Freundschaftsdienst - Franz Xaver Roth - E-Book

Freundschaftsdienst E-Book

Franz Xaver Roth

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  • Herausgeber: Knaus
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Wenn der beste Freund ein Mörder sein soll

Ann-Charlotte Gruber, Ehefrau eines Starorthopäden, hat ausgeprägte Leidenschaften. Doch eines Nachts endet ihre Jagd nach immer neuen erotischen Kicks tödlich. Ausgerechnet Bernie Faulhuber, Ortsgröße, Zahnarzt und Stammgast im Hammer-Eck, soll mit ihrem gewaltsamen Tod etwas zu tun haben. Denn leider war er Frau Grubers letzter Partner – auf einer Sex-Party.

Franz Xaver Roths Roman zeigt das Doppelgesicht einer Welt, die nur scheinbar in Ordnung ist. Mit großem Gespür für männliche und weibliche Lebenslügen erzählt er ebenso spannend wie wiedererkennbar einen Kriminalfall in der so gar nicht provinziellen Provinz.

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Seitenzahl: 485

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Franz Xaver Roth

Freundschaftsdienst

Kriminalroman

Knaus

Natürlich ist alles frei erfinden. Und ob es in Bruckmühl ­wirklich Sexpartys gibt, weiß der Autor beim besten ­Willen nicht. Nur dass Giovanni Trapattoni in jeder Sprache auf ­diesem Planeten auf seine ganz eigene Art zu Hause ist, ist ­völlig unbestritten.

1. Auflage

© Copyright 2015 beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-12565-3

www.knaus-verlag.de

The cat is in the sack but the sack is not closed

Giovanni Trapattoni

Prolog

Ein Haus mit gelber Fassade, keine Ahnung, wo das sein soll, dachte sie, nachdem die Hälfte des Fuchswegs hinter ihr lag. Die Nummer 19 war es jedenfalls nicht, obwohl ihr das Haus so beschrieben worden war. Mit offenen Seitenfenstern und Späherblick fuhr sie im Schritttempo die Straße entlang.

Alles ruhig, niemand unterwegs. Sie schaute aufs Display zwischen ihrem Lenkrad: 1:53.

Der Abend war okay gewesen, nicht nur, aber immerhin. Mätzchen gab es immer, daran hatte sie sich gewöhnt. Manfreds böse Blicke, als sie mit ihrer Reisetasche aus dem Haus gegangen war, oder Senta, die viel zu viel getrunken hatte. Mit ihrem Lover jedenfalls hatte sie Glück gehabt. Ein Mann mit Geschmack, Mitte fünfzig, aufmerksam. Ein geschmeidiger Typ, der Sex nicht mit Wettkampf verwechselte. Dass er nicht Günter hieß, war selbstverständlich. Ein Mann mit Maske wollte anonym bleiben.

Das Haus mit der Nummer 49 war auch nicht gelb. Weiß, Vorgarten, Doppelgarage. Licht im ersten Stock. Keine Menschenseele am Fenster.

Günter war allein gekommen. Allein ging eigentlich nicht. Auf Sentas Partys trafen sich Paare, so waren die Regeln. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Sie war eine, sie kam immer ohne Begleitung, und Senta hat das von Anfang an toleriert. Aus alter Verbundenheit natürlich, aber auch weil Singlefrauen für Aufreger sorgten. Und Senta brauchte Aufreger, solche Feiern waren keine Selbstläufer.

Eines musste sie ihrer Freundin lassen: Sie hatte ein untrügliches Gespür, das Richtige zu tun. Die Proportionen stimmten. Keine zu protzigen Büfetts, nie geizig mit dem Champagner und ganz selten plumpe oder aufdringliche Gäste. Gut, es hatte auch langweilige Abende gegeben, sogar verunglückte mit Männern, die überhaupt nichts begreifen wollten, und Frauen, die zu spät merkten, dass sie sich zu viel zugetraut hatten. Aber Fehlschläge gehörten nun mal dazu. Die Maskenbälle jedenfalls waren immer was Besonderes. Alles war schicker, hatte mehr Stil, nur wenn einer anfing, Bruckmühl mit New York zu verwechseln, ging es daneben. Cruise und Kidman spielten nun mal in einer anderen Liga.

So, die 59 und die 69 waren’s auch nicht. Weiter vorn machte die Straße eine Kurve, ob es dann noch weiterging, wusste sie nicht. Sie schaute auf ihr Navi und fummelte eine Zigarette aus einem Päckchen, das auf dem Beifahrersitz lag. Eyes wide shut, Kubricks Spätwerk, hatten wirklich einige Leute gesehen, die zu Senta kamen, um sich einen Kick für ihr ansonsten langweiliges Sexleben zu holen. Besonders George und Grace, Stammgäste wie sie, konnten es nicht lassen, Hollywoods ehemaliges Traumpaar zu zitieren, wenn es darum ging, Frivoles in langjährigen Beziehungen zu feiern. Komisch, dass ausgerechnet die Szene mit der abgedrehten Fickparty so bekannt war. Die war ja nun mal daneben. Einsames Schloss, Security, dass es krachte, dazu ein Pianist, der nicht wissen durfte, für wen er da wo und warum gerade spielte. Geld war eh egal. Und natürlich lauter zugedröhnte Möchtegernmodels, die auf dem Edelstrich gelandet waren und jeden Gewaltscheiß mitmachten, wenn die Kohle stimmte. Nicht ihr Ding. Absolut nicht ihr Ding!

Vor Sentas Villa hatten sie sich dann noch einmal getroffen. Sie und der Mann, der partout seine Maske nicht abnehmen wollte. Er hat auf sein Taxi gewartet, sie haben geraucht, und dann hat sie seine Augen gesehen, durch die Maskenschlitze, schöne blaue Augen, traurige Augen. Er schien was sagen zu wollen, hat aber nach dem Luftholen abgebrochen und nur noch den Mund verzogen. Sie hat ihn geküsst und gespürt, dass er härter als hart war. Wie du mir, so ich dir, hat sie geflüstert und seinen Schwanz mit der Hand zur Explosion gebracht.

So, das war’s dann wohl. Ende des Fuchswegs, keine Straßenbeleuchtung mehr, vor ihr nur eine Querstraße und Bäume. Servus Leuterding. Sie machte das Fernlicht an und fuhr unschlüssig in die Dunkelheit. Rechts ging ein Waldweg ab. Sie parkte ihren Wagen, öffnete die Fahrertür und schmiss ihre Kippe auf den Boden. Draußen war es ruhig. Sie blickte zum Himmel. Durch die Baumwipfel leuchtete schwaches Mondlicht. Sie ärgerte sich. Eine falsche Adresse war nachts besonders schlecht. Das gelbe Haus gab es nicht. Sie griff nach ihrer Tasche und suchte ihr Notizbuch. Dann knipste sie die Innenbeleuchtung an. Das kleine braune Buch steckte in einem Seitenfach. Sie schaute auf. Geräusche? Sie glaubte das Klacken von Schuhen auf Asphalt zu hören und blickte nach hinten. Nichts als dunkle Nacht. Der Klang der Schritte war verschwunden. Als sie sich wieder nach vorn wandte, um die Fahrertür zu schließen, hörte sie, wie in ihrem Rücken eine zweite Tür aufsprang. Ehe sie den Mund aufbekam, rissen fremde Finger an ihren Haaren. Ein fürchterlicher Schmerz zog ihr durchs Hirn. Ihr Kopf lag jetzt auf dem Beifahrersitz. Ein Mann schlug ihr ins Gesicht. Sie wollte schreien, doch im selben Augenblick legte sich eine Hand um ihren Hals. Der Mann drückte zu, Finger bohrten sich in ihre Haut. Sie bekam keine Luft mehr und spürte, wie ihr Kehlkopf gequetscht wurde. Ihre Knie schlugen gegen das Lenkrad, die Arme griffen ins Leere. Bevor sie das Bewusstsein verlor, wusste sie für den Bruchteil einer Sekunde, dass sie sterben würde.

Freitag, 13. September 2013

Die Gäste waren gegangen. Viele waren auch nicht da gewesen. Das Freitagabendspiel der Fußball-Bundesliga zwischen der Berliner Hertha und Stuttgart hatte eben nur ganz eingefleischte Fans und Dauergucker wie Gernot und Heider ins Hammer-Eck gelockt. Das Match war dann auch müder als müde verlaufen, und wäre nicht kurz nach der Pause ein Tor für die Stuttgarter gefallen, hätte es überhaupt nichts gegeben, was wenigstens für etwas Unterhaltung gut war.

Luginger hatte die Rollläden geschlossen und die Stühle hochgestellt.

»Franz, die Kasse stimmt nicht«, sagte Barbara, während Luginger Gläser spülte. »Wie hat Moni das gemacht? Ich hab sechsundzwanzig Euro zu viel.«

Luginger stöhnte. »Lass gut sein, Mädchen. Passt schon.«

Barbara schloss die Kassette mit Belegen, Scheinen, Münzen und Deckeln, die den Gästen gehörten, die selten genug Bares hatten, dafür aber regelmäßig ins Hammer-Eck kamen, um ihr Bier zu trinken.

»Soll ich noch aufwischen?«

»Um kurz vor zwölf hat hier noch niemand gewischt«, sagte Luginger und schenkte Cognac in Gläser. »Schluss für heut. Komm, die nehmen wir noch.«

Barbara schwenkte ihr Glas. »Wenn ich öfter bei dir aushelfe, werde ich zur Alkoholikerin. Hat Moni noch mal angerufen?«

»Vorhin. Ihr geht’s immer noch beschissen.«

»Das dauert, Franz. So was sitzt tiefer als tief.«

Luginger nickte, nahm einen Schluck und schlenderte schließlich Richtung Toiletten, um die vollen Aschenbecher einzusammeln, die im Seiteneingang rumstanden.

Hier war es passiert, vor genau fünf Tagen. Irgendein Drecksack hatte Moni überfallen und zu vergewaltigen versucht. Sie wollte gerade ihr Fahrradschloss aufsperren, als ein Kapuzenpulliarsch mit Sonnenbrille sie sich geschnappt und an die Wand gedrückt hat, um ihr seine Wichsgriffel zwischen die Beine zu schieben. Und noch viel mehr, hätte er Zeit dazu gehabt. Wäre Luginger nicht früher als geplant zurückgekommen, wäre die Katastrophe perfekt gewesen. ’ne Vergewaltigung im Hammer-Eck! In seiner Kneipe! An seiner Moni!

Die Kripo war da gewesen, Fragen über Fragen, aber bis heute keine Antworten. Weder Moni noch er hatten das Arschloch beschreiben können. Das Arschloch hatte nämlich Reißaus genommen, als es mitbekommen hatte, wie Lugingers Pick-up in die Einfahrt gerauscht war. Luginger konnte vom Auto aus nichts erkennen, und Moni war derart neben der Spur, dass sie nicht mal sagen konnte, ob der Typ große oder kleine Hände hatte, als er ihr den Mund zugehalten hat. Pranken halt, hatte sie der Bullerei gesagt. Mittelgroß, schwarze Jeans, schwarzer Kapuzenpullover, Sonnenbrille, nicht älter als vierzig, viel mehr war dann neben den Pranken nicht ins Protokoll gekommen.

Luginger leerte die Kippenreste in den Müll. Barbara goss die Yucca vorm Fenster. »Wasser verträgt die nicht!«, rief er. »Und komm nicht auf die Idee, das Kalenderblatt abzureißen.«

Die barbusige Schönheit von 1984 war Kult im Hammer-Eck. Jeder mochte sie, nur Barbara nicht. Ein Pin-up-Girl aus Zeiten, da Mannsbilder schon außer Rand und Band gerieten, wenn sie prächtige Titten anglotzen durften.

Barbara strich übers vergilbte Papier. Dann machte sie kehrt, nahm ihren Cognac und trank den letzten Schluck auf ex. »Was ist mit morgen? Schaffst du das mit Sammy?«

Sammy! Gute Frage, wo steckte sein Koch eigentlich schon wieder? Viele Frauen, die noch nicht das Vergnügen mit ihm gehabt hatten, konnte es nicht mehr geben. Sammy war schwarz, jung, gut gebaut, und weil er aus Ghana kam wie die Vorstopper-Legende des FC Bayern Sammy Kuffour hieß er eben Sammy, obwohl sein richtiger Name ganz anders lautete. Sammy liebte Frauen, und die Frauen liebten Sammy, so einfach war das, und weil es so einfach war, beglückte er sie viel zu oft, statt zu arbeiten.

»Wird schon«, brummte Luginger.

Barbara telefonierte. »Joe kommt gleich«, sagte sie.

»Bleibst nicht?«

»Ich muss morgen um sechs raus, Franz. Du weißt doch, Berlin ruft.«

Richtig, dachte Luginger, da war was. Irgendein Termin, den sie nicht verbaseln durfte.

»Ich würd mit dir frühstücken, kein Problem.«

»Ich hab noch nichts gepackt, das wird alles viel zu knapp.«

Langsam bekam er es wieder zusammen. Ein Schlagertörtchen, das angeblich von Udo Lindenberg entdeckt worden war, sollte im Auftrag der Event-Agentur, für die Barbara arbeitete, über die Dörfer tingeln.

Joe hupte. Seit dem Überfall auf Moni hatte er angeboten, Lugingers weibliches Personal mit dem Taxi nach Hause zu fahren, wenn andere Fahrgelegenheiten ausblieben. Luginger selbst wollte nicht fahren. Jeden Abend nur Wasser, Saft oder Cola, kein Stoff, nur Flüssiges, das nach nichts oder furchtbar schmeckte, lieber hätte er den Laden zugesperrt.

Leise zog Barbara die Tür hinter sich zu. Er war allein, obwohl er gar nicht allein sein wollte. Ohne Ablenkung bedrängten ihn die immer gleichen Fragen. Warum, was tun, wie weiter? Sammy würde heute Nacht bestimmt nicht mehr kommen. Seine kleine Wohnung über der Kneipe würde leer bleiben. Seit Wochen war er mit einer jungen Studentin zusammen, die Bücher las und seinen Horizont erweiterte. O-Ton Sammy, Horizont erweitern, also nicht nur Männer, Bier, Fußball, nein, jetzt auch Theater, Malerei und Romane. Luginger brauchte weder noch. Und schon gar keine Romane. Was er brauchte, war das Schwein, das Moni an die Wäsche gegangen war. Nicht nur im Hammer-Eck hatte sich seit dem Überfall zu viel verändert. Besonders die Verdächtigungen machten ihn rasend. War es einer der Gäste? Würde jemand von denen so was fertigbringen? Wer hatte wissen können, dass Moni gegen halb zwölf allein war und dass sie nicht wie üblich von Hanno abgeholt wurde? Wie viele Leuterdinger zwischen dreißig und vierzig waren mittelgroß und trugen Kapuzenpullis? Wer hatte sich auffällig benommen? Wer hatte Moni angebaggert? Und dann noch Anna, seine Mutter. Die alte Frau war verstummt, nachdem sie erfahren hatte, was passiert war. Moni, ihre Lieblingsmoni, die Supermoni, die Luginger nur hätte heiraten müssen, um aus der Kneipe was Großes, was Gescheites zu machen, Moni, die den Laden seit Christi Geburt schmiss, die nicht nur zapfte, kellnerte und kassierte, nein, Moni, die auch die Bücher führte und unerbittlich Geld einzog, wenn Ebbe in der Kasse war und Luginger nicht mehr wusste, von was Rechnungen bezahlt werden sollten. Anna sah schrecklich aus. Sie aß zu wenig und trank nur so viel, dass sie nicht umkippte. Ihre Nachbarn machten sich Sorgen. Luginger hatte mit Brettmann und Resi gesprochen. Gemeinsam hatten sie darüber nachgedacht, wie sie aus ihrer stillen Verzweiflung zu reißen wäre. Leider war ihnen nichts eingefallen, Anna saß Tag und Nacht still in ihrem Sessel und trauerte.

Luginger drehte sich eine Zigarette. Bis auf die Tresenbeleuchtung hatte er alle Lichter ausgemacht. Fünfundfünfzig, zu schwer, Haarausfall, Geheimratsecken, Leber und Lunge angeschlagen, kinderlos, dazu chronisch blank. So sah seine Lebensbilanz aus, wenigstens die eine Seite. Die andere: Barbara, seine Mutter, die Kneipe, die Gäste, der FC Bayern, das Triple. Und Moni und Sammy natürlich. Eine kleine Welt, die sich für gewöhnlich langsam genug drehte, um ihr folgen zu können. Bis vor Kurzem jedenfalls. Bis Montag waren seine ausfallenden Haare das Schlimmste gewesen.

Er rauchte. Polterer, ihr Leuterdinger Bulle, hatte das Gleiche wie Meisner von der Erdinger Kripo gesagt. So einen Vergewaltiger erwischte man nur, wenn glückliche Zufälle zusammenkamen. Kratzte jemand unerkannt und ohne verwertbare Spuren hinterlassen zu haben, die Kurve, kein Fahndungserfolg. So die Statistik. Es sei denn, er würde es wieder versuchen. Je häufiger einer zuschlug, desto wahrscheinlicher, dass er geschnappt wurde. Statistik. Scheiß Statistik. Sollten noch mehr Frauen das Gleiche wie Moni erleben, nur damit die Chance stieg, das Arschloch einzulochen?

Gernot und Faulhuber waren die Letzten gewesen, die Moni gesehen hatten, bevor es passiert war. Am vergangenen Montag hatten sie um kurz nach elf das Hammer-Eck verlassen. Moni hatte hinter ihnen die Eingangstür zugesperrt. Keiner der beiden hatte was Ungewöhnliches bemerkt. Keine verdächtige Gestalt, kein auffälliges Auto, keine Geräusche, nix. Wie Phönix aus der Asche, so Moni, war das Arschloch aufgetaucht. Und an diesem Abend hatte sie auch noch ein Kleid an, wo sie zur Arbeit sonst nie Kleider anzog. Hosen, Hosen, Hosen!

Luginger fuhr sich über sein unrasiertes Kinn. Dann zog er das Band aus seinen langen Haaren und schüttelte den Kopf. Glut landete im Aschenbecher. Die Kripo hatte nach dem Überfall gut und gerne zwanzig Leute vernommen, nicht nur Gäste, auch Sammy und Hanno, Monis Dauerlover, dazu Bekannte, Nachbarn und einen Ex, der ihr mal gedroht hatte, sie fertigzumachen. Und dann natürlich Greulich, Max Greulich, wegen Vergewaltigung vorbestraft und erst seit wenigen Monaten wieder auf freiem Fuß. Greulich war sofort der Hauptverdächtige, trank er doch ab und zu sein Bier im Hammer-Eck, aber auch ihm war nicht nachzuweisen gewesen, dass er zur Tatzeit in der Nähe war.

Das Handy klingelte.

»Brettmann hier. Sind Sie noch wach?«

Brettmann war nicht nur Annas Nachbar, sondern auch ein Kümmerer vor dem Herrn. Dabei galt seine Hauptsorge dem Hirn seiner Mutter. Kreuzworträtsel, Sudoku, naturwissenschaftliche Experimente und kontinuierliche Internetnutzung sollten die alte Frau vor zu frühzeitiger Verkalkung schützen. Mag der früh pensionierte Expauker für Mathe und Physik auch sonst in seinem Leben nicht viel auf die Reihe gebracht haben, bei Anna hatte er Erfolg. Im Oberstübchen war sie bestens beieinander.

»Ich bin wach«, erwiderte Luginger. »Warum sind Sie denn noch auf den Beinen?«

»Ich bin Nachtmensch, schon immer gewesen.«

»Also was gibt’s?«

»Ich möchte Sie nicht noch mehr beunruhigen, aber der Zustand Ihrer Mutter verschlimmert sich.«

»Welcher Zustand?«

»Am Nachmittag war Moni bei ihr. Sie hat die Wäsche vorbeigebracht, und die Frauen haben lang zusammen gesessen. Ihre Bedienung ist nach wie vor sehr angeschlagen, wenn ich so sagen darf. Sie hat geweint. Ihre Mutter hat dann auch geweint. Eine berührende Szene, glauben Sie mir. Na ja, was soll ich sagen? Gehen Sie Ihre Mutter besuchen. Jetzt gleich.«

»Jetzt gleich? Wissen Sie, wie spät’s ist?«

»Natürlich weiß ich das. Aber Ihre Mutter schläft nicht. Gestern hat sie um drei in der Früh noch Licht angehabt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich war noch mal draußen, deshalb.«

»Zu mir sagt sie, nachts schläft sie. Nicht viel, aber immerhin.«

»Sie lügt, Herr Luginger. Ab und an fallen ihr die Augen zu, dann dämmert sie vor sich hin. Das ist alles.«

Luginger stöhnte. Schließlich fragte er: »Und was war da jetzt mit Moni?«

»Ich weiß es nicht. Deshalb sollen Sie ja hin. Ich mache mir große Sorgen, sehr große Sorgen, außerordentlich große …«

»Schon gut«, fuhr Luginger dazwischen. »Ich gehe. Gute Nacht.«

***

Faulhuber blickte aus dem Fenster, während sein Taxi Richtung Leuterding fuhr. Obwohl es schon ein Uhr durch war und er ordentlich getrunken hatte, war er noch wach genug, um Gedanken nachzuhängen, die sich häufig einstellten, wenn er sich von einem seiner nächtlichen Ausflüge nach Hause fahren ließ. Dass das Taxi ein Rosenheimer Kennzeichen hatte, hatte ihn sofort beruhigt, als er eingestiegen war. Ein EBE auf dem Nummernschild war jedes Mal das Letzte, was er brauchte. Ebersberg war zu nah, Ebersberg konnte bedeuten, dass andere durch einen blöden Zufall erfuhren, was er unter allen Umständen verheimlichen wollte. Wie heute war das schon immer seine größte Sorge gewesen. Die Angst, entdeckt zu werden, aufzufliegen, nicht nur ins Gerede zu kommen, sondern sich im ganzen Ort lächerlich zu machen. Von wegen der Herr Doktor mit den schönen Töchtern, dem Abo fürs Bayerische Staatsschauspiel und dem Ehrenvorsitz im Förderverein für deutsch-französische Partnerschaft. Hier der große Mann und da der Trottel, der es nötig hatte. Statt voller Zahnarztpraxis Feuer frei. Statt Händeschütteln und Schulterklopfen Häme und eine öffentliche Hinrichtung, die auch vor seiner Frau und seinen Kindern nicht haltmachen würde.

Für einen kurzen Moment durchbrachen grelle Lkw-Lichter die Dunkelheit. Faulhuber hörte den Taxifahrer vor sich hin knurren. Im Radio liefen Songs von Abba. Nach »Mamma mia«, jetzt »Waterloo«.Er tastete nach seinem Hausschlüssel. In der linken Manteltasche spürte er Zigaretten und Taschentücher, rechts ein Päckchen »tic tac« und einen Schlüsselbund. Aus reiner Gewohnheit steckte er sich eine Handvoll der Fresh-mint-Pillen in den Mund, dabei war es längst egal gewesen, wie er roch, wo er roch oder warum er roch. Während Abba »waterloo, finally facing my waterloo« trällerte, hatte er schon lange verloren. Nicht weil Sabine ausgezogen war, nicht weil er durch Clubs zog und auf Partys sein Geld rausschmiss, sondern weil er aufgehört hatte zu glauben, dass das, was er hatte, wichtig genug war, um es nach Kräften zu schützen. Seine Frau hatte als Erste die Konsequenzen gezogen. Als sie vor Jahren einen seiner Anzüge zur Reinigung gebracht und dabei in einer Innentasche eine Telefonnummer entdeckt hatte, die sie nicht hätte entdecken dürfen, war sie nach heftigen Streitereien gegangen. Mit einem Mann, der hauptsächlich nur noch auswärts vögelte, wollte sie nicht weiter zusammenleben. Schamlos und peinlich waren noch die glimpflichsten Beschreibungen gewesen, die sie für seine Eskapaden gebraucht hatte, nachdem ihm nichts weiter übrig geblieben war, als zu gestehen. Ohne die Kinder hätte sie schon damals auf Scheidung bestanden, eine Entscheidung, die sie jetzt nachholte. Seit drei Monaten wusste er es. Abpfiff, keine Verlängerung, aus und vorbei!

Die versprochene Pillenfrische wollte sich nirgends einstellen. Weder im Mund noch sonst wo. Während im Radio Abba einer dringenden Verkehrsnachricht weichen musste, dachte er an den vergangenen Abend. Eine schöne Frau, offen, mutig und erfahren genug, um ihm seinen Aussetzer mit souveränem Lächeln zu verzeihen. Hey, hey, hatte sie mehr gehaucht als gesagt und geschickt ihre Überraschung weggespielt, ehe sie ihm später in voller Montur einen runtergeholt hatte. Sie war jünger als er und hatte im Gegensatz zu ihm trotz der Masken einige andere Gäste erkannt. Frauen in teils raffiniert geschnittenen Kleidern und Männer in dunklen Anzügen, zumeist Paare, die durch ihr Aussehen zeigten, dass sie zu unterscheiden wussten, was für ihre Vergnügungen angemessen war und was nicht. Als er allein am Büfett gestanden hatte und zwischen Seeteufel und Rehrücken wählen sollte, war sie auf ihn zugeschlendert und hatte Fisch empfohlen, weil Fisch nicht so schwer im Magen liegen würde. Später hatten sie sich zugeprostet, sie mit Wasser und er mit französischem Weißwein, den er zum Fisch für passend hielt.

Ein Blick aus dem Seitenfenster verriet, dass er bald zu Hause sein würde. Elf Zimmer, zwei Bäder und eine Küche, groß wie eine Kathedrale, in der nur noch selten gekocht wurde. Dazu ein Garten, um den ihn viele beneideten, und eine Doppelgarage, in der außer seinem Daimler nichts mehr Platz brauchte.

»Soll ich Sie direkt vor Ihrer Tür absetzen?«, fragte der Taxifahrer.

»Warum denn nicht?«, fragte Faulhuber.

»Alles klar«, kam es zurück.

Alles klar, dachte Faulhuber, ein Schlaumeier, der nicht zum ersten Mal Gäste von der Bruckmühler Villa spätnachts nach Hause kutschierte. So war das eben zwischen München, Landshut, Rosenheim und Rottach, wer auswärts die Hosen runterließ, konnte nicht erwarten, dass alle noch so gut getarnten Etablissements auf ewig im Verborgenen blieben. Fassade war das eine, hinter der Fassade das andere.

Als er im Flur das Licht anknipste, musste er sich für einen Augenblick an der Wand abstützen. Er stöhnte und versuchte Sauerstoff in die Lungen zu pumpen. Nicht nur der viele Wein machte ihm zu schaffen, sondern auch der fantastische Whiskey, den er an der Bar getrunken hatte. Auf wackligen Beinen ging er ins Wohnzimmer. Viertel vor zwei. Nachdem er Mantel und Jackett über einen Sessel geworfen hatte, öffnete er die Terrassentür. Mit geschlossenen Augen atmete er frische Spätsommerluft. Sekunden später fühlte er sich wieder besser. Er ging in die Küche, griff nach einer Wasserflasche und setzte sich auf einen Hocker, ohne Licht zu machen. Leise brummte der Kühlschrank. Das Display der Spülmaschine zeigte an, dass sie durchgelaufen war. In einem Zug trank er die halbe Flasche aus. Dann rülpste er laut und hörte vom Flur her das Telefon läuten.

***

Wolkenloser Himmel, immer noch erstaunlich warm, kein Lüftchen bewegte sich. Am Maibaum bog Luginger in den Drachenweg ein. Die kurze Strecke bis zu seiner Mutter reichte gerade für eine Zigarettenlänge.

Im Haus brannte Licht. Luginger ging durch den kleinen Vorgarten und spähte durchs Küchenfenster. Anna war nicht zu sehen. Auf dem Küchentisch standen Gläser.

Er sperrte die Tür auf. »Mama, ich bin’s.«

Keine Antwort. Er ging durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer. Aufgeräumt wie immer. Alles an seinem Platz. Auch Anna. Sie saß in ihrem alten Ledersessel und schaute fern.

»Mama, hörst nimmer.«

Luginger ging neben ihr in die Hocke. Anna erschrak, dann nahm sie ihre Stöpsel aus den Ohren.

Im Fernsehen Talken.

»Mama, wenn du nix hören willst, schalt das Ding halt aus.«

»Du bist’s. So spät noch.«

»Wer könnt denn sonst noch kommen? Um kurz nach zwei.«

»Kannst auch nicht schlafen?«

Luginger drückte auf die Fernbedienung. Das Bild erlosch.

Anna stützte sich auf ihre Sessellehnen. »Dr. Brettmann hat gemeint, wenn’s flimmert, geht’s manchmal besser mit dem Schlafen.«

»Hilft aber nix, oder?«

Anna schüttelte den Kopf. Dann zog sie ihre Wolljacke über die Brust und grummelte: »Willst ein Bier? Steht im Kühlschrank.«

»Nur, wenn du eins mittrinkst.«

»Bist narrisch. Da renn ich die ganze Nacht aufs Klo.«

Luginger schleppte eine Flasche mit zwei Gläsern an. »Ein Glas, Mama. Ist besser als deine Stöpsel da. Und außerdem ist die Nacht ja gleich rum.«

Er schenkte ein. Sie prosteten sich zu.

»War die Moni mal wieder bei dir?«, fragte Luginger.

»Wieso?«

»Zu mir kommt sie nicht. Sagt auch nix, wenn ich sie anruf.«

Anna schwieg.

Luginger fragte: »Hast heut was gegessen?«

Anna nickte.

»Und was?«

»Suppe.«

»Besser als nix.«

Anna nickte erneut.

»So, Mama, und jetzt zu Moni. Was ist? Wann war sie zuletzt hier?«

Seine Mutter faltete ihre fleckigen Hände im Schoss. »Heut war sie da und hat die Wäsch gebracht.«

»Und was meinst?«

»Was soll ich meinen?«

»Herrgott, wie’s ihr geht! Was man machen kann? Was denn sonst.«

Anna stöhnte. Ihre Hände zitterten. »Warum tut die Polizei nix? Nix passiert, gerad gar nix.«

»Mama, der Scheißkerl ist das eine, Moni das andere.«

Anna starrte Richtung Fernseher. »Seit dem Überfall ist sie ganz anders.«

»Du bist auch ganz anders, Mama. Ihr könnt euch die Hand geben. Aber weitergehen muss es ja doch.«

»Bei mir ist’s egal, ich bin bald sechsundachtzig, aber die Moni ist noch jung, verstehst, die könnt noch Kinder haben, Familie.«

Luginger spürte, wie die Stimmung noch schwerer wurde. Und er wusste, dass nichts half, wenn seine Mutter in dunklen Gedanken festhing. »Trink ’nen Schluck, Mama. Hilft zwar nix, tut aber gut.«

Lustlos schluckte sie das Bier weg.

»Zu mir sagst, du schläfst nachts, nicht viel, aber immerhin. Ich glaub, dass das nicht stimmt. Du siehst so schlecht aus, du schläfst gar nicht.«

Anna hatte die Augen geschlossen. Luginger sah, wie ihre Hände noch stärker zitterten. »Moni braucht ’ne Therapie, was G’scheites, das Geld kostet, Bub. Sie hat aber zu wenig, und vom Hanno will sie nix nehmen. Mit dem Hanno ist das auch grad nix.«

Luginger war perplex. »Was ist denn jetzt mit Hanno? Das hör ich zum ersten Mal.«

»Nur so ein Gefühl, verstehst. Sie redet nicht drüber, aber ich spür’s.«

Sie spürt’s, dachte Luginger. Wie so oft. Sie weiß nix, aber sie spürt’s. Und weil sie gerad nur Schlechtes und Trauriges spürt, ist heut eben Hanno dran mit ihrem niederschmetternden Gespür. Morgen dann Sammy und übermorgen die arme Sau, die die Post bringt.

Er holte Luft und sagte so beruhigend wie möglich: »Hör mal, alles läuft scheiße zur Zeit, jetzt mach’s aber nicht noch schlimmer.«

Anna setzte sich auf: »Ihr Mannsbilder versteht nix. Gar nix. Und das bleibt so, immer. Ihr seht nix, ihr merkt nix. Nur der Papa, der hat was verstanden. Weißt, was er gesagt hat, als das mit der Walser Maria passiert ist? Vor dreißig Jahren, und so ist’s heut noch. Die Schwänz sind’s, Anna, hat er gesagt. Die Männer packen’s nicht. Wenn’s Ärger gab, also auch früher schon im Hammer-Eck, als der Papa die Wirtschaft gemacht hat, waren’s die Schwänz wie heut, immer der gleiche Mist, auf ewig.«

Samstag, 14. September 2013

Kriminalhauptkommissarin Clara Weibel kehrte die Scherben des Dekantierers zusammen, als ihr Handy klingelte. Sie streckte den Rücken und lief zum Küchentisch.

»Ja«, sagte sie kurz angebunden.

»Meisner hier. Sie sagten, ich soll Sie anrufen.«

»Stimmt. Richtig. Jetzt ist es aber ungünstig. Sind Sie im Büro?«

»Einen schöneren Ort gibt’s samstags ja nicht, oder?«

»Gut, ich melde mich gleich.«

Die Scherben wanderten in den Mülleimer. Clara Weibel fluchte: »Designerquatsch. Wer braucht zum Weintrinken so ein Scheißding?«

Im Schlafzimmer fischte sie Zettel vom Bett. Sieben Tage lang hatte sie es nur selten verlassen, eine hartnäckige Grippe mit Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen und einer elendigen Müdigkeit hatte sie von einer Stunde auf die andere aus dem Verkehr gezogen. Seit gestern war es aufwärtsgegangen, und heute fühlte sie sich fast schon wieder auf dem Damm.

Kollege Meisner hatte sie am Morgen geweckt. Um kurz nach neun hatte er sie zum ersten Mal während ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit angerufen. Sie hatten vereinbart, nur in dringenden Fällen miteinander zu reden, ansonsten sollte Meisner ihren Job und die Verantwortung übernehmen.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und las, was sie am Morgen notiert hatte: Leiche in einem Waldstück am Ortsausgang von Leuterding. Todeszeitpunkt zwischen 2 und 3 Uhr nachts. Der Wagen auf einem Feldweg direkt an der Straße, die Tote ca. 7 m weg tiefer im Wald. Gefunden um 6.30 Uhr (Hr. Ritter, mit Hund unterwegs). Im Auto (VW Touareg) alles da. Handtasche, Handy, Papiere, Geld, Zigarettenpäckchen. Dazu Kondome und eine rote Augenmaske mit Federn! Reisetasche auf dem Rücksitz mit Kleidung für einen Kurztrip.

Wahrscheinlich Mord, Vergewaltigung? Gut sichtbare Hämatome am Hals. Erwürgt?

Das Opfer: Ann-Charlotte Gruber, 38 Jahre, verheiratet mit Manfred Gruber, Orthopäde (Ebersberg, Fasanenstraße 38).

Eintrag im Navi der Toten: Fuchsweg 19, Herr und Frau Seibel (über 70). Kennen keine Ann-Charlotte Gruber. (Waren völlig überrascht, als sie nach der Frau gefragt worden waren.)

Sie schob die Zettel beiseite und klickte auf Fotos, die ihr Meisner geschickt hatte. Ihr Laptop zeigte eine vollständig entkleidete Frau, auf dem Rücken liegend, Beine geschlossen, schlank, hübsch, die Arme dicht am Körper. Klar erkennbare Würgemale. Kein Schmuck. Slip, BH, Kleid und Schuhe lagen verstreut neben der Leiche. Keine Strümpfe, keine Jacke.

Auf einem weiteren Zettel hatte sie dazu notiert: Größe 1,70 m, Liefers von der Münchner Rechtsmedizin vor Ort. Keine sichtbaren Verletzungen an und in der Vagina. Auch nicht am Anus. Flecken auf Kleid. Liefers: Sperma. Liefers: keine Kampfspuren, kein Blut im Auto oder draußen. Von Technikern bestätigt. Liefers: hart mit bloßen Händen gewürgt. Kein Seil, kein Draht oder ähnliches. Profi? Eigentliche Todesursache offen.

Letztes Telefonat Freitagabend 18.54 Uhr. Liste der eingehenden und abgehenden Anrufe folgt. Zigarettenrest neben dem Wagen. Frau Grubers Marke? Keine Waffen (Messer, Pistole oder Ähnliches). Keine Schleifspuren vom Wagen zum Fundort der Leiche.

Die Lage der Toten fiel natürlich auf. Warum lag sie da wie hingebettet? Hatte sich jemand die Mühe gemacht, die Frau in ihrem Wagen zu erwürgen und dann ein paar Meter weiter weg nackt aufzubahren? Wieso ist der Täter nicht sofort auf und davon? Das Auto hätte jeder, der die Straße entlanggefahren war, sehen können. Wenn der Touareg der Tatort war, geschah der Mord quasi auf dem Präsentierteller.

Sie ging in die Küche zurück. Als sie die Dekantiererverpackung immer noch auf dem Boden liegen sah, trat sie dagegen. Der Karton flog Richtung Kühlschrank. Kleine Gewaltausbrüche taten gut. Gestern erst hatte sie ein Glas mit frisch gepresstem Zitronensaft in die Spüle gefeuert, weil sie Zitronensaft satt hatte. Frisch gepresst erst recht. Fünf Tage lang Zitronen, wenigstens drei täglich wegen der Vitamine. Und was hatte es geholfen? Nichts. Vitamine!

Sie wollte wieder arbeiten. Sie musste raus hier, da kam ihr die Tote im Wald gerade recht. Außerdem hatte sie für Montagabend Freunde eingeladen und zu kochen versprochen. Deshalb auch der Dekantierer. Der Termin stand schon seit Wochen fest, und Mario, Weinexperte und ehemaliger Münchner Kollege, hatte auf so einem Ding bestanden. Wein muss atmen, Clara, hatte er gesagt, Wein braucht Platz und Luft, dann wird er besser. Wo sollte sie jetzt einen neuen herkriegen? Dreißig Euro lagen im Müll. Sie checkte ihre Einkaufsliste. Pfeffer, Calvados, Ente, Alufolie, Schalotten, Sahne. Später würde sie Mario anrufen. Sollte der doch seinen eigenen Dekantierer mitbringen. Herrgott noch mal, für so einen Mist hatte sie weder Zeit noch Nerven.

Sie suchte ihr Telefon. In der Küche lag es nicht, obwohl es hier hätte liegen müssen. Hatte Meisner nicht angerufen, als sie in der Küche war? Sie hörte es klingeln und marschierte ins Schlafzimmer.

»Ich möchte nach Hause«, sagte Meisner. »Es ist Samstagnachmittag. Können wir jetzt?«

»Natürlich, Herr Meisner. Legen Sie los.«

»Also der Reihe nach, oder stellen Sie Fragen?«

Clara Weibel starrte auf ihre Pluderhose. Mit der freien Hand wischte sie etwas weg, was gar nicht vorhanden war.

»Der Reihe nach, bitte, und keine übertriebene Detailfreude. Nur das Wesentliche.«

»Also ich war vorhin bei Manfred Gruber. Der Mann war wirklich fix und fertig. Anfangs dachte ich, er würde gar nichts aussagen können. Später hat er sich etwas gefangen, so gut das eben nach so einer Nachricht geht. Das Paar hat keine Kinder. Gruber ist deutlich älter als seine Frau, dreiundfünfzig. Seine Frau ist gestern Abend gegen neun Uhr weggefahren, ohne ihm zu sagen, wo sie hinwollte. Er wusste allerdings, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde. So was komme öfter vor, hat er gesagt. Sie wolle ihre Freiheit und ihm keine Erklärungen schuldig sein. Deshalb sei er auch nicht nervös gewesen, als der Touareg heute Morgen nicht in der Einfahrt stand. Sie arbeitet als Pharmavertreterin für ein amerikanisches Unternehmen namens Aora Medical Care. Er selbst, also Manfred Gruber, war bis halb zwölf daheim, dann ist er zum Joggen gefahren.«

»Zum Joggen«, sagte Clara Weibel überrascht.

»Ja, er trainiert viel und regelmäßig. Er hat sich mit einem Trainingspartner getroffen, einem Herrn Kister. Gegen halb eins haben die beiden ihr Training abgebrochen. Dieser Kister hat wohl Kreislaufprobleme gekriegt. Gruber war dann um kurz vor eins wieder daheim.«

»Und warum mitten in der Nacht?«, fragte sie.

»Weil er tagsüber zu wenig Zeit hat. Das hätte sich so ergeben.«

»Wo laufen die Männer denn?«

»Im Ebersberger Forst, ist ja nicht weit weg.«

»Haben Sie ihm die Handtasche seiner Frau gezeigt? Fehlt da was?«

»Ihr Notizbuch, sagt Gruber. Also ohne ihr Notizbuch wäre sie nie weggegangen.«

»Und die Maske und die Kondome?«

»Dazu hat er nichts gesagt. Ich habe ihn danach gefragt, aber Schweigen im Walde.«

»War er überrascht, dass wir so was im Wagen seiner Frau gefunden haben?«

»Ich glaube nicht. Er hat eher gewusst, dass seine Frau solche Sachen dabeihatte. Ach ja, und der Touareg ist ihr Zweitwagen. Beruflich fährt sie einen Audi. Einen A 6, der steht in ihrer Garage.«

»Der letzte Anruf auf Frau Grubers Handy, wissen Sie da schon was?«

»Ihr Bruder Sebastian hat sie wegen eines Geburtstagsgeschenks für ihre Mutter angerufen. Ein kurzes Gespräch, nichts Besonderes. Er sagt, sie habe ganz normal geklungen.«

»Also wissen die Eltern und Geschwister Bescheid?«

»Ich komme gerade von dort. Die Familie heißt Weißenberger und wohnt in Rosenheim. Furchtbar, sag ich Ihnen, solche Besuche sind einfach die Hölle.«

»Haben die Eltern einen Verdacht geäußert? Sehen sie irgendwo ein Motiv?«

»Nein, nichts. Ann-Charlotte Gruber hatte übrigens nur diesen einen Bruder Sebastian, der mit seiner Familie ebenfalls in Rosenheim wohnt.«

»Warum haben Sie keinen Schmuck bei der Toten gefunden, Herr Meisner? Eine Frau geht doch nicht ohne Schmuck aus.«

»Sie hat wohl eine Kette mit Glasperlen getragen. Die Kette muss aber kaputtgegangen sein, einzelne Perlen lagen vorne im Touareg und neben der Fahrertür.«

Clara Weibel stand wieder in der Küche. »Woher wussten Sie eigentlich, dass Herr Gruber Orthopäde ist?«

»Dr. Liefers wusste das, ich nicht. Der Mann muss eine richtige Koryphäe auf dem Gebiet von Knieoperationen sein. Fußballer und Skifahrer geben sich bei ihm die Klinke in die Hand. So, und dann haben wir im Wagen der Toten noch eine Streichholzschachtel mit der Aufschrift von Feinkost Heilmann gefunden. Herr Gruber kennt den Namen. Der Mann sei der Caterer Rosenheims, sozusagen der Käfer südlich von München.«

»Heilmann«, murmelte sie. »Noch nie gehört.«

»Ich schon, aber dass der so eine große Nummer ist, ist mir auch neu.«

»Gut, bleibt dieser Herr Kister, der andere Läufer. Hat der Mann die Angaben von Gruber bestätigt?«

»Nein, der ist nicht aufzutreiben. Seine Frau sagt, er kommt erst Sonntagabend zurück und würde am Wochenende sein Handy nie abhören.«

»Bleiben Sie am Ball, Herr Meisner. Wenn’s was Neues gibt, melden Sie sich. Unbedingt, ja.«

»Mach ich. Kommen Sie denn am Montag wieder?«

»Ja. Verlassen Sie sich drauf.«

Meisner hatte das Gespräch noch nicht beendet. Clara Weibel ahnte, dass er noch etwas sagen wollte.

»Hören Sie, ein anderer Fall gewinnt angesichts der toten Frau Gruber womöglich eine gewisse Brisanz. Wir sind da aber noch nicht weitergekommen. Während Ihrer Krankheit, Montagnacht, ist in der Leuterdinger Wirtschaft Hammer-Eck die Bedienung Monika Hallgart überfallen und beinahe vergewaltigt worden. Ich denke, das sollten Sie jetzt wissen.«

»Wie bitte!«, rief sie überrascht.

»Ich hab mir schon gedacht, dass Sie so reagieren würden. Sie kennen die Kneipe ja ganz gut.«

»Haben Sie den Täter?«

»Wo denken Sie hin? Dünne Hinweise haben wir, mehr nicht. Ich erzähle Ihnen alles am Montag.«

»Was soll das heißen, die Frau wurde fast vergewaltigt?«

»Jemand hat ihr den Mund zugehalten, sie in den Kneipeneingang gezerrt, an die Wand gedrückt und ihr zwischen die Beine gelangt. Zum Glück ist dann der Wirt, der Herr Luginger, aufgekreuzt, und der Mann ist abgehauen.«

»Schicken Sie mir alles, was Sie zu dem Fall haben. Heute noch.«

»War ja klar. Kriegen Sie.« Meisner hatte aufgelegt.

Clara Weibel war immer noch ganz durcheinander, während sie Wasser über einen Teebeutel goss. Wer griff eine Frau wie Moni an? Und wer wagte eine Vergewaltigung bei Luginger, einem Mannsbild, das bestimmt zwei Zentner auf die Waage brachte und nie einen Zweifel daran ließ zuzuschlagen, wenn es sein musste?

Der Teebeutel verschwand im Biomüll. Dann fiel ihr ein, worauf sie noch gar nicht gekommen war und weswegen Meisner ihr die Moni-Geschichte überhaupt erzählt hatte. Zwei Verbrechen an Frauen innerhalb einer Woche in Leuterding. Zufall? Oder passte da was zusammen?

Der Tee tat ihr gut. Tee war in jedem Fall besser als heiße Zitrone. Ihr Blick hing jetzt an der Kühlschranktür mit all den gelben Haftnotizen, die sie schon immer planlos dorthin geklebt hatte. Telefonnummern, Termine, Erinnerungen, Rezeptideen, Namenslisten. Auf einer stand: Ärzte können mich am Arsch lecken. Sie zupfte die Gästeliste für Montag ab. Mario, ihr wichtigster Mitarbeiter, als sie noch bei der Münchner Kripo war, Gisela, Marios Freundin, seit vielen Jahren bei der Drogenfahndung mit besten Kontakten zur Sitte, Horst, Mediziner, Forscher und so verdammt einsam, dass sie ihn am liebsten bei sich hätte einziehen lassen, und zuletzt Helge, von Beruf Ostfriese, Koch und ihr Mann für gewisse Stunden.

Als sie daran dachte, dass sie für die vier kochen würde, bekam sie Hunger. Tagelang hatte sie keinen Appetit gehabt, jetzt aber spürte sie, wie ihr Magen knurrte. Sie holte Eier und Speck aus dem Kühlschrank. Dann rief sie Mario an. Nach dem Signalton seines Anrufbeantworters quatschte sie los: »Mein extra für dich gekaufter Dekantierer ist futsch, Mario. Hab ihn ausprobieren wollen. Wenn du deinen Wein unbedingt aus so einem bauchigen Glasding trinken musst, bring deinen eigenen mit. Oder kauf mir was Neues. Freue mich auf euch. Tschüs, Clara.«

***

Um halb vier war das Hammer-Eck schon rappelvoll. Nicht nur der fünfte Spieltag der Fußball-Bundesliga brachte Betrieb und Umsatz, auch der Leichenfund am Leuterdinger Ortsausgang sorgte für Fragen, die nirgends besser als in Lugingers Kneipe diskutiert werden konnten. Dass eine Frau in der Früh tot aufgefunden worden war, hatte sich herumgesprochen. Dass sie nackt war, auch. Und weil sie jung und schön gewesen sein soll, mussten die Fußballer des FC Bayern auf der Kneipen-Leinwand die Aufmerksamkeit der Gäste mit Gerüchten teilen, von denen niemand wusste, woher sie kamen oder warum sie in die Welt gesetzt worden waren. Keine Ausländerin, keine aus Leuterding, weil die Frauen hier keinen Touareg fuhren. Nicht erschossen, weil sonst jemand einen Schuss hätte hören müssen. Fundort der Leiche ungleich Tatort, weil kein Geschrei, nix, kein Laut.

Moni war nicht gekommen, nachdem Luginger um die Mittagszeit mit ihr telefoniert hatte. Selbstverständlich hatte auch sie die Nachricht von der Toten erreicht. Ihr Kommentar war kurz gewesen: Wenn das derselbe Drecksack gewesen ist, hab ich ja noch mal Glück gehabt.

Sammy zapfte, und Uschi trug Biere durchs Hammer-Eck. Uschi hatte kurzfristig zugesagt auszuhelfen, als Springerin war sie Gold wert. Nachdem sie vor einigen Jahren ihren Getränkemarkt zugemacht hatte, kellnerte sie hauptsächlich auf Volksfesten, fuhr für einen Pizzaservice durch die Weltgeschichte und machte Musik. Ihre Band Panzermadonna genoss Kultstatus. Rock aus grauer Vorzeit, von »Proud Mary« bis »Sweet Home Alabama«. Uschi und ihre Musiker begeisterten ihr Publikum mit Songs, die für Rockfans nie altern würden.

Meier saß schlecht gelaunt vor seinem dritten Bier. Er war als Fotojournalist im Landkreis unterwegs, »Keine Feier ohne Meier« war ein geflügeltes Wort in und um Leuterding. Und dann das. Eine nackte Schönheit tot im Wald, und er hatte nicht auf den Auslöser drücken können, weil er nicht da gewesen war. Gemeuchelt, vergewaltigt, hingerichtet. Wer weiß wie penetriert, wahrscheinlich sensationell zugerichtet und kein Foto von ihm, eine Pleite, die ihm mächtig aufs Gemüt geschlagen war.

Meier trank.

Uschi schob ihm ihre Zigaretten hin: »Hab dich nicht so. Die Bullen hätten dich eh nicht rangelassen.«

Heider hatte mitgehört, obwohl sein Blick starr an der Leinwand hing. Kroos hatte aus zwanzig Meter abgezogen, ein echter Kracher, der aber knapp am Pfosten der Hannoveraner vorbeigegangen war.

»Rangelassen, pfui Deibel, Uschi, so was darfst heut hier nicht mal denken.«

Uschi fuhr Heider durchs Haar und zog seine Modern-Talking-Gedächtnis-Frisur nach unten.

»Bist und bleibst ein kleiner Schweinepriester, Heider. Da kann man nix machen.«

Philipp Lahm grätschte, Heider flüsterte: »So mag ich’s, Baby. Give me more.«

Meier war aufgestanden. »Warum weiß eigentlich niemand, wer die Leiche gefunden hat, verdammt noch mal? Name, Adresse, Telefonnummer. So was muss doch zu recherchieren sein.«

Das war das Problem: Niemand wusste was. Die Kripo hatte sich nicht geäußert, der Zeuge blieb unbekannt, und Markus Polterer, ihr Ortsbulle, tat so, als wäre er um sechs in der Früh im Bett und nicht im Wald gewesen. Totale Funkstille.

Sicher war nur eins: Bernie Faulhuber wohnte am Ende vom Fuchsweg, höchstens dreihundert Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Faulhuber war nicht nur Stammgast im Hammer-Eck, sondern auch Lugingers ältester Freund, und fast jeder kannte die Adresse seiner schicken Hütte. Aber Faulhuber war nicht da, obwohl Faulhuber hätte da sein müssen, weil er immer samstags da war. Nur Luginger war informiert. Bernie hatte ihm auf die Mailbox gesprochen: Komme nicht, tut mir leid. Wir gewinnen trotzdem. Hier tanzt der Bär. Polente, Presse, Krankenwagen, Leichenwagen, Schaulustige. Ich bin erschöpft. Die Fragerei bei dir würde mir den Rest geben. Tschau.

Sammy wiegelte ab. Pizza erst nach der Halbzeitpause, hatte er zu Uschi gesagt, nachdem sie die ersten Bestellungen entgegengenommen hatte. Hinterm Tresen war viel zu viel zu tun, da konnte er sich unmöglich in die Küche verziehen. Außerdem hatte das schöne Wetter dafür gesorgt, dass einige Gäste Bierbänke im Zufahrtsbereich aufgestellt hatten, was bedeutete, dass die Laufwege länger wurden.

Luginger rauchte eine Selbstgedrehte. Gernot, Joe und Erika jammerten über das miese Spiel der Bayern-Offensive. Alle drei gehörten schon so lange zum Hammer-Eck wie die völlig verstaubten Baseballkappen über den Spielautomaten.

»Robben geht mir auf den Sack«, brummte Gernot.

»Immer der gleiche Trick«, ergänzte Erika.

»Hat halt nur einen linken Fuß«, vollendete Joe.

»Wird schon«, meinte Luginger. »Und kein schlechtes Wort über unseren Holländer.«

Seit Robbens spätem Siegtreffer im Champions-League-Finale gegen Dortmund hatte Luginger Frieden mit dem Star auf Bayerns rechter Seite geschlossen. Ehemals versemmelte Elfer waren kein Thema mehr. Vergebene Großchancen in wichtigen Spielen, alles vergeben und vergessen.

»Franz, soll ich mal zur Moni fahren?«, fragte Erika, nachdem der Ärger über misslungene Dribblings verflogen war. »Was heut gelaufen ist, wird ihre Stimmung nicht besser machen. Hast mit ihr gesprochen?«

Luginger nickte.

»Und?«, fragte Joe.

»Nix und. Schlecht ist’s. Natürlich denkt sie, der, der sie überfallen hat, hat jetzt auch was mit der Toten da draußen zu tun.«

»Ist doch klar«, sagte Gernot. »Wenn dir so was passiert, siehst nur noch Scheißtypen.«

»Gibt ja auch viele«, meinte Erika.

Luginger hätte wieder nicken müssen. Stattdessen sagte er: »Ja, fahr hin. Könnt helfen, wenn du mit ihr redest.«

Um zwanzig nach fünf stand fest, dass die Bayern gewonnen und wenigstens kurzfristig die Tabellenführung erobert hatten. Zwei zu null durch Tore von Ribéry und Mandzukic. So weit, so gut. Weniger gut war, dass Sammy Luginger ausgerichtet hatte, seine Mutter habe angerufen. Sie habe nämlich Faulhuber sprechen wollen, um Näheres über den Mord an der Frau da draußen zu erfahren, Faulhuber würde aber nicht ans Telefon gehen. Franz solle sie zurückrufen, und zwar schnell.

Luginger grüßte Peter Gmeiner. Gmeiner saß auf einer Bank in der Sonne und rührte in einem Haferl Kaffee. Er war einer der Alten, die immer mal wieder im Hammer-Eck vorbeischauten. Für Mitte siebzig sah er blendend aus. Der Besitzer der örtlichen Tennisanlage blinzelte Uschi zu, die Zucker nachreichte.

»Grüß dich, Peter«, sagte Luginger.

»Schöner Tag«, kam es zurück. »Sonne, drei Punkte, bei dir sitzen, was will ich mehr. Wenn die Tote nicht wär, wär’s sogar ein sehr schöner.«

Luginger nickte.

»Und natürlich das Unglück mit Moni. Tut mir wirklich leid, Franz, schlimm so was. Dass hier so ein Mistkerl auftauchen muss. Moni ist heut auch nicht da, stimmt’s?«

Luginger setzte sich. »Bis das ausgestanden ist, wird’s dauern, Peter. Und die Tote macht’s nicht leichter.«

Gmeiner rührte und rührte. Dann nahm er einen Schluck Kaffee, ehe er sagte: »Im Hammer-Eck ist eigentlich nie was passiert. Schon als dein Vater die Wirtschaft gehabt hat, war’s immer ruhig. Von der Sauerei mit der Maria mal abgesehen. Nachdem du dann am Ruder warst, hab ich gar nix mehr gehört.«

»Magst ein Wasser zum Kaffee?«, fragte Luginger. »Bei den Temperaturen.«

»Ist recht, ja. Ich muss eh mal rein, für Buben, weißt schon, ich sag’s Uschi.«

Gibt’s das, dachte Luginger. Jetzt hat’s auch Gmeiner mit der uralten Geschichte. Reichte es nicht, dass ihm seine Mutter damit in den Ohren lag? 1985 war’s. Zwei besoffene Bauarbeiter hatten am helllichten Tag Maria Walser, die auch ordentlich geladen hatte, auf einen Wirtshaustisch gezerrt und ausgezogen. Dazu dumme Sprüche und rüdes Betatschen. Andere Gäste waren nicht da gewesen. Als Maria endlich geschrien hat, kam Anna aus der Küche gerannt. Papa war unterwegs gewesen, und wäre Luginger nicht mit dem Rad zum Wirtshaus gefahren, um Werkzeug für die Reparatur seines kaputten R 4 zu holen, hätte seine Mutter nicht gewusst, was tun. So war die Angelegenheit alles in allem noch glimpflich ausgegangen. Luginger hatte die Typen gepackt und rausgeworfen. Maria hatte sich beruhigt und Anna geschworen, nie wieder allein im Hammer-Eck zu bleiben, wenn Gäste da waren.

»Als Wirt bist du richtig, Franz«, sagte Gmeiner, als er mit einem Glas Wasser zurück war. »Jeder hier merkt sofort, dass du da bist, wenn’s drauf ankommt. Weißt du das eigentlich noch, wie du die Arschlöcher bei Maria damals vermöbelt hast?«

Luginger lächelte sanft. »Hab ich ja gar nicht, rausgeworfen hab ich sie, das war’s.«

Freitag, 16. März 1990

Ihr Zimmer war jetzt tipptopp. Die Klamotten lagen im Schrank, das Bett war gemacht, und alles, was nach Schule aussah, hatte sie im Schreibtisch verstaut. Auf dem kleinen Couchtisch standen Sektgläser, und im Hintergrund lief »Nothing Compares 2 U« als Endlosschleife. Noch war sie allein. Sie wartete auf ihre Freundinnen, obwohl sie sich gar nicht mehr sicher war, ob sie sie wirklich sehen wollte, nach dem, was am Abend zuvor geschehen war. Sei’s drum, girls’ day war girls’ day, und nachdem sie gestern ihren Geburtstag mit ihrer Familie und den Hubers von nebenan gefeiert hatte, war ein netter Nachmittag mit Senta, Sally und Laura nicht das Schlechteste. Zuerst die Pflicht, dann das Vergnügen, ein typisches Papa-Gesetz, das er so selbstverständlich vor sich hertrug wie seinen Bauch, der Jahr für Jahr markanter über seinem Gürtel hing. Allerdings fragte sie sich nicht zum ersten Mal, wie das mit dem Vergnügen eigentlich einzuordnen war, wenn sie daran dachte, wie ihre Gitarrenstunde verlaufen war. Von wegen Gitarrenstunde! Von wegen bei Tom Griffe üben und Haltung verbessern. Gestern war was ganz anderes wichtig gewesen. Sie hatte es gewollt, und sie hatte es gekriegt. Dabei war es gar nicht ihre Idee gewesen, nach Kaffee und Kuchen und all dem langweiligen Geschwätz am Abend mit ihrem Instrumentenkoffer noch einmal loszuziehen. Unterricht auch an Feiertagen, hatte ihr Vater verkündet, wer Gitarre lernen wollte, durfte nicht nachlassen. Weil: Übung macht den Meister. Und: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Oder: Ran an die Buletten, ein Spruch, der auch außer Haus schon eine so feste Größe war, dass er in allen Lebenslagen für ständige Wiederholung sorgte.

Sie drehte eine Runde durchs Zimmer, stand vorm Spiegel und prüfte zum hundertstenmal ihr Gesicht. Ob sie jetzt anders aussah? Danach. Wenn man es getan hatte. Wegen der Aufregung und weil man gewachsen war wegen dem, was so was bedeutete. Also nicht in Zentimetern, sondern allgemein, im Ausdruck eben.