INHALT

VORWORT

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EPILOG

Über den Autor

VORWORT

Ich lernte Mort Castle vor Jahren bei einem Pokerspiel kennen, das ein gemeinsamer Freund veranstaltete. Damals beschränkte sich mein Wissen über Horrorromane auf Taschenbücher, in denen Bösewichte vorkamen, die Blut saugten, den Mond anheulten oder riesige Messer schwangen. An diesem Abend bot er mir freundlicherweise ein Exemplar von THE STRANGERS an, und ich nahm es ohne große Erwartungen entgegen. Ich dachte, das Buch würde sich nicht von den unzähligen anderen unterscheiden, die ich bisher in diesem Genre gelesen hatte.

So viel dazu, dass man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte. Was ich fand, war eine komplexe Geschichte mit einer Art Bösewicht, wie ich ihn noch nie vorher gesehen hatte:

Michael Louden, Mittelklasse-Ehemann und Vater mit einem netten Eigenheim und einem guten Job. Er, genauso, wie viele von uns, blickt optimistisch auf das, was die Zukunft bringen mag. Mit der Ausnahme, dass Michaels Vision einer besseren Zukunft weder seine Frau noch seine zwei Töchter beinhaltet; nur deren Tod. Michael ist ein Fremder, der auf die Zeit der Fremden wartet, in der er und andere wie er die Gesellschaft von den Normalen säubern werden. Bis dahin muss er seine wahre Natur verbergen und tun, was er kann, um sich anzupassen.

Ich gebe hier nichts vom Inhalt preis: Das alles liest man bereits auf den ersten paar Seiten. Was diese Geschichte so einzigartig und überzeugend (und verdammt gruselig) macht, ist, dass sie zu großen Teilen aus Michaels Sicht geschrieben ist. Wir werden in jeden seiner verdorbenen, scheinheiligen Gedanken eingeweiht, während er den Rasen mäht, seine Kinder zur Schule fährt und mit seiner Frau schläft.

Nur wenige Horrorautorinnen und -autoren nutzen diesen Ansatz, aus gutem Grund. Wenn Leserinnen und Leser dazu gezwungen werden, zu viel Zeit im Kopf der unsympathischsten Figur zu verbringen, insbesondere in einem Genre, in dem Bösewichte zum Extremen neigen, riskiert man, sie zu verlieren. Aber hier geht es um mehr als nur einfachen Schockwert.

The Strangers bietet eine der beunruhigendsten und wahrhaftigsten Darstellungen des Bösen, die man in einem Horrorroman finden kann. Das heißt, das Böse ist keine leicht erkennbare Kreatur, die in den Schatten lauert, sondern etwas Allgegenwärtiges, Nicht-Greifbares, das den Menschen innewohnt, von denen man es am wenigsten vermutet – den Nachbarn, den besten Freunden, dem Ehepartner – und unentdeckt bleibt, bis es zu spät ist.

Interessanterweise wurde dieses Buch erstmals 1984 veröffentlicht, also in einem Jahr, in dem die Einwohner dieses Land mehr als nur ein wenig mit ihrer Abneigung gegenüber Fremden beschäftigt waren. Bedrohungen unserer Lebensweise wurden in den Medien oft als etwas dargestellt, das von Fremden herrührt. Doch in diesem Buch existiert es in unserem eigenen Zuhause. Michael ist ein Wurm im Herzen unserer Familie, der zu töten bereit ist, um eine Version des amerikanischen Traums zu verwirklichen, die heimtückischer und zerstörerischer ist als jedes andere politische System.

Im weiteren Verlauf der Geschichte zerstört Mort unsere Angst nicht, indem er Michaels Verhalten als spirituelle Besessenheit erklärt oder enthüllt, dass er in Wirklichkeit ein außerirdischer Doppelgänger ist, der aus irgendeinem Behältnis geschlüpft war. Michael ist einfach deshalb böse, weil er so geboren wurde, ein Produkt von Gott-weiß-Was in unseren Genen oder unserer Umwelt, das es ihm und Tausenden anderen ermöglicht, mühe- und erbarmungslos seine Maskerade Tag für Tag aufrechtzuerhalten. Schlimmer noch, seine Form des Bösen kann nur überdauern, da der Rest von uns sich weigert, dessen Existenz zu akzeptieren.

Doch es existiert. Und mit THE STRANGERS erforscht Mort diesen beunruhigenden und unerklärlichen Aspekt der menschlichen Natur auf eine Weise, die über das Genre hinausgeht.

Marc Paoletti, Los Angeles, California 2000

Marc Paoletti war einer der New-Wave-Horrorautoren, die in der bahnbrechenden Anthologie YOUNG BLOOD des verstorbenen Mike Baker vertreten waren. Er hat Comics, Kurzgeschichten und Internet-Dramen erdacht und verfasst. Nach einer Karriere in der Filmbranche als Pyrotechniker („Man wird dafür bezahlt, Dinge in die Luft zu jagen.“) bei Filmen wie Terminator II und einer Tätigkeit als leitender Werbetexter schiebt Paoletti seinen Traum nicht länger auf: Er absolviert einen Masterstudiengang in Literatur am Columbia College in Chicago und arbeitet an einem Roman.

PROLOG

Es war Viertel vor eins am Morgen. Die Scheinwerfer des Buick Regal betonten die strandballgroßen Sommernebelschwaden, die über der kurvenreichen, am Waldschutzgebiet entlangführenden Straße lagen. Nach einem schwülen Tag war die Temperatur auf unter fünfundzwanzig Grad gesunken, aber wegen der Luftfeuchtigkeit lief die Klimaanlage des Wagens auf Hochtouren. Das ständige Rauschen überdeckte das Geräusch des Motors.

Ohne den Kopf in Richtung seines Begleiters zu drehen, sagte der Mann mittleren Alters hinter dem Steuer: „Fandest du den Tag nicht auch herrlich langweilig?“

„Langweilig? Etwa die neue Produktausstellung?“ Die Worte des jüngeren Mannes waren flach, von Sarkasmus glatt geschliffen. „Immerhin haben wir die neuesten und brandaktuellen Fortschritte im Bereich des Hausmeisterbedarfs zu sehen bekommen. Bodenbeläge, Deodorantblöcke für Urinale, Strohbesen. Ich nenne das spannend.“

Der Fahrer lachte metallen, gab präzise Klangschnipsel von sich. „Dein Enthusiasmus ist fabelhaft.“

„Komm schon, Boss. Ich bin ein Typ, der so verdammt Vieles hat, wegen dem er enthusiastisch sein kann. Ich habe mein Stück des amerikanischen Kuchens abbekommen. Eine wundervolle Frau, zwei bezaubernde Kinder und ein eigenes Haus. Und zu meinem Glück kommt noch hinzu, was du für mich getan hast, die Gehaltserhöhung und die Beförderung. Nationaler Verkaufsleiter, das ist immer mein Ziel gewesen, und ich garantiere dir, dass ich für Superior Chemical 110 Prozent geben werde. Das meine ich auf ehrliche Weise ehrlich.“

Der Fahrer nickte. Das Licht der Instrumente am Armaturenbrett färbte sein silbernes Haar grün und schien unter seinem runden, gutmütigen Gesicht eine fleischfarbene, kantige Struktur zu erzeugen. Er sagte: „Es sind Leute wie du, die die Nation zu der machen, die sie ist.“

„Nein, es sind Leute wie wir beide.“

Die Männer lachten still, und der Jüngere rutschte etwas weiter in seinem Sitz herunter, streckte die Beine. Er löste seine Krawatte und lehnte sich zurück. Das sandfarbene Haar des Mannes hatte begonnen, sich an der Stirn nach oben zurückzuziehen, und in seinen Augenwinkeln zeigten sich Anzeichen von Krähenfüßen, aber er sah nicht älter aus als seine fünfunddreißig Jahre. Sein Gesicht war unauffällig amerikanisch und zeigte keinen bestimmten ethnischen Hintergrund. Er war nicht wirklich hübsch, doch auch nicht ansatzweise hässlich. Traf man ihn ein- oder zweimal, erinnerte man sich eher an seinen Namen als an sein Äußeres.

Ohne die geringste Spur von Humor sagte er: „Macht dir das Warten jemals etwas aus?“

„Natürlich“, antwortete der Fahrer. „Häufig sogar, und ich habe bereits sehr viel länger gewartet als du.“

„Sicher, das weiß ich, aber manchmal fühlt es sich so an, als würden meine Nerven mich zerreißen. Man wartet und wartet und man denkt, das Warten wird nie ein Ende haben.“

„Das wird es.“

„Und man möchte sich die Maske herunterreißen und sie alle das echte Grinsen hinter dem gespielten sehen lassen ...“

„Um die nächsten drei Tage zu einer Überschrift in der Zeitung zu werden?“, unterbrach ihn der Fahrer. „Und dann in einer Gefängniszelle schmoren? In einer ihrer Irrenanstalten? Sterben?“

Der jüngere Mann seufzte. „Das ist es, was passieren würde.“

„Nein“, sagte er still, aber ausdrucksstark. „Das passiert denjenigen, die weder clever noch gerissen sind, und den Ungeduldigen.“

„Deswegen warten wir.“

„Ja, und wir bauen unseren Stress und die Frustrationen ab, so gut wir können.“ Die vollen Lippen des Fahrers zuckten, während er lächelte. „Verbringen mehr Zeit damit, den ehelichen Akt mit der wunderbaren Frau zu vollziehen, vielleicht noch ein weiteres entzückendes Kind zeugen.“

„Nichts Entzückendes mehr, sagt die Wundervolle. Sie will unbedingt jemand anderes sein. Sie macht jetzt einen auf emanzipierte Frau, knapp zehn Jahre später als der Rest des Landes.“

„Wir haben Begleitung“, sagte der Fahrer. „Und natürlich sind wir immer gewillt, die Freuden zu genießen, die das Schicksal und der Zufall uns auf den Weg legen ...“ Seine Stimme wurde leiser, während er den Fuß vom Gas nahm. Der Buick wurde langsamer und der junge Mann setzte sich aufrecht hin. Der Fahrer sagte: „Scheint, als gäbe es ein Problem.“

Vor einer scharfen Kurve stand auf dem linken Seitenstreifen ein Ford mit offener Motorhaube, ein Mann blickte hinein und drehte den Kopf, als die Scheinwerfer des Buick ihn anstrahlten.

Der Buick kam auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stehen. Der Fahrer schaltete den Motor nicht ab. Er kramte unter dem Vordersitz herum und holte eine schwere, mit Gummi überzogene Taschenlampe hervor. „Wenn du bitte das Handschuhfach öffnen würdest.“

Das tat der jüngere Mann. Er holte ein Messer heraus, dessen Griff mit schwarzem Klebeband umwickelt und dessen fünf Zentimeter lange Klinge zweischneidig und nadelspitz war. „Nett“, sagte er.

„Halte es bereit“, sagte der Fahrer. „Du scheinst eine Situation wie diese zu brauchen, um etwas gegen deine Langeweile zu unternehmen.“

„Ja.“ Das Wort zischte aus ihm heraus, und als der ältere Mann die Tür öffnete, vermischte es sich mit den eindringenden Geräuschen der Nacht, dem Rauschen und Knistern und den leisen Pfiffen aus den umliegenden Wäldern. Er sagte: „Sehen wir mal nach, wie wir einem gestrandeten Reisenden auf der Straße des Lebens behilflich sein können.“

* * *

Fred Harley sah sich als glücklichen Mann. Okay, der Ford beschloss zu streiken, aber da stand er nun, nicht länger als drei Minuten, und jemand hielt bereits an. Auf einer einsamen Straße, zu dieser Zeit, ja, ein glücklicher Zufall. Er würde nicht losstapfen müssen und versuchen, ein Telefon zu finden oder ein vorbeifahrendes Auto anzuhalten. Nein, die Moskitos würden ihn nicht kriegen; Fred Harley würde in dieser Nacht sein Blut behalten.

Er beobachtete die beiden Männer, die aus dem Buick stiegen. Ihm fiel auf, dass die beiden sowohl weiß als auch gut gekleidet waren. Fred hielt sich zwar nicht für einen vorurteilsbeladenen Menschen, aber die Vereinigten Staaten von Amerika waren nicht gerade ein Paradies der Rassenharmonie. Wären die beiden Männer schwarz gewesen, hätte Fred sich unwohl gefühlt.

Und wäre Fred ein Mann, der über übersinnliche Kräfte verfügte, hätte er sich noch unwohler gefühlt. Er hätte einen trockenen Mund, Adrenalinschübe und einen klammen Nacken gehabt vor Angst.

Ein Hellseher mit der Fähigkeit, Auren zu sehen, auf eine Art und Weise, die nur am Rande mit der Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Auges verwandt war, und der verstand, was diese Auren bedeuteten, hätte vielleicht die Flucht ergriffen und wäre verzweifelt in den Wald gerannt, um zu beten, dass er entkommen, ein Versteck und Sicherheit finden würde.

Ein feuerroter Nimbus umgab die Köpfe der beiden Männer, ein Heiligenschein, der für diejenigen unsichtbar war, die über keine übersinnlichen Kräfte verfügten. Die Aura war ein scharlachrotes Pulsieren, das sich ausdehnte und zusammenzog, als würde es atmen, wie irgendeines der kleinen Lebewesen, die man im Biologieunterricht unter dem Mikroskop angesehen und dessen wissenschaftlichen Namen man vergessen hatte, dessen Bild aber in Albträumen für immer in Erinnerung blieb. Die Auren des jüngeren und des älteren Mannes kennzeichneten die beiden als das, was sie waren und wer sie waren, identifizierten sie für diejenigen, die sie sehen und verstehen konnten.

Sie waren Fremde.

Aber das einzige Licht, das Fred Harley sah, kam von einer Mallory-Hochleistungsbatterie. Der Strahl, der ihn mit den beiden Männern verband, wurde kürzer.

Die Fremden kamen näher.

Gerade als Fred Harley sagte: „Danke euch, Jungs“, blendete ihn die Taschenlampe. Er blinzelte, sah lediglich ein Nachbild, einen trüben, gelben Kreis.

Der Griff der schweren Taschenlampe traf ihn im Gesicht. Er hörte ein trockenes Knacken und spürte fließende Nässe. Das Geräusch stammte aus dem Innern seines Schädels und er wusste, dass er einige Zähne verloren hatte, dass seine Nase gebrochen war.

Taumelnd versuchte er, etwas zu sagen, doch es kam nur ein Gwuff! heraus, und dann wurde er erneut getroffen, ein Schlag gegen die Seite des Kopfes, der ihn auf Hände und Knie fallen ließ.

Fred Harley dachte: Hey, das ergibt doch keinen Sinn!

Der jüngere Mann schob Fred Harleys Schultern zur Seite und hockte sich hin wie ein Kind, das huckepack genommen wurde. Er griff nach Freds Haar und zog seinen Kopf hoch.

Die beiden bringen mich um, einfach so, ohne Grund.

Und in diesem Moment des vollständigen Verstehens schnitt der jüngere Mann Fred Harley den Hals auf.

EINS

„Wie wäre es mit einem Bier?“, rief Brad Zeller über den Lärm des Rasenmähers hinweg. Es war später Nachmittag, Sonntag.

Michael Louden war dabei, den letzten Streifen Rasen an der Seite des Hauses zu mähen. Er nickte, streckte den Daumen nach oben. „Bin in ein paar Minuten bei dir“, rief er seinem Nachbarn auf der anderen Seite des drei Meter hohen Zauns aus Rotholz zu.

Als er fertig war, hatte Michael sich am schweißnassen Bund seiner Kaki-Shorts wund gerieben, sein T-Shirt war klatschnass. An seinen Unterarmen und Waden klebten schweißnasse Grasbüschel, die lästig juckten.

Er schaltete den Motor ab, wischte sich mit dem Handrücken über die Brauen, und schob den Rasenmäher in die Garage. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und der fünf Jahre alte Rasenmäher hielt immer noch durch, auch wenn er beim Anlassen häufig streikte. Er hoffte, er würde noch bis zum Ende des Sommers funktionieren und dass er bis nächstes Jahr keinen neuen kaufen musste. Es war vernünftiger, einen neuen zu kaufen, als zu versuchen, etwas zu reparieren, das bereits am Ende war, und er war ein vernünftiger Mann.

Vielleicht jedoch würde er sich nächstes Jahr schon nicht mehr um den Rasen kümmern müssen. Bei diesem Gedanken erlaubte Michael Louden sich ein unauffälliges Lächeln.

Im Blumenbeet neben der Garage saß Beth auf allen vieren. Den Kampf gegen Unkraut, Insekten und tierische Schädlinge hatte sie längst gewonnen, aber sie blieb wachsam, um eine Guerilla-Invasion zu verhindern, auch wenn es sich dabei nur um einen einzelnen dreisten Löwenzahn handelte. Sie liebte ihre Zinnien und Ringelblumen, ihren Phlox und ihre weißen Nelken, all ihre Blumen. Der Garten war ihr heilig. Er ließ sie nicht nur Hausfrau und Mutter sein, sondern auch Gärtnerin.

Michael stand an der Ecke des Blumenbeetes und drückte mit der Hand gegen den stählernen Griff des Rasenmähers. Er beobachtete die zierliche Frau in den abgeschnittenen Jeans und dem gelben Frottee-Oberteil mit dem Nackenband. Er konnte sich ausmalen, wie es geschah: Ein kräftiger Ruck an dem Band, und das launische Miststück kippte sofort um. Beth, die panisch und ungläubig mit den Armen ruderte und mit messerscharfer Stimme Nein! schrie. Die Blumen zerstört, ein rauschender Sprühnebel aus farbenfrohem Konfetti.

„Sieht gut aus“, sagte Michael anerkennend.

„Danke“, sagte Beth. „Nächstes Jahr werde die Lilien bis zur Garage wachsen. Man muss vorsichtig sein, ansonsten wuchern die hier alles zu, und sie sind zäh und nicht kleinzukriegen.“

Michael lachte neckisch. „Oh, du dachtest, ich spreche über die Blumen. Klar, die sehen nett aus, aber ich meine den süßen kleinen Hintern, den du in die Luft streckst.“

Über die Schulter lächelte Beth ihm zu. Gelockte braune Haarsträhnen, die zu Beginn des Sommers kurz geschnitten worden waren, hatten sich aus dem blauen Tuch gelöst, das sie sich wie Aunt Jemima um den Kopf gebunden hatte. Unter ihrer kleinen mit Sommersprossen bedeckten Nase hatte sie einen Charlie-Chaplin-Bart. „Du bist blöd!“, sagte sie.

„Yuh-yuh-yup“, stammelte er; seine Porky-Pig-Happy-Happy-Imbecile-Imitation. Er ließ den Rasenmäher stehen und streckte die Arme aus. „Ich bin ein wilder und verrückter Kerl. Ich komme da nicht durch, ohne deine Narzissen zu zertrampeln, also komm her und küss mich, Kleine!“

„Ich bin schmutzig!“

„Ich noch schmutziger, also komm her, bevor ich böse werde und nicht mehr will.“

Er fand, dass in ihrem Ansturm sowohl Freude als auch Verzweiflung lag; sie hätte ein Kleinkind sein können, das Daddy nach einer einwöchigen Geschäftsreise zu Hause begrüßt. Er hob sie hoch, küsste sie innig und kniff ihr in den Hintern. Wie so oft beglückwünschte er sich selbst, dass er sie ausgewählt hatte, dieses Miniaturmodell, das er sich aus all den Menschen und Dingen, die er sich zur Tarnung zugelegt hatte, zur Frau erkoren hatte. Beth Louden, geborene Wynkoop, fünfundvierzig Kilo, angenehm verteilt auf etwas weniger als einsfünfzig Körpergröße, die ultrakompakte Version des Standardmodells, das man als Ehefrau und Mutter wählt. Beth war perfekt für seine Bedürfnisse. Und sie hatte ihm zwei perfekte Kinder geschenkt, die das Bild des mehr oder weniger zufriedenen Mittelklasse-Ehemannes aus der Vorstadt, der er zu sein vorgab, vervollständigten.

Beths Worte klangen wie ein Flehen um Verständnis: „Ich liebe dich wirklich.“

„Gut so. Ich liebe dich auch.“

Sie drückte sich von ihm weg, ihre winzigen Hände auf seiner Brust. Er fragte sich, ob sie glaubte, dass diese Hände ihn zurückhalten könnten, ob es irgendeinen Weg auf Erden oder in der Hölle gäbe, dass sie das tun könnte, wenn er beschließen würde, sich nicht länger zurückzuhalten.

„Michael, ich ...“ In Beths braunen Augen, die so rund waren, dass sie Michael an die Bilder der Waisen in den sogenannten Kunst-Abteilungen der Kaufhäuser erinnerten, lag Sorge. „Ich wollte mit dir reden, seit einiger Zeit schon. Manchmal ist es nicht leicht, zu reden, finde ich.“

„Was ist los?“, fragte er, seine Hände auf ihren nackten Schultern. „Ich bin es, erinnerst du dich? Du kannst mir alles sagen.“

Beth senkte den Blick. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Michael, ich mache mir Sorgen um uns.“

„Um uns?“, sagte er. Dann ließ er die Verblüffung aus seinem Tonfall verschwinden und ersetzte sie mit Besorgnis. „Ich kann dir nicht folgen, Liebling.“

Beth zuckte mit den Schultern und er nahm seine Hände von ihr. Er formte sein Gesicht – die Augenbrauen, die Oberlippe – zu einer stummen Botschaft, die lautete: Ich will dich verstehen.

Beth sagte: „Da ist eine Distanz, Michael, zwischen uns. Sie ist da, ich kann sie spüren, und das macht mir Angst.“

„Ich ...“ Er lobte sich selbst für die Unterbrechung. Er überlegte, ob er ein kurzes Kratzen am Kopf hinzufügen sollte, verwarf es aber – zu unbedarft. Robert De Niro, ein Schauspieler? Scheiße, er hätte von Michael Louden durchaus noch etwas lernen können!

Ernst sagte Michael: „Ich schätze, ich weiß, was du meinst. Ich habe es auch schon gespürt, in Momenten, wenn ich zur Ruhe komme und mir Gedanken darüber mache, was zur Hölle los ist.“ Er ließ die Schultern hängen. „Vermutlich ist das meiste davon meine Schuld, weißt du. Seitdem Vern mich befördert hat, habe ich nur noch das Geschäft im Kopf. Das hat mich etwas aus der echten Welt gerissen, der Welt, die wir zusammen aufgebaut haben.“

Beth sagte: „Ich weiß, dass Druck auf dir lastet.“

Druck?, dachte er. Was zur Hölle wusste sie schon von dem täglichen Druck, dem ein Fremder ausgesetzt war? Er sagte: „Denke schon, trotzdem tut es mir leid, dass ich so abwesend bin, so weit weg von dir. Ist nicht gewollt, okay?“

„Sicher“, sagte Beth und klang dabei nicht wirklich sicher.

„Ich schwöre bei Gott, Beth“, fuhr er fort, „du bist die Person in meinem Leben, der ich mich wirklich nahe fühlen will.“

Er versuchte sich an einem hoffnungsvollen und etwas schelmischen Lächeln. „Ich habe eine Idee, wie wir diese Distanz zwischen uns vielleicht verringern können. Marcy und Kim kommen erst morgen vom Camp zurück und wir haben sturmfrei heute Nacht, nur du und ich. Wir können uns näherkommen, wo wir wollen. Sogar in der Küche oder dem Wohnzimmer ...“ Sein Lächeln wurde breiter. „... mitten auf dem Teppich. Richtig romantisch. Ich könnte ein Feuer anmachen ...“

Er hatte sie zum Lachen gebracht. Das war einfach, sehr einfach sogar.

„Ein Feuer? Du Dummkopf! Es ist sowieso schon heiß genug!“

„Dann stellen wir zusätzlich die Klimaanlage an.“

Beths Lachen endete abrupt. Sanft sagte sie: „Das klingt toll, Michael, wirklich.“

„Und das wird es heute Nacht auch sein“, sagte er. „Zwar habe ich Zeller versprochen, auf ein Bier bei ihm vorbeizuschauen, aber ...“

„Er wirkt wirklich, als wäre er etwas einsam“, sagte Beth und implizierte, dass er nicht der Einzige sei, dem es so erging.

„Und sobald ich zurück bin“, fuhr Michael fort, „werde ich mit dem Fahrrad zu Kentucky Fried fahren. Wir stopfen uns mit Hähnchen voll, dann gehen wir unter die Dusche, du und ich.“ Er grinste unanständig. „Was sagst du, Liebes? Ich seife dich ein und du seifst mich ein? Danach haben wir die ganze Nacht für uns, und ...“

„Na gut“, sagte Beth. Sie lächelte. „Ja, das klingt großartig.“

„Dann ist es abgemacht.“

Okay, dachte er, als er den Rasenmäher in die Garage schob, für den Moment war sie besänftigt. Er wusste jedoch, dass dieser Moment nicht von Dauer war. Er verstand den eintönigen Rhythmus und die monotone Kadenz, die banalen Dialoge und typischen Szenen seiner allzu gewöhnlichen Ehe. Heute Abend würde er sie königlich vögeln – vielleicht sogar ein zweites Mal – und sie würde Sex als Wiederherstellung der vorübergehend verlorenen Intimität interpretieren. Und dann würde sie reden wollen, eine ernsthafte Diskussion darüber führen, wo wir stehen und wohin wir gehen, als Personen, als Mann und Frau, als Familie. Und sie würde ihn wahrscheinlich mit ihrem typisch unentschlossenen Geschwafel darüber belästigen, ob sie wieder aufs College gehen sollte. Vielleicht würde er sie jedoch davon abhalten können, wenn er sich heute Nacht richtig anstrengte und sie so auslaugte, dass das, was sie anstelle eines Verstandes mit sich herumtrug, an nichts anderes als an Schlaf denken konnte.

Beth rief nach ihm, als er die Garage betrat. Sie wollte die Heckenschere, um die Sträucher in der Einfahrt zu trimmen.

In der Garage waren sein Ford LTD und Beths Chevette Scooter untergebracht, seine Werkzeuge und die Werkbank, ihre Gartengeräte, die Fahrräder der Familie, alles eben, was man in der Vorstadt so brauchte. Michael war sich sicher, dass seine Garage sich kaum von anderen in Park Estates unterschied. Es war die Garage eines Musterbürgers in einer Mustergemeinde.

Er kam aus der Garage und reichte Beth die mit einem hölzernen Griff versehene Schere. Er kniff neckisch in die sich abzeichnende Brustwarze ihrer kleinen festen Brust. „Werde nicht lange weg sein“, versprach er und ging in Richtung Nachbarhaus.

* * *

Michael hatte nicht einmal die Zeit, die Beine übereinanderzuschlagen, da kam Zeller bereits mit zwei Dosen Old Milwaukee durch die Glasschiebetür aus der Küche in den Garten. In der Ecke der Veranda lag Dusty im Schatten des Gasgrills. Die schwarz-weiße Mischung aus einem wuscheligen Terrier und Gott-weiß-Was öffnete die Augen und schaute Michael an. Der Hund beschloss offenbar, dass es die Mühe nicht wert war, sich auf seine arthritischen Beine zu stellen und ihn mit dem üblichen Schnüffeln zu begrüßen.

„Verdammt heiß heute“, sagte Brad und hob seine Bierdose zu einem Toast auf was auch immer. Er saß auf einem Stuhl gegenüber eines Snack-Tabletts, auf dem ein murmelndes Kofferradio mit niedriger Lautstärke stand, das auf WBBM gestellt war, Chicagos Nachrichtensender.

Zeller war, das sah Michael, bereits auf dem Weg, angeschwipst zu sein. Brad verbrachte die Nachmittage damit, Bier zu trinken, an den Abenden stärkeres.

„Ja“, sagte Michael, „definitiv heiß heute.“

Zeller sagte: „Ist natürlich weniger die Hitze und mehr die Feuchtigkeit.“

„Stimmt wohl“, sagte Michael. Er hob eine Braue, als wäre ihm ein wichtiger Gedanke gekommen. „Ich wette, manche Leute denken nie darüber nach, aber du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Hitze ist okay, aber die Feuchtigkeit ... Wenn es schwül ist, kommt es einem heißer vor, als es ist, und dann, wenn man das mal verstanden hat, ist es nicht so sehr die Hitze, sondern die Feuchtigkeit.“

Brad Zeller blinzelte ihm langsam und angetrunken zu. „Schätze schon“, sagte er mit fragender Stimme.

Vorsichtig, ermahnte Michael sich selbst. Der betrunkene Brad war kein Idiot. Oh, er war nicht klüger als der Rest von ihnen, den Normalen, die lange Diskussionen über Benzinverbrauch, Prostataoperationen und überbezahlte Sportler führten, aber Säufer hin oder her, wenn man dem alten Zeller genug Scheiße vor die Füße kippte, würde er den Gestank irgendwann wahrnehmen.

„Also, wie geht’s dir so, alter Junge?“, fragte Michael.

„Was soll ich sagen?“, entgegnete Zeller, und dann begann er sie aufzusagen, die bekannte Litanei der Klagen, des Bedauerns und der Reue. Dustys adenoides Schnarchen lieferte den Soundtrack für Brad Zellers Lebensgeschichte. Wenn es sich anbot, fügte Michael ein Aha und Stimmt und Ich weiß, was du meinst ein.

Brad hatte sich vor vier Jahren im Alter von zweiundsechzig Jahren aus dem Verkauf von Büroartikeln zurückgezogen – und nein, es war nicht freiwillig, aber die Mistkerle machten deutlich, dass sie ihn loswerden wollten. Acht Monate später starb seine Frau, mit der er vierzig Jahre lang verheiratet war, an Krebs, und Brad Zeller begann, sich komplett aus dem Leben zurückzuziehen. Joanie, das einzige Kind der Zellers, war eine gottverdammte Chaotin, Mitglied einer verrückten Sekte in Kalifornien, in der man sich von Naturkost und kosmischer Glückseligkeit ernährte. Sie kam nicht einmal zur Beerdigung ihrer Mutter nach Hause – die Rotznase – und scherte sich einen Dreck um ihren alten Herrn; sie war eine zweiundvierzigjährige, egozentrische, verwöhnte Göre.

„Du kannst dich glücklich schätzen, Michael“, sagte Zeller. „Deine Kinder sind hinreißend. Marcy und Kim sind vielleicht die einzigen Kinder in diesem Land, die wissen, wie man Bitte und Danke sagt.“

Michaels Lächeln zeigte eine der Situation angemessene Mischung aus Bescheidenheit und Stolz. „Sind gute Mädchen“, gab er zu, „aber keine Engel. Manchmal haben sie nur Blödsinn im Kopf, aber im Großen und Ganzen möchte ich mich nicht beschweren.“

Michael nahm sein Bier und trank. „Bereit für ein neues?“, fragte Zeller. Denn Zeller schien bereit; er stand auf, um welches zu holen. Michael sagte, er würde für den Moment kein weiteres brauchen.

Nein, zu viel Alkohol und du könntest die Kontrolle verlieren. Die Tat muss immer perfekt sein – immer – sie dürfen nicht das kleinste bisschen Verdacht schöpfen. Deshalb ist es auch so verdammt schwierig, diese unendliche Täuschung aufrechtzuerhalten, diese Verleumdung des wahrhaftigen Wesens.

Zeller kehrte zurück, ließ sich in den Stuhl fallen, öffnete ein weiteres Old Milwaukee. Dusty stand gemächlich auf. Mit steifen Beinen wankte er zu Brad hinüber, setzte sich neben dessen Stuhl, ließ seine rosafarbene Zunge aus dem Maul hängen.

Brad kraulte den Kopf des Hundes. Genüsslich schloss Dusty die Augen und rülpste.

Plötzlich drehte Brad den Kopf und blinzelte das Radio an. Er machte lauter. „Darüber schon was gehört?“, fragte er.

„... Glenvale Road. Die Polizei untersucht ... Wir werden gleich weitermachen mit dem Bericht über ...“

Zeller drehte die Lautstärke auf ein tickendes Flüstern herunter. Er schüttelte den Kopf. „Glenvale Road, das sind nur acht, vielleicht zehn Meilen von hier.“

„Ich weiß“, sagte Michael, „aber was ist passiert? Hab es nicht mitbekommen.“

„Letzte Nacht wurde irgendein Typ getötet. Wirklich furchtbar. Haben ihn umgebracht, ihm den Hals aufgeschlitzt. Cops meinten, es wurde nicht mal irgendwas geklaut.“

„Meine Güte“, sagte Michael. „Und da denkt man, solche Sachen passieren hier draußen in der Vorstadt nicht. Vielleicht ein Gang-Ding. Oder Drogen.“

„Die Cops glauben nicht, dass es damit was zu tun hatte“, sagte Zeller. „Nur irgendein Typ. Von hier oder da, spielt keine Rolle. Niemand ist sicher. Die Welt ist nicht mehr das, was sie mal war. Die Leute haben alle den Verstand verloren.“

Brad Zeller begann seinen Leitartikel über die Probleme der modernen Gesellschaft. Angestrengt hob Dusty sein Hinterteil, watschelte zu Michael hinüber und forderte dessen Aufmerksamkeit, indem er sein Schienbein mit der Nase berührte. Michael streichelte ihn.

Zellers Monolog endete mit einem verlegenen Grinsen. „Verdammt, ich langweile dich. Wenn man alt wird, wird das zum Hobby. Du langweilst die Leute.“

„Erzähl keinen Unsinn, Brad“, sagte Michael. „Ich genieße es immer, mich mit dir zu unterhalten. Das weißt du.“

„Ach ...“ Zeller machte eine winkende Geste „... ich werde langsam ein bisschen verrückt, habe niemanden, mit dem ich reden kann, also lasse ich es an dir aus, Michael. Ich habe schon darüber nachgedacht, zu verkaufen und in ein Seniorenheim zu ziehen, aber dieses Haus ist voller Erinnerungen. Ich will nicht aufs Sterben warten, umgeben von einem Haufen Fremder.“

Michael verdeckte mit der Hand sein Lächeln. „Klar nicht“, sagte er.

Zeller zeigte auf Dusty. „Mit dem kleinen Kerl spreche ich auch hin und wieder.“

„Dusty ist ein guter Hund“, sagte Michael. „Ich mag Hunde, habe ich schon immer. Die haben Verstand. Wenn ein Hund jemanden mag, weiß man, dass man der Person trauen kann.“

„Hunde haben so eine Art Instinkt“, sagte Zeller.

Michael kraulte Dusty hinter dem Ohr. Er mochte Hunde. In den Augen eines freundlichen Hundes lag stets eine Mischung aus Vertrauen und Dummheit, bis zu dem Moment, wenn man ihn tötete.

„Ich habe auch schon darüber nachgedacht, ob ich nicht mal beim Tierheim vorbeischauen und den Kindern als Überraschung einen kleinen Hund holen soll“, sagte Michael. Er kicherte. „Wäre ein besseres Haustier für sie als diese hässlichen Meerschweinchen.“

„Kinder sollten einen Hund haben“, sagte Zeller.

„Die Sache ist die“, sagte Michael, „wenn wir uns einen Hund holen, will ich ihm nicht einen dieser typischen Hundenamen geben. Ich mag es ausgefallener – phantasievoll, du weißt schon. Vielleicht King oder Rex.“

Zeller zögerte, sagte dann: „Die Namen sind okay.“

„Wie wäre es mit Sportsfreund? Vielleicht Prinz? Was hältst du von Duke?“

Zeller starrte geradeaus, dann grinste er. „Ah, du nimmst mich auf den Arm, Michael.“

Lass es, befahl sich Michael. „Klar“, sagte er, „so bin ich. Nur Blödsinn im Kopf.“ Er stürzte den letzten Schluck seines Biers; es war so warm, wie es abgestanden war. Geräuschvoll stellte er die Dose auf das Tablett und stand auf.

„Wie wäre es, wenn du diese Woche irgendwann mal zum Abendessen vorbeischaust, Brad? Danach könnten wir zur Abwechslung mal richtig trinken und uns dann Gedanken darüber machen, wie wir die Probleme der Welt gelöst bekommen.“

„Danke, das fände ich nett“, sagte Brad, seine Stimme war rau vor Dankbarkeit.

„Na dann, wir sehen uns“, sagte Michael. „Und wir uns auch, Dusty, alter Junge“, fügte er hinzu.

Beim Klang seines Namens wedelte der Hund mit dem Schwanz.

* * *

Beth hatte das Ende des Gebüschs bei der Einfahrt erreicht. Von ihrem Nacken aus kroch schmerzhafte Müdigkeit in ihre Schultern und Arme. Von der Arbeit mit der Heckenschere, mit der sie jeden Zweig entfernt hatte, der nicht ihrer Vorstellung vom Aussehen der Büsche entsprochen hatte, waren ihre Finger steif und schmerzten.

Sie stellte sich auf den Gehweg, um ihr Werk besser betrachten zu können, und war zufrieden. Ehrliche Arbeit im Freien – und wenn sie so darüber nachdachte, war sie auch im Haus nicht allzu schlecht. Sie hatte ein Auge für Farben und Kompositionen; sie mochte die Art und Weise, auf die sie das Haus eingerichtet hatte, und fühlte sich wohl darin. Und wenn die Finanzen im nächsten Monat in Ordnung sein würden, dann würden diese antiken Kristalllampen perfekt ins Wohnzimmer passen ...

Is that all there is? Ihr ging der Text eines alten Songs von Peggy Lee durch den Kopf, der ihre Stimmung trübte. War das wirklich schon alles, was das Leben für sie parat hatte? Garten- und Hausarbeit, dieses und jenes schöner machen, Kinder großziehen und Coupons ausschneiden, traditionelle Frauenarbeit in einer Zeit, in der Frauen die Traditionen über Bord warfen. Großer Gott! Sie kannte jede Frau in der Nachbarschaft und war mit ihnen allen befreundet, aber keine von ihnen war eine echte Freundin; sich über Kinderkrankheiten auszutauschen oder über Seifenopern zu plaudern, war kaum eine Grundlage für eine echte Freundschaft.

Sie musste einfach etwas finden, das ihren Geist auf Trab hielt und sie intellektuell anregte, so wie früher – vorausgesetzt, ihr Verstand war nicht schon zehn Jahre über dem Mindesthaltbarkeitsdatum, weil er nicht mehr gebraucht wurde!

Winkend kam Michael auf seinem Fahrrad angefahren. Sie drehte den Kopf, um ihn dabei zu beobachten, wie er die Walnut herunterfuhr, die Sonne im Gesicht. Für einen Moment war es, als würde er eins mit dem Sonnenlicht werden, die Umrisse des Mannes mit den herausstehenden Hüftknochen verschmolzen in goldenem Silber, seine Schultern und sein Kopf schienen wie verwandelt durch ein inneres Strahlen.

Der Gedanke überraschte sie, obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie ihn gedacht hatte. Sie beobachtete die schwindende Silhouette des Mannes auf dem Fahrrad, und zu sich selbst sagte sie still: Ich weiß nicht, wer er ist. Sie hatte ein Gefühl, das dem ähnelte, das einen überkam, wenn man das Haus verließ und sich eine Stunde später nicht mehr ganz, sondern nur noch zur Hälfte sicher war, ob man den Stecker der Kaffeemaschine gezogen hatte.

Das ist so lächerlich, dachte sie. Sie waren seit zwölf Jahren verheiratet. Sie kannte die Scherze, die Michael auf Partys erzählte, sie wusste, dass er seine Eier als Spiegeleier mochte und sie gerührt nicht vertrug, sie wusste, welche Art von süß-sentimentaler Karte er ihr zum Geburtstag, zum Muttertag, zum Jahrestag und sogar zum Sweetest Day, den er nie vergaß, schenken würde. Sie kannte das Muttermal auf seinem Hintern, seine gekrümmten kleinen Zehen, die verblasste weiße Narbe an seinem Knie.

Aber bei all ihrem Wissen, den unzähligen Informationen, die die Gesamtheit eines Menschen ausmachten, überkam sie manchmal der flüchtige Gedanke, dass es in Michael Louden ein geheimes Inneres gab, ein Inneres, von dem sie nie mehr als einen flüchtigen Blick erlangt hatte, als ob in Michaels vertrautem Körper noch jemand anderes wohnte.

Ein Fremder.

Sie kam sich albern vor. Da es nicht wirklich irgendetwas Wichtiges gab, das ihr Gehirn ausfüllte, konstruierte sie spannende Phantasien, die aus den Fünfzehn-Uhr-Filmen im Fernsehen hätten stammen können: Beth Louden in The Invasion of The Body Snatchers!

Sie brachte die Schere zurück in die Garage und betrat die erfrischende Kälte des klimatisierten Hauses. Gespannt wartete sie darauf, dass Michael nach Hause kam. Die Zeit, die sie miteinander verbringen würden, würde eine besondere sein. Sie würde das Gefühl der Nähe mit dem Mann zurückerlangen, den sie so gut kannte, ihren Mann, Michael Louden.

* * *

Er war ein Menschenhund. Er mochte Menschen, die Art, wie sie rochen und wie sie seinen Kopf kraulten oder ihn tätschelten und ihm etwas zu essen von ihren Tellern abgaben.

Und er mochte diesen Menschen. Als der Mann in die Hocke ging, den Namen des Hundes flüsternd rief und leise mit den Fingern schnippte, richtete sich der Hund auf, erst mit dem Hinterteil, dann mit dem Vorderteil, und ging auf den Mann zu.

Der Mann sagte: „Guter Hund, was bist du für ein süßer alter, verkrüppelter Furz.“ Der Hund kannte die Worte guter Hund, und wedelte mit dem Schwanz. Die anderen Worte kannte er nicht, doch den Klang der Stimme, die sie sagte und dass das bedeutete, dass alles in Ordnung war.

Der Mann streichelte ihn. Das Hinterteil des Hundes schwang hin und her, während er glücklich mit dem Schwanz wedelte. Der Mann sagte: „Du bist ein erbärmliches Stück Scheiße, nicht wahr? Natürlich bist du das, du nutzloses Arschloch.“

Während der Mann noch immer den Rücken des Hundes streichelte, drehte er ihn langsam, sprach ihm sanft und beruhigend zu. Dann umklammerte er mit den Händen die Schnauze des Hundes.

Dem Hund gefiel das nicht. Er versuchte, sein Maul zu öffnen, und konnte es nicht, versuchte, sich aus dem Griff herauszuwinden und konnte es nicht. Dann drehte der Mann den Kopf des Hundes, schmerzhaft, drückte ihn mit dem Genick nach unten, schmerzhaft.

Im Hals des Hundes steckte ein Knurren fest und ein Jaulen vor Schmerz, das nicht herauskommen wollte.

Das Geräusch, mit dem das Genick des Hundes brach, wurde von Fell und Fleisch gedämpft.

ZWEI

Dampf stieg vom Boden der Dusche und von ihren Körpern auf. Die Fiberglastüren waren beschlagen. In diesen wenigen Quadratmetern Nässe und Wärme fühlte sich Beth vom Stress der manchmal allzu realen Welt abgeschottet; das hier war besser, eine hauchdünne, ätherische Weichheit umhüllte sie wie ein angenehmer Traum.

Michael lächelte und sagte: „Ich kümmere mich um deinen Rücken.“ Sie drehte sich um, hielt ihren Kopf unter den Wasserstrahl und spülte sich das Shampoo aus.

Mit einem Waschlappen in der Hand massierte Michael ihren Nacken und knetete die Muskelverhärtung weg. Er streichelte ihre Schultern, dann wanderte er die Mitte ihres Rückens hinunter und zeichnete die Wölbung ihrer Wirbelsäule nach.

„Das ist schön“, seufzte Beth und verstand plötzlich, wieso Katzen schnurrten. Dann musste sie beinahe aufstoßen, doch unterdrückte das Geräusch, verwandelte es in ein Kichern.

Sie war betrunken – nicht betrunken betrunken, aber herrlich leicht und wundervoll entspannt. Neben dem Hähnchen hatte Michael eine Flasche Blue Nun mitgebracht. Sie hatten es sich auf dem Teppich im Gemeinschaftsraum im Keller auf Kissen bequem gemacht und ein klimatisiertes Picknick mit Papptellern und Plastikgläsern veranstaltet. Und nun ja, normalerweise trank sie nicht so viel, aber es war so schön! Sie hatten die Stereoanlage eingeschaltet, geigenlastige schöne Musik, die Art, die sie in Aufzügen oder Wartezimmern von Ärzten normalerweise ignorierte, die ihr aber heute Abend süß und üppig romantisch erschien. Und als das Essen beendet war und die Weinflasche eher leer als voll, sagte Michael: „Ich liebe dich, Beth, das tue ich wirklich.“ Die Art, wie er es gesagt hatte, und seine haselnussbraunen Augen berührten sie wie eine spontane Überschwemmung seiner wahrsten Gefühle. Das Bild vor ihren Augen verschwamm.

Michaels Hand mit dem Waschlappen berührte ihren Hintern. Verspielt schlug sie ihm gegen das Handgelenk. „Ich bin kein Baby. Ich kann mir meinen Po selbst waschen.“

„Um mir den Spaß zu verderben?“, lachte Michael.

„Na gut, wenn du darauf bestehst.“ Bei jeder seiner Berührungen empfand Beth einen warmen Schauer, als hätte sich Gänsehaut unter ihrer Haut gebildet.

„Definitiv ein wunderschöner Arsch, Liebes“, sagte Michael. Beth schob ihre Füße auseinander und stellte sich auf die Zehenspitzen, wobei sie sich mit den Handflächen gegen die geflieste Wand stützte. Sie drückte ihre Hüften zurück, ihre Pobacken spannten sich an und wölbten sich ihm entgegen.

Michael strich mit dem Waschlappen über die Schwellungen ihrer Hüfte. „Rub-a-dub-dub“, sagte er, und dann strich er über die Innenseiten ihrer Schenkel, seine Finger berührten sie spürbar durch den feuchten Waschlappen, wanderten nach oben, berührten sie zwischen den Beinen, streichelten sie.

Beth erzitterte vor Lust. Sie tauchte ein in die Gesamtheit des Moments: Michaels Berührungen. Das Wasser, wie es sich anfühlte, sein Zischen das einzige Geräusch im Universum. Die simple und zauberhafte Schönheit des Hier und Jetzt, sauber und nackt und dampfend mit diesem sauberen und nackten Mann, der sie berührte, der sie liebte, ihr Mann, Michael ...

Sie stieß sich von der Wand ab und drehte sich um, warf die Arme um ihn. Sie wollte ihn – es gierte sie nach ihm mit schmerzhaft intensivem Verlangen, das sie schon so lange nicht mehr gespürt hatte – und sie wusste, dass er sie wollte, spürte sein eigenes Verlangen, seine Härte, die zwischen ihnen stand, sie aber vereinen und sie eins miteinander werden lassen würde, BethundMichael, MichaelundBeth, eine Vollendung, viel mehr als die Summe der Teile.

Sie konnten sich in der Dusche nicht lieben.

Sie verschwendeten keine Zeit damit, das Bad zu verlassen, den Flur entlangzugehen und das Schlafzimmer zu betreten.

Nackt und nass, in seinem Brusthaar schimmerten Wassertropfen, lag Michael auf dem braunen ovalen Teppich auf dem Fliesenboden. Seine Arme waren in ihre Richtung gestreckt. „Komm schon, Baby, ja.“

Sie setzte sich auf ihn und führte seine glatte Männlichkeit in ihr Fleisch ein, das feucht war vor Bereitschaft, ihn in Empfang zu nehmen.

So gut, ging es ihr durch den Kopf ... Magie! Was sie in sich spürte, war aufregend, und doch auf sentimentale Art nostalgisch, wie wenn man nach Jahren des Umherirrens nach Hause kam. Sie waren eins. Sie waren miteinander verbunden.

Sie drückte die Handflächen auf seine Hüftknochen, ihre Finger spreizten sich auf seinem schlanken Bauch; Beth bewegte sich und fühlte sich mit ihm vereint. Wir sind Eins, dachte sie, und es gab keine Möglichkeit zu unterscheiden, wo sein Körper aufhörte und ihrer begann.

Zuerst bewegte sie sich langsam, und als das Denken erst zur Nebensache wurde und dann ganz unmöglich, immer schneller. Ihr Herzschlag wurde schneller. Ihr Körper fand einen Rhythmus des Hoch-und-Runter und des Von-einer-Seite-zur-anderen, der sich diesem anglich, angespornt und geleitet durch Michaels Hände, die auf ihrem Hintern lagen.

Beth näherte sich dem Höhepunkt, fühlte sein Versprechen in sich. Der aufsteigende Druck in ihrem Hals wurde zu einem Stöhnen.

Und dann war sie da, die glückselige Zuckung, der wirbelnde Rausch der Erlösung. Es war kein Sturz in auflösendes Nichts, sondern eine Verschmelzung ihrer selbst: Erundich, BethundMichael ...

Michael bäumte sich auf, sein Körper spannte sich, und er hob sie an. Sein pulsierender Höhepunkt in ihr ließ ihn stöhnen, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Dann verlor es jeden Ausdruck, wurde zur Totenmaske, während seine Hüften fielen und er wie ein Teekessel zischte.

Beth fiel nach vorn, lag auf ihm. Sie mochte die fleischbedeckte Linie seines Schlüsselbeins, die Stelle, auf der ihre Wange lag. Sie mochte sein Brusthaar, das an ihren kribbelnden Brustwarzen kitzelte. Sein Atem war eine sanfte Brise an ihren Augen – eine Brise des Lebens, die aus seinem Innern stammte. Sie liebte ihn.

„Ich liebe dich, Liebling“, sagte er.

Ich bin so glücklich, dachte sie, und alles scheint in Ordnung zu sein und alles wird immer in Ordnung sein ...

Das kalte Klingeln des Telefons im Schlafzimmer schien ein Loch in seine Stirn zu bohren. Sie spürte, wie Michael versuchte, sich aufzurichten.

Sie hielt den Atem an. Sie hoffte, dass es nur einmal klingeln würde und sich jemand verwählt hatte, doch dieses Glück blieb ihr verwehrt.

Michael tätschelte ihren Hintern, seine Hand war feucht. „Ich glaube ja, dass du näher am Telefon bist.“

„Ich ... Verdammt!“

„Klingelt immer dann, wenn man es nicht gebrauchen kann.“ Fleisch löste sich zu schnell von Fleisch und gleichzeitig sagten sie beide: „Au.“ Beth schnappte sich ein Taschentuch aus dem Plastikspender am Spülkasten der Toilette und eilte den Flur entlang.

Der Anruf?, dachte Michael und setzte sich auf. Das war unwahrscheinlich. Es hatte so viele Anrufe gegeben, seitdem er zu Warten begonnen hatte. Anrufe von Verkäufern von Aluminiumverkleidungen, Zeitungsabonnements und Versicherungen. Anrufe von Beths Mutter Claire, die darauf bestand, am Leben zu bleiben und zu nerven, obwohl ihr astronomisch hoher Blutdruck ihr inzwischen mindestens einen Herzinfarkt hätte bescheren sollen. Und dann immer diese lästigen: „Kann ich mit Marcy sprechen?“, „Kann ich mit Kim sprechen?“ Stets andere Nummern als die, auf die er wartete, Anrufe seines verdammten Zahnarztes, der ihn daran erinnert, dass seine Zähne gereinigt werden mussten. Ein Anruf des Roten Kreuz mit der Bitte, Blut zu spenden ...

Nie der Anruf! Der eines Fremden ... für einen Fremden.

Er stand auf. Er drehte den Wasserhahn auf – zu kalt, verdammt! –, wusch seinen schlaffen Penis und sein Schamhaar, trocknete sich gründlich mit dem großen braunen Handtuch mit dem Monogramm Dad ab und wickelte es sich um die Hüfte.

Während er sich das Haar nach hinten kämmte, betrachtete er sein Gesicht in den Spiegelschranktüren. Selbst nach all den Jahren, in denen er nun davon wusste, war er immer noch überrascht, dass er die Aura – seine Aura – nicht sehen konnte. Sein spezielles Schimmern. Das innere Licht eines Fremden.

Er wusste, dass alle Menschen eine Aura hatten, in verschiedenen Farben, blau, gelb, grün, manchmal ganz klar, manchmal – was sehr selten vorkam – ein intensives Rot, ein Rot, das so tief wirkte wie arterielles Blut, aber nur wenige Menschen besaßen eine Art sechsten Sinn, das übersinnliche Sehen, das sie befähigte, Auren wahrzunehmen. Und von denjenigen, die diese Gabe besaßen, gab es nicht allzu viele mit Kenntnissen, die über die rationale Logik der anerkannten Wissenschaft hinausgingen, um zu interpretieren, was eine Aura über eine Person aussagte.

Sicherlich – Michael grinste – waren die meisten der sogenannten Hellseher, die auf Hellseher-Messen in Einkaufszentren Kartentische aufstellten, Betrüger oder sogar Dummköpfe, die das E auf der Tafel eines Augenarztes nicht lesen konnten, selbst wenn sie es geschrieben hätten. Ja, er wusste, dass um seinen Kopf ein sich windender roter Nimbus lag, und es hatte Momente gegeben, in denen er geglaubt hatte, ihn buchstäblich zu spüren, eine Kraft, die seine Lebensessenz war. Gesehen jedoch hatte er seine Aura nie. Genauso wenig hatte er schon einmal die von Vern Engelking gesehen, seines Bosses und Verbündeten, oder die von Eddie Markell. Als er noch jünger gewesen war, hatte er jedoch einmal geglaubt, die Corona um den Kopf von Jan Pretre gesehen zu haben. Jan Pretre, den er schon seit so vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Jan Pretre, sein Lehrer, der ihn durch seine Initiation geführt hatte. Jan Pretre, der die unsichtbare rote Lichtkrone des Fremden trug und der das leuchtende Mal anderer Fremder erkennen konnte.

Andere Fremde, dachte Michael. John Wayne Gacy? Ein Gemeindevorsteher, ein freundlicher Nachbar, die Art Mann, die jungen Leuten half, sich einen Job für den Sommer zu suchen, und sie dann umbrachte und ihre Leichen im Boden unter seinem bescheidenen Vorstadthaus in Des Plaines verscharrte. Alles war möglich.

Nein, der Spiegel im Badezimmer verriet keine Aura. Michael Louden sah nur die unauffälligen Züge eines Durchschnittstypen, die Lüge, wie die Welt sie sah.

„Michael?“

Er drehte sich um. Beth hatte ihren goldenen Frotteebademantel angezogen. Sie stand in der Badezimmertür. Vielleicht hatte sie ihn dabei beobachtet, wie er versucht hatte, etwas, das er im Spiegel sah – oder auch nicht – zu inspizieren.

„Ich verstehe es nicht“, sagte er schnell. „Ich bin kein Teenager mehr, also wieso bekomme ich immer noch Mitesser?“ Er zeichnete eine Linie über seine makellose Stirn.

„Brad Zeller ist am Telefon“, sagte Beth. „Dusty ist verschwunden. Brad klingt, als ginge es ihm nicht gut.“

„Dusty?“, sagte Michael. „Meine Güte ...“

„Ich sagte Brad, dass du mal mit ihm sprechen würdest, Michael. Ich kenne Brad. Er ist von der alten Schule und er würde sich unwohl in dem Wissen fühlen, dass eine Frau weiß, dass es ihm nicht gut geht. Ich glaube, es wäre besser für ihn, wenn du mit ihm redest.“

„Klar“, sagte Michael. „Kein Problem.“

Als er neben dem Nachttisch auf Beths Seite des Bettes stand und das Telefon an sein Ohr hielt, hörte Michael es deutlich: Zeller ging es gar nicht gut.