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Frieda, ein dreizehnjähriges Mädchen, lebt gemeinsam mit ihrer Familie auf einem Pferdehof. Klar kennt sie sich mit den Tieren aus, nur ein eigenes Pferd, das hat sie bisher nicht, denn dazu waren ihre Eltern noch nicht bereit. Wie es das Schicksal aber will, bekommt sie im Sommer die Gelegenheit, für einige Wochen ein Pflegepferd zu übernehmen. Und endlich ist es da, "das eigene Pferd". Jede freie Minute nutzt sie nun, um mit ihm voller Begeisterung zu tun, was immer sie möchte. Doch da gibt es etwas, das sie noch nicht weiß über ihre Graue Stute. Sie ist viel mehr als ein gewöhnliches Reitpferd und für Frieda beginnt das Abenteuer ihres Lebens. Leider muss sie sich anfangs einige unschöne Eingeständnisse machen, aber dafür wird sie mit Wissen und Erfahrungen aus erster Hand belohnt.
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Seitenzahl: 489
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0801-7
ISBN e-book: 978-3-7116-0802-4
Umschlag- und Innenabbildungen: Jan Gillich
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Jan Gillich
www.novumverlag.com
Impressum
Kapitel 0
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Beginn des Haupttextes
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Kapitel 0
Willkommen auf dem Quellenhof!
Der Pferdehof ist ein großes Anwesen mit einem alten Bauernhaus, einem Nebengebäude und einem großen Innenhof.
Im Halbkreis um das Grundstück liegen umzäunt die Koppeln.
Da es das letzte Haus im Dorf ist, oberhalb einer kleinen Stadt, grenzen die Koppeln an den dahinterliegenden Wald.
Der Innenhof, der zwischen dem Haus und den Ställen liegt, ist zu einem Drittel überdacht und dient den Reitern als Putzplatz. Eine kleine Holzhütte wird auf der einen Seite als Sattel- und auf der anderen Seite als Futterkammer genutzt.
Der Reitplatz links neben dem Haus hat, wie die Paddocks, einen Boden, der mit Matten ausgelegt ist und auf denen eine dicke Schicht Sand liegt.
Eine kleine Quelle entspringt am Waldrand, die nach wenigen Metern in einen Bach mündet. Früher nutzten sie die Bewohner des Dorfes, um frisches Wasser zu holen und liefen dabei jedes Mal über die Felder des alten Bauernhofs.
„Quellenhof“ wurde er deshalb genannt, und behielt diesen Namen all die Jahre bei.
Frieda Kraftist dreizehn Jahre alt und geht, wie alle Mädchen in diesem Alter, in die Schule.
Einige aus Friedas Klasse besuchen sie gerne zuhause, besonders die Mädchen, was sowohl an ihr, als auch an den Pferden liegt.
Sie verbringt bereits ihr ganzes Leben auf dem Quellenhof und möchte auch den Rest davon genau dort bleiben. So ist es ihr Plan. Sie liebt die Pferde und alles, was damit verbunden ist. Reiten kann sie bereits länger als sie läuft, und auf dem Rücken eines Pferdes ist sie lieber als irgendwo sonst auf der Welt!
Ihre Mama heißt Marlene Kraftund sie führt den Pferdehof. Sie arbeitet mit den Pferden, denn sie ist Pferdetrainerin, bildet Jungpferde aus und gibt Reitunterricht. Zusätzlich bietet sie geführte Ritte an, welche für einen Tag, also Tagesritte, aber auch für länger. Das sind dann Wanderritte. Während dieser Wanderritte ist man mehrere Tage auf dem Pferd unterwegs, mit leichtem Gepäck und Provi-ant und navigiert mit Kompass und Karte eine vor-her festgelegte Route. Auch Frieda war schon oft mit von der Partie und würde diese Art des Urlaubs jederzeit und immer wieder einem 5-Sterne-Club- urlaub vorziehen.
Christoph Kraftist Friedas Papa. Er kennt sich nur wenig mit Pferden aus, ist aber ein geschickter Handwerker und hilft Marlene, so gut er kann. Von Beruf ist er Schreiner und hat eine kleine eigene Werkstatt im Nebengebäude, wo er fast den ganzen Tag anzutreffen ist. Braucht jemand seine Hilfe, ist er augen-blicklich zur Stelle.
Friedas Bruder heißt Theo. Er ist acht Jahre und auch er kennt sich ziemlich gut mit dem Leben auf dem Hof aus. Natürlich kann auch er reiten, macht es aber nicht so oft. Lieber hilft er Papa in der Werkstatt.
Die Tiere:
Hündin Paula
Lucille
Coolio
Charly
Bert
Starlight
Nora
Die Einsteller:
Vier weitere Pferde leben auf dem Quellenhof. Sie gehören nicht zur Familie, das heißt ihre Besitzer bezahlen dafür, dass sie auf dem Hof stehen dürfen. Je nach Wunsch, wird sich mehr oder weniger von Mama Marlene um sie gekümmert. Manche zahlen für eine sogenannte Voll-pension, bei der jede Art der Versorgung, außer reiten, übernommen wird. Das Füttern, das Misten und der Gang zur Koppel gehören täglich dazu.
Andere Möglichkeiten sein Pferd einzustellen, sind die Halbpension oder eben das Selbstversorgen.
Bei der Halbpension zahlt der Besitzer etwas weniger als bei der Voll-pension, dafür macht er aber auch manches selbst. Er mistet zum Bei-spiel mehrfach die Woche oder kümmert sich um das Heu. Wie viele Tätigkeiten vom Pferdebesitzer übernommen werden, kann jeder mit dem Stallbesitzer selbst ausmachen.
Als Selbstversorger mietet man nur die Box, das Paddock und die Kop-peln. Alle Arbeiten erledigt man alleine.
Auf dem Quellenhof gibt es alle drei Varianten des Einstellens.
Kirstenist eine Besitzerin mit Vollpension. Ihr Pferd Luckyist schon seit vier Jahren auf dem Hof und trotz Vollpension kommt sie mindestens sechs Mal die Woche und kümmert sich intensiv um ihr Pferd. Lucky wird geputzt, gestriegelt und gewaschen. Die Hufe werden kontrolliert und nachgefeilt und sie bewegt ihn täglich auf dem Reitplatz. Reiten kann sie ihn nur selten, da er schon acht-undzwanzig Jahre alt ist. Deshalb longiert sie ihn, um ihn weiterhin fit zu halten.
Das Futter für ihr Pferd stellt Kirsten selbst zusammen. Sie sammelt Kräuter,
Blütensamen und Wurzeln, die sie zermahlt oder zerhäckselt. Aber auch gekaufte Futtermittel zur Verbesserung der Gelenke, des Fells und der Verdauung, werden von ihr mit dem Futter vermengt.
AnnesPferd heißt Mickey Mouse, wird aber von ihr nur liebevoll Mick genannt. Sie ist genauso lange auf dem Hof wie Kirsten, aber nicht ganz so oft im Stall wie sie, da sie zuhause eine große Familie hat, um die sie sich kümmern muss. Dazu kommt, dass sie eigentlich gar nicht so viel Ahnung von Pferden hat und wirklich schlecht reitet.
Mick suchte vor vier Jahren dringend ein neues Zuhause, als seine Besit-zerin plötzlich verstarb. Anne, die von Kirsten davon erfuhr, verliebte sich augenblicklich in ihn und ist seither seine Besitzerin. Sie hofft einfach, dass Kirsten eine echte Reiterin aus ihr macht. Bisher waren die beiden allerdings nicht besonders erfolgreich. Anne hat einfach zu große Angst. Nicht unbedingt vor Pferden, aber vor dem Umgang mit ihnen. Sie bemüht sich zwar mehrfach die Woche tapfer eine echte Rei-ter-Pferd-Beziehung aufzubauen, doch kommt ihr ihre eigene Unsicher-heit immer wieder in die Quere.
Ted, neben Friedas Papa der einzige Mann auf dem Hof, heißt eigentlich Detlef. Er ist durch und durch ein echter Cowboy.
Täglich trägt er Cowboystiefel, Lederchaps und Cowboyhut. Manchmal sogar ein Lasso. Meis-tens steckt eine Zigarette lässig zwischen seinen Lippen.
Er fährt einen großen Pick-up, mit dem er jeden Tag in den Stall kommt, obwohl er nur ein paar Häuser weiter wohnt.
„Ein Mann ist nicht zum Laufen geboren“, sagt er immer. „Ein echter Kerl besitzt ein Auto und ein Pferd und beides dient der Fortbewegung!“
Und dann entfährt ihm ein tiefes Lachen, das nicht selten in einem aus-geprägten Raucherhusten endet.
Schon seit sieben Jahren ist er auf dem Quellenhof und war damals sehr zufrieden, seine Pferde gleich vor Ort unterbringen zu können, als er sich im Dorf ein Haus kaufte. Als Junggeselle hat er daheim keinerlei Verpflichtungen und ist somit viele Stunden täglich im Stall anzutref-fen. Als Selbstversorger kümmert er sich alleine um seine Pferde Siscaund Stan, macht lange Ausritte oder spielt auf dem Reitplatz wilde Wes-ternszenen nach. Er weiß viel über Pferde und das Reiten, das meiste aber aus dem Fernsehen. Jeden Abend sieht er sich begeistert alte Wes-ternfilme an, wenn er, lange nach Sonnenuntergang, zuhause sitzt.
Seine Lieblingsbeschäftigung sind und bleiben aber Wanderritte. Lange, ausgiebige Wanderritte über viele Tage und Wochen hinweg. Bis nach Italien will er einmal reiten, an den Gardasee. Schlafen wie ein echter Cowboy, in der freien Natur.
Seine Touren plant er wochenlang im Voraus, schafft es aber meistens nur mit Ach und Krach bis zur nächsten größeren Ortschaft. Für alle am Quel-lenhof und sogar für einige Dorfbewohner, sind diese Wanderritte deshalb legendär und nicht selten wird die ein oder andere Wette darüber abge-schlossen.
Kapitel 1
Mama Marlene, ihre Pferde, ihre Arbeit
Frieda und Theo verlassen jeden Morgen zur gleichen Zeit das Haus. Um 7:15 Uhr müssen sie los, denn der Bus kommt pünkt-lich um 7:22 Uhr und fährt sie in die Schule. Theos Schule liegt im übernächsten Ort. Frieda muss bis zur Endstation fahren.
Weil Theos Unterricht küzer ist, ist er meistens ein bis zwei Stunden früher als seine Schwester zurück.
Am Nachmittag, nachdem sie ihre Schularbeiten erledigt haben, verbringen beide die meiste Zeit draußen. Frieda bei den Pferden, Theo überall. Er ist ein echter Wildfang und kann kaum länger als fünf Minuten stillsitzen. Er strotzt vor Kraft, Energie und Tatendrang. Braucht er Zeit für sich, verschwin-det er in den Wald und geht zur Quelle. Dort ist er oft Stun-den. Er folgt der Quelle bis zum Bach, baut Staudämme und Lager oder beobachtet die Tiere. Oft vergisst er dabei die Zeit, und nicht selten muss sich ein kleiner Suchtrupp auf den Weg machen, um ihn zum Abendessen nach Hause zu holen.
Frieda hat es nach Schulschluss immer sehr eilig. Zwei Busse fahren von der Schule durch die Dörfer, um die Kinder wieder nach Hause zu bringen. Zwei Busse deshalb, weil in einem nicht genug Platz für alle ist. Der erste fährt gleich nach Unterrichts-ende, der zweite zwanzig Minuten später. Versäumt Frieda den ersten, ist sie den halben Nachmittag schlecht gelaunt. Dann verzögern sich das Mittagessen und die Hausaufgaben, und Frieda verpasst die erste Nachmittagsreitstunde ihrer Mutter. Erlaubt es ihre Zeit, sieht sie von der Seite aus zu, oder reitet sogar mit.
Am allerliebsten begleitet sie ihre Mutter bei den Unterrichts-stunden im Gelände und darf dabei die Gruppe sogar hin und
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wieder anführen.
Heute ist einer der guten Tage.
Frieda sitzt als zweite im ersten Bus und freut sich auf den Nachmittag. Die Sonne scheint und der Frühsommer bringt angenehm warmes Wetter. Es weht ein lauer Wind und die Wiesen und Wälder, an denen der Bus vorüberfährt, sind saf-tig grün, und die gelben Rapsfelder strahlen hell in der Sonne.
Zuhause angekommen, schaut sie als erstes in der Werkstatt ihres Vaters vorbei.
Er und Mama Marlene verbringen den größten Teil ihres Tages auf dem Quellenhof.
Als selbständiger Schreiner baut Christoph auf Bestellung allerlei Möbel und andere Dinge.
Marlene bewirtschaftet den Pferdehof. Sie mistet, füttert, trai-niert Pferde, gibt Reitunterricht und kontrolliert und orga-nisiert alles, was dabei so anfällt. Sie hatte, wie Frieda auch, schon immer ein gutes Händchen für Tiere und verwirklichte sich mit Anfang zwanzig ihren Traum vom eigenen Pferd. Als sie Christoph kennenlernte und mit ihm auf den Quellenhof zog, wurden aus einem Pferd zwei – denn alleine darf man ein Pferd als Herdentier nicht halten – und aus zwei wurden drei, dann vier, fünf und schließlich sechs. Sie fing an den Kindern im Dorf das Reiten beizubringen, und bekam von Jahr zu Jahr mehr Interessenten. Um zusätzlich Geld zu verdienen, vermie-tet sie Pferdeboxen zur Pension.
„Hallo Papa“, begrüßt Frieda ihren Vater.
„Hallo meine Kleine!“ Christoph lächelt sie an.
Er kniet gerade neben einer Kommode und zieht die letzten Schrauben fest.
„Ich bin 13!“, ruft sie empört.
„Ich weiß,“ langsam kommt er zu seiner Tochter hinüber, „ich
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war bei deiner Geburt dabei.“ Er muss schmunzeln. „Aber für mich wirst du immer mein kleines Mädchen bleiben.“ Liebevoll kneift er ihr mit seiner rechten Hand in die linke Wange, wäh-rend er ihr einen extra feuchten Schmatzer auf die andere gibt.
Frieda verzieht genervt ihr Gesicht, mag das innige Verhältnis zu ihrem Papa aber eigentlich ganz gerne.
„Ist Mama drinnen in der Küche? Gibt’s schon Essen?“, fragt sie ihn.
„Ja, zusammen mit Theo. Das Essen müsste schon auf dem Tisch stehen. Ich wasche mir nur noch die Hände, dann komme ich auch.“
Christoph geht die wenigen Schritte bis zum Waschbecken, während Frieda zum Haus hinüberläuft. Schon beim Öffnen der Tür ruft sie: „Bin zuhause!“, und prompt erscheint der Kopf ihrer Mama in der Küchentür.
„Hallo Frieda, schön dass du da bist. Das Essen ist gerade fer-tig. Hast du deinen Vater irgendwo gesehen?“, will sie wissen.
„Der wäscht sich nur noch die Hände, dann kommt er“, ant-wortet Frieda und stellt ihre Schuhe ins Regal.
In der Küche, erblickt sie ihren Bruder. Er hat anscheinend Hunger. Das Besteck hält er schon in den Händen und seine Füße trippeln ungeduldig auf dem Boden.
„Lass das, Theo!“, zischt sie ihn an, während sie ihre Hände in der Küchenspüle wäscht.
Natürlich stachelt das Theo nur noch mehr an und er krakelt: „Ich habe Hunger, Hunger, Hunger..!!!!“
„Mmm, hier riecht es aber lecker – wie immer!“ Christoph ist gekommen. Er gibt Marlene einen Kuss, dann geht er zu Theo und wuschelt ihm durch die Haare. „Mein Sohnemann, Ruhe jetzt. Bisher musste hier keiner hungern. Wir können aber jederzeit eine Ausnahme machen.“
„Haha“, raunt Theo als Antwort, hört zum Glück aber auf.
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Marlene, mit Topflappen-Handschuhen bewaffnet, öffnet den Backofen und sofort ist die Küche voller würziger Aromen. Sie holt die fertige Lasagne heraus und stellt sie auf den Tisch, dann setzt sie sich ebenfalls.
Ihre Wangen sind durch den Stress des Vormittags leicht ger-ötet und ihre Haare trägt sie zu einem schnell zusammenge-drehten Knoten. Hat Frieda ebenfalls einen Zopf, sieht sie ihrer Mama ziemlich ähnlich. Sind Marlenes Haare allerdings offen, fallen ihre großen Locken über die Schultern und die Ähnlich-keit mit Frieda verschwindet fast komplett. Friedas Haare sind nämlich kerzengerade, nicht einmal der Hauch einer Welle ist zu sehen. Sie kommt da mehr nach ihrem Papa. Theo dagegen trägt die gleiche Lockenpracht wie seine Mama, die ihm oft wirr ins Gesicht hängt.
Nachdem Lasagne auf jedem der vier Teller verteilt liegt und ein kurzes „guten Appetit“ von allen zu hören ist, setzt plötzlich absolute Stille ein, die doch tatsächlich einige Minuten anhält.
„Wie war die Schule?“, will Marlene von ihren Kindern wissen.
Das Mittagessen ist oft die einzige Zeit am Tag, bei der sich alle entspannt gegenübersitzen. Abends kommt Mar-lene oft spät aus dem Stall, und auch die Kinder sind durch das viele draußen sein häufig so müde, dass kaum mehr ein vernünftiges Gespräch stattfindet.
„Mm“, sagt Theo.
„Wie immer“, antwortet Frieda.
„Erzählt mir ja nicht zu viel...“, Marlene wendet sich Christoph zu, „und deine Kommode? Ist sie schon fertig?“
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„Gerade eben. Ich bin sehr zufrieden, ist ein schönes Stück geworden“, sagt er lächelnd. „Möchte noch jemand?“ Er deutet auf die Lasagne und sofort schiebt Theo seinen Teller direkt vor die Auflaufform.
Ein kleines Stück seiner ersten Portion liegt zwar noch darauf, aber das ist für Theo kein Grund für Zurückhaltung.
„Freut mich“, antwortet Marlene, „du warst diesmal sogar ziemlich schnell, oder kommt mir das nur so vor?“
„Nein, das stimmt. Diesmal lief es fast von selbst.“
Schweigend essen sie weiter, bis auch das letzte Stück ver-schlungen ist, dann lehnen sie sich zufrieden zurück.
„Sag mal, könntest du mir später vielleicht helfen?“ Marle-nes Frage ist an ihren Mann gerichtet. „Ein neuer Heuballen müsste vom Heuboden herunter. Der in der Heuraufe auf dem Paddock ist schon so gut wie leer gefressen.“
„Aber natürlich, sag einfach Bescheid. Ich räume nur noch die Werkstatt auf, dann mach’ ich sowieso Feierabend. Für den nächsten Auftrag kann ich mir ein bisschen Zeit lassen. Mir fehlen noch wichtige Maße, und vorher kann ich ohnehin nicht anfangen“, sagt Christoph nickend.
„Ich kann dir doch helfen!“, bietet sich Theo auch gleich an und seine Augen werden groß und leuchten, wie immer, wenn er eine Aufgabe für sich wittert.
„Danke, das ist sehr lieb!“ Ehrliche Dankbarkeit ist in Marlenes Stimme zu hören. „Wie wäre es, wenn wir später alle zusam-men helfen?“
„Ok. Aber wenn Papa doch keine Zeit hat, kann ich das auch ganz alleine“, versichert Theo.
Christoph und Marlene schmunzeln. Teils voller Bewunderung, teils weil sich ihr Sohn ein bisschen selbst überschätzt. Ein gro-ßer Rundballen Heu wiegt 500 Kilo, ein kleiner 250 Kilo. Selbst Christoph tut sich manchmal schwer, wenn er einen alleine
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über den Heuboden zur Dachluke rollen soll. Hinunter gelassen wird er über eine Seilwinde, den Weg zur Heuraufe erneut wieder gerollt.
„Frieda, wie sieht es mit Hausauf-gaben aus? Hast du viel zu tun?“, will Marlene wissen.
„Gar keine!“, antwortet sie triumphierend.
„Sehr schön, dann kannst du ja den Tisch abräumen.“
Friedas freudestrahlendes Gesicht fällt augenblicklich in sich zusammen.
„Na toll!“, murmelt sie, macht sich aber an die Arbeit.
Gerade als sie mit der Küchenarbeit fertig ist und wieder aus der Haustür tritt, kommen ihr Marie und Jule entgegen, Mar-lenes erste Reitschülerinnen für den Nachmittag. Beide Mäd-chen sind im gleichen Alter wie Frieda, gehen aber auf eine andere Schule.
Marie wohnt unten in der Stadt und wird von ihrem Vater den Berg hinaufgefahren. Ihr Fahrrad transportieren sie im Kof-ferraum, so dass sie alleine wieder zurückkommt. Jule dage-gen wohnt im selben Dorf.
„Hallo“, ruft Frieda ihnen zu.
„Hallo“, antworten beide fast gleichzeitig und strahlen mit der Sonne um die Wette.
Die Mädchen sind begeisterte Reiterinnen und man merkt ihnen ihre Vorfreude schon von weitem an, besonders Jule. Sie ist ein echter Sonnenschein und immer lustig und voller Ener-gie. Marie ist ein bisschen ruhiger.
Frieda schließt sich den zweien an, und gemeinsam gehen sie an Haus und Reitplatz vorbei zu den Ställen. Mama Marlene
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ist, wie so oft, am Abmisten des Paddocks.
Eigentlich macht sie das einmal am Tag, und zwar morgens. Allerdings hat sie sich angewöhnt, immer wenn sie Zeit übrig hat, diese zu nutzen, um die ein oder andere Schubkarre voll Mist gleich wieder zu entfernen.
Pferde, die jederzeit Heu zu ihrer Verfügung haben, äpfeln circa alle zwei Stunden, was bei zehn Pferden 120 Pferdeäpfel ergibt. Eine Menge Mist.
„Da seid ihr ja, hallo Jule, hallo Marie!“, ruft Marlene ihren Schülerinnen zu.
„Hallo“, antwortet Marie fröhlich.
„Gehen wir heute ins Gelände?“, platzt es sofort aus Jule heraus.
Marlene muss lächeln. Für alle ihre Reitschüler, ob Kinder oder Erwachsene, sind die Geländeritte das Allerbeste. Und auch Marlene selbst ist es am liebsten, wenn sie ihren Unterricht draußen abhalten kann. Leider gibt es aber gewisse Dinge, die sich leichter auf dem Reitplatz üben lassen. Besonders weil sie, Marlene, sich schlichtweg einfacher tut Fehler zu erkennen, wenn die Reiter im Kreis um sie herumreiten.
„Wir wollten uns doch heute noch ein bisschen intensiver mit den Zügeln beschäftigen und vor allem das ,flüssige Nachgrei-fen’ üben“, gibt sie darum zu bedenken.
Da Marlene Freizeitreiten unterrichtet, benutzt sie für jedes ihrer Pferde einen gut sitzenden Westernsattel und ein Wes-ternzaumzeug, mit langen offenen Zügeln.
Offen bedeutet, dass diese nicht in der Mitte miteinander ver-bunden sind, sondern tatsächlich vom Reiter als zwei „Stricke“ übereinandergelegt und benutzt werden.
Um mit diesen Zügeln problemlos umzugehen, bedarf es eini-ger Übung, besonders weil man beim Freizeitreiten, genauso wie beim Westernreiten, sein Pferd meistens mit langen, locke-ren Zügeln reitet. Falls es die Situation allerdings erfordert,
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muss man in der Lage sein, diese langen Zügel blitzschnell in kurze zu verwandeln. Und das gelingt nur durch häufiges Üben.
„Aber das können wir doch genauso gut auch draußen machen.“ Jule sieht Marlene mit einem unglaublichen Dackelblick an und spricht obendrein in einem zuckersüßen Ton.
„Na gut, einverstanden.“ Marlene lacht. „Dann eben Gelände. Marie, du reitest Charly, Jule, du Nora.“
Schon flitzen die Mädchen los.
Frieda, die sich im Hintergrund gehalten hatte, atmet erleich-tert aus: „Juhu, ein Ausritt! Keine Hausaufgaben und dafür gleich ein Ritt im Gelände“, denkt sie beglückt und fragt: „Mama, soll ich Bert oder Lucille reiten?“
„Nimm du Bert, ich reite Lucille“, antwortet ihre Mutter, wäh-rend sie ihre Schubkarre auf dem Misthaufen entleert.
Marie, die Charly mit geübtem Griff das Halfter anlegt, führt ihn kaum zwei Minuten später zum Putzen. Jule hat bei Nora heute weniger Glück. Sie war zwar noch vor Marie auf dem Paddock und ist Nora entgegengerannt, trotzdem gelingt es ihr einfach nicht, nah genug an das Pferd heran zu kommen. Jedes Mal lässt die Stute sie bis auf wenige Meter in ihre Nähe kommen, um dann auszuweichen und im Trab auf die andere Seite des Paddocks zu laufen. Dabei hebt sie ihren Kopf in die Höhe und reißt die Augen auf.
Auch Frieda und Marlene haben mittlerweile ihre Pferde ange-bunden und sind eifrig am Putzen.
„Jule, was ist jetzt mit dir? Ich dachte, du wolltest heute unbe-dingt ins Gelände?“, scherzt Marlene.
Jules wunderbar gute Laune löst sich mehr und mehr in Luft auf.
„Ich weiß auch nicht was Nora hat. Das nächste Mal nehme ich wieder Charly!“, ruft sie beleidigt.
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„Ach Jule, Nora ist wirklich eines unserer bravsten Pferde. Mit ihr kommt man doch wohl gut zurecht“, antwortet Marlene.
Sofort muss sie Nora verteidigen. Es ist die Stute, die am längsten auf dem Quellenhof zuhause ist, und auf der sie ohne Bedenken auch alle Anfänger reiten lassen kann. Mit ihren 18 Jahren ist sie, nach Charly, das zweitälteste Pferd im Stall und hat trotz ihres hohen Alters immer noch großen Spaß bei der Arbeit. Charly, der Pferde-Opa, ist da leider ganz anders. Bei ihm haben Anfänger, oder allgemein zaghafte Menschen, kein leichtes Spiel. Häufig gibt es einen Kampf an der Heuraufe, will ihn jemand von dort wegbringen, oder am Feldrand, wenn er wieder einmal vorhat, im hohen Getreide zu verschwinden. Ansonsten schlendert er im Schneckentempo, ohne Hast und Eile, durch die Gegend.
Jule sieht mittlerweile richtig frustriert aus. Sie schnauft tief aus und lässt dabei den Kopf hängen. Weg ist ihr Übermut und Marlene bekommt Mitleid.
„Die Arme“, murmelt sie in Friedas Richtung.
„Ich geh’ ihr gleich helfen, Mama. Ich ziehe noch meinen Sat-telgurt fest, dann geh’ ich zu ihr.“
Doch gerade, als Frieda zu Jule will, sieht sie, wie Nora brav hinter Marie her trottet.
„Na geht doch!“, ruft Marlene begeistert.
Frieda öffnet Jule das Paddock und geht ihr zur Hand.
Als endlich alle vier Reiter auf ihren Pferden sitzen, ist Jule wieder ganz die Alte. Sie reiten am Haupthaus vorbei, zum Tor hinaus und biegen, gleich links, auf einen Wiesenweg ein. Von hier aus kann man sich aussuchen, ob man direkt in den Wald hineinreitet oder am Waldrand entlang, zwischen den Feldern, läuft.
Da die Sonne in voller Kraft strahlt, sich die Luft durch den leichten Wind aber dennoch frisch anfühlt, entscheidet sich
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Marlene dafür, außerhalb des Waldes zu bleiben. Sie reitet, den anderen voraus, ein kurzes Stück am Waldrand entlang, um dann in den ersten Feldweg, der rechts neben ihnen auftaucht, abzubiegen. Alle paar Meter dreht sie sich zu den Mädchen herum.
Auf Frieda achtet sie nur noch selten. Sie ist eine geübte Rei-terin und kommt mit allen Pferden im Stall gut zurecht. Das einzige Pferd, das sie noch nicht reiten darf, ist Coolio. Mit sei-nen vier Jahren ist er noch ein wenig wild und deshalb kaum als Reitpferd einsetzbar. Er wird gerade erst von Marlene ein-geritten oder, wie man bei Pferden auch sagt, „gestartet“. Ist seine Ausbildung beendet, entscheidet sich Marlene, ob sie Coolio verkauft oder ihn behält und als Nachfolger für eines der alten Pferde einsetzt.
Lucille, das Pferd, das von Marlene selbst geritten wird, ist eine braune Traberstute. Sie ist, genauso wie Bert, 14 Jahre alt und war doch tatsächlich einige Jahre als Rennpferd auf einer Rennbahn. Deshalb kann sie unglaublich schnell rennen. Besonders im Trab bekommt sie eine Geschwindigkeit, dass man meinen könnte, man würde fliegen. Auf Befehl legt sie einen Blitzstart hin, der an den Abschuss einer Rakete erinnert, und wer dabei die Angst überwindet, genießt das kraftvolle Gestampfe unter sich in vollen Zügen. Die Reitermädchen dür-fen das natürlich noch nicht, nur Marlene geht regelmäßig mit Lucille ins Gelände und lässt sie nach Herzenslust Gas geben. Das entspannt das Pferd und macht es ausgeglichen für den Reitunterricht. Nachdem Lucille aber nicht nur im Trab das schnellste Pferd ist, sondern auch in den zwei anderen Gan-garten, Galopp und Schritt, muss Marlene alle paar Meter anhalten, um auf die anderen Reiter zu warten.
Das erste Viertel der Reitstunde ist vorbei, und als sich Mar-lene wieder einmal umdreht, um nach ihren Mitreiterinnen
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Ausschau zu halten, sieht sie Marie sich abmühen, Charly vorwärts zu bringen. Stur steht er am Feldrand und frisst. Das Mädchen wirkt dabei irgendwie verloren. Sie wackelt hin und her, klopft mit ihren Beinen gegen Charlys Bauch und ver-sucht, etwas unbedarft, an den viel zu langen Zügeln zu ziehen. Ihre Arme wandern dabei so weit nach oben, bis sie fast auf der Höhe ihres Kopfes sind. Das Pferd bleibt davon völlig unbeeindruckt.
„Marie, alles klar?“, ruft Marlene. „Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment, um das Nachgreifen der Zügel zu üben?!“
Maries Kopf ähnelt mittlerweile einem roten Ballon, so angestrengt kämpft sie mit Charly unter der warmen Maisonne.
„Ganz ruhig bleiben. Wir lernen das doch schon seit einiger Zeit. Dir fehlt nur die Übung, um es flüssig anzuwenden. Und natürlich ist es im Gelände doppelt so schwer, durch die Fel-der, Büsche und Wiesen überall. Aber wolltet ihr das nicht so?“, erinnert Marlene das Mädchen.
Gut sichtbar stellt sie sich hin und gibt Marie genaue Anwei-sungen, während sie ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkt. Deutlich hebt Marlene ihre Hände, damit Marie sie gut sehen kann.
Mit großer Mühe kommt das Mädchen den Anweisungen nach und schafft es tatsächlich, ihre Zügel so zu verkürzen, dass sie ihre Hände wieder auf normaler Höhe und sogar vor dem Sattelhorn halten und bewegen kann. Charly, der natürlich bemerkt, dass ihm seine selbst gewonnene Kopffreiheit wieder
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entzogen wird, kämpft leider mit voller Wucht dagegen an.
Marie geht die Kraft aus. Obwohl sie jetzt alles richtig macht, kann sie sich mitten in dieser Fressorgie einfach nicht mehr durchsetzen. Immer wieder macht Charly seinen Hals lang und entzieht dem Mädchen die Zügel.
„Jetzt hilft nur noch Trick17!“, meint Marlene, als sie das Schau-spiel beobachtet.
Sie weiß, setzt Marie sich jetzt nicht ein für alle Mal durch, ignoriert Charly sie die ganze restliche Stunde.
„Marie, beug’ dich vor und greife mit einer Hand so weit nach vorne wie möglich in einen deiner Zügel hinein. Hast du ihn, dann zieh daran so fest, dass Charly sich bewegt und vom Gras ablässt, aber nicht mehr als nötig! Gib ihm gleichzeitig durch deine Beine die Hilfe des Loslaufens und befehle ihm: „walk“ (= gehen).
Sobald du wieder auf dem Weg bist, hörst du augenblicklich damit auf und gibst ihm wieder den normalen Impuls zum Weitergehen.“
Marie nimmt ihre letzte Kraft zusammen. Und tatsächlich, es funktioniert!
Sie steht wieder neben Marlene auf dem Feldweg, allerdings fix und fertig nach diesem Zweikampf. Charly dagegen wirkt trotz allem entspannt und kaut genüsslich die letzten Reste seines Zwischenstopps.
„Gut gemacht“, lobt Marlene nochmal, „aber wer vorher seine Zügel gut im Griff hat, muss sich später nicht so abmühen. Deshalb Mädels, üben, üben, üben!“
Sie reitet an Marie, Jule und Frieda vorbei und bildet erneut die Spitze der Gruppe. Dann setzen sich auch die anderen Pferde in Bewegung und die Karawane zieht gemächlich wei-ter. Die ganze restliche Stunde üben Jule und Marie nun brav die Zügel von ganz lang auf kurz zu verändern. Marlene und
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Frieda unterstützen sie kräftig dabei und überwachen vor allem, dass die Pferde davon so wenig wie möglich im Maul bemerken.
Wieder im Stall zurück, sind die Handgriffe endlich flüssig und gehen jetzt fast automatisch.
Ein Geländeritt im Sommer kann eine ganz fabelhafte Sache sein, sich aber leider auch zu einer körperlichen und nervli-chen Zerreißprobe entwickeln, wenn an jeder Ecke eine andere Leckerei auf die Pferde wartet.
„Jule, du kannst Nora absatteln.“ Marlene öffnet bereits den Sattelgurt von Lucille. „Bert und Charly dürfen gleich noch-mal, die könnt ihr also, so wie sie sind, angebunden stehen lassen. Frieda, wenn du noch eine Stunde mitreiten möchtest, dann nimm diesmal Starlight. Den nächsten Unterricht gebe ich auf dem Reitplatz. Du kannst aber auch die Heuraufe im Unterstand neu befüllen, bis heute Abend könnte auch dieses Heu knapp werden.“ Fragend sieht sie ihre Tochter an.
„Also wenn ich die Wahl habe, reite ich lieber. Das Heu kann doch Theo machen. Wollte der sich nicht sowieso darum küm-mern?“, murmelt Frieda und ruft dann laut ihrer Mutter nach, die gerade in der Sattelkammer verschwindet: „Ich denke wir haben kein Heu mehr unten?“
„Doch, für den Unterstand ist noch welches in der freien Box. Für die fahrbare Heuraufe auf dem Paddock, für die brauchen wir einen neuen Rundballen vom Heuboden.“
„Ach so, aber ich reite lieber mit, Mama.“
Frieda läuft bereits los, um sich ihr Pferd für die nächste Stunde zu holen.
„Hätte mich auch gewundert“, hört man es leise aus der Sattelkammer.
Als nächstes kommen Inge und Franzi, Mutter und Tochter,
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die erst vor kurzem mit dem Reiten angefangen haben. Freu-dig gehen die beiden zu ihren Pferden und klopfen ihnen liebe-voll den Hals.
„Hallo ihr zwei“, begrüßt Inge sie.
Charlys Augen sind geschlossen und seine Unterlippe hängt locker nach unten; er macht ein Nickerchen. Kurz gehen seine Augen einen winzigen Spalt auf, als er die Berührung an sei-nem Hals bemerkt.
„Hallo Inge, hallo Franzi!“ Marlene steht jetzt neben ihnen. „Seid ihr fit, oder habt ihr noch Muskelkater in den Beinen von der letzten Stunde?“
„Fit!“, ruft Franzi, und Inge: „Meine Beine waren gar nicht das Problem, aber mein Hintern... Am nächsten Tag im Büro hatte ich so meine Schwierigkeiten“, sie lacht und reibt sich beim Gedanken daran ihren Po.
„Gut, dann fangen wir an! Franzi, du schnappst dir Bert, Inge, du reitest Charly. Gesattelt sind sie, also bringt sie bitte gleich auf den Reitplatz und kontrolliert die Sattelgurte“, weist Mar-lene die beiden an. „Und vergesst nicht die Steigbügel auf eure Länge einzustellen!“, ruft Marlene ihnen hinterher.
Als letzte verschließt sie den Reitplatz.
„Meine Tochter Frieda kennt ihr ja bereits. Sie reitet heute mit und kann euch vom Pferd aus einiges zeigen. Bitte aufsteigen!“
In der Mitte des Platzes nimmt Marlene ihre Position ein, dann schickt sie die Reiter zwei Runden im Kreis.
„Gebt das Kommando zum Loslaufen: Oberkörper ganz leicht nach vorne, Zügel vor und sanfter Druck mit den Beinen. Den Stimmbefehl bitte immer dazu geben, er heißt „walk“!“
Frieda macht es den beiden deutlich vor und Inge und Franzi bringen ihre Pferde in Bewegung. Inge muss den Druck der Beine ein paar Mal wiederholen, bevor Charly seinen ersten Schritt macht. Dann läuft er aber, ohne Probleme, hinter den
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anderen her.
In der ersten Ecke des Reitplatzes ruft Marlene: „Die Bahn bitte ganz auslaufen. Lasst die Pferde nicht abkürzen, lenkt sie in die Ecke hinein!“
Und wieder zeigt ihnen Frieda, wie sie durch ihr Gewicht und das Anlegen des einen Zügels zum gewünschten Erfolg kommen.
Obwohl Marlene bei ihrem Freizeitreiten vieles aus dem Wes-ternreiten nutzt, baut sie auf dem Reitplatz viele Übungen aus dem englischen Reiten, dem Standardreiten mit ein. So schickt sie ihre Reiter beispielsweise auf den Zirkel, was unge-fähr soviel bedeutet, wie die Hälfte des Platzes zu bereiten, oder verlangt von ihnen durch die ganze Bahn zu wechseln, also von einer Ecke (fast) diagonal zur anderen. Auch die soge-nannte Volte baut sie immer gerne mit ein, ein kleiner Kreis bis zur Mittellinie.
Frieda reitet weiter als Vorbild voran und Inge und Franzi fol-gen ihr. Für ihre dritte Reitstunde schlagen sich die beiden wacker.
Kapitel 2
1 PS reicht
Während die Reitstunde auf dem Platz weitergeht, ertönt plötzlich ein lautes, röhrendes Geräusch und ein knallroter italienischer Sportwagen fährt, mit einer Affengeschwindig-keit, durch das Hoftor. Zwischen Haus und Reitplatz hält er völlig abrupt an. Dabei wird die Autotür aufgerissen und Kirs-ten springt aus dem Wagen.
„Paolo, sag mal spinnst du? Was fällt dir ein, in so einem Tempo,
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hier durchzurasen? Du bist ja gemeingefährlich! Wegen dir könnten Katzen und Kinder überfahren werden! Und über-haupt, du erschrickst meinen Lucky so sehr, dass er den gan-zen Tag völlig durch den Wind sein wird!“
Hochrot ist Kirstens Kopf, mit ihren Armen fuchtelt sie wild in der Luft herum und ihre Augen glühen förmlich vor Zorn.
Paolo, ihr Freund, ist Italiener. Er lebt in der Nähe von Neapel und ist ein wohlhabender Geschäftsmann. Stinkreich, könnte man aber auch dazu sagen.
Da er beruflich viel in Deutschland zu tun hat, besitzt er neben seiner Villa in Italien auch ein schickes Appartement hier. Leider sehen sich die beiden eher selten, doch jeder auf dem Quellenhof weiß stets Bescheid, wenn Paolo Kirsten seine Ehre erweist. Er ist einfach nicht der unauffällige Typ.
Immer noch keift Kirsten durch die offene Autotür, da glei-tet die Fahrertür auf und Paolo schwingt sich elegant und gutaussehend aus seinem Ferrari 488 Spider. Auch er spricht laut und gestikuliert mit seinen Armen – ganz italienisch. Doch hält er dabei sein Smartphone ans Ohr und sein Blick schweift irgendwo in die Ferne. Leider hat er ihr überhaupt nicht zugehört.
Wer allerdings das Gebrüll im vollen Umfang mitbekommt, sind die Reiter und Marlene. Starlight und Bert wurden bereits durch das näherkommende Motorengeräusch nervös und rannten vor lauter Schreck quer über den Platz, als plötzlich der Sportwagen neben ihnen auftauchte. Nur Charly bewegte sich keinen Meter. Er riss zwar, wie alle, den Kopf weit in die Höhe, mehr aber auch nicht. Inge war in diesem Augenblick
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überglücklich dieses Pferd zugeteilt bekommen zu haben. Ihre Tochter hat bereits einen sehr viel stabileren Sitz als sie, und Inge wäre bestimmt auf dem Boden gelandet, hätte sie den Sprint von Starlight und Bert aussitzen müssen.
Franzi kam zwar kurz ins Wanken und verlor dabei auch einen ihrer Steigbügel, doch konnte sie sich problemlos auf dem Pferderücken halten.
Selbst Frieda wurde überrascht durch die Flucht der Pferde, hatte aber noch weniger Schwierigkeiten, die aufgebrachte Starlight unter Kontrolle zu bringen.
Starlight ist, neben Lucille, die zweite Traberstute im Stall, nur mit dem Unterschied, dass Starlight noch nie auch nur in die Nähe einer Rennbahn gekommen ist. Marlene kaufte sie im Alter von vier Jahren in einem Dorf aus der Nachbarschaft, weil sie Lucilles ausgeglichenes Wesen und ihre Verlässlich-keit so unglaublich schätzt.
Beide Pferde stammen aus der gleichen Erblinie und Marlene dachte, Starlight wäre deshalb ganz genauso. Aber Gene hin oder her, Starlight ist genau das Gegenteil. Sie ist zappelig und nervös und schnell aus der Fassung zu bringen.
Ein wenig enttäuscht war Marlene zwar schon, als sie den Unterschied bemerkte, geliebt wird das Pferd deshalb aber kein bisschen weniger.
Kirsten ist mittlerweile außer sich. Sie weiß gar nicht, was sie wütender macht, die rücksichtslose Raserei oder das Nichtbe-achten ihrer Person. Paolo bemerkt ja nicht einmal, dass sie fast vor Wut platzt. Sein Ohr ist immer noch fest ans Handy gedrückt, wie so oft während ihrer gemeinsamen Zeit.
Wenigstens hatte er eingewilligt sie nach ihrem Rendezvous zum Stall zu fahren.
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Die vielen Säcke Futter und andere wichtige Dinge, die sie für Lucky im Internet bestellt hatte, verstaute er zum Glück eben-falls ohne Murren in seinem wertvollen Auto, während sie sich für den Stall umzog.
Leider müssen die Sachen aber auch noch in die Futterkammer!
Verärgert geht sie zum hinteren Teil des Autos, um den Koffer-raumdeckel zu öffnen, starrt dann aber völlig verwirrt in den Motorraum.
„Blöde Karre, Hauptsache anders!“, schimpft sie und schlägt die Motorhaube mit zu viel Schwung zu.
Paolo erstarrt augenblicklich und lässt sein Handy sinken.
„Du Vollmeise oder was?“ Seine braunen Augen werden zu klei-nen Schlitzen. „Du nimmst jetzt Finger weg von meine Auto!“
Auch wenn Paolo sehr gut deutsch spricht, kommt er mit den Artikeln der deutschen Sprache hin und wieder durcheinan-der, ganz besonders, wenn er sich aufregt.
„Was machst du überhaupt? Motor läuft super!“
Sanft streichelt er mit seiner freien Hand über die Haube. Dabei kontrolliert er mit gekonntem Blick, ob alles noch so ist, wie es bei einem Ferrari sein muss.
„Habt ihr es bald, ihr zwei? Ich gebe hier eine Reitstunde! Und geparkt wird draußen!“, ruft Marlene sauer. „Und wenn hier jemand reinfährt, dann Schritttempo, klar?“
„Meine Sachen, wo hast du die hin?“ Kirsten verringert ihre Lautstärke und auch Paolos Blick entspannt sich. Lässig drückt er den Knopf auf der Fernsteuerung und sanft gleitet der Kof-ferraumdeckel nach oben.
„Si, no problemo.“ Paolo erinnert sich an sein Telefonat und ist keine halbe Minute später wieder tief in sein Gespräch versunken.
Kirsten geht nach vorne und wirft einen Blick in den Koffer-raum. Drei große Säcke mit Energiefutter und zwei weitere
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Kartons starren ihr entgegen. Wieder wandert ihr Blick zu ihrem Freund, doch leider macht der nicht den Eindruck, als würde er ihr zur Hand gehen. Also macht sie sich selbst an die Arbeit, kommt aber mit dem schweren Sack gerade einmal einen Meter, dann muss sie erschöpft die erste Pause einlegen.
„Ach du lieber Himmel, ist der schwer“, murmelt sie vor sich hin und lässt ihn stehen.
Da sieht sie zum Glück Anne aus ihrem Wagen steigen.
„Hallo“, ruft sie ihr zu.
Anne winkt, verschließt ihr Auto und läuft über den Hof. „Grüß dich, Kirsten.“
Herzlich umarmt Anne ihre Freundin und gibt ihr ein Küs-schen auf die Wange.
„Ciao Paolo“, begrüßt sie auch den Italiener, der sie wiederum gar nicht bemerkt.
„Ach, ist er wieder hier und doch nicht da?!“, murmelt sie, aller-dings mehr zu sich als zu Kirsten.
„Wo bleibst du denn?“, will die wissen.
Dass Anne jetzt da ist, ist Kirstens Rettung.
„Schau mal, wie ich mich hier abmühe! Ich hab neue Futter-mittel bestellt.“
Erwartungsvoll sieht sie Anne an, schnappt sich einen Karton und bringt ihn weg. Irritiert begutachtet Anne die Säcke, dann entscheidet sie sich für den leichtesten und stemmt ihn in die Höhe. Fest umklammernd und mit schiefem Kopf, um weings-tens halbwegs ihren Weg zu sehen, kämpft sie sich bis zur Fut-terkammer durch.
„Die sind schwer!“, schnauft sie und lässt ihn vor Kirsten zu Boden fallen.
„Jetzt weißt du, warum ich deine Hilfe brauche“, sagt Kirsten lächelnd und Anne macht sich erneut auf den Weg zum Auto.
Erschöpft kommt sie zurück und stellt den zweiten Sack neben
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den ersten, dann dreht sie sich um. Christoph steht hinter ihr, den letzten Sack locker über seinen Schultern hängend und den Karton unter einem Arm geklemmt.
„Tag die Damen, ich war so frei.“ Sanft gleitet der Sack nach unten. „Marlene meinte, ihr könntet Hilfe brauchen. Versteh’ ich nicht, du hast doch einen Supertypen, da vorne an seinem Auto lehnen.“ Er muss schmunzeln.
Diese kleine Spitze konnte er sich einfach nicht verkneifen.
„Ciao, meine Freunde!“
Wie gerufen taucht Paolo in der Futter-kammer hinter ihnen auf. Strahlend wie die Sonne des Südens erhellt er den Raum. „Lange nicht gesehen...“
„Wenn man nur jedes dritte Mal mitbe-kommt.“ Leise versteckt Anne die Worte hinter einem Lächeln. Laut sagt sie: „Ja, die Zeit vergeht.“
„Bella!“ Mit offenen Armen wendet Paolo sich an Kirsten. „Schatz, du weißt, ich muss...du kommst doch klar?!“
Er zieht sie zu sich, küsst sie und bevor er geht, blickt er ihr ganz tief in die Augen.
Mit wackeligen Knien winkt Kirsten ihm nach.
Amüsiert nickt Christoph in die Runde, dann geht er hinaus, um nach Marlene und Frieda zu sehen.
Er sieht auf die Uhr. Die Reitstunde müsste jeden Augenblick vorbei sein. Angelehnt an einen Pfosten, verfolgt er die letzten Minuten.
Auch wenn ihn Reiten und Pferde nicht besonders interes-sieren, sieht er seiner Frau und Tochter doch ganz gerne zu. Besonders bei Frieda gefällt ihm, dass er Fortschritte bemerkt, und das erfüllt ihn mit Stolz.
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„Jetzt noch eine kleine Runde im Trab – bitte aussitzen, also fest im Sattel sitzen bleiben und locker mitschwingen. Frieda, du führst die Gruppe auf den Zirkel und danach noch eine halbe Bahn, anschließend wieder durchparieren.“
Marlene gibt eine ihrer letzten Anweisungen und Frieda reitet im Trab voran, vergewissert sich aber durch einen Blick nach hinten, ob es die anderen ihr nachtun.
Marlene lächelt, als sie Christoph sieht.
„Macht unsere Kleine das nicht gut, wie sie auf die anderen Reiter achtet?! Es fehlt nicht mehr viel und sie kann für mich einspringen.“
Christoph kann ihr nur zustimmen.
„Beim Durchparieren Popo tief in den Sattel drücken, Zügel leicht annehmen und das Wort „easy“ für langsam und „walk“ für Schritt benutzen“, wendet sie sich noch einmal an die Gruppe.
Augenblicklich fallen Frieda und Starlight in einen ruhigen Schritt.
Bei den anderen beiden klappt es dagegen nicht ganz so gut. Sowohl Inge als auch Franzi fallen mit ihrem Oberkörper nach vorne, und ihre Hintern gehen dabei eher raus aus dem Sat-tel als tiefer hinein. Und trotzdem stoppen die Pferde und schließen sich Starlights langsamem Tempo an. Nach zwei aufeinanderfolgenden Reitstunden sind sie froh, jede weitere Anstrengung zu vermeiden.
„Noch eine Runde im Schritt, dann absteigen und die Pferde rausführen. Alle drei bitte absatteln“, ruft Marlene, schnappt sich ihren Mann am Arm und sagt:
„Wir machen jetzt das Heu.“
Als erstes muss sie aber Theo suchen.
Draußen vor dem Hoftor wird sie fündig, dort dreht er seine Runden mit dem Fahrrad.
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„Theo, hilfst du uns mit dem Heu? Wir wären jetzt so weit.“
Sofort springt er vom Rad und will es achtlos vor dem Tor lie-gen lassen.
„Fahrrad aufräumen!“, ruft ihm Marlene augenblicklich entgegen.
„Mach’ ich später“, versucht es Theo.
Die hochgezogenen Augenbrauen seiner Mutter ändern seine Meinung jedoch schnell.
„Oder doch jetzt gleich“, murmelt er.
Neben dem Haus stellt er es ordentlich ab, dann geht es los.
Inge, Franzi und Frieda satteln ihre Pferde ab, was schwierig ist, da Kirsten und Anne fast den gesamten Putzplatz für Lucky und Mick beanspruchen.
Ganz genau beäugt Kirsten ihr Pferd von allen Seiten und aus jedem Winkel. Zwischendurch tastet sie die betrachteten Kör-perstellen mit ihren Händen ab und schüttelt dann, völlig auf-gebracht den Kopf.
„Ganz steif“, meint sie an der einen Stelle, „und hier hat er sich auch verrissen“, an einer anderen.
„Anne, schau dir das an! Auf dieser Seite ist er doch völlig schief. Die Wirbel müssen sich verschoben haben, siehst du das?! Ist ja auch kein Wunder, bei dem Schreck, den Paolo ihm vorhin verpasst hat.“
Anne hält beim Striegeln ihres Micks inne und wirft einen Blick zu Lucky hinüber. Anscheinend kann sie aber nichts Auf-fälliges erkennen, also geht sie etwas näher an ihn heran.
„Wo sagtest du nochmal?“
„Na hier!“ Kirsten deutet auf die linke Seite Höhe Widerrist. „Das sieht doch wohl jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung hat.“
Zu gerne spielt Kirsten sich als allwissend in Pferdefragen auf
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und genießt es, wenn sie dafür von anderen bewundert wird.
Ahnung hat sie auch, ohne Frage, nur übertreibt sie eben auch gerne ein bisschen. Ganz besonders wenn es um ihren Lucky geht.
„Was du alles erkennst.“ Anne ist beeindruckt. Nochmal geht sie vor und zurück.
„Ja, jetzt denk ich, seh‘ ich es auch“, sagt sie, ihr suchender Blick verrät allerdings, dass sie weiterhin völlig ratlos ist, wo genau an diesem Pferd seit heute nichts mehr stimmen soll.
„Ich werde den Chiropraktiker kommen lassen müssen, und danach braucht er unbedingt noch Physio!“
„Was das wieder kostet!“ Anne sieht sie erschrocken an.
„Das zahlt schön Paolo. Er ist ja schließlich Schuld an dieser Katastrophe“, antwortet Kirsten lässig. „Für den sind das doch Peanuts.“
„Recht hast du“, stimmt ihr Anne zu.
Und beide nicken zufrieden.
Die Pferde der Reitschüler sind abgesattelt, als der große Rundballen an ihnen vorbei zur Heuraufe rollt. Begeistert stürzen sie sich darauf.
„Tschüss“, rufen Inge und Franzi in den Stall hinein.
„Tschüss, bis zum nächsten Mal“, verabschiedet sich auch Marlene.
Gerade lässt sie ihren Blick ein letztes Mal durch den Stall schweifen und findet, dass alles fertig für die Nacht ist. Ein oder zwei Stunden dürfen die Pferde jetzt noch auf die Weide, dann wird sie sie in ihre Boxen bringen.
Auch diese kontrolliert Marlene, findet aber auch dort alles ordentlich vor. Teds Bereich ist der einzige, der noch nicht gemistet ist. Er hat sich heute noch gar nicht im Stall blicken lassen, was aber nicht ungewöhnlich ist, weil er oft erst gegen
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Abend kommt, dann aber dafür umso länger bleibt.
Der Tag war warm, so dass auch der Abend angenehm lau ist. Um noch so lange wie möglich draußen zu bleiben, beschließt Marlene zum Abendessen zu grillen.
Bei dem Gedanken läuft ihr schon das Wasser im Mund zusam-men und zügig geht sie Richtung Haus.
„Ist das nicht schlimm, was Lucky da passiert ist?“ Anne ist gerade alleine auf dem Putzplatz.
„Warum, was ist denn mit ihm?“ Erschrocken bleibt Marlene stehen.
„Na sieh ihn dir doch an, ganz schief ist er und seine Wirbel sind total verschoben.“ Anne deutet auf das Pferd.
Mit geübtem Blick mustert Marlene Lucky von Kopf bis Fuß. Schulterzuckend lächelt sie Anne an. „Also ich seh’ nichts.“
Erleichtert dreht sie sich um und macht sich auf den Weg zu ihrer Familie.
Wieder einmal bleibt Anne verdutzt zurück. Nun scheint sie völlig verwirrt zu sein.
„Und ich sag noch, der hat nichts!“, murmelt sie entgeistert.
Kapitel 3
Laune gut, alles gut
Der nächste Morgen beginnt bei Familie Kraft deutlich ruhi-ger als gewöhnlich.
Alle sind noch müde von dem schönen, aber langen Grillabend, den sie ausgiebig genossen haben. Das Essen war lecker und der Abend so mild und angenehm, dass keiner von ihnen ins Bett wollte.
Theo und Frieda waren sich ganz sicher, dass es kein Problem
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sein wird, trotzdem ausgeschlafen und pünktlich in der Schule zu sitzen. Jetzt, am Morgen danach, sehen sie nicht mehr so überzeugt davon aus. Theo nickt beim Frühstück fast über sei-ner Cornflakesschüssel ein und Frieda ist einfach nur launisch und wortkarg.
Für den Frühaufsteher Theo ist das äußerst ungewöhnlich, normalerweise quatscht er morgens ohne Punkt und Komma. Bei Frieda ist schlechte Laune leider häufiger an der Tages-ordnung, ganz egal zu welcher Uhrzeit. Immer wieder ist sie genervt und gereizt, warum, weiß aber meistens keiner. Oft müssen Marlene und Christoph sich an ihre eigene Jugend-zeit zurückerinnern, um besser verstehen zu können, was bei ihrer Tochter gerade los ist. Als Mann tut sich Christoph da natürlich deutlich schwerer. Zwar hatte auch er seine „Aus-setzer“ als Teenager, doch dieses launisch Zickige ist ihm völ-lig unbekannt. Marlene hat dagegen mehr Verständnis, doch gelingt es ihr an manchen Tagen besser als an anderen, damit umzugehen.
Heute ist leider einer der schlechteren Tage.
„Hast du alles eingepackt, was du brauchst?“, fragt sie ihre Tochter.
„Ja klar, was denkst du denn?“ Frieda ist genervt.
„Auch das Mathebuch und den Turnbeu-tel? Du hast doch heute Sport, oder?“
„Mann Mama, ich weiß selber, was ich wann brauche und was nicht. Ich kenne meinen Stundenplan und der hat sich das letzte halbe Jahr nicht geändert. Und ich kann’s mir auch merken, im Gegen-satz zu dir.“ Provokant sieht sie ihre Mut-ter an.
„Jetzt mal langsam, junge Dame! Wem
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hab’ ich denn vor kurzem das Referat nachfahren müssen?“, hält Marlene dagegen. „Und dieser motzige Ton gefällt mir ganz und gar nicht!“
„Das war ja wohl was ganz anderes. Und die einzige, die hier ständig am Motzen ist, bist ja wohl du!“
Wütend steht Frieda auf und verlässt die Küche. Sie schlüpft in ihre Schuhe, ruft ein letztes: „Ich muss zum Bus!“, dann ver-schwindet sie.
Nach diesem Auftritt ist sogar Theo wach.
„Was ist denn bei euch schon wieder los?“, fragt er seine Mut-ter. „Müsst ihr so früh am Morgen schon herumstreiten?“
„Ich streite überhaupt nicht!“, fährt Marlene ihren Sohn eine Spur zu heftig an und bereut es sofort, als sie in seine erschro-ckenen Augen sieht.
„Entschuldige Theo, ich wollte eigentlich nur deine Schwes-ter erinnern alles einzupacken. Aber anscheinend mische ich mich damit schon wieder zu sehr in ihr Leben ein.“ Langsam schüttelt sie ihren Kopf und atmet hörbar aus.
„Dann lass es doch einfach. Ist doch ihr Problem, wenn sie die Hälfte vergisst... Ich muss jetzt auch los. Tschüss Mama, tschüss Papa.“
Beide bekommen ein Küsschen auf die Wange.
„Ich muss unserem Sohn leider recht geben. Lass es einfach. Sie ist alt genug. Und wenn sie mal wieder was vergisst...“
„Dann muss ich einspringen und den Kurier spielen. Dabei hab’ ich, weiß Gott, genug zu tun“, fällt Marlene ihrem Mann ins Wort.
„Nein.“ Christoph lässt sich von der aufgebrachten Stimmung seiner Frau nicht aus der Ruhe bringen. „Dann hat sie eben Pech.“
„Toll, und am Ende bekommt sie noch lauter schlechte Noten, nur weil wir uns um nichts mehr kümmern. Die Beste ist sie in
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der Schule sowieso nicht.“
Ganz so locker wie ihr Mann kann Marlene das nicht sehen.
„Wir kümmern uns ja auch nicht um ,nichts mehr’. Aber wenn sie tatsächlich wegen ihrer Schlamperei eine schlechte Note bekommt, dann ist das eben so. Sie wird hoffentlich daraus lernen. Und auch wenn sie keine Einserschülerin ist, hat sie noch problemlos jedes Jahr geschafft. Wir waren auch keine Musterschüler.“
Während Christoph spricht, räumt er den kompletten Früh-stückstisch ab und beugt sich anschließend zu Marlene hinun-ter. Ein liebevolles Küsschen auf die Stirn schenkt er ihr, dann sagt er zum Abschied:
„Ich bin in meiner Werkstatt und du gehst jetzt am besten auch gleich in den Stall. Das bringt dich auf andere Gedanken.“
Stinksauer und viel zu früh steht Frieda an der Bushaltestelle. Leider hat sie in der Eile ihre Jacke verges-sen und der heutige Morgen ist noch frisch. Der Himmel ist bedeckt und von dem strahlenden Sonnenschein am Vortag ist leider nichts mehr übrig.
„Na das passt“, knurrt sie und zieht weiter eine finstere Miene.
Immer noch ärgert sie sich über ihre Mutter und darüber, dass sie ständig meint, nur sie hätte alles unter Kont-rolle. Höchstens ein oder zwei Mal hat sie ihr etwas in die Schule nachfahren müssen und das meint sie, ihr nun ständig vorhalten zu müssen. Als ob sie selber nie etwas vergisst!
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Aber was war das dann vor kurzem mit ihrem Geldbeutel beim Einkaufen? Da musste auch sie, Frieda, raus zum Auto und ihn holen. Tief unter den Beifahrersitz war er gerutscht. Aber dar-über verliert natürlich keiner ein Wort.
In Gedanken schimpft sie noch immer, als sie ihren kleinen Bruder nachkommen sieht. Die letzten Meter muss er heute rennen, da der Bus pünktlich um die Kurve biegt. Ohne jeden Elan steigt Frieda die Stufe hoch, während sich Theo mit viel Schwung an ihr vorbeidrückt, um sich direkt hinter den Bus-fahrer zu setzen.
Frieda geht bis ganz nach hinten zu ihrem Stammplatz neben ihre Freundin Clara.
„Hi“, begrüßen sich die beiden Mädchen und fangen augen-blicklich an zu tuscheln.
Immer wieder zeigen sie sich gegenseitig ihre Handys, um dann erneut in ein intensives Gespräch mit abwechselndem Gekicher zu versinken. Nicht einmal während des Unterrichts machen die beiden heute eine Pause. Ganz im Gegenteil, sie scheinen sich immer mehr zu erzählen zu haben, vor allem weil Johanna, die in der Schule zwischen Frieda und Clara sitzt, sich jetzt ebenfalls heftig am Gespräch beteiligt. Dreimal muss der Lehrer sie heute ermahnen und sogar androhen sie drei für das restliche Schuljahr auseinanderzusetzen, bis endlich Ruhe einkehrt und sie dem Unterrichtsstoff schließlich folgen.
Als es zur großen Pause klingelt, hat Frieda Hunger. Viel zu wenig hatte sie sich heute am Frühstückstisch bedient. Leider muss sie aber feststellen, dass sie vor lauter Streiterei gar kein Pausenbrot eingepackt hat und neuer Ärger über ihre Mut-ter kommt in ihr hoch. Wer sonst könnte daran Schuld sein? Hätte die sie nicht mit ihren blöden Fragen abgelenkt, hätte sie garantiert daran gedacht.
Vom knurrenden Magen angetrieben durchsucht sie ihren
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Rucksack nach Kleingeld und findet tat-sächlich 1,30 € darin. Clara leiht ihr die noch fehlenden 20 Cent, die sie für ein beleg-tes Brötchen beim Pausenverkauf braucht und erleichtert zieht sie los, sich etwas zu kaufen.
Als sie satt ist, kehrt ihre gute Laune zurück und sie fühlt sich bestätigt, dass sie alleine super klarkommt, ganz egal, wie ihre Eltern das sehen.
Nach Schulschluss nimmt Frieda heute absichtlich den zweiten Bus. Ohne Eile packt sie ihre Sachen in die Schultasche und schlendert gemeinsam mit Clara aus dem Schulhaus. Der erste Bus ist bereits abgefahren und der zweite wartet mit offenen Türen, bis auch er fahren darf.
Frieda sieht auf die Uhr, noch zehn Minuten.
„Lass uns noch ein bisschen draußen bleiben.“ Clara deutet auf das Fleckchen Wiese neben der Bushaltestelle. „Im Bus stinkt’s immer so.“
Den ganzen Vormittag über war der Himmel zugezogen und man war sich sicher, dass es heute auch so bleiben, vielleicht sogar noch regnen wird. Jetzt aber, pünktlich zum Schulende, lichtet sich die Wolkendecke und die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg hindurch.
„Sag mal, hast du nicht Lust später zu mir zu kommen?“ Clara sieht Frieda erwartungsvoll an.
„Oder du zu mir. Wir könnten doch mal wieder einen Ausritt machen, diesmal nur du und ich und am besten jeder auf einem eigenen Pferd. Was hältst du davon?“
Friedas Augen strahlen bei dem Gedanken daran und die volle Vorfreude packt sie.
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Beide springen mit einem Satz aus dem Gras. Zum einen aus Begeisterung, zum anderen, weil der Busfahrer gerade Anstal-ten macht zu starten.
„Ja meinst du denn, deine Mutter erlaubt uns das überhaupt nach eurem Streit heute Morgen...? Und außerdem, braucht sie die Pferde nicht selber zum Arbeiten?“
Die Mädchen setzen sich.
Ganz Unrecht hat Clara nicht, mit dem was sie sagt. Tatsäch-lich braucht Mama Marlene meistens alle ihre fünf Reitpferde täglich für den Unterricht. Und trotzdem, Frieda ist sich sicher:
„Eines der Pferde wird auf jeden Fall übrig sein und das teilen wir uns notfalls. Ich reite doch immer mit und ob ich nun mit ihr reite oder mit dir, ist doch ganz egal.“ Sie macht eine Pause. „Das mit dem Streit ist allerdings wirklich blöd. Wie wäre es, wenn wir ihr anbieten, den Stall heute Abend für sie gründlich abzumisten und die Koppel auch. Dann kann sie doch gar nicht ,nein’