Friede, Freude, Coming-out - Torsten Widua - E-Book

Friede, Freude, Coming-out E-Book

Torsten Widua

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Beschreibung

In den 80er Jahren hat nicht nur Helmut Kohl Hochkonjunktur – auch Tim Gerlacker! Der genießt seine Kindheit im Zeitalter von VHS-Rekorder, D-Mark, Fernsehansagerin und ZDF-Wunschfilm, und verbringt mit seinem besten Freund Lukas jede freie Minute im tiefen Bayern – in einem Jahrzehnt, in dem es noch postierte Grenzhäuschen und dicke ADAC-Auto-Atlanten gibt, aber weder Zentralverriegelung noch Servolenkung Standard sind. Und Schiebedach erst recht nicht! Welch "Freude" also, bei 34 Grad im Schatten auf dem Weg nach Österreich im Stau zu stehen... Und dann wird man auf der dortigen Geburtstagsfeier auch noch mit "Du bist aber groß geworden" begrüßt! Aber alles halb so wild, wenn der beste Freund mit von der "Party" ist. Alles Friede, Freude, Eierkuchen also – bis zu jenem Zeitpunkt, als Tim und Lukas Anfang der 90er Jahre feststellen, dass sie mehr als nur Freunde sind. Durch die Bravo, das Sexheftchen Schlüssselloch und den Quelle-Katalog entdecken sie ihre sexuelle Neigung und gegenseitige Zuneigung. In einer rasanten Achterbahnfahrt der Gefühle erleben die Teenager die Höhen und Tiefen einer heimlich geführten, homosexuellen Beziehung. "Zusammenreißen" lautet die Devise! Und sich auf dem Schützenfest im Dorf oder mit Freunden am Baggerweiher bloß nicht anmerken lassen, dass man ein Paar ist! Immer und immer wieder planen Tim und Lukas ihr Coming-out – bis sie schließlich all ihren Mut zusammennehmen und bei den Eltern, der trinkfesten Dorfclique und den Schulkameraden die Hosen runterlassen. Mit allen Konsequenzen.

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Retrolog

 

 

 

Oh Mann, die 80er ...

Aber ... Moment mal! Wieso überhaupt die 80er?

Ganz einfach: Weil ich ein Kind der 80er bin. In den 70ern geboren, habe ich das folgende Jahrzehnt voll und ganz auskosten dürfen: In dem Twix noch Raider hieß, in dem man zu Inline-Skates noch Rollschuhe sagte, in dem die Postleitzahlen noch vierstellig waren und Telefone doch tatsächlich noch Wählscheiben hatten.

Es war das Jahrzehnt, in dem man „Hallöchen” statt „Hallo” sagte – in dem man leider Gottes auch „Hallöchen-Popöchen” sagte. Gut, dies favorisierten meist die Leute, die auch das zarte „Stößchen?!” dem männlichen „Prost!” vorzogen und den kleinen Finger vom Glas wegspreizten. Es war das Jahrzehnt, in dem bei Teenagern wortschöpferische Modesünden wie „Hi Fans!” in waren, und worauf ganz hippe Eltern mit „Hi Star!” antworteten.

Und dann ... Dann gab es noch „oberaffengeil”, das überkandidelte „echt dufte”, den machohaften Prolo-Ausdruck „geilomat” und das fast schon politische, sich reimende „legalize Himbeereis”.

Ich habe dieses Zeitalter miterlebt. Live und in Farbe. Als Kind.

 

Damals wussten wir Kids uns noch für eine gewisse Biene Maja oder die Barbapapas im Fernsehen zu begeistern und sind nicht geistesabwesend und mit starrem Blick auf das iPhone in irgendwelchen Apps auf Monsterjagd gegangen. In München! Mitten in der rappelvollen Fußgängerzone! Am letzten Samstag vor Weihnachten!

Als Jugendliche haben wir uns die Bettdecke über den Kopf gezogen, mit Taschenlampe die neuesten Bücher von TKKG gelesen, und bei den spannenden Kriminalfällen mitgefiebert! Mit Tarzan, Karl und Klößchen. Und Gabi, der Pfote.

Und heute? Heute hängen die sogenannten Youngster nach der Penne vor der Glotze ab und gucken Trash-TV oder streamen solche Low-Quality-Formate auf ihrem Smartphone.

Action – das war für uns Kinder der 80er Jahre der kongeniale Erfindergeist Inspector Gadget. Horror – das war der furchteinflößende Gargamel mit seinem Kater Azrael in Schlumpfhausen! Und kein animierter Held aus Japan, der mit seinem Laserschwert um die Gunst von – was weiß ich, keine Ahnung – Jong Ling kämpft!

Früher, da suchten paarungswillige Singles noch in der ARD-Vorabend-Kuppelshow „Herzblatt” mit Hilfe von Rudi Carrell den passenden Topf für ihren Deckel und machten sich nicht zum Rosenheini bei RTLs „Bachelor“. Da pries Dieter Thomas Heck in seiner „Zett-de-Eff-Hitparade” noch echte Bands und Sänger an – und niemand musste sich von Dieter Bohlen mit Sätzen beschimpfen lassen wie „Wenn Gott gewollt hätte, dass du singen kannst, hätte er bei dir nicht Arsch und Mund vertauscht!”.

In den 80ern melancholierte eine gewisse Nicole noch von einem bisschen Frieden auf dieser Erde. Und die Zeit, in der Skandal-Rapper Bushido Dutzende Politiker, unzählige Promis – und überhaupt den ganzen Rest der Welt – disst, war zum Glück für die Menschheit noch nicht angebrochen.

Glück auch, dass noch kein Florian Silbereisen über die Mattscheibe flimmerte, geschweige denn „Atemlos” von seiner einst anvertrauten Helene Fischer die zwei Mono-Lautsprecher unseres Röhrenfernsehers vergewaltigte.

Das Jahrzehnt, in dem Hoodies einfach nur Kapuzenpullis hießen und man noch handgeschriebene Briefe per Post verschickte, die mehr als 280 Zeichen hatten, war doch irgendwie harmonischer, persönlicher, realer als das heutige, in der User von Twitter & Co. das analoge Zeitalter längst verlassen haben und in Richtung Digitalien abgebogen sind.

Heute haben die Jugendlichen Instagram auf ihrem Handy und posten Selfies mit der Shisha-Pfeife. Heute haben 18-Jährige einen Audi A3 mit 145 PS – sponsored by Daddy – und keinen knatternden, qualmenden Ford Escort mit 45 PS wie wir, den wir uns vom hart ersparten Taschengeld und vom ersten Nebenjob für 800 D-Mark selbst gekauft hatten.

Heute haben Kinder bereits Kinder.

Und was hatten wir früher? Richtig: Freunde.

Mit denen haben wir was gemacht? Richtig: gespielt.

Mit denen haben wir eine Schnitzeljagd quer durchs Dorf veranstaltet. Mit denen sind wir um Mitternacht zum Friedhof gegangen und haben zum Beweis ein Foto mit der Polaroidkamera gemacht – Mutprobe bestanden! Mit denen haben wir uns auf abgesperrte Baustellen geschlichen, uns den rechten Zahn aus- und das linke Knie aufgeschlagen. Mit denen sind wir beim BMX-Fahren auf den blanken Asphalt gestürzt und niemand hat uns in Watte gepackt. Ein Indianer kennt nämlich keinen Schmerz!

Bei uns hieß „Emergency Room” noch „Schwarzwaldklinik”. Und in der ging es nicht weniger theatralisch zur Sache. Wenngleich hier der Kampf um Leben und Tod nicht hollywoodesk ausgeschlachtet wurde, sondern selbst die heikelsten Operationen meist ein Happy End fanden – und zerbrochene Herzen wieder zueinander. Und spätestens seit dem „7. Sinn” wussten wir, wie man sich im Straßenverkehr zu verhalten hatte, um nicht bei Doktor Brinkmann auf dem OP-Tisch zu landen.

 

Meine Kindheit im Zeitalter von Musikkassette, Frottehandtüchern, Birkenstocktretern und Hula-Hoop-Reifen war ein Traum. Aufgewachsen in einer gut betuchten, bodenständigen und sozial angesehenen vierköpfigen Familie: Vater Leiter eines staatlichen Forschungszentrums für Energie, Mutter erst Mutter und Hausfrau. Später drei Tage pro Woche berufstätig als Sekretärin in einer Werbeagentur. Gewohnt haben wir im freistehenden Einfamilienhaus auf dem bayerischen Land. In absoluter Postkartenidylle.

Papa Josef. Mama Maria. Und ich? Nein, ich heiße nicht Jesus! Darf ich mich vorstellen: Tim. Und meine Schwester ist die Franzi. Hund: Grisu.

Klingt spießig? Okay, mag sein, dass der Gedanke aufkommt oder ich diesen Eindruck unbewusst vermittle. Und wenn schon ... Ich liebte diese Art der Spießigkeit. Die grünen Wiesen, die unberührte Natur, die schier unendlichen Weiten des Voralpenlandes und der atemberaubende Blick vom Balkon meines Kinderzimmers im ersten Stock auf die hohen Berge, die kilometerweit weg waren und doch zum Greifen nah. Ich liebte unseren großen uneinsehbaren Garten mit altem Baumbestand, mit den dicht gewachsenen Haselnuss-Sträuchern, mit den 15 Meter hohen Tannen und den großflächig angelegten Gemüsebeeten. Nicht zu vergessen die prachtvollen Eichenbäume, auf die wir Kinder geklettert sind und in deren Geäst wir uns ein kleines Baumhaus zimmerten. Und dann waren da noch die vielen Obstbäume. Wie knackig-frisch doch die prallen, sonnengereiften grünen Äpfel schmeckten. Großartig! All das prägte den mehr als 3.000 Quadratmeter großen Garten, in dem ein Sandkasten im XXL-Format stand. Allerdings: Je älter ich wurde und je weniger ich im Sandkasten spielte, umso häufiger hatten die herumstreunenden Katzen aus der Nachbarschaft unsere kindliche Buddelburg als stilles Örtchen in Beschlag genommen. Drecksviehcher!

Auf der Schiffschaukel haben meine Schwester, unsere Freunde und ich uns den Wind durch die Haare wehen lassen. Und auf der Bretterschaukel berührten wir mit unseren Füßen den Himmel. Pure Freiheit. Die große rote Rutsche war unser Hindernisparcours und das aufblasbare Planschbecken die erfrischende Belohnung nach dem Spielen bei 30 Grad im Schatten. Man konnte schon sagen: Meine Kindheit war ein Paradebeispiel an Geborgenheit, Zuneigung, Liebe und Abenteuer. Alles in einer Familie, die in purer Idylle lebte. Ein Rundum-Sorglos-Paket, geschnürt in den 80er Jahren.

Ich genoss als Kind so manche Vorzüge, die meine Eltern mir und auch meiner Schwester Franzi gewährten. Purer Luxus zu der Zeit: ein Fernsehgerät im Kinderzimmer. Mensch, was war ich doch stolz auf den Röhrenmonitor. Der war so breit wie tief. Und – Tatsache! – er hatte eine Fernbedienung. Rarität! Absolute Seltenheit! Das Neueste vom Neuen auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin!

Meine Schwester hatte dahingehend weniger Glück. Sie war vier Jahre älter als ich und hatte ein Vorgängermodell ohne Fernbedienung in ihrem Zimmer. Zum Wechseln der Sender musste sie also jedes Mal aufstehen und den Kanal manuell – also per Hand! – umstellen. Ebenso, wenn sie den Fernseher ausschalten wollte. An einen Sleeptimer, wie ihn heute alle Smart-TVs haben, war damals noch nicht zu denken. Ein Kontra!

Zweifelsfrei ein Pro war aber, dass volksverdummende Formate wie „Das Supertalent” noch nicht erfunden waren und Fernsehdeutschland somit von Leuten verschont blieb, die ihren Namen in übergroßen Lettern in den Schnee pinkeln konnten. Heutzutage gewinnt man mit so einem „Talent“ 100.000 Euro zur besten Sendezeit am Samstagabend.

 

Sie baden gerade Ihre Hände drin

 

 

 

Unser Wohnzimmer hingegen war keine talentfreie Zone. Der Star war ein (für damalige Verhältnisse) großer Fernseher der Marke Grundig. Ebenfalls Röhre, was sonst?! Und der konnte so einiges! Er lieferte (für damalige Verhältnisse) erstklassiges Bildmaterial frei Haus. Allerdings hatte auch dieser Kollege keine Fernbedienung! Und das ist der springende Punkt und für mich der Casus knacksus: Da mein Stammplatz während des abendlichen TV-Programms auf dem Sessel war und meine Eltern auf dem Dreiersofa und meine Schwester auf dem Zweiersofa saßen, war ich es, der aufstehen musste, um das Programm zu wechseln.

Ich hatte gleich doppelt Pech im Unglück: Erstens war ich das Nesthäkchen der Familie und hatte somit den schwarzen Peter gezogen, aufstehen zu müssen – den Letzten beißen die Hunde! Und zweitens stand mein Sessel auch noch am weitesten von der Flimmerkiste entfernt. Noch heute danke ich aber Gott dafür, dass es nur fünf Programme gab: ARD, ZDF, das Dritte (also in unserem Fall den Bayerischen Rundfunk) und die zwei österreichischen Sender ORF 1 und ORF 2. RTL und Sat.1 waren zwar bereits seit drei Jahren auf Sendung, konnte man aber 1987 in Bayern nur via Satellit oder Kabel empfangen. Letzteres war allerdings nur in den Städten verfügbar. Nicht bei uns, auf dem Land.

Und eins muss ich schon sagen: Recht aufgeschlossen, was neue Technik anging, waren meine Eltern nicht unbedingt. Bis wir zum Beispiel eine Geschirrspülmaschine bekamen, musste meine Maam viele schrumpelige Hände in Kauf nehmen. „Das bisschen Haushalt”, sang Papa immer wieder, ohne es wirklich böse zu meinen. Trotzdem waren die Rollen im Hause Gerlacker klar verteilt: Er tigert in die Arbeit und bringt den Löwenanteil an Geld nach Hause – sie hält den familiären Käfig sauber und erzieht das Rudel. Ich glaube, es war im April 1987, als ein vollautomatisches Geschirrspülgerät der Marke Miele in unserer Küche Einzug hielt. Es bedurfte schon viel Überredungskunst seitens meiner Maam an meinen Papa. Letzterer hat sich seine Finger ohnehin nicht im Spülwasser dreckig gemacht.

In das kam damals übrigens der Klassiker: „Sie baden gerade Ihre Hände drin”, Palmolive. Dieser aus heutiger Sicht völlig bescheuerte Werbespot mit der biederen Hausfrau, bei der eine zweite Hausfrau zu Gast war. In der Küche. In der zufälligerweise ein Glasschälchen mit Spülwasser stand. Und zufälligerweise badete die Besucherin gerade ihre rechte Hand in der grünen Palmolive-Tunke. Nun ja ...

Eins muss man aber zugeben: Palmolive war die „next Generation“ an Spülmitteln und hat „Willst du viel, spül mit Pril” den Rang abgelaufen – oder stand zumindest auf gleicher Stufe. Mit dem Slogan „Spülst du viele Teller? Nimm Palmolive, geht schneller!” wäre das Produkt vielleicht noch erfolgreicher geworden. Wer weiß ...

Ganz sicher hingegen war, dass Waschmaschinen mit Calgon länger lebten, dass Mars mobil machte bei Arbeit, Sport und Spiel und Fruchtzwerge so wertvoll waren wie ein kleines Steak. Hoffentlich war man Allianz versichert. Oder über Herrn Kaiser bei der Hamburg-Mannheimer. Dann hatte man mehr vom Leben. Dass Natreen das süße Leben leichter machte und Knoppers das Frühstückchen war, wusste man in Zeiten, in denen die Müllermilch schmeckte und weckte, was in dir steckte.

Geradezu omnipräsent war anno dazumal das Thema Rauchen. Damals war es gang und gäbe, sich am vollbesetzten Esstisch eine Ernte 23 anzuzünden – nachdem alle aufgegessen hatten. Damals durfte auch noch in Kneipen und Restaurants zum Glimmstängel gegriffen werden. Und: Damals wurden die Tabakwaren noch ohne schlechtes Gewissen an Kinder verkauft, die sie ihren Eltern nach Hause radelten.

So geschehen im Hause Gerlacker: Die Kippen holte ich im Auftrag meiner Maam an der Tanke im Dorf. Weil auf dem Land jeder jeden kennt, hat mir Oma Specht (die Betreiber der Tankstelle hießen Specht) ohne mit der Wimper zu zucken stets eine Packung Krone für den weiblichen Teil meiner Erziehungsberechtigten gegeben. Für sage und schreibe vier Mark.

Zwei Euro.

Immer wieder ließ Oma Specht Sätze fallen wie: „Aber nicht selber rauchen, gell, Tim? Immer schön der Mama geben.”

Freilich! Im Alter von elf Jahren dachte ich noch lange nicht ans Rauchen. Da war mir das Eis viel lieber, das ich mir immer als Quasi-Taxigebühr vom Rest der Fünf-D-Mark-Münze kaufen durfte. Die eine Mark ging entweder für ein Nucki Nuss oder ein Nogger-Choc drauf, wobei ich aus meinem Taschengeld-Reservoir noch 50 Pfennig drauflegen musste. Marken wie diese haben es sogar ins neue Millennium geschafft.

Im Gegensatz zu den heute legendären Werbespots. Wie zum Beispiel der mit dem famosen HB-Männchen. Diesbezüglich irgendwie schade, dass Zigarettenwerbung im TV gänzlich verboten ist. Statt kreativen Spots on Air und statt schöner, bunter Zigarettenpackungen in den Regalfächern der Tankstellen findet man heutzutage verstümmelte Zähne, eitrige Abszesse und schwarze Lebern auf den Packungen. Das ist zwar „pfui Teufel!”, hindert Raucher aber genauso wenig daran, zur Packung zu greifen wie Alkoholiker zur Flasche. Die inneren Werte zählen! Beim Wein ist es die Qualität der Traube und der Destillerie. Bei den Zigaretten ist es der Tabak. Wenn nicht einmal Sprüche wie „Sterben musst du sowieso, schneller geht's mit Marlboro” geholfen haben, die Tabakindustrie in die Knie zu zwingen, werden auch die Abbilder der Innereien nicht dafür sorgen, dass weniger zur Zigarette gegriffen wird. Echten Rauchern ist es schlichtweg egal, dass ihr Leben auf der Kippe steht.

Der Hauptgewinn

 

 

 

Es gibt doch weitaus gesündere Suchten als das Rauchen. Wenngleich ich nicht die Werbetrommel für das Fernsehgucken rühren möchte. Aber an einer Überdosis TV-Konsum ist – soweit ich weiß – noch niemand gestorben. Der Ansporn, den Kasten anzumachen, kam für meine Schwester Franzi und mich übrigens durch einen Vorfall, der sich wie folgt ereignete:

Eines Abends klingelte unser rotes Telefon. Damals keins mehr mit Wählscheibe. Wir hatten bereits die High-End-Version: mit Nummerntastatur, der Analogversion des späteren Touchscreens. Klar, dass der Telefonhörer per Kabel mit dem Gerät verbunden war, denn schnurlose Telefone waren Zukunftsmusik. Zum Glück gab es aber bereits lange Kabel, sodass man das Telefon, welches bei uns im Esszimmer stand, auch ins acht Meter entfernte Wohnzimmer mitnehmen und bequem vom Sofa aus telefonieren konnte.

„Tim Gerlacker?”, meldete ich mich mit Vor- und Nachnamen. Sich nur mit dem Nachnamen melden – das durften damals lediglich die Erwachsenen.

Ich wartete gespannt darauf, wer am anderen Ende der Leitung war. Ein Display mit Nummernanzeige gab es natürlich ebenfalls noch nicht.

„Grüß dich, Tim. Da is' de Oma” erwiderte der Gesprächspartner im tiefen bayerischen Dialekt.

„Stell dir vor, ich hab was gewonnen”, verkündete Oma Seffa voller Freude. Sie klang so aufgeregt wie eine Jungfrau vor der Hochzeitsnacht.

„Schon wieder?”, dachte ich. Denn solche Anrufe waren keine Seltenheit. Schließlich war Oma leidenschaftliche Teilnehmerin an Preisausschreiben, hatte ihre Rätsellösungen per Postkarte ans „Goldene Blatt” oder „a – die aktuelle” geschickt. Wäre es nach den Rückmeldungen der Redaktionen gegangen, hätte meine Oma bereits einen BMW in der Garage, einen riesengroßen Sony-Fernseher in ihrer Eiche-Rustikal-Wohnwand und sich bereits zusammen mit Opa Xaver in der Dominikanischen Republik die Sonne auf den faltigen Pelz scheinen lassen.

Mit leichtem Augenrollen wartete ich auf Omas Botschaft, welch großartigen Gewinn sie denn heute zu verkünden hatte. Eine Villa an der Costa Brava? 20 Millionen D-Mark aus dem „6 aus 49“-Lotto-Jackpot oder vielleicht auch nur eine neue Hifi-Anlage aus dem Hause Schneider mit Doppelkassettendeck und Schallplattenspieler?

„Du, ich hab hier so ein Gerät stehen. Des haben die mir geschickt. Ein VHS-Rekorder. Steht drauf”, erzählte Oma Seffa, der man ihre Unwissenheit über diese neuartige Technik zweifelsfrei anmerkte. „Da kommen so große Kassetten rein, viel größer als die Benjamin-Blümchen- oder Bibi-Blocksberg-Kassetten, die du früher immer in deinem tragbaren Dingsbums gehört hast.”

„Walkman, Oma!” Keine Reaktion.

„Weiß gar nicht, was das jetzt ist, das hier steht”, stotterte sie langsam Wort für Wort. Ich hörte regelrecht, wie sie den Karton mit dem Videorekorder von allen Seiten argwöhnisch beäugte, als stünde gerade E.T. vor ihr, der sie mit seinem Raumschiff out of Space nehmen wollte.

„Geh, Oma, ist das wahr? Du hast einen VHS-Rekorder vor dir stehen? Oder kriegst du den erst noch – wie den BMW, den Fernseher und den Reisegutschein?”, entgegnete ich schelmisch.

„Spinnst denn? Da steht er. Vor mir. Eine riesenschwere Kiste!”, konterte Oma Seffa, die sich zunehmend von mir veralbert fühlte und langsam auch etwas lauter wurde.

„Und was machst jetzt damit?”, wollte ich wissen. Mit der erhofften Antwort, dass Oma den VHS-Rekorder nicht behalten, sondern uns schenken würde.

„Ja, den könnt ihr haben. Was soll ich mit so einem Ding? Ich hör doch keine Musikkassetten, sondern nur Radio.”

„Echt? Mei, das ist ja lieb, Oma. Magst uns den vorbeibringen oder sollen wir den holen?” fragte ich voller Erwartung und Neugier, dass dieses technische Meisterwerk bald unseren 80er-Jahre-Haushalt schmücken würde.

„Tim, du weißt doch, dass ich keinen Führerschein hab. Und der Opa ist drüben im Dorfkrug und hat bestimmt schon vier Halbe drin. Fahren kann der heut' nimmer. Morgen könnten wir euch den VS...H...De...ko...rer bringen”, meinte Oma im immer langsamer werdenden Sprachduktus. Sie versuchte, die Buchstaben des Gerätes irgendwie zu sortieren.

„VHS-Rekorder!”, erklärte ich vehement und bestürzt zugleich. „Ich frag mal die Mama, ob wir nicht schnell zu dir rüberkommen und ihn holen können”, fuhr ich fort.

Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, wusste ich bereits: Mit meiner Maam wird das nichts. Sie hatte für Technik so viel übrig wie Techno-DJ Sven Väth für Schlagerbardin Andrea Berg. Oder, um in der damaligen Zeit zu bleiben: wie Tüftlerfuchs MacGyver für trottelige Verbrecher. Ergo: Papa fuhr mit mir zu Oma Seffa ins sechs Kilometer entfernte Nachbardorf. Ich glaube, es war der kürzeste Besuch, den wir meiner Oma je abgestattet hatten. Zu Recht oder Unrecht – sie war schon ein bisschen pikiert, was unseren Kurzaufenthalt anging.

Tür auf.

Servus, Oma.

Hallo, VHS-Rekorder.

Tschüss, Oma.

Tür zu.

Aber ich wollte so schnell wie möglich zurück nach Hause, um den Videorekorder anzuschließen. Ich gab Oma noch einen kurzen Crashkurs für Technik-Dummies, was man mit diesem Gerät machen konnte. Aber so richtig verstanden hat sie es – glaube ich – nicht.

Ohne ihr zu nahe treten zu wollen, aber was sollte eine Frau Mitte 60 mit dieser Art von Technik anfangen, die ein Leben lang Kühe gemolken, mit der Sichel die Weide gemäht und für ihre Familie Tag für Tag Hausmannskost aufgetischt hat? Ihr war der sprechende Kasten (Radio) schon ein Rätsel. Und dass das Telefon das Telegramm ersetzt hatte, hatte sie auch nur schwer verkraftet. Gib der mal ein iPhone oder ein Tablet – sie würde denken, Apple sei ein Obst und ein Tablet helfe gegen Kopfschmerzen.

 

Papa war als Leiter eines Forschungszentrums der Technik schon eher aufgeschlossen. Gut, er war damals auch erst Ende 30 und konnte meine Begeisterungsstürme, und dass ich im Hauruckverfahren wieder zuhause sein wollte, nachvollziehen. So entschuldigte er sich in meinem Namen für mein flippiges Verhalten und vertröstete seine Schwiegermutter auf morgen. Dann könnten sie und Opa Xaver ja vorbeikommen und das Wunder der Technik bestaunen. Sofern bis dahin alles funktionieren würde.

Kaum zuhause angekommen, öffnete ich den großen Karton mit dem Toshiba-Rekorder. Für mich war heute Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen. Mein Puls lag gefühlt bei 180 Schlägen pro Minute, als Mama mir eine Schere brachte, um die dicken Klebestreifen aufzutrennen.

Ich liebte ihn, den Metall-Geruch nagelneuer Technik, der in meine Nase stieg. Behutsam wie ein Chirurg, der zum ersten Mal einen Patienten am offenen Herz operiert, tastete ich mich am Styropor vorbei zur knisternden Plastikfolie, in der das Gerät verpackt war. Mein Vater ließ mich machen, half lediglich beim Herausnehmen des VHS-Spielers. Längst hatte er erkannt, dass ich mich trotz meines jungen Alters von elf Jahren bereits zum Technikfreak entwickelt hatte. Hätte es damals bereits WLAN, NAS-Server und Virtual-Reality-Brillen gegeben – ich hätte alles installieren und anwenden können. Mein Vater wusste also, dass er von Technik besser die Finger und mir den Vortritt lassen sollte.

Während ich mich hinter den Röhrenmonitor quetschte und durch den Kabelsalat zwischen TV- und Videogerät kämpfte, schrie ich plötzlich voller Entrüstung auf. Meine Eltern waren einem Herzinfarkt nahe, weil sie dachten, ich hätte einen Stromschlag bekommen.

„Maam, fahr los und kauf ein paar VHS-Kassetten!”, verkündete ich, während ich mit meinem Oberkörper noch hinter dem Fernseher hing und den SCART-Anschluss suchte.

„Kind, wo soll ich die denn um diese Uhrzeit noch herkriegen?”, echauffierte sie sich.

„Der Woolworth in der Stadt hat doch noch auf!”, erklärte ich ihr so selbstverständlich, wie ein Erwachsener einem Kind begreiflich macht, dass es nicht mit Messer und Gabel in der Steckdose zu fummeln hat. Wobei ich statt „Woolworth” eher „Wollwort” sagte. Wie halt jeder damals sagte.

„Marerl, tu mir den Gefallen. Fahr rein und kauf zwei, drei Kassetten. Der Bub macht sonst heute Nacht kein Auge zu, so nervös wie der ist”, stellte sich Papa auf meine Seite.

„Damit Ruhe ist”, winkte meine Maam ab, nahm den Autoschlüssel, ihre Handtasche und verließ genervt das Haus.

Meine Schwester Franzi beobachtete das bunte Treiben aus sicherer Entfernung. Auch Grisu, unser Hund, war ganz interessiert, was ich denn hinter dem Fernseher machte. Er guckte mich an, als wartete er sehnlichst darauf, dass ich kiloweise Schinken, Würstchen und Knochen hervorholte. Was für ein Hundeelend, dass ich ihn enttäuschen musste.

Eine dreiviertel Stunde und zwei Scheiben Salamibrot später trudelte meine Maam wieder zuhause ein. Ich rannte so enthusiastisch zur Tür, nachdem ich das Auto in die Hofeinfahrt rollen hörte, als ob ich den Nikolaus persönlich in Empfang nehmen wollte. Den Rekorder längst angeschlossen, war ich natürlich bereit, eine Kassette einzulegen. Ich wollte das Gerät auf Biegen und Brechen noch heute Abend in Betrieb nehmen.

Und siehe da – es funktionierte! Nachdem ich die ersten Schnipsel „Die Wicherts von nebenan” im ZDF-Vorabendprogramm aufgenommen und auf dem AV-Kanal abgespielt hatte, fühlte ich mich wie Steven Spielberg, der gerade auf der Hollywood-Bühne seinen ersten Oscar entgegennahm.

 

Wahnsinn! Erst die Spülmaschine! Jetzt der VHS-Rekorder! Die Familie Gerlacker war tatsächlich im hochtechnisierten Zeitalter der 80er Jahre angekommen. Wo sollte das noch hinführen?!

Wetten, dass ...?!

 

 

 

„Wetten, dass Sie es nicht schaffen, durch Lecken an einer handelsüblichen Glühbirne deren exakte Wattzahl festzustellen, während sie mit der linken Hand den Refrain von Modern Talkings „You're my Heart, you're my Soul” auf dem Keyboard klimpern und mit der rechten den Fußnagel ihres linken großen Zehs schneiden?”

Ähnlich abstrus hörten sich viele Wetten an, die Frank Elstner seinem Saal- und Fernsehpublikum vorgetragen hatte. Wie oft war doch ein Raunen der Zuschauer auf den Rängen zu hören, das von „Das schafft der doch nie!” und „Wie verrückt ist der denn?” bis hin zu „Mein Mann kann die Titelmelodie vom ‚Traumschiff‘ gleichzeitig jodeln und steppen!” ging?!

Nicht nur die 400 anwesenden Zuschauer auf den gelben Plastiksitzen lauschten gespannt den Worten des Show-Titanen und „Wetten, dass ...?!”-Erfinders. Auch die sich auf dem riesigen Sofa tummelnde Prominenz staunte nicht schlecht, welchen Erfindergeist die Deutschen, Österreicher und Schweizer hatten. Diese drei Nationen durften nämlich Wetten per Postkarte einreichen oder sich per Telefon bewerben und hatten die Möglichkeit, an Europas erfolgreichster Show teilzunehmen. Und: Dem Volk und den anwesenden Stars, bekannt aus Funk und Fernsehen, beweisen, dass ihre Wette nicht nur heiße Luft war.

Welche Stars ihre Allerwertesten in der nächsten Ausgabe auf der Couch platzieren würden, ließ sich damals natürlich noch nicht googeln. Aber mit dem Videotext gab es quasi die App zum entsprechenden Fernsehsender. Nach Aktivierung des Teletextes landete man auf Seite 100, der Startseite – eine Art Browser mit aktuellen Nachrichten und Informationen zum TV-Programm des Senders. Ab Seite 101 blätterte man sich durch das Inhaltsverzeichnis. Auf ungefähr Seite 105 befand sich der Buchstabe W. W wie Wetter. W wie WISO. W wie „Wetten, dass ...?!” – mit dem Vermerk, dass man auf Seite – keine Ahnung – 379 Details zur Show finden würde: zu den Gästen. Wer allerdings eine Minute vor Beginn der Show das Zweite Deutsche Fernsehen eingeschaltet hatte, wurde durch eine charmante, attraktive und vornehm gekleidete Dame mit top gestylter Fönfrisur aufgeklärt, was die Prominenz anging: die Fernsehansagerin. Möge diese Gattung in Frieden ruhen.

 

„Schaffen Sie es oder schaffen Sie es nicht?” Das war die Frage aller Fragen, die Frank „Schwiegermutters Liebling” Elstner den Showgrößen stellte. Sie mussten sich entscheiden – und im Gegenzug ein Angebot unterbreiten, was sie machen würden, sollten sie mit ihrer Einschätzung falsch gelegen haben. Das war der sogenannte Wetteinsatz. Top, die Wette gilt!

Damals, bevor Gottschalk, der längst und zu Recht vergessene Lippert oder Trittbrettfahrer Lanz das Moderationszepter an sich rissen, wurden die VIPs noch richtig hart rangenommen. Von wegen „Ich gebe in der Buchabteilung von Karstadt eine Autogrammstunde”, mit dem Hintergrund, rein zufällig noch den Verkauf der gerade erschienenen Autobiografie anzukurbeln. In den 80er Jahren gingen die Promis noch in Kinderheime oder Seniorenstifte, kümmerten sich um arme Waisen, die kranke Oma Trude oder den humpelnden Opa Jupp, und erfüllten ihnen Herzenswünsche. 20 Jahre später würde es tatsächlich reichen, mal kurz den nackten haarigen Hintern in die Kamera zu halten und „Geh doch zuhause, du alte Scheiße!” zu grölen!

Danke, Fernseh-Deutschland!

 

Gefühlte 428 Fantastilliarden Menschen sahen die sechs bis sieben Ausgaben pro Jahr am Samstagabend um 20:15 Uhr – wie sich Wette an Wette reihte, wie sich Star an Sternchen gesellte und wie sich Musik-Acts und Komiker die Klinke in die Hand gaben. Und eigentlich – so sollte man meinen – hatte die Glanz- und Glamour-Branche doch genügend Personal zu bieten, um sich Doppelungen im Einladungs-Line-up zu ersparen. Und trotzdem schaffte es Rockröhre Peter „Über sieben Brücken musst du gehen“ Maffay tatsächlich 17 Mal, das Wettsofa zu drücken. Dicht gefolgt von Udo „17 Jahr, blondes Haar“ Jürgens: 15 Mal! Mindestens genauso viele Frauen lagen beim Lebemann und deutschen Schlagerveteran pro Jahr im Bett. Treue und Udo Jürgens – das wäre wie der Playboy ohne nackte Tatsachen: eine Themaverfehlung!

Lust auf die Show hatte zweifelsfrei jeder Promi. Denn die Einschaltquoten waren sensationell. Wer in den 80er Jahren etwas auf sich hielt, zudem noch Rang und Namen hatte, ein neues Buch oder eine neue Langspielplatte vorstellen wollte, war eine Woche später auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste oder die Nummer eins in den deutschen Hitparaden. Natürlich nur, sofern er auch eingeladen war.

Hitverdächtig waren auch die ständigen Überziehungen. Gleich die erste Sendung 1981 sprengte das Zeitfenster um 43 Minuten. Eine Entwicklung, die ihren Lauf nahm und zu „Wetten, dass ...?!” gehörte wie das Oktoberfest zu München. Als Wiedergutmachung beendete Frank Elstner drei Jahre später eine Show zwölf Minuten früher als geplant. Chapeau!

Als der König des deutschen Unterhaltungsfernsehens 1987 sein herangereiftes Kind in die wohlbehüteten Hände des 37-jährigen Thomas Gottschalk gab, war ich elf Jahre alt. Die blonde Locke lockte weiter ein Millionenpublikum vor die Mattscheibe. Vor allem seine meist fragwürdigen Anzüge waren der blanke Hohn, der blankes Entsetzen beim Zuschauer hervorrief. Vom albernen Schottenrock bis zur hautengen Rockermontur, vom in Gold getünchten Lagerfeld-Maßanzug bis hin zum urig-bajuwarischen Lederhosen-Outfit – bei „Fashionista“ Tommy war nichts unmöglich. Es sah nur unmöglich aus. Aber egal. Es hat trotzdem jeder eingeschaltet.

 

Hach, wie froh war ich doch, als endlich dieses lapidare Geplänkel über das Treffen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker vorbei war, als die neuen Erkenntnisse über das Tschernobyl-Reaktor-Unglück publik gemacht wurden und als der erneute Peinlichkeits-Auftritt der damaligen Skandalnudel Fürstin Gloria von Thurn und Taxis zu Ende erzählt war. Und das Wetter kam. Dann wusste ich: Die Tagesschau ist gleich vorbei. Was ich aber auch wusste: Es war Zeit, mich vom Sessel zu erheben, um das Programm zu wechseln. Schon als die Wetterkarte über den Bildschirm flimmerte, stellte ich mich rechts neben den Fernseher, um meiner Familie bloß nicht die Sicht zu versperren. Ich wartete fieberhaft ab, dass sich Dagmar Berghoff endlich bis morgen verabschiedete und uns allen noch einen schönen Samstagabend wünschte.

Tschüss, ARD, hallo ZDF!

Spätestens mit der Eurovisionsmelodie, die vor Beginn des Showklassikers lief, wurde der gemütliche Teil des Wochenendes eingeläutet. Diese Abende wurden bei uns zuhause regelrecht zelebriert. Man freute sich schon Tage vorher auf die Sendung, die so viel Witz, Spontaneität und Überraschung bereithielt. Am größten war die Vorfreude am frühen Samstagabend, als ich im Ministranten-Dress die Heilige Messe begleitete und als Pfarrer Vogl mit Gottes Segen Wasser zu Wein verwandelte. Kaum war „Gehet hin in Frieden. Dank sei Gott, dem Herrn.” ausgesprochen, verwandelte ich mich wieder vom himmlischen Gottesdiener zum irdischen Erdenbürger und radelte im Rekordtempo nach Hause. Aber: Was wäre die schönste Sendung ohne das passende Rahmenprogramm? Für meinen Papa gab es eine halbe Bier im grauen Keramikkrug mit Bayernwappen und aufklappbarem Metalldeckel. Mama ließ sich ein Gläschen Roten in Ehren nicht verwehren und meine Schwester Franzi und ich erfreuten uns an einem Kracherl: einer Zitronen- oder Orangenlimonade mit Bügelverschluss, der beim Öffnen so herrlich laut zischt und kracht. Deshalb Kracherl.

Allerdings gab es nicht nur etwas Leckeres ins Glas, sondern auch in drei Holzschälchen, die auf dem Tisch standen. Knabberzeug gehörte zum Samstagabend wie der Semmelknödel zum Schweinebraten. Tacos von „Chio, Chio, Chio Chips” waren meine Favoriten. Franzi hingegen schwor auf die Lila Pause von Milka. Bevorzugte Geschmacksrichtungen: Noisette und Erdbeere. Die schönsten Pausen mochten zwar lila gewesen sein, aber wenn Schokolade in Form der Lila Pause, dann doch bitte in den Geschmacksrichtungen Haselnuss oder Weiße Crisp. Hach, zum Dahinschmelzen, so lecker ...

Gesprochen wurde während „Wetten, dass ...?!” so gut wie nicht. Zu interessiert verfolgte unsere Familie das Geschehen. Und wenn geredet wurde, dann nur während der Musik-Darbietungen. Und auch nur dann, wenn kein gewisser David Hasselhoff die Bühne betrat. Sonst wäre Klein-Tim laut geworden und hätte den Rest der Familie zur Raison gerufen.

Ich liebte David! Für mich war er der Größte, der Michael Knight! Und wie euphorisch war ich doch, als Thomas Gottschalk ihn sogar noch aufs Sofa bat. Auch meine Maam war durchaus erfreut, denn Davids Brusthaare hatten eine äußerst anziehende Wirkung auf sie. Mein Papa meinte nur einmal: „Aus den ganzen Brusthaaren könnte Oma Seffa locker drei Winterpullis stricken.”

Wie dem auch sei. Ich rutschte auf meinem Fernsehsessel so nervös auf und ab, wie ein Kind, dem man eine riesige Wolke aus Zuckerwatte vor die Nase hält und nickend zuflüstert: „Nimm, kannst alles aufessen. Werde Mama und Papa nichts sagen!”

Erwartungsvoll lauschte ich den Worten, die David Hasselhoff über Knight Rider, die Foundation für Recht und Verfassung, seine Rolle als Michael Knight und das Superauto K.I.T.T. zu verkünden hatte.

Die Reise nach Österreich – Teil 1

 

 

 

Mit 300 Meilen pro Stunde im Super Persuit Mode, wie K.I.T.T. aus „Knight Rider”, konnte unsere Familienkutsche zwar nicht über die Autobahn heizen. Und auch über Seilwindenzug, Schleudersitz, Wechselkennzeichen und geräuschlosen Fahrmodus verfügte unser weinroter 190er Mercedes Einspritzer nicht. Aber im Vergleich zum US-Action-Gefährt K.I.T.T. kam unser Wagen mit vier statt nur mit zwei Türen daher. Und mit dem haben wir so einige Trips gemacht: Tagesausflüge durch die Bilderbuchkulisse des oberbayerischen Voralpenlandes, Wochenendtouren durchs malerisch-verträumte Allgäu mit Besichtigung des Schlosses Neuschwanstein. An verlängerten Wochenenden zog es uns schon mal ganz gerne in eine abgelegene Bergbauernpension am Fuße des Zillertaler Gletschers. Definitiv aber der Höhepunkt waren sieben- bis zehntägige Urlaubsfahrten an den Teutonengrill von Rimini oder Lido di Jesolo, nach Bella Italia. So großkalibrige Ferienunternehmungen kamen allerdings nur alle Jubeljahre vor.

„'s Geld und d'Sach müssen z'sammg'halten werden!”, so die Devise meiner sparfüchsigen Eltern. Wobei ich jetzt nicht behaupten will, dass mein alter Herr ein Geizkragen war. Er hatte gut verdient, musste aber natürlich auch den Kredit für das Haus bei der ortsansässigen Sparkasse abtragen und eine insgesamt vierköpfige Familie ernähren. Plus Grisu, unseren Hund, dessen Appetit nicht zu verachten war. Meiner Schwester und mir mangelte es aber nie an einem reichhaltigen Freizeitangebot. Meine Eltern waren einfach nur der Auffassung, lieber öfter weniger weit wegzufahren – als weniger oft weiter weg.

Während meine Maam und mein Papa die drei kleinen Reisetaschen im Kofferraum verstauten, machten sie mir Druck, ich solle doch endlich mal das Haus verlassen und meinen Hintern auf die Rückbank des Autos befördern, damit wir unsere Reise gen Österreich antreten können. Ich freute mich auf das bevorstehende Wochenende. Nicht unbedingt auf die Fahrt durch die brütend heiße Sommerhitze, und auch nicht unbedingt auf die Geburtstagsfeier mit Gästen, jenseits der 50! Aber ich freute mich auf Lukas, meinen besten Freund. Er und seine Eltern waren nämlich ebenfalls eingeladen.

„Komme gleich, Maam. Ich muss noch schnell den Videorekorder programmieren!”, rief ich aus dem Wohnzimmer. Schließlich wollte ich es ausnutzen, dass wir seit ein paar Tagen ein solches Hightech-Utensil im Haus hatten, mit dem ich auf einer 240er VHS-Kassette ein vierstündiges TV-Programm aufzeichnen konnte.

Als ich die Aufnahme „Samstag, 23.07.1987, 20:15 Uhr bis 22:15 Uhr, ZDF” manuell in den Timer eingab, schickte ich zahlreiche Stoßgebete zum Himmel. Nicht etwa aus Angst, die Aufnahme würde womöglich nicht starten. Vielmehr aus Angst, mein heiß ersehnter Film würde nicht gezeigt werden!

Das ZDF hatte in den 1980er Jahren nämlich die glorreiche Idee, den Zuschauer in den Sommermonaten zum Programmdirektor zu küren. Oder fast. Das Genre „ZDF Wunschfilm” offerierte den damals schon GEZ-zahlenden Bundesbürgern, für einen von drei zur Wahl stehenden Filmen abzustimmen. Der Streifen mit den meisten Postkarteneinsendungen und Telefonanrufen bei der Hotline würde letztendlich über den Äther laufen. Da meine Eltern aber weder die Bildzeitung noch die Fernsehzeitschrift Hörzu kauften, sondern indes die Funk Uhr Woche für Woche im Minimal-Supermarkt in den Einkaufswagen legten, konnte Familie Gerlacker nicht an der Abstimmung teilnehmen. Und per Telefon bei der ZDF-Hotline anrufen, um seinen Lieblingsfilm in Richtung Platz eins zu hieven, wäre zwar gegangen, war aber kostenbedingt tabu. Eine Flatrate in alle deutschen Netze – genau, lachhaft zu der Zeit. Somit beschränkten sich die ausgehenden Telefonate eher auf die günstigeren Ortsgespräche.

Ich setzte also alles Gottvertrauen in die fernsehguckende Bevölkerung, dass der Kassenschlager meiner Lieblings-Haudegen Bud Spencer und Terence Hill ausgestrahlt werden würde: „Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle”.

Des Weiteren standen zur Auswahl: Die Karl-May-Verfilmung „Im Reiche des Silbernen Löwen” sowie der Piratenfilm aus den 40er Jahren, „Die Seeräuber”. Alles uninteressant für mich. Ich wollte, wenn ich vom Geburtstagstrip zurückkam, geballte Ladung „auf die Fresse” auf der schwarzen VHS-Kassette vorfinden. Tja, die besten Blockbuster mal eben über Netflix streamen oder via Amazon Video aufs Smartphone ziehen – das gab es halt noch nicht. Auch die Zeiten der illegalen Downloads über Filesharing-Dienste waren noch nicht angebrochen. Also musste man den steinigen Weg noch zu Fuß gehen und jede Aufnahme auf dem Videorekorder programmieren. Ganz legal!

Total egal! Hauptsache, die Scotch-, Agfa- oder BASF-Kassette fiel keinem Bandsalat zum Opfer, und die Aufnahme war nicht im Eimer, sondern im Kasten.

Ich musste mich gedulden und würde erst nach Rückkehr am Sonntagnachmittag erfahren, ob mein gewünschter Film a) es überhaupt ins TV geschafft hatte und b) auch wirklich von der ersten bis zur letzten Minute fehlerfrei auf Band aufgenommen wurde. Meine Sorge galt nicht nur dem gerade erwähnten Bandsalat, sondern auch der Empfangsqualität unserer TV-Antennenbuchse. Manchmal reichte schon ein leichtes Gewitter – ach, was sage ich ...– manchmal reichte ein bisschen Wind und Regen aus, und in der Reportage „Mallorca – das neue Urlaubsparadies der Deutschen” erlebten zart bekleidete Badeurlauber am feinen Sandstrand von Cala Ratjada ein Schneegestöber sondergleichen. Schnee auf Malle – das gab es auch nur in den 80ern. Auf der Mattscheibe. Gut. Mehr, als mit Sorgfalt die Aufnahme programmieren und darauf achten, dass mein penibler Vater nicht etwa noch vorsichtshalber alle Sicherungen rausdrehte, bevor wir die Reise ins benachbarte Ausland antraten – mehr konnte ich nicht machen. Ich musste einfach hoffen, dass alles klappen und ich am Sonntagabend weder einen Western noch einen Piratenfilm auf der Kassette vorfinden würde. Abwarten und Tee trinken.

 

„Der Kaffee ist fertig”, rief meine Maam und kam mit der orangefarbenen Thermoskanne zum Auto, die sie auf dem Weg dorthin noch zuschraubte. Mit dem Deckel, der zugleich auch Kaffeebecher war. Dicht gefolgt von Papa, der noch ein paar D-Mark-Scheine in den hinteren Fächern seines Geldbeutels sortierte und prüfte, ob er auch genügend Bargeldreserven dabei hatte.

Auch Oma Seffa und Oper Xaver waren mittlerweile eingetrudelt, um Grisu abzuholen. Dem wollten wir die mindestens vierstündige Fahrt durch die Sommerhitze nicht antun. Und erst recht nicht den 70. Geburtstag von Krimhild Kirchbichler, die ihren Ehrentag zuhause auf dem Dreikanthof zelebrieren würde. Und zwar bereits morgen.

Krimhild war eine – im wahrsten Sinne des Wortes – alte Bekannte meiner Eltern. Vor vielen Jahren, bevor sie zu ihrem Mann Korbinian – einem waschechten Österreicher – zog, lebte die damalige Betreiberin eines Tante-Emma-Ladens in einem der Nachbarhäuser meiner Eltern. Der Liebe wegen ging Krimhild dann ins Land von Kaiserschmarrn, Topfenpalatschinken und Almdudler. Und ist geblieben.

 

„Habt's ihr alle eure Ausweise?” fragte Papa besserwisserisch in die familiäre Runde, ohne tatsächlich eine Antwort zu erwarten. „Denkt's dran, wir müssen über die österreichische Grenze”, setzte er seinen Monolog fort.

„Alles in meiner Handtasche!”, rief meine Maam von der Diele in Richtung Hofeinfahrt.

Das muss man der Hausmutter lassen – sie war, ist und blieb immer das Organisationstalent der Familie. Noch heute bin ich sehr dankbar dafür, gerade dieses Gen geerbt zu haben – als Inhaber einer Event-Agentur für Musikveranstaltungen. Musik war mir bereits in den frühen Jahren wichtig. So war ich es auch, der kurz vor Reisebeginn ins Hochgebirge den roten tragbaren Kassetten- und Radiorekorder ins Auto packte, den ich von Oma Seffa vor zwei Jahren zur Kommunion geschenkt bekommen hatte. Mit im Gepäck: ein Sechserpack aufladbarer Batterien, die ganz großen, dicken.

Da ich dem Hörspielalter bereits entwachsen war, kamen Musikkassetten in den braunen Kassettenkoffer aus Kunstleder. Und zwar in die letzten zwölf Steckfächer. Die ersten zwölf waren für meine Schwester Franzi reserviert. Auch sie stand nicht mehr auf „Ene, mene Schlitten – ich will 'ne Portion Fritten. Hex, hex!” oder auf „Auf 'ner schönen, grünen Wiese steht ein großer grauer Berg”, sondern auf Musik aus den Hitparaden.

„Ich hör' doch keine Hörspiele mehr, sondern moderne, fetzige Musik!”, verkündete sie so stolz, als würde sie bereits seit fünf Jahren im Amnesia auf Ibiza abfeiern. Äh, ja.

Ich war immer aufgeschlossen für Neues. Gerade, was neue Technik, neue Medien anging. Ich mochte auch das Radio. Prinzipiell. Aber nicht unbedingt Bayern 1, den Sender, den mein Vater rauf und runter hörte. Gruselig, die Musik, die dort damals lief: deutscher Schlager und bayerische Volksmusik. Gott sei Dank war das Radiomodell unseres weinroten Familiengefährtes Ende der 80er Jahre noch nicht auf dem neuesten Stand der Technik. Es hatte keine automatische Sendersuchfunktion. Somit bestand zumindest alle paar Kilometer der Hauch einer Chance, dass die Antenne auf der rechten Seite der Motorhaube nicht mehr in der Lage war, Bayern 1 ohne Stör- und Rauschgeräusche zu empfangen. Meine Maam wurde auf dem Beifahrersitz zwar stets vom Fahrzeuglenker beauftragt, das Rädchen der UKW-Anzeige ganz langsam und vorsichtig weiterzudrehen, um den Empfang zu regulieren. Doch zum Glück hatte sie selbst nur wenig Lust auf Peter Alexanders „Der Papa wird's schon richten” oder Heintjes „Mama”, sodass sie lieber bei Bayern 3 stoppte. Sofern sie den Popsender spontan fand.

Spätestens als unser Wagen durch die ersten Tunnel der Alpen rauschte, war an einen Radioempfang sowieso nicht mehr zu denken. Da war sie: die Gelegenheit für meine Schwester und mich, unseren Ghettoblaster ins Spiel zu bringen.

Franzi und ich hatten das ungeschriebene Gesetz – sofern kein Radiosender verfügbar war und unsere Eltern grünes Licht für den Kassettenrekorder gaben –, dass jeder die in etwa gleiche Zeit bekam, seine Lieblingskassette hören zu dürfen. Da Papas Zeitmanagement so präzise funktionierte wie ein Schweizer Uhrwerk, mimte er die Zeitansage.

„Leut', in zwei Stunden sind wir da!”, prophezeite er die Ankunft auf dem österreichischen Kirchbichler-Hof, mit Blick auf seine silberne Armbanduhr, die seit Umstellung von Winter- auf Sommerzeit fünf Minuten nach ging.

Da ich mein Stimmungsbarometer in den Urlaubsmodus versetzt hatte, gönnte ich Franzi den Vortritt.

„Ronny's Pop-Show”, las ich leise von der Originalkassette ab und war gespannt auf die Lieder.

Nachdem Jennifer Rush verkündet hatte, dass sie gerade „undone” kam, Heaven 17 ziemlich „Trouble” hatten und Ben E. King „by me” stand, war ich im Auto aus dem Häuschen. Und als dann noch die Hymne „You're the Voice” von John Farnham einsetzte, staunte ich mit offenem Mund Lego-, ach was, Duplo-Bauklötze!

Jennifer Rush, Heaven 17, Ben E. King, John Farnham – sie waren damals so bekannt wie heute Justin Bieber, Rihanna und Miley Cyrus. Wenngleich die Stars der 80er Jahre weniger skandalträchtig waren als die des neuen Millenniums. Denn: Justins kleiner Bieber ging bereits im World Wide Web um die Welt, Rihanna schockierte bzw. beschenkte die Boulevardpresse mit ihren nackten Brüsten, Drogen- und Gewalt-Exzessen, und die zeigefreudige Miley Cyrus auf der Abrissbirne ist ohnehin jedem ein Begriff.

Just in diesem Moment, anno 1987, erfreuten sich Franzi, meine Maam und ich an der eingängigen Pop-Melodie von „Tonight, tonight, tonight” von Genesis, und sangen im Dreier-Chor mit. Zum Leidwesen meines Vaters, der sich von Connie Francis lieber angehört hätte, dass die Liebe ein seltsames Spiel ist oder der sich von Tony Marshall lieber auf der Straße nach Süden hätte begleiten lassen wollen.

Apropos Straße nach Süden: Die mittägliche Sonne brannte mittlerweile vom Firmament und heizte die Autobahn und unseren weinroten Benz immer stärker auf. Meine Maam, Franzi und ich stöhnten ganz schön, als dann auch noch der Verkehr immer dichter wurde und wir schließlich nur noch im Schneckentempo über den Asphalt krochen. 20 km/h. Die Tachonadel hat sich von Tempo Null kaum merklich nach oben bewegt. Klar hatten wir alle Fenster runtergekurbelt. Jedoch brachte dies keine Erfrischung. Die Luft – sie stand auf der Autobahn. Unser Benz übrigens auch. Stau!

 

„Macht's die Kassetten aus. Müssen jetzt das Radio anmachen!”, plusterte Papa und fuchtelte nervös an den drehbaren Knöpfen des Blaupunkt-Autoradios.

„Papa, dass Stau ist, siehst du doch! Bringt dich das jetzt weiter, wenn die dir sagen ‚Stau auf der A 8 in Richtung Salzburg‘?”, meckerte Franzi zu den Vordersitzen.

„Ich will wissen, wie viele Kilometer das sind und ob sich das bis zum Grenzübergang hinzieht”, motzte Papa, drehte sich zu Franzi um und hielt sich mit seiner rechten Hand an der Rückenlehne des Beifahrersitzes fest, um mit meiner Schwester direkten Blickkontakt aufnehmen zu können.

Ich hielt mich vorsorglich raus aus dieser Unterhaltung. Ich wusste, dass es keinen Sinn machen würde, dahingehend irgendwelche Diskussionen anzuzetteln. Vielmehr ärgerte ich mich innerlich darüber, dass Papa beim Kauf des 190ers vor vier Jahren nicht die bessere Fahrzeugkategorie gewählt hatte: die mit Schiebedach.

 

„Und bevor jetzt einer meckert, dass wir kein Schiebedach haben – das würde überhaupt nix bringen, wenn die Sonne durchs Schiebedach scheint und das Auto noch mehr aufheizt!”, schoss es aus Papa heraus, als ob er meine Gedanken lesen konnte wie ein hellsehendes Medium. Noch mehr Gründe, den Ball flach zu halten und nichts zu sagen.

Heutzutage würde ich natürlich alle Fenster schließen und die Klimaautomatik meines schwarzen 3er BMWs auf angenehme 21 Grad einstellen. Dann würde ich aus der im Kofferraum integrierten Kühlbox eine eiskalte Coke holen, den Filmklassiker „The Big Lebowski” ins DVD-Laufwerk einlegen und ihn über den Navigationsbildschirm ganz entspannt ansehen. Bis sich der Stau auflöst.

Damals blieb uns nur das Öffnen der Fenster. Oder eben, die Lüftungsanlage bis zum Anschlag – Stufe vier – aufzudrehen. Alles vergebliche Versuche, der Hitze Herr zu werden.

Was hätte ich doch für ein Ed-von-Schleck-Eis aus der Tiefkühltruhe der Specht-Tankstelle gegeben, das man ganz schnell essen muss, ehe es die Sommerhitze gnadenlos zum Schmelzen bringt wie kochend heißes Wasser einen Eiswürfel. Oder für eine eiskalte Capri-Sonne.

Stattdessen hatten wir lauwarmen Sprudel in Glasflaschen und ein paar Sunkist-Orange im Tetra-Pak dabei, die aber auch schon gefühlt die Außentemperatur von 34 Grad angenommen hatten.

 

„Ein Brot mit Gelbwurst hätt' ...”

„Im Auto wird nicht 'gessen!”, schnitt Papa seiner Frau das Wort ab.

Schweigen.

Papa klopfte mit seiner rechten Hand nervös auf das heiße schwarze Lenkrad – ungeduldig, weil wir immer noch standen. Mama blätterte lieblos in der „Bild der Frau”, ohne einen Artikel auch nur ansatzweise zu lesen. Franzi kramte in ihrem Chiemsee-Rucksack nach ihrem Walkman mit dem metallenen Bügelkopfhörer, den sie sich wie einen Haarreif über den Kopf stülpte – jetzt, wo der Ghettoblaster definitiv ausgedient und das Radio Priorität hatte. Wortlos guckte ich zu Franzi, wandte meinen Blick aber gleich wieder ab, starrte emotionslos und gedankenverloren aus dem geöffneten Fenster und nahm eine Embryostellung ein, indem ich meine Beine anwinkelte und die Knie gegen Papas Rückenlehne stemmte.

„Scheiß Polizei! Von wegen ‚Dein Freund und Helfer!‘”, ärgerte sich Papa, ohne auf seine vulgäre Ausdrucksweise vor uns Kindern Rücksicht zu nehmen. „Wenn du die einmal brauchst, dass sie die Autobahn freiräumen, machen sie wahrscheinlich gerade im Wald eine Radarkontrolle, dass der Zankl-Bauer mit seinem Traktor bloß nicht schneller als 25 km/h fährt”, setzte er seine Wutansprache fort.

„Du kannst es nicht ändern, wenn es regnet. Aber du kannst dir einen Regenschirm aufspannen”, entfuhr es meiner Maam. Und dabei klang sie wie ein Poet aus dem 14. Jahrhundert.

Kopfschütteln und riesengroße Augen bei Papa. Argwöhnische Blicke bei meiner Schwester und mir.

„Na, ich mein, du kannst nicht ändern, dass wir jetzt im Stau stehen. Aber dein Rumgemotze bringt auch keinen weiter. Entspann dich einfach, Josef”, erklärte sich meine Maam und knetete Papa den Nacken.

 

Es ging keinen Millimeter mehr voran. Und das seit zwanzig Minuten. Schnell mal in Google Maps gucken, wie lang sich diese geteerte Durststrecke noch ziehen würde, war nicht drin. Man musste sich in Geduld üben. Ich. Wir. Und die vielen anderen Fahrer, Beifahrer und Mitfahrer, die in brütender Hitze keine Chance hatten, dem Asphaltwahnsinn zu entkommen. Die Julisonne hatte die Autobahn und die Fahrzeuge so aufgeheizt, dass man feine Hitzeschwaden über den Motorhauben erkennen konnte. Und das, obwohl alle Fahrzeuge aus waren.

Mir war so langweilig, dass ich Franzi – die den Walkman mittlerweile wieder ausgemacht hatte – ein völlig bescheuertes Spiel vorschlug: „Wir bilden Sätze oder Wörter, in denen das Wort ‚Stau‘ vorkommt. Wem nach fünf Sekunden Pause nichts mehr einfällt, hat verloren. Ich fang an. Stau...bsauger. Franzi?”

„Ich komm aus dem Stau...nen nicht mehr raus.”

Nicht schlecht.

„Au...stau...sch”, warf ich von der linken auf die rechte Seite der Rückbank und lobte mich direkt im Anschluss mit „Ganz schön einfallsreich, Tim.”

Franzi: „Stau...see.”

Ich: „Papierstau.” Ja, den gab es auch schon in den 80ern. Stichwort Endlospapier.

„Stau...pe”, klopfte sich meine Schwester auf die Schulter.

„Geld ab...stau...ben – oder Möbel!”, konterte ich und wollte gleich zwei Punkte auf einmal haben.

„Koffer ver...stau...en. Und: Nein!”, lehnte meine Schwester meinen Wunsch nach der doppelten Punktzahl ab.

Unser Brainstorming wurde abrupt unterbrochen.

„Mama, ich muss bieseln!”, hörte ich es aus dem Nachbarauto ertönen, guckte und sah einen kleinen Jungen im Alter von etwa fünf Jahren. Dessen Mutter fackelte nicht lange, erbarmte sich und ging mit ihrem Sohnemann hinter die Leitplanke, damit er sich erleichtern konnte.

Nahezu zeitgleich meinte ein besonders schlauer Zeitgenosse, hupen zu müssen. Hm, vielleicht kam der Tölpel nur versehentlich ... Nein, kam er nicht. Er – ein Schnösel im Businesslook – machte in seinem goldbraunen Ford Granada noch einmal auf sich aufmerksam. Ich beugte mich aus dem Fenster und konnte mit Müh und Not das Kennzeichen sehen: M. Aha, ein Münchner. Ein Stadtmensch. Ein ganz Wichtiger also. Der hat natürlich keine Zeit, sich unters Stauvolk zu mischen. Und obwohl sein Granada stand, wurde er ausgebremst: Der Fahrer des neben ihm stehenden Autos – ein knallgelber Ford Mustang mit obligatorischem Fuchsschwanz – zeigte Hup-Granada eiskalt den Mittelfinger. Zudem sagte er im Berliner Dialekt „Ick weeß, wer gleich eens uff die Nüsse kricht, wenn er mit dem Hupen nich uffhört!”. Das hat wohl gesessen.

Ruhe.

Es war so ruhig, man hätte auf der sonst so vielbefahrenen Autobahn das leise Ticken des Nachttischweckers meiner Oma Seffa hören können. Hätte ich ihn dabei gehabt.

Nur alle paar Sekunden rauschte ein Auto auf der Gegenfahrbahn an uns vorbei.

„Alle fahren nach Süden. Nach Norden will keiner”, grummelte ich.

Plötzlich das Signal. Im Radio schaltete sich der Verkehrsfunk ein.

„Seid's ruhig!” forderte Papa uns auf.

„Was soll das?”, dachte ich, „Es ist eh mucksmäuschenstill.”

Der hörbar entspannte Radiosprecher las die Verkehrsmeldungen vor. Chronologisch: Erst die A 3, dann die A 6. Dann kam unsere Autobahn, die A 8. In dem Moment, als aus dem Radio „Vier Kilometer Stau wegen Bergungsarbeiten nach einem Unfall” ertönte, ertönte aus weiter Entfernung auch ein Martinshorn. Auf dem Standstreifen kam von hinten ein ADAC-Abschlepper, gefolgt von einem Polizeiauto. Und obwohl wir immer noch standen, machte sich Erleichterung breit und wir begannen tatsächlich wieder, miteinander zu reden. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, ehe Papa den Motor starten und mit uns die Fahrt fortsetzen konnte.

„Pssst, ruhig sein”, flüsterte Papa und berührte mit dem rechten Zeigefinger seine Lippen.

„Ich glaub', ich hör Autos, die den Motor angemacht haben”, fuhr er fort.

Und, Tatsache: Nach und nach rollten die Motorengeräusche wie eine Lawine auf uns zu. Ich konnte es mir einbilden oder auch nicht: Aber ich meinte, gesehen zu haben, dass 50, 60 Meter vor uns die Karawane ins Rollen kam und sich der Stau langsam auflöste.

Im Rückspiegel sah ich Papas Augen, die so groß waren wie bei einem gestrandeten Urlauber, der monatelang auf einer einsamen Insel ausharren musste und endlich das rettende Boot auf sich zukommen sah. Hibbelig klimperte er mit dem Schlüsselbund und startete den Motor. Bisschen Zwischengas, damit der Wagen nicht absoff, und keine Minute später war es so weit: Der Verkehr floss wieder.

Und dieses Gefühl werde ich nie vergessen, als die heiße, drückende Luft einen feinen Durchzug im Auto erzeugte und unsere Schweißperlen langsam trocknen ließ.

Die Bayern. Und die Deutschen.

 

 

 

Die nächste verkehrsbedingte Verzögerung hatten wir kurz vor der deutsch-österreichischen Grenze. Dieses Prozedere kannten wir. Schließlich fuhren wir öfter mal rüber, vom Weißwurstäquator ins „feindliche“ Ausland. Und somit wussten wir, dass die Österreicher uns Bayern gerne mal längeren Kontrollen unterzogen.

Mit den Bayern und den Österreichern war und ist es wie mit den Kölnern und den Düsseldorfern, wie mit dem Teufel und dem Weihwasser, wie mit dem Fön und der Badewanne: Das ging nicht gut. Das geht nicht gut. Das wird nie gut gehen.

Ganz ähnlich verhält sich das Sympathie- beziehungsweise Antipathieverhalten zwischen Bayern und allen Bundesländern, die irgendwie nördlich davon liegen. Also alles zwischen Bayern und den restlichen Bundesländern der BRD, damals neun an der Zahl. Was wird doch auf nationaler Ebene gemotzt, geschimpft und gemeckert über uns Bayern. Wir würden den ganzen Tag nur schuhplattln und fensterln, literweise Weißbier aus Oktoberfest-Maßkrügen saufen, hätten Sex nur in Lederhose und Dirndl und wären ein launisches, unkommunikatives Volk, das sich am liebsten vom restlichen Deutschland abkapseln würde. Wobei ... Mit dem letzten Gedanken liegt man gar nicht mal so verkehrt.

Aber mal Hand aufs Herz: Bayern ist schön. Wenn ich an Bayern denke, denke ich an große Biergärten mit knisterndem Kies und schattenwerfenden Bäumen. An leckere, deftige Brotzeiten in zünftiger Atmosphäre. An die Alpen, die Seilbahnen und Skipisten. Ich denke an die großartige Natur, saftige, grüne Wiesen und unendliche Weiten mit tollem Blick über die prachtvolle Landschaft mit unzähligen Wanderwegen, Bächen, Tälern, Hügeln, Wasserfällen und Flüssen. Ich denke an einsam gelegene Berghütten mit Kachelofen und Rehgeweihen an den Wänden der urigen holzvertäfelten Zimmer. Ich denke an den Morgentau, der sich heimlich, still und leise ganz friedlich übers Isartal legt. An die mysteriösen und geheimnisvollen Nebelschwaden, die von der nicht mehr ganz so starken Herbstsonne langsam verdrängt werden und den weiß-blauen Himmel über Bayern freilegt. Ich denke an den unverwechselbaren Geruch von frisch gemähten Wiesen, an den Duft von Heu und Landwirtschaft. Ich denke an München, das nicht umsonst liebevoll ‚Millionendorf‘ genannt wird. Hier geht's halt einfach noch a Stückerl weit ruhiger und gelassener zu als in anderen Metropolen wie Hamburg, Berlin oder Köln. Hier hat man noch die Zeit – oder man nimmt sie sich – und plaudert am Stand der Wurscht-Elfi auf dem Viktualienmarkt übers gute Wetter und darüber, dass man nach Feierabend noch mit den Kollegen in den Englischen Garten geht. Zum Chinesischen Turm. Auf eine halbe Bier. Oder zwei oder drei. Und am Wochenende radelt man zum Eisbach, wo man zig Wassersportlern auf ihren Boards zuschaut. Ich denke an knackige Würschtl mit Sauerkraut und Brezen, an Krustenbraten mit Semmelknödel und Biersoße, an knusprig gebackenen Leberkäs', noch knuspriger gebratene Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln, an Presssack, Sülze, Rehragout. Ich denke an unser leckeres Helles – unser Bier, das in Halbe-Krügerl oder als Maß ausgeschenkt wird. Ich denke an die prunkvollen Schlösser, an den Chiemsee, den Starnberger und den Tegernsee, die Zugspitze, den Watzmann, den Bayerischen Wald, die spektakuläre Partnachklamm, die Sommerrodelbahnen in Bodenmais, die abenteuerlichen Tropfsteinhöhlen in Bad Reichenhall und das verträumte Altmühltal.

Der Königssee mit seinem berühmten Echo weckt romantische Erinnerungen, der Straubinger Tiergarten kindliche, der Klettersteig in Garmisch abenteuerliche und das Konzentrationslager in Dachau leider traurige.

Kurz und knapp: Bayern hat Geschichten zu erzählen. Bayern hat Geschichte. Bayern ist aber nicht Geschichte!

Genauso unwiderstehlich wie das Land ist doch auch der Dialekt. Nicht von ungefähr, dass er seit Jahren zu „Germany's most sexiest Dialect” gekürt wird.

Der zärtliche Bayer: „Spotzerl, willst du mei G'spusi sein? I dat mi so g'freun, wenn mir zwoa romantisch im Heu a wengerl schnaxeln. I würd di bussln, dass'd glaubst, de rosa Wolkerl im Himmel hab i bloß für dich aufg'hängt.”

Der piekfeine Hanseat: „Mein liebes Fräulein, wollen sie mir die großzügige Ehre erweisen, meine leidenschaftliche Mätresse zu sein? Es wäre mir ein innerliches Blumenpflücken, mit ihnen exzessive Stunden der Lust zu erleben. Ich wäre Küssen und Liebkosungen nicht abgeneigt.”

Der lüsterne Sachse: „Eiferbisch, mein kleenes Sahnetörtschen. Magste heute Nacht de Beene breet machen, damit isch deinen feuschten Keller mit meinem großen Schrubba mal so rischtisch durschwischen kann? Isch würd disch knütschen, dass es fetzt. Was meenste: Zu mir oder ... zu mir?”

Der Rheinländer im Karneval: „Ficken?”

Die Reise nach Österreich – Teil 2

 

 

 

Sieben, acht Kilometer vor der österreichischen Grenze bat meine Maam, auf den nächsten Rastplatz zu fahren.

„Raucherpause!”, sang sie freudig im Auto und deutete auf das „Parkplatz in zwei Kilometern”-Schild, an dem Papa gerade mit 130 Sachen vorbeirauschte. Zeitgleich beugte sie sich auf dem Beifahrersitz nach vorne, um im Fußraum nach ihrer Handtasche mit den Krone-Zigaretten zu kramen.

„Machen wir, Marerl”, bestätigte Papa und nahm den Fuß vom Gas.

90 – 60 – 90. Gerade noch rechtzeitig den Blitzer in der Baustelle gesehen.

„Kinder, seid's alle wach?”, fragte Papa mit Blick in den Rückspiegel.

„Ja”, erwiderten Franzi und ich im Chor wie eine Horde Kinder im Kasperletheater.

Als ob überhaupt irgendjemand hätte schlafen können – bei 34 Grad in der von Hitze nur so aufgeladenen Blechlawine.

Erleichtert stellte ich das Klicken des rechten Blinkers fest und freute mich, für ein paar Minuten aus dem heißen Auto rauszukommen und mir ein wenig die Beine vertreten zu können. Von der Embryostellung wechselte ich in die aufrechte Sitzposition. Ich guckte aus dem Fenster und deutete Papa den ersten freien Parkplatz an, der sich direkt vor einer fest installierten Sitzgruppe aus Stein befand.

Parken. Motor aus. Türen auf. Aussteigen.

Ach, tat das gut.

Erst mal recken und strecken und wieder alle Knochen sortieren. Großartig. Zumal es draußen dank leichtem Wind (in Anführungszeichen) viel kälter war als im Auto.

Während sich meine Maam direkt eine Zigarette aus ihrem Kunstleder-Etui geholt und angezündet hatte, machte sich Franzi auf den Weg zum Toilettenhäuschen. Ich hingegen kramte nach Mamas geschmierten Broten im Jutebeutel mit dem Aufdruck „Gehen Sie mal wieder mit einem guten Buch ins Bett. Oder mit jemandem, der eins gelesen hat”. Ein Spruch, den ich damals nicht einmal ansatzweise verstand.

Prima, gefunden. Fein säuberlich in Butterbrotpapier eingepackt, wickelte ich die zwei zusammengeklappten Scheiben Buttermilchbrot vom Baumgartner-Bäcker auf.

Ui, lecker. Salami. Dass diese hitzebedingt lauwarm war, hat mich in dem Moment nicht gestört. Hauptsache, es gab was zu beißen. Oder wie der Bayer sagt: „Es geht doch nix über a g'schmackigs Wurschtbrot.”

Papa lehnte die kleine Zwischenmahlzeit ab. Den Kaffee, den Mama aus der orangefarbenen Thermoskanne in den Becher schüttete, nahm er dankend an. Ohne allerdings direkten Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. Zu sehr war er in die Landkarte vertieft, die er auf der Motorhaube unseres weinroten Familienschiffes aufgefaltet hatte.

„Geh her, Bub, Tim, damit du was lernst”, forderte Papa mich auf, um mir die bunten Linien auf dem riesigen Blatt Papier zu übersetzen.

„Die roten, dicken Striche – das sind die Autobahnen. Gelb sind die Bundesstraßen. Und da, das Weiße sind die Landstraßen”, erklärte er mir, während er mit der rechten Hand die farbigen Linien entlangfuhr und mit der linken aufpasste, dass ihm die gerade aufkommende Windböe nicht die Karte durch die Lüfte wehte.

Wie gern hätte ich gesagt „Markier doch einfach im Handy-Navi unseren Standort und gib als Ziel ‚Berlinger Moos, Landsbach, Österreich‘ ein. Dann kannst du zwischen der effektivsten, der schnellsten und der bequemsten Route wählen. In den Routeoptionen setzt du je einen Haken bei ‚Autobahn vorziehen‘, ‚Mautstrecken vermeiden‘ und ‚Radarkontrollen anzeigen‘.”

30 Jahre später kein Problem. Damals Science-Fiction, die sich wohl nicht einmal die kreativsten Drehbuchautoren der internationalen Filmindustrie hätten ausdenken können.

Nachdem wir uns alle – bis auf Papa – gestärkt hatten, quetschten wir uns zurück ins Auto. Da wir während der fünfzehnminütigen Verschnaufpause alle Fenster und Türen offen ließen, war es jetzt nicht mehr ganz so unerträglich heiß im Gefährt.

„Anschnallen!”, befahl Papa, indem er mit seinem Gurt winkte wie ein Polizist mit seiner roten Kelle, der gerade einen Raser aus dem Verkehr zog, weil er mit 120 Sachen durch eine 30er-Zone gerast war.

„Du bist ja lustig, Papa!”, entgegnete ich, während ich mich mit hochgezogenen Augenbrauen zu den Vordersitzen beugte. „Wir haben doch hinten gar keinen Gurt!”

„Ich hab doch die Mama gemeint! Ist mir schon klar, dass hinten keine Anschnaller sind.”

Die waren in unserem Benz, Baujahr 1983, noch nicht integriert.

„Papa, jetzt fahr endlich los, es wird schon wieder so warm”, regte sich Franzi auf und fächerte sich mit dem Feuilleton-Teil der Süddeutschen Zeitung Luft ins Gesicht.

„Ruhe auf den billigen Plätzen!”, beliebte Vati zu scherzen, startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und kurbelte das Lenkrad in Fahrtrichtung rechts, um auszuparken. Leichter gesagt als getan – ohne Servolenkung. Die war zwar bereits erfunden, fand man aber nur in den Nobelkarossen wieder.

Ein geschulter Blick in den einzigen Außenspiegel – in den linken! – und ab die Post. Kaum hatten wir das Parkplatzareal verlassen, drückte Papa auf die Tube. Wir heizten eine kurze Zeit mit 180 über die gerade wenig befahrene A 8 in Richtung Grenze. Im vierten Gang!

Da es keinen rechten Außenspiegel, keine Anschnallgurte auf den Rücksitzen, keine Servolenkung, keine Zentralverriegelung und keine Funkfernbedienung zum Öffnen und Schließen des Fahrzeuges gab, gab es auch keine sechs Gänge, wie sie heute in jedem Mittelklassewagen standardmäßig verbaut sind. Es gab nur vier.

Ebenfalls klar, dass unser Mercedes nicht mit 5,3 Litern auf 100 Kilometern auskam. Bei der Ultrahochgeschwindigkeit von 180 km/h hätte man sprichwörtlich eine Tankstelle hinter sich herziehen können – am besten mit zehn prall gefüllten Ersatzkanistern im Kofferraum und einem eigens engagiertem Tankwart auf dem fünften Sitz des Wagens! Leider auch so eine Gattung, die es nicht ins neue Jahrtausend geschafft hat: der Tankwart. Der befüllte damals unseren 70-Liter-Tank für 64 Mark. Für 32 Euro den Wagen volltanken – nach so einer Tankstelle sucht man heutzutage vergeblich.

Die Autobahn wurde breit und breiter, vergrößerte sich von zwei auf drei und dann direkt auf sieben Spuren. Die zwei rechten für LKW, die ganz linke für Motorräder und die restlichen für PKW, PKW mit Anhänger beziehungsweise PKW mit Wohnwagen, und für Wohnmobile bis 3,5 Tonnen.

Jetzt waren es nur noch knapp 500 Meter bis zur Grenzstation. Der Verkehr wurde wieder dichter, aber statt des von uns befürchteten Megastaus gab es nur zähfließenden Verkehr. Mama nutzte unterdessen die Zeit des Langsamfahrens, wühlte in ihrer Handtasche und suchte die Reisepässe von sich und Papa und die Kinderausweise von meiner Schwester Franzi und mir. Noch fünf Autos standen vor uns, ehe wir an der Reihe waren.

Für meine Eltern war die Grenzkontrolle immer wieder ein aufregender Moment. So sehr die Entfernung zu den Zollbeamten abnahm, so sehr stieg ihr Pulsschlag an. Das konnte man vor allem an der unheimlichen Ruhe zwischen meinen Eltern merken. Ich habe bis heute nicht verstanden, weshalb sie so gehörigen Respekt vor den uniformierten Mützenträgern hatten. Mama und Papa verhielten sich so auffällig unauffällig, als würden sie im Kofferraum eine zerstückelte Leiche transportieren, nachdem sie als die bayerischen Bonnie & Clyde in die Verbrechergeschichte eingegangen waren. Als ob sie mit Gesichtsmasken der Volksmusik-Tyrannen Marianne und Michael getarnt die Sparkasse von Tatterkofen überfallen, Bankdirektor Hofmeister als Geisel genommen und ihm schließlich eine Kugel durch den Kopf gejagt hätten, weil er per Alarmknopf die Bullen rief statt die Kohle rauszurücken. Die Sau!