Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Frischer Wind in Kelverath In der kleinen Gemeinde Kelverath am Niederrhein geht es für gewöhnlich ruhig zu. Auch der Arbeitsalltag in der Lokalredaktion der »Niederrhein Post« verläuft für den einzigen Redakteur Henning Schuster meistens sehr entspannt. Die Schülerin Tessa Kellner sorgt mit ihrem Praktikum jedoch sofort für neuen Schwung. Auf dem Weg zu einem Pressetermin für eine geplante Windkraftanlage stolpern sie kurz vor dem Ziel über eine Leiche. Während die Kriminalpolizei die Sache äußerst nüchtern betrachtet, brodelt im Ort umgehend die Gerüchteküche und schnell ist sogar von Mord die Rede – schließlich herrscht kein Mangel an Verdächtigen … Der erste Fall für Tessa Kellner und den Lokalredakteur Henning Schuster.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Matthias Terfoorth
Frischer Wind in Kelverath
Ein Niederrhein-Krimi
Für meine Eltern
Unsere kleine Gemeinde am linken Niederrhein, zwischen Geldern und Issum, ist ein wirklich schönes Fleckchen. Da macht es doch gar nichts, dass sie eigentlich nicht wirklich existiert. Aber wir können ja so tun, als wüssten wir von nix. Das soll am Niederrhein ja schon mal vorkommen und wie der gebürtige Kelverather Kabarettist Volker Dalkamp sagen würde: »Schad’ ja nix!«
Denn Kelverath hat wirklich einiges zu bieten. Rund um die beiden Ortsteile Ahlwied mit dem schönen, alten Ortskern und dem modernen Neunfeldt gibt es reichlich Natur: Felder und Wiesen, die Kleine Seenplatte und natürlich den Kelverather Forst.
Viel Spaß! Ihr
ist eine fiktive Tageszeitung. In Kelverath spielt sie eine große Rolle, da die Gemeinde über keine eigene Polizeidienststelle verfügt. Also wenden sich viele Leute an den Redakteur Henning Schuster, wenn es etwas Besonderes zu berichten gibt. Und die engagierte Praktikantin Tessa Kellner sorgt dafür, dass er den Hinweisen auch nachgeht …
Die Erwähnung der ›Niederrhein Post‹ stellt eine Hommage an die zwischen 1992 und 2013 veröffentlichten Niederrhein-Krimis des Trios Leenders/Bay/Leenders dar, denen sie ursprünglich entstammt.
Eine dünne Nebeldecke zog im Schneckentempo über die Felder. Die Rotoren der markanten Windräder am Horizont waren an diesem Januarmorgen nur schemenhaft zu erkennen. Henning Schuster stand am Küchenfenster und beobachtete das träge Naturschauspiel. Gedankenverloren rührte er mit klackerndem Löffel in seinem Kaffeebecher, bis seine Frau Katrin nach seiner Hand griff.
»Es soll sich ja schon mal jemand totgerührt haben«, stichelte sie. »Bist du etwa nervös?«
Henning verzog das Gesicht zu einer Miene, die verdeutlichen sollte, wie absurd dieser Gedanke war. Er nahm den Löffel demonstrativ aus dem Becher und ließ ihn in der Spülmaschine verschwinden, während Katrin sich lächelnd wieder setzte.
»Na ja, schon ein bisschen«, gab er schließlich zu. »Ist ja schon ein paar Jahre her, dass jemand ein Praktikum bei mir machen wollte.«
»Ach, wird schon schiefgehen«, gab Katrin leichthin zurück und biss in ihr Marmeladenbrot. »Die Tessa ist clever und lernt schnell, die musst du nicht groß an die Hand nehmen. Die zieht mit, hat Svenja gesagt.«
Henning setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch. »Sagt sie das als Tessas Klassenlehrerin oder als deine beste Freundin?«
Katrin rollte kopfschüttelnd die Augen. »Beides. Jetzt mach dich nicht verrückt. Sei doch lieber froh, dass du mal nicht ganz allein in der Redaktion rumsitzt.«
»Du tust so, als wär ich nie unterwegs«, beschwerte Henning sich und nahm einen Schluck seines mittlerweile nur noch lauwarmen Kaffees. »Außerdem hab ich eher die Befürchtung, dass Tessa sich das alles spannender vorstellt, als es eigentlich ist. So ’ne Lokalredaktion hat ja nicht unbedingt aufregende Geschichten zu bieten, erst recht nicht für eine 15-Jährige.«
»Ja, das seh ich!« Seine Frau hielt lachend die aktuelle Ausgabe der Niederrhein Post hoch. Im Lokalteil für Kelverath zeigte das Aufmacherbild einen älteren Herrn, der stolz verschiedene Stücke Würfelzucker in die Kamera hielt. »Also echt, ich weiß nicht, was ich hier beeindruckender finde. Dass der Hermann Radtke tausende Stück Würfelzucker gesammelt hat oder dass du daraus eine Titelstory strickst. Und nur, weil der Erfinder vor 180 Jahren das Patent auf Würfelzucker gekriegt hat?«
Henning zuckte mit den Schultern. »So ein Jubiläum ist doch ein schöner Anlass, mal wieder auf das Zuckermuseum hinzuweisen. Außerdem ist gerade sonst nicht viel los. Hermann hat sich jedenfalls sehr gefreut und deine Kolleginnen vom Tourismus waren übrigens auch nicht abgeneigt, dass Kelverath mal wieder mit einer Sehenswürdigkeit in der Zeitung auftaucht.«
»Das glaub ich gern.« Katrin lachte erneut und schlug mit der Hand leicht auf den Küchentisch. »Apropos Kolleginnen, ich muss los. Bis nachher, ja?«
»Bis später.« Henning gab seiner Frau einen Abschiedskuss und räumte den Frühstückstisch ab, während Katrin sich auf den Weg ins Rathaus machte. Sie würde an diesem Tag wieder besonders gefordert sein, schließlich kümmerte sie sich im Fachbereich ›Ordnung und Soziales‹ um das Sachgebiet Bildung und war für sämtliche Praktikumsfragen von Schulen und Firmen die erste Ansprechpartnerin der Gemeinde. Der erste Tag der Schulpraktika verlief dementsprechend immer besonders chaotisch für sie.
Nun teilte Henning diese Erfahrung ausnahmsweise und prompt fragte er sich, wie seine Frau es schaffte, bei so etwas stets die Ruhe und vor allem den Überblick zu behalten. Vermutlich lag es an ihrer langjährigen Erfahrung, überlegte er.
Und wahrscheinlich hatte sie auch deshalb mal wieder recht und er machte sich zu viele Gedanken über die kommenden drei Wochen. Tessa Kellner hatte im Vorstellungsgespräch wirklich aufgeweckt gewirkt. Noch etwas unsicher vielleicht, aber das war ihm in seiner Anfangszeit bei der Zeitung selbst nicht anders ergangen und hatte sich schnell gelegt.
Mit neuem Mut leerte Henning den Kaffeebecher, verzog angesichts des inzwischen fast kalten Gebräus das Gesicht und stellte das restliche Geschirr in die Spülmaschine, bevor er sich ebenfalls auf den Weg machte.
Ausnahmsweise nahm er den Wagen und parkte im Kirchweg hinter dem Haus, das auch die kleine Lokalredaktion beherbergte. Er spazierte an der Kirche, der Touristen-Information und dem Hotel vorbei zum Marktplatz und stellte fest, dass seine Praktikantin schon auf ihn wartete.
Tessa saß auf der kleinen Bank vor der Redaktion, hielt einen Pappbecher aus der angrenzenden Bäckerei in den behandschuhten Händen und unterhielt sich mit Frau Peters aus der Nachbarschaft. Der betagten Dame schien die Abwechslung zu gefallen.
Als Henning sich näherte, sah Tessa fröhlich auf. »Ah, Herr Schuster, guten Morgen!«
»Guten Morgen!«, grüßte Henning zurück und nickte auch Frau Peters zu.
»Getz’ hör’n Se ma’, Herr Schuster, dat is’ aber keine Art, dat dat Mädel hier inne Kälte warten muss«, warf ihm die Seniorin direkt vor.
»Zu meiner Verteidigung: Wir sind eigentlich erst in einer Viertelstunde verabredet«, stellte Henning schmunzelnd fest.
»Ja, das stimmt«, sprang ihm Tessa zur Seite. »Ich bin extra ein bisschen früher gekommen, weil es ist ja der erste Tag heute.«
»Trotzdem«, beharrte Frau Peters auf ihrer Meinung.
»Wollen Sie denn zu uns?«, erkundigte Henning sich freundlich.
»Nee, ich muss doch nach’m Doktor!« Frau Peters schüttelte energisch den Kopf. »Aber sagen Se ma’, wissen Se, wer gestorben is’?«
»Nein, wer denn?«, spielte Henning mit.
»Der Egon Krämer«, verriet Frau Peters. »Der aus Rheurdt.«
»Ach, das wusste ich nicht«, gab Henning zu.
»Seh’n Se, deshalb sach ich et.« Frau Peters löste äußerst zufrieden die Bremse ihres Rollators. »So, aber nu’ muss ich auch ma’ wieder, ne. Tschüsskes!«
»Tschüss, Frau Peters!« Henning nickte ihr noch einmal zu und schloss die Tür zur Redaktion auf, während sich Tessa ebenfalls fröhlich verabschiedete.
»So, hereinspaziert!« Er hielt ihr die Tür auf. »Ich dachte, ich zeig dir mal kurz, wo alles ist, aber wir müssen gleich auch schon los zu einem Termin. Das hat sich am Samstag ganz kurzfristig ergeben. Ist das okay für dich? Tut mir leid, dass das so spontan ist.«
»Ist schon gut.« Tessa trat strahlend ein. »Das kommt ja bestimmt öfter vor, da können Sie ja nichts für.«
»Nicht direkt, aber normalerweise sag ich dann trotzdem Bescheid«, versprach Henning und folgte ihr. »Übrigens, ich halte es eigentlich immer so, dass wir uns unter Redaktionskollegen duzen.«
Er hielt Tessa die Hand hin. »Also, ich bin Henning.«
»Okay! Tessa.« Sie schlug lächelnd ein. »Aber wenn ich mal mit jemandem aus anderen Redaktionen rede, sag ich zu denen besser erst mal ›Sie‹, oder?«
»Ja, bei manchen schadet das nicht.« Henning zwinkerte ihr zu und führte sie am Garderobenständer vorbei um das halbhohe Regal neben der Tür in den offenen Redaktionsraum. »So merkst du auch sofort, wer in Ordnung ist. Die Guten sagen nämlich direkt, dass du sie duzen kannst.«
»Cool«, stellte Tessa erfreut fest. »Ich war mir da nicht so sicher, wie das läuft. Nicht, dass die mich nachher nicht ernst nehmen oder so.«
»Da mach dir mal keine Sorgen. In unseren Redaktionen hier in der Gegend sind eigentlich alle ganz okay«, beruhigte Henning sie. »Unser Chef ist ein bisschen eigen, und es gibt natürlich auch ein paar Typen, mit denen man jetzt nicht unbedingt privat groß was unternehmen würde, aber mit denen wirst du wahrscheinlich sowieso nicht viel zu tun haben. Und von wegen ›ernst nehmen‹, da hab ich noch was für dich!«
Henning war mit drei schnellen Schritten an seinem Schreibtisch und wühlte kurz in seinem Papierkram.
»Hier!« Er hielt eine Art Ausweis hoch und reichte ihn Tessa. »Ist zwar nicht direkt ein Presseausweis, aber immerhin etwas. Falls dir mal jemand komisch kommt, bei einem Termin oder so, zeigst du ihm das einfach und stellst dich selbstbewusst vor. Dann wird das schon.«
»Okay, hoffentlich krieg ich das hin …« Tessa klang ziemlich unsicher.
»Klar, das schaffst du locker«, stärkte Henning ihr den Rücken. »Sag einfach deinen Namen und dass du von der Zeitung kommst, vielleicht auch direkt ’ne Frage hinterher. Dann wissen alle, dass du nicht zum Spaß da bist.«
»Okay, ich werd’s versuchen«, versprach Tessa und wirkte schon wesentlich zuversichtlicher. »Danke!«
Sie betrachtete den Ausweis genauer. Er war etwas größer als eine Visitenkarte und wies sie als freie Mitarbeiterin der Lokalredaktion aus. »Muss da nicht eigentlich auch was vom Praktikum stehen?«
»Nee, das hab ich extra nicht eintragen lassen.« Henning lächelte. »Erstens macht das so ein bisschen mehr Eindruck und zweitens wirst du hier garantiert mehr zu tun bekommen als nur Kaffee kochen und so’n Kleinkram.«
»Darf ich auch mal einen Artikel schreiben?«, fragte Tessa hoffnungsvoll.
»Ja klar, sollst du sogar«, bestätigte Henning. »Deswegen wollte ich dich auch direkt zum Termin mitnehmen, dann lernst du das nämlich sofort mal kennen.«
»Cool, dann geht’s gleich los?« Tessa freute sich offenkundig über den Plan.
»Fast«, bremste Henning die Euphorie ein wenig. »Vorher noch ganz kurz zum Überblick. Das hier ist in den nächsten Wochen nämlich dein Platz.«
Er klopfte kurz mit der linken Hand auf den vorderen der beiden großzügig dimensionierten Schreibtische, die sich direkt am breiten Fenster mit Blick auf den Marktplatz gegenüberstanden.
Henning wandte sich davon ab und nach rechts. »Und hier durch den Flur geht’s dann links in unsere Küche, daneben ist ein kleiner Lagerraum und hinten rechts die Toiletten. Also alles recht übersichtlich.«
Tessa nickte zustimmend. »Okay, dann verlauf ich mich wenigstens nicht.«
Henning lachte auf. »Stimmt, da besteht keine Gefahr. Aber hast du sonst irgendwelche Fragen zum Anfang?«
Tessa sah sich unschlüssig um. »Nein, so direkt jetzt eigentlich nicht.«
»Gut.« Henning warf einen Blick auf die Uhr. »Sollen wir dann los? Wir haben zwar noch ein bisschen Zeit, aber dann kann ich dir vor Ort vielleicht schon kurz ein bisschen was dazu erklären, wie so ein Termin abläuft.«
»Ja, gern!« Tessa schnappte sich lächelnd ihren Rucksack. »Wo müssen wir denn eigentlich hin?«
»Stimmt, das hab ich ja noch gar nicht gesagt.« Henning hielt ihr erneut die Tür auf und schloss hinter ihnen ab. »Ich hab hier vorn ums Eck geparkt. Wir müssen nämlich Richtung Geldern, zum Wäldchen an der Weseler Straße.«
»Zum Kreiselwäldchen?«, fragte Tessa überrascht. »Was machen wir denn da? Da ist doch nicht viel. Also, außer dem Wäldchen halt und den Feldern.«
»Ja, genau«, bestätigte Henning, während sie zum Auto gingen. »Und auf den Acker direkt am Wald, da sollen ein paar Windräder hingestellt werden.«
»Ach so!« Tessa erinnerte sich dunkel. »Ja, jetzt weiß ich wieder, glaub ich. Aber eigentlich nur, dass da was geplant ist.«
»Viel mehr weiß ich auch noch nicht«, gab Henning zu. »Deshalb fahren wir jetzt hin und gucken mal, was es Neues gibt.«
Während der Fahrt beließ er es bei etwas Small-Talk und sie unterhielten sich darüber, warum Tessa ausgerechnet in der Lokalredaktion ihr Praktikum machen wollte. So erfuhr er, dass sie als Kind eigentlich Detektivin hatte werden wollen. Da es in Kelverath aber kein entsprechendes Ermittlungsbüro gab, war irgendwann stattdessen ihr Interesse an Medien und dem Journalismus entflammt.
Während Tessa enthusiastisch von der Arbeit für ihre Schülerzeitung berichtete, tauchte hinter einer Kurve ein Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht auf, der quer auf der Fahrbahn stand.
Henning drosselte sofort das Tempo. »Was ist denn hier passiert …?«
Tessa sah ebenfalls nach vorn. Ein silberfarbener Kombi parkte vor dem Streifenwagen am Straßenrand, ein Rettungswagen wartete dahinter, direkt neben einem dunkelgrünen Pickup und einigen weiteren Autos.
Henning ließ seinen Wagen ausrollen. Den Pickup kannte er. Dessen Besitzer Edgar Menke wohnte in seiner Nachbarschaft und lehnte mit dem Rücken zum Geschehen an seinem Fahrzeug.
Auf der anderen Straßenseite entdeckte Henning zwei Sanitäter, die ebenfalls recht teilnahmslos direkt am Graben am rechten Fahrbahnrand standen, in dem vier Personen in Ganzkörperschutzanzügen herumhantierten und Fotos machten.
Der Blick auf den Graben selbst und damit auf den Fokus ihres Interesses war allerdings durch den Kombi verdeckt. Doch allein die Begleitumstände verleiteten Henning zu der Annahme, dass dort Leute von der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung ihrer Arbeit nachgingen. In Verbindung mit dem passiven Verhalten der Sanitäter schloss er, dass offenbar jemand ums Leben gekommen war. Er sah aus den Augenwinkeln zu Tessa hinüber.
»Sieht nach einem Wildunfall aus. Dann müssen wir wohl einen Umweg nehmen«, stellte er eilig fest, bevor seine junge Praktikantin am Ende noch mit dem Anblick einer Leiche konfrontiert werden würde. Er warf einen Blick in den Spiegel und legte den Rückwärtsgang ein.
»Aber müssen wir nicht gucken, was hier passiert ist?«, wandte Tessa prompt ein und Henning hielt inne.
»Na ja, hier werden wir jetzt eh nicht viel erfahren«, wich er aus. »Bei Einsätzen hält man sich lieber erst mal zurück und steht auf gar keinen Fall im Weg rum.«
»Ja, klar«, stimmte Tessa sofort zu. »Aber wir sind doch von der Presse. Da können wir ja auch nicht einfach so tun, als würden wir gar nichts mitkriegen, oder?«
Henning ahnte, dass sie so schnell wohl nicht locker lassen würde. Gute Voraussetzungen eigentlich, doch bei einer anderen Gelegenheit hätte er sich weit mehr darüber gefreut. Dennoch gab er sich geschlagen.
»Na gut.« Er schaltete den Motor ab. »Ich frag mal nach. Aber du bleibst bitte so lang im Wagen, ja?«
»Ja, okay«, versprach Tessa.
»Gut, bis gleich!« Henning stieg aus und marschierte auf die Sanitäter zu. Als er um den Kombi ging, tauchte auch Polizeioberkommissar Tobias Brandstädt in seinem Blickfeld auf. Er stand mit verschränkten Armen und etwas Abstand neben dem Kombi im Graben und beobachtete die in Schutzanzügen gekleideten Personen bei der Arbeit.
Henning blieb am Flatterband am Straßenrand stehen und blickte in den Graben hinunter. Viel erkennen konnte er nicht, aber wenn er sich nicht täuschte, lag dort der Revierjäger Michael Gesthuysen.
Da niemand Notiz von ihm nahm, machte er betont arglos auf sich aufmerksam. »Morgen, Tobi. Was ist denn hier passiert?«
Der Polizist sah zu ihm hoch, auch die Sanitäter blickten kurz herüber. Die übrigen Leute im Graben kümmerten sich nicht um die Störung.
Tobi bemühte sich gar nicht erst nach oben. »Morgen, Henning. Später, wir haben hier ers’ ma’ zu tun.«
»Okay«, hielt Henning sich zurück. »Ist denn hier noch lang gesperrt?«
»Dat dauert noch wat«, gab Tobi nur knapp zurück.
»Okay.« Henning schloss daraus, dass offenbar kein simpler Verkehrsunfall vorlag.
Sein Blick wanderte über die Straße und blieb schließlich wieder an seinem Nachbarn hängen, der weiterhin in Richtung Kelverath blickte. Den kurz vor der Rente stehenden Baumkletterer kannte Henning eigentlich als ziemlich neugierigen Zeitgenossen. Wenn er sich so offensichtlich desinteressiert gab, wusste er vermutlich schon eine ganze Menge …
Henning spazierte über die Straße.
»Morgen, Edgar!« Er reichte dem Mann die Hand. »Na, wie geht’s?«
»Wie soll et sein?« Edgar zuckte kurz mit den Schultern und verschränkte wieder die Arme. »Et muss, ne? Und selbs’?«
»Auch, auch. Wie immer.« Henning lehnte sich entspannt neben Edgar an den Wagen. »Sag mal, was ist denn hier los?«
»Ach, frach nich’!« Edgar winkte ab und Henning fragte nicht.
Brauchte er auch nicht.
»Unser Jäger, der Gesthuysen. Der is’ tot«, erklärte Edgar lapidar.
»Ach so.« Henning sah sich um. »Deshalb das alles hier?«
»Ja sicha deshalb. Dat machste nich’ zum Spaß.« Edgar starrte weiter stur über den Acker Richtung Kelverath. »Ich sach’ et dir, dat war getz’ kein schöner Anblick.«
»Hast du den gefunden? Was ist denn passiert?«
»Dat weiß ich auch nich’ so im Detail.« Edgar verzog leicht das Gesicht. »Ich wollt’ nur ma’ eben rüber nach Geldern, Baum angucken. Muss gefällt werden. Fahr ich hier also lang, steht da der Wagen vom Gesthuysen. Denk ich mir aber nix bei, der steht ja öfter ma’ irgendwo rum. Nu’ komm ich getz’ vorhin zurück, steht der immer noch da. Genauso wie vorher. Da mach ich mir natürlich doch Gedanken, ne? Fahr also rechts ran und guck ma’, ob der ’ne Panne hat oder so wat. Und wie ich so guck, guck ich da in den Graben und dann liegt der da. Mit Blut am Kopp und rührt sich nich’ mehr. Ich sofort runter und noch ma’ richtig geguckt und dann sofort 112 und so.«
»Und er ist wirklich tot?«, vergewisserte Henning sich.
Edgar wiegte langsam den Kopf. »Also, is’ getz’ schwer zu sagen, ne? Bin ja kein Arzt. Aber wenne mich frachs’, sah dat ganz so aus. Der hatte so’n komischen Gesichtsausdruck, so verzerrt, wenne weiß, wat ich mein’.«
Henning wusste. »Was dem wohl passiert ist …«
»Tja, man weiß et nich’«, sagte Edgar. »Is’ ja auch schon wat länger her, wie ich auf’m Weg nach Geldern war. Da stand der ja schon hier. Hab ich schon gesacht, ne?«
»Hast du«, bestätigte Henning. »Und was sagt der Tobi?«
»Der übertreibt ma’ wieder.« Edgar winkte erneut ab, dieses Mal mit eindeutig geringschätzender Note. »Hat hier direkt ein’ auf Zieh-Ess-Ei gemacht, unser Sheriff. Alles abgesperrt und bloß nix anfassen und wat nich’ all. Vonne Kripo kommen’se auch noch. Deswegen soll ich ja überhaupt noch warten, wegen Aussage und so.«
Er schüttelte den Kopf. »Kann einem schon leid tun, der Gesthuysen, ne. Ers’ dat mit seiner Frau, getz’ dat …«
»Wieso, was ist denn mit der?«, griff Henning das Stichwort auf. »Ich denk’, die hat den letztes Jahr verlassen. Ist die wieder da?«
»Nee, ganz anders«, korrigierte Edgar. »Die wollt’ die Scheidung, der hat da Post gekricht. Aber da wollt’ der nix von wissen. Nich’ sein Bier, hat er gesacht. Dat fand die wohl nich’ so prickelnd. Hat wohl schon ’nen Neuen.«
Bevor Henning näher nachfragen konnte, wurden sie unterbrochen.
»So, die Herr’n, jetz’ ma’ zum wichtigen Teil«, tönte es in ihrem Rücken.
Sie drehten die Köpfe, als Tobi um den Wagen herumkam und sich vor ihnen aufbaute. »Also, Henning, wat machste hier?«
»Warten.« Henning lächelte unschuldig. »Bin auf dem Weg zu ’nem Termin und wollte wissen, warum hier alles gesperrt ist.«
»So, so.« Tobi kniff die Augen zusammen. »Da schreibste jetz’ aber nix von inne Zeitung, oder?«
»Gibt’s denn was zu schreiben?«
»Dat seh’n wir dann, ne?«, entschied Tobi. »Wo genau willste denn hin?«
»Wir wollen zum Pressetermin wegen der Windparkanlage da oben auf’m Acker vom Lorenz«, erklärte Henning.
»Wir?« Tobi stutzte. »Wer is’ wir?«
»Hab seit heute eine Praktikantin, die ist dabei.«
Tobis Blick wanderte zu Hennings Auto. »Sach ma’, kann et sein, dat die da gerade Fotos macht?«
Henning fuhr herum und stellte alarmiert fest, dass Tessa auf dem Beifahrersitz tatsächlich eifrig mit einer Kamera hantierte und anscheinend durch die Windschutzscheibe den quer auf der Fahrbahn stehenden Streifenwagen fotografierte.
»Moment!« Henning lief eilig los und öffnete die Beifahrertür.
»Hey, Tessa, mach hier jetzt bitte erst mal keine Fotos!«, zischte er ihr zu. »Das gibt richtig Ärger, wenn gleich die Polizei kommt.«
Tessa sah ihn erstaunt an. »Die ist doch schon da.«
Zum Beweis deutete sie auf den nicht zu übersehenden Streifenwagen.
»Ja, ich mein’ die richtige«, schränkte Henning ein und war dabei glücklicherweise noch leise genug, sodass der ihm folgende Tobi den Spruch nicht hörte.
»Ich hab nur den Streifenwagen für meinen Praktikumsbericht fotografiert«, erklärte Tessa und hielt Henning das Display der Kamera hin. »Ist doch voll krass, dass wir direkt am ersten Tag einen Einsatz mitkriegen!«
»Ja, aber jetz’ hör’n wa’ ma’ mit den Fotos auf, ne?« Tobi hatte sie erreicht und übernahm selbstbewusst das Wort. »Du bis’ wer?«
Tessa sah fragend zu Henning, der ihr aufmunternd zunickte. Sie legte die Kamera ab und stieg ebenfalls aus dem Wagen.
»Tessa Kellner«, stellte sie sich vor und hielt Tobi ihren Mitarbeiterausweis vor die Nase. »Niederrhein Post. Und wer sind Sie?«
»Ich?« Tobi war kurz überrumpelt, dann drückte er den Rücken durch und übertrieb ein wenig. »Polizeioberkommissar Brandstädt, Einsatzleiter.«
»Was ist denn passiert?«, machte Tessa unbeirrt weiter und steckte ihren Ausweis wieder ein.
»Es wurde ein Unfall gemeldet und …«, setzte Tobi an, bevor er sich daran erinnerte, wer das Sagen hatte. »Also, so geht dat nich’, ja? Ich stell die Fragen, ihr antwortet und zwar hinter der Absperrung! Und keine Fotos!«
»Wir sind doch hinter der Absperrung«, warf Henning ein und deutete auf das Flatterband, das lediglich den Graben neben der Fahrbahn als verbotene Zone auswies. Während Tobis Blick seinem zur Seite gestreckten Daumen folgte, zwinkerte Henning Tessa kurz anerkennend und mit breitem Lächeln zu, das er vorsichtshalber sofort wieder ausknipste.
»Ach Mensch, jetz’ hört doch ma’ mitte Diskussionen auf«, beschwerte Tobi sich prompt. »Du weißt doch, wie dat läuft. Dat gibt doch ’n Riesentheater, wenn hier gleich die Wichtigtuer vonne Kripo auftauchen. Keine Fotos, keine Fragen, gar nix! Wir wissen ja selbs’ noch nix.«
»Schon gut«, lenkte Henning ein. »Wir sind eigentlich auch nur zufällig hier und quasi schon wieder weg. Aber wir kriegen heute noch Infos, was wir veröffentlichen dürfen, oder? Eine Meldung müssen wir morgen schon bringen. So was spricht sich ja heute direkt im Ort rum.«
»Dat regeln wir später«, wich Tobi aus. »Die Kollegen woll’n dich bestimmt auch befragen, weil du jetz’ hier wars’.«
»Was spricht sich denn rum?«, unterbrach Tessa das Gespräch neugierig. »War das gar kein Wildunfall?«
Gespannt beobachtete Henning den verdutzten Polizisten.
»Nee, wohl nich’«, gab Tobi schließlich zu und hob sofort warnend den Finger. »Aber Details und so gibt et später. Klar?«
»Klar«, bestätigte Henning eilig, bevor Tessa weiter drängeln konnte. »Können wir denn wenigstens kurz hier durch oder müssen wir ’nen Riesenumweg fahren?«
Genervt winkte Tobi ab und marschierte zurück zum Graben. »Macht hinne. Ich kann ja nich’ alles im Blick haben.«
Henning warf Tessa einen vielsagenden Blick zu. »Okay, lass uns fahren.«
Eilig sprangen sie in den Wagen und Henning schlängelte sich am Streifenwagen vorbei. Nach einem letzten Blick in den Rückspiegel nahm er Kurs auf den Kreisverkehr, dem das Wäldchen seinen Namen verdankte.
»Meinst du, die Polizei gibt uns wirklich Infos?«, fragte Tessa plötzlich.
»Ja, klar.« Henning warf ihr einen überraschten Blick zu. »Warum nicht?«
»Ich weiß nicht … Weil der Polizist grad ’n paar Mal gesagt hat, dass wir keine Fragen stellen sollen.«
»Ach so, das ist normal.« Henning lächelte. »Der Tobi will einfach nur, dass wir nicht was Falsches veröffentlichen oder irgendwas, das noch geheim bleiben soll. Das ist oft so, nicht nur bei der Polizei. In dem Fall warten wir ein bisschen ab, ob was kommt, und fragen dann halt mal nach. Wenn es wirklich was zu berichten gibt, ist’s eben wichtig, dass man sich nicht abwimmeln oder einschüchtern lässt. Wir müssen dann vor allem zwei Fragen klären: Stimmt das, was man uns erzählt, und ist das alles? Meistens ist es ja auch so, manchmal aber eben nicht. Und dann muss man halt dranbleiben, bis man weiß, was wirklich passiert ist. Oder eben selbst recherchieren, wenn man keine Infos bekommt oder Zweifel hat. Im Journalismus ist am Ende jedenfalls nichts wichtiger als die Wahrheit.«
»Hm«, machte Tessa und Henning freute sich über seinen offenbar eindrucksvollen Vortrag.
Tessa drehte den Kopf. »Lag da gerade eben einer tot im Graben?«
Sofort war Hennings Freude wieder verflogen. Er warf ihr seinerseits einen kurzen Seitenblick zu und stellte erleichtert fest, dass sie ziemlich entspannt wirkte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte er sicherheitshalber.
»Also, mein Dad hat auch schon mal ein Reh erwischt und da war nicht so viel los mit Polizei und allem«, erklärte Tessa. »Und ich guck ja auch Serien und da sind auch immer so Typen mit diesen Anzügen mit Kapuze. Und die sind immer da, wo eine Leiche liegt.«
»Ja, das stimmt«, räumte Henning zögernd ein.
»Und?« Tessa sah ihn erwartungsvoll an. »Du kannst mir das ruhig sagen. Ich bin ja kein Kind mehr.«
Wieder zögerte Henning, doch ihm fiel beim besten Willen kein Gegenargument ein.
»Also gut.« Er gab sich einen Ruck. »Der Mann, mit dem ich da zuerst geredet hab, das ist einer meiner Nachbarn. Und der sagte, er hätte da jemanden im Graben gefunden und der wär wohl schon tot gewesen.«
»Krass«, befand Tessa. »War das ein Jäger?«
Henning drehte erneut kurz den Kopf. »Wieso? Kennst du jemanden, der jagt?«
»Nee, hab nur gedacht, weil da an der Seite gerade ein Wagen stand, wo keiner drin saß. Und da war hinten was von wegen ›Jäger‹ draufgeklebt.«
»Ach so!« Henning atmete erleichtert auf und bog in den Kreisverkehr ein. »Gut beobachtet! Ja, das war wohl der Revierjäger hier. Gesthuysen heißt der.«
»Oh!« Tessa presste nachdenklich die Lippen aufeinander. »Vielleicht kenn ich den dann doch. Wir waren in der Sechsten mal für ’nen Wandertag im Wald und ich glaub, der hat uns da die Bäume gezeigt und wie man die Blätter unterscheiden kann.«
»Das kann gut sein, der macht auf jeden Fall auch Führungen im Wald.« Henning warf ihr erneut einen Blick zu. »Aber sonst kanntest du ihn nicht?«
»Nö«, gab Tessa leichthin zurück und deutete nach vorn. »Ist hier der Termin?«
Hennings Blick folgte ihrem Zeichen und er entdeckte ebenfalls das große Schild am Straßenrand, das auf den geplanten Windpark hinwies.
»Ja, genau.« Er ließ den Wagen ausrollen und bog von der Straße auf den an dieser Stelle einigermaßen verdichteten Boden ab, der offenbar als Präsentationsfläche gedacht war. Ein paar Reifenspuren zeugten von früheren Besuchern, ansonsten lag der Acker ziemlich einsam da. Nur ein kleiner Anhänger, den Henning als Generator zu identifizieren glaubte, stand rund zwanzig Meter entfernt.
»Sind wir zu spät?«, fragte Tessa, während sie sich umsah. Rechts lag das Wäldchen, links erstreckte sich das kahle Feld, das rund hundert Meter vor ihnen abfiel und dort irgendwann außerhalb des Sichtfelds auf die Straße traf, die mit Sicherheit noch immer gesperrt war.
Auch Henning sah sich verwundert um.
»Eigentlich sind wir sogar noch ein paar Minuten zu früh«, stellte er fest und schaltete den Motor ab. »Warten wir einfach mal. Der Sprenger wollte heute jedenfalls auch selbst herkommen.«
»Sprenger?« Tessa sah ihn mit großen Augen an.
»Ja, Lennart Sprenger«, wiederholte Henning. »Der will hier den Windpark bauen. Wieso, kennst du den?«
»Ja. Nein …« Tessa musste sich kurz sortieren. »Also, den Lennart kenn ich nicht, aber den Arne, das ist sein Bruder. Also Halbbruder.«
»Ach so, verstehe«, behauptete Henning in der Hoffnung auf weitere Details. »Und woher kennst du diesen Arne?«
Tessa rümpfte die Nase. »Der ist auf’m Gymnasium in Geldern. Der macht da auch die Schülerzeitung und wir haben letztes Jahr beim Kreis-Wettbewerb gegen die verloren. Jetzt nervt der voll damit und kommt immer an, dass die viel besser sind als wir und so. Mega ätzend. Lieke, also die ist meine Freundin, die nennt den deshalb immer Arschne. Der hält sich voll für was Besseres.«
»Klingt ja sehr sympathisch«, stellte Henning sarkastisch fest. »Ist seinem Bruder wohl ziemlich ähnlich.«
»Kennst du den Lennart?«, vergewisserte Tessa sich.
»Ich hab den nur schon mal bei einem Termin letztes Jahr bei der Energie-Messe in Rheinberg erlebt, da kam der ziemlich arrogant rüber. Liegt wohl ein bisschen in der Familie.«
»Wieso?« Tessa drehte neugierig den Kopf.
Henning biss sich angesichts der unprofessionellen Äußerung kurz auf die Lippe. »Ach, der Onkel von denen ist doch der Schlager. Der mit der Fleischfabrik in Geldern, an der Grenze zu Kevelaer.«
»Ja, ich weiß.« Tessa verzog das Gesicht. »Der Typ ist voll eklig.«
»Und hält sich trotzdem für den Größten«, stimmte Henning zu. »Aber mit ein paar Millionen im Rücken kann man sich auch einiges erlauben.«
»Oh, stimmt …« Tessa schob nachdenklich die Augenbrauen zusammen. »Meinst du, der Lennart hat das Geld für den Windpark hier von dem?«
Henning zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein, keine Ahnung. Als er das Projekt und seine Pläne dafür auf der Messe vorgestellt hat, hieß es noch, dass er nach Investoren und nach geeigneten Flächen suchen würde. Da stand das aber alles noch ganz am Anfang.«
»Hm«, machte Tessa. »Ich hab gedacht, man kann so was immer erst planen, wenn man weiß, wo das dann steht. Wegen der Effizienz und so.«
»Ja, richtig geplant war damals wahrscheinlich noch gar nichts, das war wohl eher provisorisch«, mutmaßte Henning überrascht. »Interessierst du dich für Windkraft oder wieso weißt du das?«
»Hatten wir mal in Erdkunde«, erklärte Tessa. »Und in der Projektwoche, da ging’s um den Klimawandel und erneuerbare Energien und so. Aber ich weiß eigentlich nur noch, dass das mit den Windrädern alles mega kompliziert ist, weil’s in Deutschland immer für alles so viele Gesetze und Regeln gibt und das alles voll lang dauert. Deshalb kriegen die das ja auch nicht hin mit den Klimazielen.«
»Ich merk schon, du bist gut informiert«, lobte Henning lächelnd. »Dann kannst du auch leichter rausfinden, wer dir später was Vernünftiges sagt und wer Quatsch erzählt.«
»Meinst du hier beim Termin?«, fragte Tessa. »Wieso soll denn da jemand Quatsch erzählen?«
»Ach, da wird meistens was geschönt.« Henning winkte ab. »Es wird wahrscheinlich um die Planungsphase und die Bauzeit und so was alles gehen. Da sollten wir dann auf jeden Fall prüfen, ob das zumindest einigermaßen realistisch ist, bevor wir das veröffentlichen. Es wird ja gern mal behauptet, dass alles ganz schnell und ohne Probleme läuft und dann sieht’s am Ende doch ganz anders aus.«
»Hm«, machte Tessa erneut. »Und wie merkt man das, dass da jemand nicht die Wahrheit sagt?«
»Letztendlich durch Recherche«, sagte Henning. »Im Idealfall ist man natürlich schon gut vorbereitet und stellt sich im Zweifel einfach ein bisschen doof. Das ist ja immer besser als umgekehrt. Und dann bekommt man meistens auch mehr zu hören, als man eigentlich braucht, weil die Leute ja auch gern von sich selbst oder von dem, was sie so machen, erzählen. So versteht man dann meistens die Zusammenhänge besser. Aber solche Infos nutzen wir dann nur indirekt. Zitieren können wir nur, wenn wir offen und ehrlich fragen.«
»Okay …« Tessa war das für den Anfang etwas zu viel und vor allem zu umständlich. »Aber ich weiß ja jetzt kaum was über den Windpark. Wenn die jetzt was sagen und das eigentlich gar nicht stimmt, wie kann ich das denn dann merken?«
»In dem Fall jetzt können wir beim Bauamt nachfragen, die kommen bestimmt auch. Die werden auf jeden Fall wissen, was da realistisch ist.«
Henning lächelte Tessa noch einmal aufmunternd zu. »Vieles in unserem Job ist einfach Übungssache. Je länger man dabei ist, umso mehr Erfahrung bekommt man und dann weiß man schnell, wo man im Zweifel nachfragen kann. Meistens ergibt sich das auch schon von selbst, wenn man solche Termine hat und da dann diverse Leute trifft.«
Wie auf Kommando hörten beide plötzlich das Geräusch eines Traktors, der über den Acker herantuckerte.
»Wenn man vom Teufel spricht …« Henning deutete hinüber. »Das ist der Georg, der wird wissen, was los ist.«
Sie stiegen aus und Henning winkte Lorenz zu, der den Gruß erwiderte, bevor er mit dem Traktor in einem Bogen um den Anhänger herumkurvte und unmittelbar davor anhielt. Der Motor verstummte und Lorenz kletterte von seinem Gefährt. Angesichts des aus ihrer Perspektive riesigen, kräftigen Mannes hielt Tessa sich zunächst lieber etwas im Hintergrund, als Henning ihm entgegen ging.
»Na, Henning, bissken spät dran, wa?«, grüßte Lorenz und lachte schallend.
»Ach ja?« Henning sah sich um. »Sieht aber nicht so aus, als ob wir was verpasst hätten.«
»Nee, habt ihr auch nich’.« Lorenz grinste und nickte Tessa freundlich zu, was ihre Bedenken zumindest etwas schmälerte.
»Dann ist gut«, stellte Henning fest. »Ach so, darf ich vorstellen, Tessa Kellner, sie macht ihr Praktikum bei mir. Und das ist Georg Lorenz, dem gehört das alles hier.«
»Noch«, schränkte der Landwirt ein. »Morgen!«
»Hallo«, grüßte Tessa zurückhaltend.
»Ich wollte ihr eigentlich einen Pressetermin zeigen«, fuhr Henning fort. »Weißt du, warum hier sonst noch keiner ist?«
»Dat is’ kurzfristig abgesagt worden«, erklärte Lorenz. »Dem Sprenger is’ wat dazwischengekommen.«
»So, so.« Henning deutete vage auf die Reifenspuren. »Wer hat denn außer uns auch keine Info gekriegt?«
»Keine Ahnung.« Lorenz zuckte ebenso ratlos wie desinteressiert mit den Schultern. »Hier war heut’ jedenfalls keiner, soviel ich weiß. Also, außer mir, ne. Hab vorhin den Generator hier hingebracht und getz’ hol ich den halt wieder ab.«
»Hast du dabei zufällig den Gesthuysen gesehen?«, erkundigte Henning sich möglichst beiläufig.
»Nee, wieso?« Lorenz wirkte irritiert. »War der auch eingeladen oder warum frachste?«
»Ach, nur so«, wich Henning aus. »Na gut, dann sind wir auch schon wieder weg. Oder passiert hier heute doch noch was?«
»Weiß ich nix von.« Lorenz rückte mit einer Hand seine Mütze zurecht. »Ich koppel noch eben dat Ding an und dann mach ich mich vom Acker.«
Henning quittierte den Gag grinsend mit einem hochgestreckten Daumen und einem Zungenschnalzen. »Wenn wir ’ne Meldung über den geplatzten Termin machen, wird das die Schlagzeile.«
»Ja klar.« Lorenz drehte sich lachend zu seinem Anhänger um und machte sich an der Kupplung zu schaffen. »Dat gibt aber sicher Ärger, wenn du wat da drüber schreibs’. Der Sprenger war nich’ gut drauf, wie er angerufen hat.«
»Wieso nicht gut drauf?«, hakte Henning sofort nach. »War irgendwas?«
»Weiß ich auch nich’!«, gab Lorenz zurück. Er zerrte den Anhänger mit einer Hand auf die Kupplung am Traktor und grinste anschließend. »Ich mach’ ja nur die Drecksarbeit. Aber der klang halt so, wie wenn er grad im Stress wär.«
»Muss ja was wichtiges gewesen sein, wenn deshalb der Termin ausfällt«, stellte Henning fest. »Hat er nichts gesagt?«
»Nö. Nur dass er sich später noch mal meldet wegen ’nem neuen Termin. Dann braucht der ja Strom.« Lorenz gab dem Generator einen Klaps. »Aber dann wird der dir bestimmt auch ’ne Mail schicken oder so. Seh’n wa’ dann. Ich muss wieder, hab noch wat zu tun!«
Damit schwang er sich auf seinen Traktor. Henning verzichtete auf weitere Nachfragen und verabschiedete sich, während Lorenz den Motor startete und kurz die Hand zum Gruß hob. Schon tuckerte der Traktor wieder davon, dieses Mal mit dem Anhänger im Gepäck.
»Hm«, machte Henning. »Normalerweise laufen unsere Termine nicht so ab. Muss wohl der Vorführeffekt sein.«
Tessa zuckte mit den Schultern. »Macht ja nichts. Kann ich trotzdem noch ein paar Fotos machen?«
»Meinetwegen, aber was willst du denn hier fotografieren?«, wollte Henning wissen.
»Vielleicht das Schild?«, schlug Tessa vor. »Für meinen Praktikumsbericht. Oder falls wir nachher doch noch eine Meldung schreiben?«
»Na ja, da wird wohl heute nichts mehr kommen, schätze ich.« Henning kratzte sich kurz am Hinterkopf. »Wenn so ein Termin so kurzfristig abgesagt wird, will der Sprenger sicher nicht, dass der Grund später in der Zeitung steht.«
»Oh, okay.« Tessa schien enttäuscht.
»Aber unabhängig davon, warum hast du eigentlich die Kamera dabei? Ist das dein Hobby?«, griff Henning ihre Frage auf.
»Ja, schon.« Plötzlich wirkte Tessa schüchtern. »Also, ich hab das nicht wirklich gelernt, aber ich mach gern Fotos. Und die neue Kamera hab ich jetzt zu Weihnachten bekommen.«
»Ach so!« Henning deutete lächelnd zum Wagen. »Dann hol’ sie mal. Ist eigentlich keine schlechte Idee mit den Fotos. Selbst wenn wir die nicht direkt für einen Artikel brauchen können, aber dann nutzen wir die Zeit jetzt und üben hier einfach mal. Für deine eigenen Artikel wäre es auf jeden Fall super, wenn du direkt auch passende Fotos machen kannst.«
»Cool, voll gern!« Tessa strahlte und lief zum Wagen. Sekunden später war sie einsatzbereit und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Ich mach erst mal so ein paar Panoramabilder, okay?«
»Ja, mach einfach erst mal, wie du meinst.« Henning betrachtete den kahlen Acker. Die Häuser Kelveraths waren in der Ferne nur zu erahnen. Er ließ den Blick über die weite Leere schweifen, bis er an den ersten Bäumen des Kreiselwäldchens hängen blieb.
»Für die Aufmacherbilder ist eigentlich auch immer ein bisschen Tiefe gut …« Henning sah sich suchend um. »Also mit dem zentralen Motiv vorn und dann mit etwas Abstand noch ein schöner Hintergrund. Aber hier ist jetzt nicht so viel, außer dem Schild und meinem Wagen.«
Tessa musterte die Umgebung und deutete schließlich Richtung Straße. »Ich könnte doch die Reifenspuren da fotografieren, mit dem Acker und dem Wald dahinter?«
»Meinst du?« Henning folgte ihr und betrachtete den leicht matschigen Boden unschlüssig. »Ich weiß nicht, ob das auf einem Foto wirkt.«
»Moment.« Tessa fackelte nicht lang und hockte sich mit der Kamera im Anschlag an den Fahrbahnrand. Mit ein paar schnellen Schritten positionierte Henning sich neben ihr und behielt die Straße im Blick.
»Guck mal, so vielleicht?« Tessa hielt ihm das Display der Kamera hin. Sie hatte sich die deutlichste und tiefste Reifenspur ausgesucht und so in Richtung Hang fotografiert, dass man den Abdruck im Boden und im Hintergrund unscharf die Bäume des Kreiselwäldchens mit einem Stück des Himmels sehen konnte.
»Da könnte man ja dann vielleicht was vom ökologischen Fußabdruck in die Bildunterschrift schreiben«, schlug sie vor. »Oder ist das doof, weil es kein richtiger Fußabdruck ist?«
»Nein, das ist eine gute Idee«, lobte Henning. »Das ist ja sowieso nur eine Metapher, da fällt doch eh alles Mögliche drunter. Zum Beispiel Autos.«
Er betrachtete das Foto genauer und nickte ihr beeindruckt zu. »Wirklich gut! Wenn ich mal selbst Fotos machen muss, bin ich froh, wenn die einigermaßen zu gebrauchen sind. Aber du hast echt ein Händchen dafür.«
»Danke!« Tessa strahlte. »Dann mach ich noch ein paar, okay?«
»Ja, gern.« Henning blieb am Straßenrand stehen und beobachtete Tessa, die aus den verschiedensten Winkeln knipste und schließlich von der gegenüberliegenden Straßenseite das Hinweisschild fotografierte.
»Okay, ich glaub, mehr gibt’s hier nicht«, stellte sie nach ein paar Minuten fest. »Oder fällt dir noch was ein?«
»Nee.« Henning lachte. »Ich hätte nur schnell zwei Fotos vom Schild gemacht, wenn überhaupt. Das mit den Bildern überlass ich lieber dir, du hast eindeutig das bessere Auge dafür.«
Tessa blickte verlegen nach unten auf ihre Kamera. »Ach, na ja, ich kann bestimmt noch viel lernen. Und da muss man ja auch noch ein bisschen nachbearbeiten und korrigieren.«
»Selbst wenn, aber schon die Bildkomposition und … wie heißt das noch … Motivdesign?« Henning zuckte lächelnd mit den Schultern. »Ich kenn noch nicht mal die richtigen Begriffe. Aber du hast auf jeden Fall ein gutes Auge dafür, wie du Details in Szene setzt. Wenn ich da an die Bilder denk, die wir teilweise von Privatleuten bekommen … Da sind deine um Welten besser.«
»Danke …« Tessa war das Lob sichtlich unangenehm und sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Aber dann lass uns trotzdem mal wieder fahren«, schlug Henning vor. »Mir wird jetzt auch langsam kalt.«
»Ja, mir auch.« Tessa folgte ihm zum Wagen. »Kann ich die Bilder eigentlich auf dem Computer in der Redaktion bearbeiten?«
Henning nickte. »Sollte kein Problem sein. Da ist noch irgendeine Software drauf, die hat der Mark immer benutzt, wenn der aus Geldern rübergekommen ist und hier für uns Fotos gemacht hat.«
»Macht er das nicht mehr?«, fragte Tessa neugierig, als sie einstiegen.
»Nein, schon ’ne ganze Zeit nicht mehr.« Henning startete den Wagen. »Der ist mittlerweile nach Wesel umgezogen und seitdem haben die in Geldern immer wechselnde Leute. Aber die Sonja, die da die Redaktion leitet, hat das trotzdem ganz gut im Griff. Obwohl keiner gern zu uns rüberkommt, weil wir ja meistens nur ein Bild brauchen. Das lohnt sich dann einfach nicht für die.«
Er lächelte. »Aber wenn deine Fotos gut ankommen, wäre zumindest das Problem ja schon gelöst.«
Schon auf dem Rückweg spürte Henning, dass es im Ort hektischer zuging als sonst. Vor der Redaktion lief ihnen prompt eine alte Bekannte über den Weg. Frau Peters winkte eifrig herüber.
»Herr Schuster! Wissen Se, wer getz’ gestorben is’?«
»Ja, der Herr Krämer aus Rheurdt«, gab Henning zurück und unterdrückte ein Grinsen, als sie der Seniorin ein Stück entgegengingen.
»Wer?« Frau Peters runzelte die Stirn. »Nee, der Herr Gesthuysen. Unser’n Jäger hier, den hat et erwischt.«
»Ach, echt?« Henning gab sich ahnungslos. »Wie das?«
»Den ham’se wohl erschossen!« Die Stimme von Frau Peters klang bedeutungsschwer und düster. »In seinem Auto. Dat war bestimmt ’n Überfall! Oder Bandenkriech!«
»Bandenkrieg?« Tessas Überraschung war nicht gespielt. »Wer sagt denn so was?«
»Na, wo der doch immer mit’m Gewehr unterwechs gewesen is’.« Frau Peters hob mahnend den Zeigefinger. »Et is doch nur ’ne Frage der Zeit, dat da wat passiert. Die Dinger sind doch so wat von gefährlich!«
»Na ja, als Jäger …«, wandte Henning ein. »Da kann man ja schon ganz gut mit so was umgehen. Aber wieso denn Bandenkrieg, haben Sie da was gehört?«
Frau Peters war voll in ihrem Element. »Ja sicha! Wissen Se dat nich’, die sind doch in Duisburch zu Gange. Nich’ bloß eine! Und die fahr’n doch imma nach Holland, wegen Drogen und so. Da hat der bestimmt wat mit anne Mütze, wo der doch den Wald hier so gut kennt.«
»Den Wald?« Henning entging der Zusammenhang zwischen dem Todesfall und dem Kelverather Forst.
»Ja, da verstecken die sich doch!«, raunte Frau Peters. »Und machen geheime Treffen.«
»Davon hab ich ja noch gar nichts gehört«, lockte Henning.
»Nee, natürlich nich’! Dat machen die doch immer nachts«, ließ Frau Peters ihn prompt wissen. »Wenn et dunkel is’!«
Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Aber schreiben Se getz’ bloß nich’, dat Se dat von mir haben, ne!«
»Nein, natürlich nicht!«, versicherte Henning eilig.
»Dann is’ gut.« Frau Peters entspannte sich und packte ihren Rollator. »Ich muss getz’ auch wieder. Und Sie ham ja auch noch wat zu tun, ne?«
»Allerdings«, bestätigte Henning eilig. »Einen schönen Tag noch und danke für die Info!«
»Da nich’ für.« Frau Peters schob zufrieden ab. »Tschüsskes!«
Tessa sah ihr hinterher, bis sie außer Hörweite war.
»Stimmt das?«, fragte sie. »Wurde der Gesthuysen wirklich erschossen?«
»Nein, schon gar nicht in seinem Auto. Der lag ja ein ganzes Stück davon weg.« Henning schüttelte beruhigend den Kopf. »Da hat sich mal wieder jemand was ausgedacht. Komm, lass uns reingehen.«
Er setzte sich wieder in Bewegung und Tessa folgte ihm nachdenklich.
»Aber warum denkt man sich das aus?« Sie runzelte die Stirn. »Was bringt das denn?«
Henning lächelte, während er die Tür aufschloss. »Setz’ dich mal ’ne halbe Stunde ins Wartezimmer beim Hausarzt und hör einfach nur zu, dann weißt du sofort Bescheid. Es gibt hier so einige ältere Leute wie die Frau Peters und die verbringen da ’ne Menge Zeit. Irgendwann sind alle Zeitschriften durchgeblättert und dann hat man eben Langeweile.«
Er trat beiseite und hielt Tessa die Tür auf.
»Ah, okay … Danke!« Sie trat ein. »Meintest du das, als du vorhin dem Polizisten gesagt hast, dass sich das rumspricht?«
»Gut aufgepasst!«, lobte Henning und schloss die Tür hinter sich. »Es ist immer dasselbe, wenn hier mal irgendwas außer der Reihe passiert. Irgendwer kriegt’s mit und dann rollt die Lawine los. Und jeder, der’s weitererzählt, erfindet noch irgendwas dazu, um’s interessanter zu machen. Ist für uns Fluch und Segen zugleich.«
»Wieso?«, hakte Tessa sofort nach.
»Na ja, einerseits kriegt man viel mit und weiß, was gerade Thema im Ort ist. Dafür muss man eigentlich nur ständig unter die Leute gehen, ins Gespräch kommen und dann einfach nur noch zuhören.«
»Ah, dann hast du deshalb vorhin mit deinem Nachbarn gesprochen?«, fragte Tessa.
»Ja, sozusagen«, gab Henning zu, während er seine Jacke an die Garderobe hängte. »Das war dann sogar ein echter Glückstreffer, dass er auch derjenige war, der den Gesthuysen da gefunden hat. Je besser man die Leute schon kennt, umso mehr erfährt man von denen. Man muss dann halt nur gucken, ob derjenige auch wirklich Bescheid weiß. Zitate sind nämlich immer gut für so einen Artikel, aber die sollten auch der Wahrheit entsprechen. Das ist dann der komplizierte Teil.«
»Kann ich mir vorstellen.« Tessa grinste frech und zog sich die Mütze vom Kopf. »Mein Opa sagt immer, dass die Leute viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Und er hat da immer so einen Spruch über Niederrheiner.«
»Bestimmt den vom Hanns-Dieter Hüsch«, mutmaßte Henning. »Dass der Niederrheiner zwar nichts weiß, aber trotzdem alles erklären kann?«
»Ja, genau, den Spruch mein’ ich!« Tessa lachte. »Den sagt mein Opa echt immer. Außerdem ›Sicheres Auftreten bei absoluter Ahnungslosigkeit‹ und manchmal auch noch ›Keine Ahnung, aber davon viel!‹.«
»Dein Opa weiß Bescheid«, stellte Henning amüsiert fest. Er ging zu seinem Schreibtisch und legte seinen Notizblock und den Schlüsselbund ab.
Tessa nickte nachdenklich, während sie ihren Rucksack abstellte und ihre Jacke über die Lehne ihres Schreibtischstuhls hängte. »Aber warum wollte der Polizist dann nichts sagen? Der müsste doch eigentlich am meisten wissen, oder?«
Henning winkte ab. »Von denen hörst du erst was, wenn die sich absolut sicher sind. Dann wissen hier aber meistens auch schon alle anderen Bescheid.«
Tessa setzte sich. »Ist das dann nicht irgendwie doof, wenn wir auch erst abwarten, bis wir nachfragen?«
Henning zuckte mit den Schultern. »Im Prinzip schon, aber es geht halt nicht anders. Die Leute können ja privat reden, was sie wollen, aber wenn wir was veröffentlichen, muss das eben auch vernünftig abgesichert sein. Da unterscheiden sich Journalismus und Ermittlungsarbeit gar nicht so sehr, auch wenn das viele in unserer Branche leider gern mal vergessen und einfach vorschnell irgendwelche Gerüchte oder Halbwahrheiten raushauen. Aber so, wie die Polizei eindeutige Beweise braucht, so brauchen wir für seriösen Journalismus zuverlässige Belege. Und dazu gehören in erster Linie vertrauenswürdige Quellen.«
»So wie dein Nachbar?«, fragte Tessa.
Henning wiegte seinen Kopf hin und her. »Na ja, er hat ja eigentlich nicht viel mehr gesagt, als dass er jemanden im Graben gefunden und den Notarzt gerufen hat. So lang uns aber niemand offiziell den Tod bestätigt, wären das strenggenommen nur Spekulationen und das ist unseriös. Deshalb müssen wir auf die Meldung der Polizei warten. So sind leider die Spielregeln für unseren Job.«