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Der neue christliche Ratgeber von Bestseller-Autorin Stacy Eldredge ("Weißt du nicht, wie schön du bist") mit Tipps, wie wir wieder glücklich sein und echte Freude im Leben finden können. Herausforderungen aller Art stürmen auf uns ein - in jeder Lebensphase. Wie können wir trotzdem Freude finden - eine Freude, die von unseren Umständen unabhängig ist? In ihrem neuen Buch gibt Stacy Eldredge tragfähige Antworten, die das Leid weder verleugnen noch verharmlosen. Mit großer Verletzlichkeit erzählt sie von ihren eigenen chronischen Schmerzen, unerwarteten Diagnosen, Beziehungskrisen und Verlusten. Und wie sie in all dem erfahren hat: Echte Freude wächst in der Verbindung zu Gott. Je vertrauter er uns ist, desto tiefer können wir uns in seiner Gegenwart entspannen und uns auf seine zuverlässige, unerschütterliche, grenzenlose Liebe verlassen - unter allen Umständen.
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Seitenzahl: 277
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STACY ELDREDGE
Wie Gott dich beschenken will
Published by arrangement with Thomas Nelson,
a division of HarperCollins Christian Publishing, Inc.
© 2018 by Stasi Eldredge
Titel der Originalausgabe: Defiant Joy © Stasi Eldredge 2018
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Thomas Nelson,
einem Imprint von HarperCollins Christian Publishing.
Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben, dem Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft.
Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.
Ferner wurden verwendet und sind wie folgt gekennzeichnet:
Hfa – Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.
L – Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
GNB – Gute Nachricht Bibel, durchgesehene Neuausgabe, © 2018 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
ZB – Zürcher Bibel. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich, bei dem auch das Copyright für diese Bibelübersetzung liegt.
NLB – Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.
B – Die Bibel mit Erklärungen, übersetzt von Hans Bruns. Brunnen Verlag GmbH, 17. Aufl. Gießen 2017.
Das Zitat von C. S. Lewis auf Seite 9 stammt aus: Du fragst mich wie ich bete.
Briefe an Malcolm, Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg 62018, S. 102.
Das Zitat von Henri J. M. Nouwen auf Seite 169 stammt aus: Was mir am Herzen liegt. Meditationen, © 2016 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br., S. 24.
Deutsch von Beate Zobel
Lektorat: Konstanze von der Pahlen
© der deutschen Ausgabe: 2019 Brunnen Verlag GmbH Gießen
Umschlagfoto: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: DTP Brunnen
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN Buch 978-3-7655-0717-5
ISBN E-Book 978-3-7655-7543-3
www.brunnen-verlag.de
Für Jesus –
in dir hat jede Freude ihren Ursprung,Freude, die nie endet. Es ist dein Buch.
Alle, die der HERR befreit hat, werden jubelnd aus derGefangenschaft zum Berg Zion zurückkehren. Dann sindTrauer und Sorge für immer vorbei, Glück und Friedenhalten Einzug, und die Freude hört niemals auf.
Jesaja 35,10 (Hfa)
Einführung
Kapitel eins – Heilige Entschlossenheit
Kapitel zwei – Der Becher
Kapitel drei – Schreckensmomente
Kapitel vier – Wenn Gott dazwischenfunkt
Kapitel fünf – Wo das Gras grüner ist
Kapitel sechs – Gottes Tauschangebot
Kapitel sieben – Voller Erwartung
Kapitel acht – Wenn die Diebe kommen
Kapitel neun – Alle Zeichen deuten darauf hin
Kapitel zehn – Freude wachsen lassen
Kapitel elf – Um der Liebe willen
Kapitel zwölf – A hui hou – bis später!
Anmerkungen
Freude ist der Herzschlag des Himmels. Sie ist Gottes wunderschönes Geschenk an uns. In uns soll die Freude widerhallen, die Teil von seinem eigenen Wesen ist und die damit auch zu unserer schöpfungsgemäßen Grundausstattung gehört. Diese Freude, die über den Widrigkeiten des Lebens steht, hat die Kraft, uns in guten und in schlechten Zeiten zu erfüllen. Wir müssen dafür keine Purzelbäume schlagen oder laut singend durch unseren Alltag gehen. Vielmehr handelt es sich um eine tiefe und unerschütterliche Freude.
Doch Freude passt oft nicht zu dem, was wir erleben. Der Wind ist rau, das Leben ist hart und Freude kommt da selten auf. Wie können wir dem Sturm standhalten, wenn die Verzweiflung uns fortreißen will und schwierige Umstände uns niederdrücken? Alleine werden wir das nicht lange schaffen. Aber wir sind nicht allein. Davon sprach der Engel Gabriel, als er Maria mitteilte, dass sie – ohne Mann – schwanger werden würde. „Denn für Gott ist nichts unmöglich“ (Lukas 1,37).
Wollen wir in dieser Freude leben – mitten im persönlichen Leid und angesichts der schlechten Nachrichten, mit denen wir Tag für Tag bombardiert werden –, dann brauchen wir eine trotzige Entschlossenheit, die den Erfahrungen von Leid und Verlust standhalten kann. Um die dafür notwendige Kraft zu entwickeln, müssen wir uns gute geistliche Nahrung zuführen, die unseren Geist stark macht.
Wenn wir fest im Glauben stehen, können wir uns dieser Welt aussetzen, ohne die Freude zu verlieren. Das geht, weil wir aus der himmlischen Perspektive auf unser Leben schauen und die Dinge von dort her deuten. Keinem ist geholfen, wenn wir das Negative ignorieren oder schönreden. Doch wer innerlich stark ist, kann den schwierigen Tatsachen ins Auge sehen.
Die Bibel fordert uns zur Freude auf, unter allen Umständen. „Freut euch, was auch immer geschieht; freut euch darüber, dass ihr mit dem Herrn verbunden seid! Und noch einmal sage ich: Freut euch!“ (Philipper 4,4). Wir sollen uns freuen, immer, überall, wenn es uns gut geht, aber auch, wenn wir am Boden liegen. Wie kann das gehen? Davon handelt dieses Buch.
Freude ist das ernste Geschäft des Himmels.
C. S. Lewis
Es ist ganz leise an diesem Morgen, das Haus ist leer, außer mir sind nur noch die beiden Hunde hier. Weil sie ahnen, dass in nächster Zeit niemand mit ihnen nach draußen gehen wird, haben sie sich wieder hingelegt. Mein schleppender Gang bremst ihre gewohnte Unternehmungslust. Heute werde ich mich von ihren treuherzigen, bettelnden Blicken zu nichts drängen lassen. Tut mir leid, Jungs. Mein Bett ist zu gemütlich. Ich habe heute frei.
Plötzlich springt der jüngere der beiden Golden Retriever auf, rennt von meinem Bett zum Fenster und bellt aufgeregt. Maisie ist fast noch ein Welpe. Ich kann mir schon denken, was los ist. So reagiert sie immer, wenn eine Kuh des Nachbarn in ihr Territorium eindringt. Ein Blick aus dem Fenster bestätigt meine Vermutung. Tatsächlich steht ein kleines schwarzes Kälbchen verunsichert auf unserer Seite des Zaunes. Sein Hinterteil ist noch gerötet, es hat gerade erst sein Brandzeichen erhalten. Maisie bellt empört, bereit, den Eindringling zu verjagen.
Ein paar Minuten später findet das Kälbchen den Weg zurück zu seiner Mutter und Maisie beruhigt sich wieder. In der nun folgenden wohltuenden Stille bemerke ich den Brandgeruch. Wir haben Hochsommer, mit der Trockenheit steigt draußen die Feuergefahr – und jetzt scheint irgendwo ein Brand ausgebrochen zu sein. Dem Rauch nach zu urteilen, gar nicht weit von uns entfernt.
Früher mochte ich diesen Geruch. Er erinnerte mich an entspannte Gespräche am Lagerfeuer, an leckere Grillfeste, an die Zeit, als ich jung war. Heute ist das anders. Ich habe zu viele Wandbrände erlebt. Seit wir in Colorado wohnen, waren es schon drei. Besonders dramatisch war die Lage 2012, als das Feuer 347 Häuser verschlang und über 7000 Hektar Wald zerstörte. Nur sechs Meter waren die Flammen damals von unserem Haus entfernt. Die Feuerwehrmänner, die von der Air Force unterstützt wurden, hatten unser Anwesen aufgegeben und sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Sicherheit gebracht. Nur knapp entkamen wir selbst dem Inferno, als wir in Panik aus dem Haus flohen. Das war kein Spaß. Nein, wenn ich Rauch rieche, kommt das Entsetzen zurück.
Andererseits: Sind wir nicht ständig von Feuern bedroht, deren Flammen manchmal in der Ferne lodern, manchmal aber auch gefährlich nahe kommen? Der Apostel Paulus kennt das: „Wundert euch nicht über die Nöte, die wie ein Feuersturm über euch hereingebrochen sind und durch die euer Glaube auf die Probe gestellt wird“ (1. Petrus 4,12). Keiner wird davon verschont. Schicksalsschläge, Leid, Belastung und Überforderung, Krankheit und Herausforderungen aller Art stürmen auf uns ein – in jeder Lebensphase. Ich bin gerade selbst krank, als meinem Mann eine schlimme Diagnose gestellt wird, meine Kinder geraten in Schwierigkeiten, eine Todesnachricht aus dem Freundeskreis erreicht uns, das Finanzamt kündigt eine Überprüfung unserer Steuererklärungen der letzten Jahre an, eine Freundin bittet um Hilfe, weil ihr Sohn sich umbringen will, in zwei Tagen müssen wir ein berufliches Projekt abgeschlossen haben und eine andere Freundin ruft an, weil sie in ihrer Brust einen Knoten entdeckt hat. Und das alles innerhalb von zwei Tagen.
Das Leben ist eine Katastrophe und es wird nicht besser.
Natürlich, ich weiß, viele haben es noch viel schwerer als ich. Ich bin nicht auf der Flucht. Unser Land leidet nicht unter jahrelanger Dürre und ich muss nicht fürchten, dass meine Kinder verhungern. Bei uns tobt kein Bürgerkrieg und ich bin auch nicht obdachlos. Nein, so gesehen geht es mir gut. Ich habe ein Dach über dem Kopf und von dem Wasser, das bei uns aus der Leitung kommt, wird niemand krank. Ich habe ein gemütliches Bett und auf dem Boden liegen weiche Teppiche, ich besitze einen amerikanischen Pass und genieße einen Luxus, von dem 90 Prozent der Weltbevölkerung nur träumen können. Ich weiß, ich weiß.
Das stimmt alles und es beschämt mich, wenn ich darüber nachdenke, aber das hilft mir nicht. Bestenfalls tue ich dann so, als ob ich glücklich wäre – weil ich es doch so gut habe. Als ob die schweren Dinge, die gerade wie ein Feuersturm über mein Leben ziehen, nicht wirklich schlimm wären. Aber sie sind schlimm, sie haben das Potenzial, mich und die Menschen, die ich liebe, zu zerstören.
Natürlich, ich sehe die Not in der Welt. Ich will barmherzig sein, mitfühlend, mitleidend. Aber wenn ich dafür meinen eigenen Schmerz ignorieren muss, ist mein Mitgefühl nicht echt. Ich will das Elend in der Welt nicht gegen meine Nöte aufwiegen, will meinen Schmerz nicht kleinreden. Wenn ich mir selbst gegenüber hart bin, dann bin ich das auch im Umgang mit anderen. Erlaube ich mir meinen eigenen Schmerz nicht, dann kann ich auch nicht das fühlen, was andere leiden, denen es ähnlich geht wie mir – oder schlimmer. Außerdem schließe ich mich selbst dabei von der Gnade Gottes aus, die mich in jedem Augenblick der Not umgeben will. Wenn ich mein Leid überspiele, dann verpasse ich auch das Eingreifen des Gottes, der mir mitten im Leid nahe sein will.
Mein Tag hat noch gar nicht begonnen, ganz ruhig liege ich da, rieche den Rauch und frage meinen Gott: „Bist du da?“
Tief in mir höre ich seine Antwort: „Ich bin da, ich bin bei dir.“
Bunte Lichterketten haben das Haus erobert, Glitzerdeko, Tannenzweige, rote Schleifen und harziger Duft beherrschen das Wohnzimmer. Heute Abend wird gefeiert. Alles ist bereit für unsere jährliche Adventsfeier. Seit Wochen habe ich diesen Tag vorbereitet. Sogar im Bad steht ein kleiner Schlitten.
Es ist dieser eine Abend im Jahr, an dem unser ganzes Team zusammenkommt. Dann feiern wir, was Gott durch unseren Seelsorgedienst getan hat. Wir erinnern uns. Dankbar. Fröhlich. Wir essen und lachen. Und jeder macht sich schick dafür. Zu meiner Entlastung lassen wir uns das Festessen ins Haus liefern. Ich koche nicht. Trotzdem planen wir diesen Abend schon zwei Monate im Voraus. Je näher der Termin rückt, desto größer wird die Vorfreude.
Ich hatte noch ein bisschen Zeit, bevor ich mich umziehen musste, Zeit, die ich am Handy verbrachte – nur mal kurz sehen, was in der Welt so los war, E-Mails und Facebook checken.
Da sah ich die Schlagzeile. Wut und Trauer trafen mich mit voller Wucht. Ich fing an zu weinen, erschrocken und verzweifelt.
Jemand hatte in einer Grundschule um sich geschossen, zwanzig Kinder waren tot, sechs- und siebenjährige Kinder. Auch sechs Erwachsene. Kein Amoklauf an einer amerikanischen Schule hatte jemals so viele Opfer gefordert. Am Ende erschoss sich der Täter selbst.1
Ich ging zu meinem Mann und las ihm die Nachricht vor. Wir weinten zusammen, dann beteten wir. Aber was war mit unserem Abend? Gleich würden alle da sein, fröhlich, in Feierlaune. Konnte man so tun, als ob nichts wäre? Kann man feiern, wenn so etwas passiert ist?
Das war der Moment, als ich darüber nachdachte, was es heißt, sich trotzdem zu freuen – Freude mitten im Sturm. Nein, wir würden das Fest nicht ausfallen lassen. Wir würden sie alle kommen lassen. Aber wir würden auch nicht so tun, als ob wir nicht wüssten, was heute passiert war. Wir würden an die Familien denken, die jetzt um ihre Toten trauerten. Trotzdem und ganz bewusst würden wir daran festhalten, dass wir einen Grund zum Feiern hatten. Gott war auf unsere Erde gekommen. Das Reich Gottes war angebrochen und es eroberte die Welt. Weihnachten – die Geschichte einer Invasion der Liebe, unser Grund zum Feiern.
Der Kampf zwischen Gut und Böse wurde in jener Nacht deutlich sichtbar. Die Nachricht des Tages wirkte wie ein Sieg für das Reich der Finsternis. Aber gleichzeitig feierten wir das Licht, das mit Jesu Geburt in unsere Welt gekommen war. Der ewige Gott hatte die Herrschaft des Bösen offiziell längst beendet. Der Kampf tobte zwar noch, doch der Sieger stand schon fest. Unsere Aufgabe war es, vom Sieg Jesu zu erzählen und seine Herrschaft bekannt zu machen.
Als das ganze Team da war, nahmen wir uns Zeit, über den Vorfall zu reden. Wir beteten und gedachten der Toten und ihrer Angehörigen, deren Leben sich mit diesem Tag für immer verändern würde. Wir richteten unser Augenmerk auf den, der unsere Hoffnung ist, gerade in Trauer und Leid. Mit dem Blick auf Jesu Tod und Auferstehung konnten wir weiterfeiern. So ehrten wir ihn. Wir feierten seinen Sieg von damals, der seither in unserem Leben immer wieder neu zur Auswirkung kommt.
Es wurde ein schönes, ein ehrliches Fest. Wir waren bis lange nach Mitternacht bei Kerzenlicht und adventlicher Musik zusammen und unterhielten uns. Der Schmerz, der uns gemeinsam getroffen hatte, verband uns auch. Wir rückten zusammen, öffneten uns voreinander, ließen Nähe zu und freuten uns, trotz allem, im Gegenwind.
Echte, göttliche Freude definiert sich nicht aus dem Widerstand heraus, sie ist weder rebellisch noch verdrängt sie das Leid.
Es war am 26. April 2001 um 11 Uhr morgens, als meine Mutter in die Ewigkeit ging. Sie war zu Hause, meine Schwestern, unsere Tante und ich saßen um ihr Bett und sangen. Gemeinsam erlebten wir Mutters Sterben als einen kostbaren, heiligen Moment.
Um 13 Uhr kamen dann die von uns bestellten, schwarz gekleideten Männer und schoben die Bahre ins Haus. In diesem Moment schien eine meiner Schwestern erst zu realisieren, was geschehen war. Der Schmerz traf sie mit voller Wucht. Sie konnte unsere Mutter noch nicht gehen lassen. Über Jahre hatte sie äußerlich, aber auch innerlich auf Distanz gelebt. Nun hätte sie noch mehr Zeit mit der Mutter gebraucht. In plötzlicher Verzweiflung stellte sie sich den Mitarbeitern des Bestattungsinstitutes in den Weg, bis diese schließlich unverrichteter Dinge, irritiert und ohne den Leichnam wieder gehen mussten.
Das hatte auch ein Gutes, zumindest für meine Tante. Sie nutzte die Gelegenheit, um Fotos zu machen – etwas, was in ihrer Generation und in der Region in North Dakota, aus der sie kommt, so üblich zu sein schien. Ich kenne das nicht und würde das nicht tun. Aber meine Tante vertiefte sich ganz in die Aufgabe, arrangierte Blumen um den toten Körper meiner Mutter und machte serienweise Aufnahmen. Einen Monat später bekam ich 45 Bilder von meiner verstorbenen Mutter. Was macht man denn damit? Einrahmen, aufhängen?
Ein paar Stunden später versuchten es die Männer erneut, etwas verunsichert durch das, was sie beim ersten Mal erlebt hatten. Wieder stand die Bahre in der Tür. Wieder rastete meine Schwester aus. Sie wollte die Bahre nicht, sie wollte die Männer nicht, sie brauchte Zeit mit der Mutter, Lebenszeit. Wir anderen waren ratlos. Sollten wir ihr Beruhigungsmittel geben? Brauchten wir eine Zwangsjacke für sie? Oder Beruhigungsmittel für uns alle?
Ein toter Körper kann nicht dauerhaft im Haus bleiben. Die Leiche muss in die Obhut der dafür zuständigen Leute. Gott sei Dank war auch unser Bruder vor Ort, stark und unerschütterlich, ein Fels in der Brandung. Er wurde wütend auf unsere Schwester und die ganze Situation. Eigentlich hatte er vorher erklärt, dass er meine Mutter nicht sehen wollte, nachdem sie gestorben war. Für ihn war es wichtig, sie lebend in Erinnerung zu behalten. Aber das Verhalten meiner Schwester zwang ihn nun, ins Schlafzimmer zu kommen. Schließlich brachte er meine Schwester dazu, die Tote gehen zu lassen.
Ich stand wie gelähmt dazwischen, im tiefen Schmerz um meine Mutter, während meine Tante unaufhörlich Fotos machte und die Bahre, auf der nun die Leiche lag, an mir vorbeigeschoben wurde. Die ganze Welt erschien uns so irreal, die Zeit schien still zu stehen.
Dann schloss sich die Tür hinter den Männern. Um unsere Schockstarre zu lösen, schlug meine Tante vor, essen zu gehen. Keiner widersprach. Warum auch? Wir hatten heute noch kaum etwas gegessen. Schweigend zwängten wir uns also in ihr Auto. Kurze Zeit später hielt sie vor einem japanischen Lokal. Es war ein Teppanyaki-Restaurant, wo in jeden Tisch eine Heizplatte eingelassen ist. Der Koch kommt zu den Gästen und bereitet direkt vor ihren Augen auf kunstvolle Weise das Essen zu.
Während wir in bedrücktem Schweigen um den Tisch saßen, wirbelte der Japaner mit dem Messer vor unserer Nase herum. Gut gelaunt versuchte er, uns zu beeindrucken. Eine Zucchini flog in die Luft und landete spiralförmig geschnitten auf der heißen Platte. Er war talentiert, keine Frage.
Aber wir standen unter Schock. Nicht nur der Tod unserer Mutter, auch der seelische Abgrund, der sich bei unserer Schwester aufgetan hatte, lastete schwer auf uns. Zwiebeln zerfielen in tausend Stücke, so schnell, als würden sie explodieren. Doch was der Japaner auch versuchte, wir reagierten nicht. Er war sicher sehr enttäuscht.
Die Geschichte wirkt makaber. Aber sie ist auch ein gutes Beispiel für Leid, das nicht zugelassen wird. Ein Jahr davor hatten wir, trotz des Massakers an der Schule, als Team gemeinsam feiern können. Damals waren wir uns selbst gegenüber ehrlich gewesen, die Freude über Weihnachten mischte sich mit der allgegenwärtigen Bedrohung durch Terror und Tod – beides hielt sich die Waage und wurde zu einer feierlichen, heiligen Gesamterfahrung.
Im Gegensatz dazu war unser Restaurantbesuch am Todestag meiner Mutter würdelos. Wir ignorierten unseren Schmerz, beschämten alle Beteiligten und litten innerlich umso mehr. Wir waren an diesem Abend zur falschen Zeit am falschen Ort. Schmerz lässt sich nicht reduzieren, indem man ihn zur Seite schiebt. Aber es ist möglich, zu feiern und sich zu freuen, mitten im Schmerz.
Am Todestag meiner Mutter waren wir nicht in der Lage, den Küchenmeister zu würdigen. Es wäre besser gewesen, zu Hause zu bleiben und die Trauer zuzulassen. Wir hätten Ruhe gebraucht und Zeit, um das Erlebte sacken zu lassen, den Verlust zu realisieren. Unsere Seelen waren aufgewühlt und erschöpft. Ein Spaziergang im Wald, die Schönheit der Natur, ein schweigender Blick aufs Meer – das wäre angemessen gewesen und hätte geholfen. Stattdessen wirbelte das Alltägliche um uns herum, Messerklingen und Feuer unter der Grillplatte – während das Leid und die tiefe Nachdenklichkeit, die uns erfüllte, dem Oberflächlichen weichen musste. Der Schmerz ließ sich vorübergehend verdrängen, aber die Wucht, mit der er uns später traf, nahm dadurch zu.
Wir können nicht zur Freude durchdringen, indem wir die Realität verneinen. Das ist auch keine heilige Entschlossenheit, wenn wir so tun, als wäre alles Negative nicht wahr. Wir müssen die Samen der Freude in die schwere Erde unserer Gegenwart legen, nur in dieser Erde werden sie keimen. Verwurzelt im Schmerz unseres Lebens kann die Freude zu einer starken Pflanze heranwachsen und ihre Zweige bis in die Ewigkeit hineinrecken. Freude ist in der Wahrheit gegründet. Diese Freude, die mit allen Sinnen erlebt wird, ist eine lachende, staunende Freude, die für das Schöne jedes Augenblicks offen ist – und gleichzeitig umschließt sie auch das Leid, die Trauer und die Angst. Unter allen Umständen sagt die Freude: „Und wenn schon – ich habe trotzdem Grund zum Feiern.“
Klingt das verrückt? Es klingt nach Gott. Ein Gott, der seinem Feind entgegenlacht, der dem Leid ins Angesicht schaut und mit unerschütterlicher Liebe erklärt: „Du hast nicht das letzte Wort.“ Das ist unser Gott. Er kann unsere Herzen mit einer frohen Hoffnung erfüllen, die stärker ist als der Tod.
Trotzige Auflehnung und Widerstand sind Eigenschaften, die wir normalerweise nicht mit Gott verbinden. Aber sie beschreiben eine Seite seines Wesens. Gott kann so sein und wir brauchen diese Fähigkeiten auch. Allem, was unsere Seelen zerstören möchte, müssen wir uns widersetzen, dem dürfen wir weder glauben noch gehorchen, dagegen kämpfen wir an.
Wir sollen den Lügen des Teufels widerstehen. Wie Christian, der Pilger in dem Buch von John Bunyan, Die Pilgerreise, sollen auch wir uns vom „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ fernhalten. Egal, wie verlockend uns die vergänglichen Attraktionen dieser Welt auch erscheinen mögen, trotzig entschlossen gehen wir unseren Weg. Wir lehnen uns gegen die Sünde auf. Christus, der in uns lebt, bekämpft durch uns den Tod und die Zerstörung. Anders als die Mehrheit der Menschen sind wir überzeugt, dass Leid und Not ein Ende haben werden.
So stellen wir uns auf die Seite des Lebens, der Liebe und alles dessen, was mit Jesus auf die Erde kam. Wir glauben, dass seine Güte jeden Bereich unseres Lebens durchdringen und sein Reich kennzeichnen wird. Als Christen setzen wir uns für die Wahrheit ein, gehorchen unserem Gott, respektieren seine Autorität und lassen ihm das letzte Wort. Im Namen Jesu überwinden wir das Böse mit Gutem. Dem Hass halten wir Gottes allumfassende Liebe entgegen.
Wir entscheiden uns für die Freude.
Ist es unangemessen, sich zu freuen, wenn unsere Welt leidet? Nein, denn Gott hat uns die Freude befohlen. Natürlich, Trauer hat ihre Zeit. Manchmal ist es richtig, zu klagen und zu weinen. Ist eine Beziehung zerbrochen, hat man einen lieben Menschen verloren, dann geht man nicht ins Teppanyaki-Restaurant. Aber auch im Leid kann man Freude spüren, mitten im bewusst erlebten Schmerz. Freude pulsiert in Gottes Reich, grundsätzlich. Diese Freude richtet uns immer wieder auf, sie ist unsere Kraft. So können wir Schweres unbeschadet durchstehen und immer auf das Gute hoffen.
Mitten in den leidvollen Erfahrungen unseres Lebens können wir voller Freude sein.
Wie muss man sich das vorstellen? Was ist Freude eigentlich? Auch ohne bewusst darüber nachzudenken, unterscheiden wir ganz klar zwischen Freude und Glück. Beides ist positiv. Aber Freude ist irgendwie edler, hochwertiger. Freude wirkt belastbarer und vertrauenswürdiger als Glück.
Ob jemand glücklich ist, hängt stark von seiner Situation ab. Wenn mir beim Aufwachen bewusst wird, dass es nicht Montag, sondern Samstag ist und ein freies Wochenende vor mir liegt – dann bin ich einen Moment lang glücklich. Bringt mir dann noch jemand eine Tasse Kaffee ans Bett, nimmt mein Glücklichsein zu. Wenn mir jemand einen Geburtstagsgruß schickt, macht mich das glücklich. Ist ein schöner Urlaub vorbei, auf den ich mich lange gefreut habe, bin ich unglücklich. Auch wenn ich einen lieben Menschen verletzt habe, macht mich das unglücklich – genau wie wenn keiner an meinen Geburtstag denkt.
Ich bin gerne glücklich. Aber man kann nie genau wissen, wann man das nächste Mal glücklich ist und wie lange das dann anhalten wird. Glücksgefühle hängen zu sehr von den äußeren Umständen ab – und die sind leider unberechenbar, genau wie unsere Emotionen auch. Mal sind wir in Hochstimmung, mal down. Diese Art der Freude erinnert an eine Achterbahn, ständig geht es auf und ab und wirbelt uns herum. Davon wird einem schlecht, genau wie man auch bei starken Wellen seekrank wird. Entsprechend kann uns auch die emotionale Achterbahn des Lebens seelisch krank machen.
Freude ist von einer ganz anderen Qualität. Sie ist solide, erfüllend und nicht so leicht zu erschüttern. Ich gehe gerne mit den Kindern in die Eisdiele. Das macht Spaß, wir sind dort eigentlich immer glücklich. Aber es wäre etwas komisch, wenn ich sagen würde, der Besuch der Eisdiele erfüllt mich mit tiefer Freude. Bei der Hochzeit unserer drei Söhne, da hat mich wirklich tiefe Freude erfüllt. Auch durch die Geburt unserer Enkeltöchter kam große Freude in unser Leben. Als meine Freundin erfuhr, dass sie den Krebs besiegt hatte, waren wir beide voller Freude. An jenem Tag waren wir nicht nur glücklich, sondern uns erfüllte große Freude und eine tiefe Dankbarkeit unserem Gott gegenüber, der eingegriffen hatte. Das machte uns froh.
Freude hat nichts mit Glückshormonen zu tun. Sie ist mit Glück nicht verwandt. Jeder seelisch gesunde Mensch erlebt Glücksgefühle, wenn die Situation entsprechend ist. Aber Freude ist etwas ganz anderes. Sie gehört nicht zur seelischen Standardausrüstung. Wahre Freude hat ihren Ursprung in Gott und sie ist sein Geschenk an uns, wenn wir in Verbindung mit ihm leben.
Freude hat ihre Wurzeln in Gott selbst und in seinem Reich. Sie entsteht dort, wo wir uns an seiner Güte und Liebe festhalten. Deshalb ist diese Freude auch unerschütterlich und genauso krisenfest wie das Wesen Gottes selbst. Sie steht uns immer zur Verfügung, genau wie Gott und sein Reich immer zugänglich sind. Ich will in dieser Freude leben, statt Achterbahn zu fahren. Mir ist schlecht von der Jagd nach Glücksmomenten. Mein Herz soll zur Ruhe kommen und sich freuen. Wer die Wahl hat und sich zwischen Glücklichsein und Freude entscheiden kann, der nimmt die Freude. Da bin ich mir ganz sicher.
Jeder Mensch sehnt sich nach Freude. Wir wünschen uns Freude bei der Arbeit, in der Ehe und für alle Beziehungen. Wie schön, wenn die Kinder uns Freude machen und wir uns auch freuen können, wenn wir alleine sind. Im Idealfall wird unsere Freude immer mehr zunehmen und sich auf immer mehr Bereiche unseres Lebens auswirken. Wenn Freude zur Frucht des Geistes zählt – und das tut sie –, dann sollten wir sie zunehmend erleben und genießen können, egal wie unsere Bedingungen gerade sind. Auch wenn um uns herum der Sturm tobt, im Auge des Sturms herrscht Freude. Die Frage ist bloß – wie kommt man da hinein? Es ist gar nicht so schwer. Wir müssen einfach nur Gott besser kennenlernen. Je vertrauter er uns ist, desto tiefer können wir uns in seiner Gegenwart entspannen und uns auf seine zuverlässige, unerschütterliche, grenzenlose Liebe verlassen – unter allen Umständen.
Freude ist der Herzschlag des Himmels. Sie ist das Licht, das aus dem Herzen von Jesus strahlt. Je enger unsere Beziehung zu Gott ist, desto größer wird die Freude, die uns erfüllt. Er beobachtet nicht voller Verzweiflung, was die Menschen tun – wir sind da viel eher besorgt über alles, was auf der Erde läuft. Wegen der Zukunft macht er sich keine Sorgen und das Leid in der Welt überwältigt ihn nicht. Seine Freude geht nie zur Neige, sie ist ebenso konstant wie er selbst. Freude ist ein Wesensmerkmal Gottes.
Im 13. Jahrhundert schrieb der Mystiker und Poet Meister Eckhart:
Falls wir uns fragen, was sich im Herzen der Dreieinigkeit abspielt, hier meine Gedanken dazu: Im Herzen der Dreieinigkeit lacht der Vater und bringt den Sohn hervor. Der Sohn erwidert das Lachen des Vaters und bringt den Geist hervor. Die Trinität lacht gemeinsam und bringt die Menschen hervor.2
Wir sind aus dem Lachen des dreieinigen Gottes entstanden. Was für ein ungewöhnlicher Gedanke! Wenn wir nach seinem Ebenbild geschaffen sind, dann muss Freude ein Teil unseres innersten Wesens sein. Also müsste es für Menschen eigentlich selbstverständlich sein, Freude zu spüren.
Aber ganz ehrlich, ich bin keine Frohnatur. Ich bin weder naiv noch überaus optimistisch, ich schwebe grundsätzlich nicht auf Wolken und musste noch nie in die Realität zurückgeholt werden. Ich neige eher zu Depressionen, die mich mal mehr, mal weniger stark im Griff haben. Ich verstehe jeden, der Mühe hat, morgens aus dem Bett zu kommen. Oft fühlt sich mein Leben so an, als müsste ich durch knietiefen Morast waten, mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken. Doch ich kenne auch die Zeiten, in denen mir die Lasten abgenommen sind, wenn mir Hoffnung und Zuversicht den Weg weisen und tiefe Freude mich erfüllt. Ich bin eine Lernende und sehne mich danach, die emotionale Achterbahn zu verlassen. Die Umstände sollen immer weniger darüber entscheiden, ob ich glücklich oder niedergeschlagen bin. Ich möchte grundsätzlich, immer, mit Freude leben. Aber manchmal geht das nur, indem ich mich ganz bewusst dazu entscheide. Zu manchen Zeiten ist mir das fast unmöglich. Doch phasenweise gelingt es mir auch schon – und dafür lohnt sich die Anstrengung.
Freude ist mein Ziel und ich glaube, dass ein von Freude durchdrungenes Leben der Wille Gottes für die Menschen ist. Ich möchte jeden dazu ermutigen, sich auf den Weg zu machen und dieses Ziel zu suchen.
Meine Kinder, unsere Liebe darf sich nicht in Worten und schönen Reden erschöpfen; sie muss sich durch unser Tun als echt und wahr erweisen.
1. Johannes 3,18
Manchmal komme ich mir so vor, als würde ich neben mir stehen, mich selbst beobachten, als wäre ich durch ein mattiertes Glas vom Rest der Welt getrennt. Auf der anderen Seite der Glaswand sind die Menschen, die ich liebe. Dort bewegen sich mein Mann und meine Söhne, unbeschwert und fröhlich, so wie ich es nie könnte. Sie sind anders – nein, ich bin anders, fühle mich fremd, fern, getrennt, außerhalb ihrer Welt. Ein schreckliches Gefühl, das es mir unmöglich macht, in ihr Lachen einzustimmen.
Wir pflegen sehr enge Beziehungen. Wenn unsere Söhne und Schwiegertöchter meinen Mann und mich besuchen, dann können wir tiefe, offene Gespräche miteinander führen. Natürlich gibt es immer auch Themen, bei denen wir vorsichtig sind, um uns nicht zu verletzen. Aber der Austausch ist uns wichtig, grundsätzlich, weil wir uns gegenseitig wichtig sind. Doch obwohl ich weiß, dass alle mich lieben und ich auch sie von Herzen liebe, komme ich mir doch manchmal, mitten in dieser fröhlichen, herzlichen Runde, wie ein Lebewesen aus einer anderen Welt vor. Das fühlt sich dann so an, als säße ich auf einer Insel, mit Blick auf das geheimnisvolle Festland, auf dem die anderen zu Hause sind – und ich weiß nicht, wie man dorthin kommt.
Auch beim Zusammensein mit Freundinnen ging mir das schon so. Sie schauen sich an und lachen, kichern über gemeinsame Witze, machen Andeutungen, die ich nicht verstehe, sind vertraut miteinander und ich stehe am Rand. In den sozialen Medien berichten Freundinnen von tollen Festen, zu denen ich gar nicht eingeladen war. Ich stehe schweigend daneben, wenn andere sich begeistert über Bücher oder Filme unterhalten, die ich nicht mochte. Meine Freunde und Verwandten haben so viele Themen, die nichts mit mir zu tun haben.
Ich gehöre nicht dazu.
Ich bin eine Außenseiterin.
Mit mir – in mir – muss etwas nicht stimmen.
Als unsere Familie noch nur aus Männern bestand – außer mir – und selbst unsere Haustiere männlich waren, dachte ich, es hätte etwas mit meiner Weiblichkeit zu tun. Mein Östrogen passte einfach nicht zu dem ganzen Testosteron, das alle anderen antrieb. Mit dieser Erklärung konnte ich relativ gut leben. Als unsere Jungs noch klein waren, dachte ich manchmal, dass ich innerlich einfach zu kaputt sei, zu viel Scham mit mir herumschleppen würde oder dass es an meinem Übergewicht liegen könnte. Schon damals waren die Kinder miteinander viel vertrauter als mit mir. Doch auch Jahre später, unter ganz anderen Bedingungen, habe ich noch dasselbe Gefühl.
Unlängst offenbarte ich mich meinem Mann und meinen Söhnen. Ich sprach über dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, und davon, dass ich mich so oft wie eine Beobachterin fühle, außerhalb des Geschehens, ausgeschlossen von den Beziehungen, von ihnen, mir selbst und meiner Welt. Sie nickten, ihre Blicke wichen mir aus, Traurigkeit überschattete ihre Gesichter. Kannten sie das auch? Hatten sie auch Zeiten, in denen sie sich so isoliert fühlten?
In seiner Geschichte von den zwei Städten beschrieb Charles Dickens die Menschen, die im lauten, überfüllten London unterwegs waren, und stellte fest, dass alle durch ein gemeinsames Gefühl verbunden waren: „Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, dass jedes menschliche Wesen seiner Eigenart nach für andere zu einem tiefen Geheimnis wird.“3
Also ist das vielleicht nicht nur mein Problem? Jeder, der dieses Gefühl kennt, darf annehmen, dass es anderen auch manchmal so geht. Sind Einsamkeit und Unsicherheit vielleicht der Ausgangspunkt aller menschlichen Emotionen? Ist Isolation der Zustand, der uns alle verbindet? Man muss nur die Mauern des Selbstschutzes überwinden, hinter denen jeder Einzelne seine Gefühle verbirgt, schon wird man feststellen, dass jeder sich mal als Außenseiter fühlt.
Wir sind seltsame Wesen. Eigentlich müssten wir uns unter unseren Artgenossen nicht fremd fühlen. Doch oft erleben wir dieses Gefühl dann besonders schmerzlich, wenn wir mit den Menschen zusammen sind, die uns nahe sind.
Gott sprach schon ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte darüber: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ (1. Mose 2,18; Hfa). Allzu oft fühlen wir uns allein, isoliert, unverstanden und manchmal auch ungewollt. Während jeder denkt, dies sei sein persönliches Problem, leiden doch alle Menschen darunter.
Jeder hat seine eigene Art, damit umzugehen. Man kann vor den Gefühlen fliehen, sie betäuben oder verdrängen. Alles wird noch dadurch erschwert, dass jeder sich nach Nähe zu anderen Menschen sehnt und einen Sinn in seinem Leben sucht – während man gleichzeitig an der Sinnlosigkeit und Leere des Lebens schier verzweifelt. Fliehen wir davor, dann werden wir die Früchte der Verdrängung ernten und der Schmerz wird zunehmen. Diese tiefe Sehnsucht wird sich langfristig nicht auslöschen lassen, auch wenn Resignation und Verleugnung sie vorübergehend in den Hintergrund drängen können.
Anstatt den Schmerz loszuwerden, gerät man in Abhängigkeiten, die einen zwar betäuben, aber dann selbst zu einer Sucht werden, die uns beherrscht. Darüber schrieben Brent Curtis und mein Mann John in dem Buch Ganz leise wirbst du um mein Herz.