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Ein toller Job, eine gemeinsame Wohnung, eine eigene Familie … All das meint Johanna mit 30 erreicht haben zu müssen. Doch als ihre langjährige Beziehung völlig überraschend zerbricht, verliert sie den Boden unter den Füßen.
Um ihrem Schmerz zu entkommen, scheint eine flüchtige Affäre mit dem deutlich jüngeren Manuel der passende Ausweg zu sein. Bis sie den charmanten Alex kennenlernt, der genau wie sie von Heim und Familie träumt. Als wäre das nicht schon genug, tritt plötzlich Chris wieder in Erscheinung – Johannas erste große Liebe – und reißt tiefe, scheinbar verheilte Wunden wieder auf.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Nadine Meyers
Fucking Love
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Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung und Satz: Emily Bähr
Dieses Werk ist auch als Taschenbuch erschienen.
ISBN: 9783759217141
Veröffentlicht über tolino media
Playlist
Fick dich! – Dean Lewis – Looks like me
Kapitel I – Wanda – Wenn ich zwanzig bin
Kapitel II – Amistat – Ready Now
Kapitel III – Fly by midnight – Tomorrow
Kapitel IV – Freya Ridings – Love is fire
Kapitel V – Jack Johnson – Do you remember
Kapitel VI – Lily Meola – Daydream
Kapitel VII – The Luminieers – Sleep on the floor
Kapitel VIII – Astrid S – I do
Kapitel IX – Reamon – Supergirl
Kapitel X – Band of Horses – The Funeral
Kapitel XI – Rhys Lewis – Better Than Today
Kapitel XII – Bülow – booty call
Kapitel XIII – Best I ever had (Grey Sky Morning) – Vertical Horizont
Kapitel XIV – Uncover – Zara Larsson
Kapitel XV – Dilla – Girls
Kapitel XVI – Robin Schulz und Tom Walker – Sun will shine
Kapitel XVII – Semisonic – Closing time
Kapitel XVIII – Lizzy McAlpine – ceilings
Kapitel XIX – Jake Isaac – Better this way
Kapitel XX – Here Before – Coyote Island
Kapitel XXI – Passenger – Sword from the stone
Kapitel XXII – The Nice Nice – Hi Talk
Kapitel XXIII – Olivia Rodrigo – Vampire
Kapitel XXIV – Dylan Conrique – Birthday Cake
Für alle, die 30 sind und das Gefühl haben,
immer noch nicht im Leben angekommen zu sein.
Fick dich!
»Hanna, es tut mir leid. Wirklich.«
Ich beiße mir auf die Lippen. Tränen laufen mir gegen meinen Willen über die Wangen. Ich stelle meine Tasche ab und schließe die Wohnungstüre hinter mir. Mit dem Rücken zur Tür sinke ich auf den Boden.
»Sag bitte was.« Lukas Stimme zittert.
»Fick dich«, flüstere ich ins Telefon.
Da ist es wieder: Das Gefühl, das ich so lange verdrängt hatte. Diese Leere, dieser Schmerz, in meiner Brust. Ich hasse dich dafür, dass du diesen Menschen aus mir gemacht hast. Ich hasse dich.
»Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Das war so nicht geplant.«
Ich verdrehe die Augen und blicke mich in meiner Wohnung um. Das Weinglas von gestern Abend steht noch auf dem Tisch. Meine Sportklamotten liegen auf dem Boden. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. »Du weißt es nicht, wie dein Schwanz in sie gekommen ist?«, schreie ich ins Telefon. »Wir haben uns ne Wohnung angesehen! Letzte Woche! Und dann fickst du mit dieser Tussi?«
»Bitte Hanna. Es tut mir wirklich leid. Ich habe den Vermieter schon informiert.«
»Schön, dass er es vor mir weiß. Fick dich!« Ich kann die Tränen nicht aufhalten.
Fuck.
Zwanghaft versuche ich, meine Stimme zu halten. »Wie lange?«
»Was wie lange?«
»Stell dich nicht doof! Wie lange fickst du die Schlampe schon?« Meine Stimme wackelt. Ich weiß, wie er diese Ausdrücke hasst. Ich scheiße auf seine Etikette.
»Sie ist keine Schlampe. Das ist so passiert. Einmal.«
»Das ist mir scheißegal. Wann?«
»Vor drei Wochen. Ich war verwirrt, ich wollte es dir sofort sagen. Wir zwei, das geht einfach nicht mehr«, wimmert er.
»Ach, das geht nicht mehr? Das ist der Grund, warum du mich nicht mal mehr ficken wolltest oder?«
Ich höre ein Glucksen am anderen Ende des Telefons.
Mir wird schlecht. »Sitzt die Bitch gerade neben dir?« Ich kann es nicht fassen. In mir breitet sich eine tiefe Wut aus. Meine Stimme wird auf einmal ganz klar. »Fuck, Lukas, du lässt dir gerade das Händchen halten?« Ich lasse ihn nicht mehr zu Wort kommen. »Mehr Mumm hattest du nicht? Vier Jahre, vier verschissene Jahre und dann das! Fick dich, echt! Ich wünsch dir ein tolles Leben!«, sage ich und lege auf.
Mein Kopf dröhnt und mein Hals pulsiert. Während ich das Gesicht in den Händen vergrabe, versuche ich, meine Gefühle zu ordnen.
Dieses verfickte Arschloch!
Ich schluchze und streiche mit dem Handrücken über die Augen. Lukas hat mich gerade verlassen. Noch schlimmer: Er hatte mich beschissen und dann verlassen. Ich umklammere die Knie. Ein stechender Schmerz breitet sich in der Magengegend aus. Die Tränen laufen unaufhörlich, doch ich versuche, den Schmerz vor mir selbst zu verbergen. Ich bin stark und nicht abhängig von einem Mann, auch nicht von diesem, sage ich mir.
Verfickter Wichser.
Doch meine nicht ausgesprochenen Worte kommen nicht an. Sie sind nur müde Fetzen, die leise nachhallen und schließlich verschwinden. Sie zeigen keinerlei Wirkung, weil ich tief im Inneren weiß, dass ich mich selbst belogen habe. Es war eine Lüge, dass er es wert wäre, eine gemeinsame Zukunft mit ihm aufzubauen, dass er es wert wäre, mich wieder zu öffnen. Er war der erste Mann nach ihm, dem ich wieder Zugang zu meinem Herzen gewährt hatte. Wenn auch zögerlich. Und es endete erneut in einer Vollkatastrophe.
Selbstzweifel kommen in mir hoch. Es ist schon wieder passiert.
Fuck.
Weitere Tränen kullern mir über die Wangen.
»Arschloch!«, schreie ich und rapple mich vom Boden auf, dann laufe ich ins Schlafzimmer. Mein Herz pocht und die Augen brennen. Ich lasse mich aufs Bett fallen, tippe ›Fick dich, Arschloch‹ in mein Handy und drücke auf Senden.
Die letzten vier Jahre verschwimmen vor meinen Augen. Unser Kennenlernen, unser erstes Date. Der Abend, an dem Lukas mich nach dem Kino geküsst hat. Die Urlaube und die Wohnungsbesichtigung im letzten Monat für unser erstes gemeinsames Heim.
Ich drehe mich auf den Rücken und blicke auf mein Handy. ›Nachricht gelesen.‹
Einige Zeit liege ich nur da und starre an die Decke. Ich fühle mich leer. Durchzogen mit dem quälenden Schmerz der Ablehnung. Es brennt wie Feuer. Dann wähle ich die Nummer von Jasmin.
»Hallo Süße, was geht?« ruft Sie mir entgegen, während Kinderschreien im Hintergrund zu hören ist.
»Lukas hat mich betrogen.«
Stille.
»Er hat mit mir Schluss gemacht«, lege ich nach.
»Verarschst du mich gerade? Ist das dein Ernst?«
»Ja.«
»Mamaaaaaaaaaa«, brüllt Sophia im Hintergrund.
»Gib mir eine Minute«, sagt Jasmin.
»Mamaaaa, Peppa Wutz!«
»Was ist passiert?«, fragt Jasmin, während die Titelmusik von Peppa Wutz im Hintergrund startet.
»Ich weiß es nicht«, sage ich und zucke mit den Schultern. »Er wollte doch unbedingt zusammenziehen. Den nächsten Schritt wagen«, äffe ich ihn nach. »Und vor drei Wochen hat er dann seine Arbeitskollegin gefickt.«
»Was? Was für ein Arschloch!«
»Das habe ich ihm gerade auch geschrieben.« Eine Träne läuft mir über die Wange. Schnell wische ich sie weg. »Ich dachte echt, der is es. Ich hatte mich schon damit abgefunden. So für immer.« Mein Hals drückt und meine Stimme schwankt. »So wie Patrick und du.«
»Ach Süße.« Jasmin seufzt.
Ihre sanfte Art beruhigt mich. Schon immer. Sie ist der Ruhepol in meinem Leben und wird es immer sein. Meine beste Freundin. Meine Seelenverwandte. Von Kindertagen an.
»Aber abgefunden klingt irgendwie auch nicht nach Happy End …« Sie macht eine Pause. »Es tut mir wirklich leid für dich! Soll ich kommen?«
»Das ist lieb, aber ich glaube, ich komme klar.« Ich kann gerade keinen klaren Gedanken fassen. Die Wut lähmt mich.
»Süße, ich komme. Wenn Patrick da ist, fahre ich sofort los.«
Ich möchte Jasmin nicht so beanspruchen. Sie hat mir ihrer kleinen Familie genug am Hut. Aber ich brauche sie gerade jetzt dringend. Und das weiß sie auch. »Okay, bis dann.«
Ich lege das Telefon zur Seite.
Er hat seine Arbeitskollegin gefickt. Was für ein elender Wichser!
Ich stehe auf und laufe durch meine Zwei-Zimmer-Wohnung. Wobei zwei Zimmer etwas untertrieben ist. Als der Neubau am Rande von Regensburg entstand, weigerte ich mich erst, sie zu besichtigen. »Schau Sie dir an«, bat meine Mutter mich. Bis dahin wohnten Jasmin und ich direkt in der Altstadt, die Steinerne Brücke in Sichtweite. Doch Jasmin und Patrick wollten nach dem Studium zusammenziehen und hatten bereits ein Häuschen im Süden in Aussicht. Meinen Eltern zu Liebe ging ich zur Besichtigung und verliebte mich unerwartet in die großzügige Penthouse Wohnung. Sie war hell, offen und stylish und schon bald mein Reich. Und ja, ich wollte nicht, dass Lukas hier mit einzieht. Es war mein Lebensraum und ich war noch nicht bereit, diesen zu teilen.
Ich öffne den Kühlschrank und greife nach der angebrochenen Flasche Rotwein. Ohne zu zögern setze ich an und trinke. Ein Schauer durchfährt mich.
Fuck, zu kalt!
Ich nehme ein Glas aus dem Regal und kippe etwas hinein. Zurück im Wohnzimmer lasse ich mich auf das Sofa fallen. Weg ist sie, meine Lebensplanung. Einfach so. Ein Fick im Büro und mein Plan löst sich in Luft auf.
Prost!
Der Kloß in meinem Hals lockert sich mit jedem Schluck des kalten Valpolicella. Wahllos swipe ich durch Storys auf Instagram, dann werfe ich einen Blick in meine Fotos. Es dauert eine Weile, bis ich ein Foto von Lukas finde. Mein iPhone ist voll mit Brautpaaren, deren Tag ich fotografisch begleitet habe, Memes, die ich an Jasmin versendet habe, und Screenshots von Dingen, die mich an etwas erinnern sollten. Ich betrachte das Bild, das laut Handy ein Vierteljahr alt ist. Habe ich seitdem keine Bilder mehr von uns gemacht?
Meine Eltern lieben Lukas. Er kann gut mit meinem wortkargen Vater und scherzt ständig mit meiner überschwänglichen Mutter. Jasmin mag ihn, zumindest bis gerade eben. Er ließ mir meine Freiheiten, überstand jede meiner Zurückweisung. Klar, die Schmetterlinge aus den ersten Tagen waren weg. Aber so ist das doch nach einigen Jahren. Wir ergänzten uns doch, einigermaßen. Es hätte irgendwie gepasst. Mein Plan war nicht schlecht.
Ach fuck!
Ich trinke nochmals einen großen Schluck.
Der Alkohol verdrängt nach und nach die Schwere in meiner Brust. Zurück bleibt der fahle Geschmack eines guten, aber zu kühlen Weins und ein leichtes Dröhnen in meinem Kopf. Und Wut. Wut auf einen Menschen, dem ich mich über all die Zeit langsam geöffnet habe. Er kennt meine Vorgeschichte, weiß, warum ich so ticke, kennt alle Ängste, die ich mit einer festen Beziehung verbinde. Und dennoch …
Ich leere das Glas und hole mir die Flasche, um reichlich nachzuschenken. Dann nehme ich mein iPhone zur Hand und versuche, über Lukas Profil etwas zu finden. Doch Lukas macht sich nicht viel aus Social Media. Ich scrolle die Feeds auf und ab, trinke, und hasse mich für den Gedanken, dass ich es ihm manchmal schwer gemacht habe.
Lukas war ein feiner Kerl. Ehrlich und aufrichtig. Ich hätte meine Hand ins Feuer gelegt, dass ihm so etwas nicht zuzutrauen wäre. Ich habe es von Anfang an für wahrscheinlicher gehalten, dass ich mich irgendwann von ihm trennen würde. Tatsächlich habe ich immer mal wieder daran gedacht, es zu beenden. Doch wir hatten gemeinsame Pläne, und die hörten sich gut an. Er wollte eine Zukunft mit mir, mit allem was dazu gehört, Hochzeit, Kinder, Haus. Der Gedanke, dass er mich bedingungslos liebt und bei mir bleibt, auch nach unseren unzähligen Tiefs, ließen meine Zweifel immer wieder verstummen.
Ich leere das Weinglas, während ein seltsames Gefühl in mir hochsteigt. Eine Mischung aus Erleichterung und Zukunftsangst macht sich in mir breit. Beides kann und mag ich gerade nicht deuten.
Es klingelt.
Jasmin!
Ich laufe zur Tür und drücke den Öffner. Kurze Zeit später hallen die flotten Schritte meiner besten Freundin durchs Treppenhaus. Mit trauriger Miene biegt sie um den letzten Treppenabsatz und kommt mir entgegen. Noch im Türrahmen drück sie mich an sich.
»Danke, dass du gekommen bist.«
»Ehrensache.« Sie steigt aus den Schuhen und lässt sich auf dem Sofa nieder.
Ich hole ein weiteres Rotweinglas, den Wein und ein Cola aus der Küche.
»Für mich kein Alkohol. Sonst schlafe ich direkt ein.«
Ich muss grinsen, reiche ihr die Cola und schenke mir nochmal nach.
»Und? Ich dachte, ich treffe auf ein Wrack. So schlimm siehst du gar nicht aus.«
»Danke«, sage ich ironisch, »bin schon beim Krone richten.« Ich versuche, tapfer zu wirken, aber die Wut steigt plötzlich wieder hoch und meine Augen werden wässrig. Als Jasmin mich sofort an sich drückt, laufen wieder die Tränen. »Ich bin nur so wütend«, schluchze ich nach einiger Zeit, »so wütend, weil er mir die Entscheidung abgenommen hat. Ich hätte beinahe so viel für ihn aufgegeben.«
»Ich weiß, Süße«, sagt Jasmin und streichelt mir über den Rücken.
Ich löse mich und wische mit einem Taschentuch über mein Gesicht. »Es war das erste Mal nach … du weißt schon. Und wieder die gleiche Scheiße.«
»Es tut mir wahnsinnig leid! Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas passiert. Was für ein Arschloch!«
»Mann, seine Arbeitskollegin!«
»Was für eine verfickte Scheiße!«
»Fuck, meine ganze Lebensplanung ist wegen dem Arsch jetzt im Eimer.«
Jasmin presst die Lippen aufeinander und runzelt die Stirn. »Meinst du, es liegt daran, dass du nicht mit ihm zusammenziehen wolltest?«, sprudelt es plötzlich aus ihr heraus.
»Gibst du mir jetzt die Schuld?« Doch ich kann ihr den Gedanken nicht verübeln.
»Auf keinen Fall. Er hat dich beschissen und das ist nicht okay!«
»Das ist mehr als nicht okay.«
»Stimmt. Es ist scheiße und asozial und ich hätte das niemals von Lukas gedacht. Aber er wollte schon so lange den nächsten Schritt machen, und du eben nicht.«
»Doch!«, protestiere ich. »Nur nicht mit meiner Wohnung.«
»Eben! Du wolltest dir deine Wohnung als Option offenhalten. Du hast mir ein halbes Jahr Gründe aufgezählt, warum es keinen Sinn macht, zusammen zu ziehen.«
»Deswegen fickt man doch nicht seine Arbeitskollegin!«
Jasmin sieht mir fest in die Augen. »Nein, das macht man nicht. Das machen nur Wichser.«
Ich schüttel den Kopf. »Ich hätte niemals gedacht, dass es so kommt. Und ich hab nichts gecheckt. Wie elendig ist das denn?«
»Was hättest du denn checken sollen?«
»Na, dass da was im Busch ist.« Ich erinnere mich vage an einen Abend vor drei Wochen, an dem er länger in der Arbeit war. Das war er sonst nie. War das der Abend? Aber niemals wäre ich auf die Idee gekommen, das eine andere Frau dahinterstecken könnte.
»Hätte er einen Knutschfleck haben sollen, oder Lippenstift auf seinem Hemd? Wir leben nicht in einer amerikanischen RomCom.«
Ich überlege krampfhaft, ob mir irgendwas an seinem Verhalten aufgefallen ist. Doch da war nichts. Alles war so wie immer. Oder? Mein Blick fällt auf ein Foto vom Lukas und mir, das auf der Kommode steht. Es ist in einem der ersten Urlaube entstanden. »Was für eine Scheiße! Jetzt kann ich seinen ganzen Krempel zusammenpacken.«
Jasmin lacht mitfühlend. »Welcher Krempel?«
»Na den ganzen Scheiß?«
»Was hast du denn überhaupt von Lukas in deiner Wohnung?«, hakt Jasmin nach.
Ich überlege. »Seine Zahnbürste.«
»Das ist ein Wegwerfartikel. Süße, ehrlich.«
»Was?«
»Ich mein ja nur. Du hast ein extra Fach mit Sachen von mir, aber nicht von Lukas.«
Ich richte mich auf und blicke erneut auf das gemeinsame Foto. »Aber ich habe ihn schon geliebt. Irgendwie.«
»Vielleicht war es auch nur Gewohnheit? Er hat ja auch immer alles mitgemacht. Die Urlaube ohne ihn, dass du rund um die Uhr arbeitest …« Sie macht eine Pause. »Hattest du jemals die gleichen Gefühle für ihn wie für … Chris?«
Mein Herz macht einen Sprung ins Nichts. Es schmerzt und tiefe Leere erfüllt mich. Ich seufze.
»Sorry Süße, das war ein blöder Vergleich.«
»Das mit Chris war … anders. Uns hat so viel verbunden.«
»Das meine ich doch. Lukas hat nach vier Jahren nicht mal den Schlüssel zu deiner Wohnung. Was hat dich mit ihm verbunden außer eurem Netflix-Konto?«
Verdammt. Ich muss sofort das Passwort ändern.
Ich atme tief durch und lasse mich zurück ins Sofa fallen. Es schmerzt, dass Jasmin recht hat.
»Und jetzt?«, hakt sie nach.
»Keine Ahnung.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich muss die ganze Woche arbeiten und Samstag hab ich schon wieder ne Hochzeit zu fotografieren.«
»Na, dann biste ja in guter Gesellschaft. Lauter glückliche Menschen.« Jasmin lacht.
Ich verziehe das Gesicht. An meine Arbeit mag ich momentan gar nicht denken. »Ich weiß gar nicht, was mich mehr verletzt. Die Tatsache, dass ich jetzt ohne Lukas dastehe, oder dass das Arschloch mich mit seiner Kollegin beschissen hat. Ich bin einfach so wütend.«
Wütend auf mich selbst, dass ich ihm Raum in meinem Leben gegeben habe. Dass mein Plan nicht aufgeht. Und dass ich mir eingeredet habe, dass wir gemeinsam die Zukunft verbringen würden.
»Es ist so krass. Ich hätte ihm sowas nie zugetraut. Der hat sich ja schon eingepisst, als du bei Antonio das Glas hast mitgehen lassen.«
Selbst in einem so beschissenen Moment schafft sie es, mich zum Lachen zu bringen. Ich drücke Sie an mich.
Als Jasmin sich auf dem Heimweg macht, packe ich meine Fototasche und wir laufen zusammen das Treppenhaus nach unten. Ich muss nochmal kurz Raus, in der Hoffnung den Kopf etwas frei zu bekommen.
»Bis dann.«, sagt Jasmin und umarmt mich nochmal.
»Bis dann!«, verabschiede ich mich und steige auf mein Fahrrad.
Der frische Frühlingswind weht mir entgegen, als ich mich auf den Weg in die Altstadt von Regensburg mache.
Regensburg. Meine Heimatstadt.
Kurz vor der Steinernen Brücke stelle ich mein Fahrrad ab. Dann laufe ich zum Donauufer und setzte mich auf die Steinkante. Ich hole meine Kamera vom Rücken und blinzle gegen die Sonne. Doch meine Gedanken sind nicht bei meinem Lieblingshobby.
Fuck! Mit seiner Arbeitskollegin!
Ich schüttle den Kopf und fische die Coke aus meinem Rucksack. Es zischt als ich die Dose öffne. Mein Handy vibriert.
›Süße, du musst mir was versprechen‹ Jasmin schreibt…
›Lass es bitte nicht so ausarten wie nach ihm. Das ist nichts in der Welt wert. Vor allem kein Mann. Bitte‹
Ich lächle gequält und atme tief ein und aus.
›Wird es nicht‹, antworte ich.
Es wird nicht so ausarten, immerhin habe ich ihn doch erfolgreich in die hinterste Ecke meiner Selbst verbannt.
LUKAS
Ich dachte, ich werde Johanna heiraten. Mit ihr Kinder bekommen. Ein Haus bauen. Irgendwo hier in Regensburg. Ich habe mir die Zukunft mit ihr gewünscht. Eine Routine mit ihr. Nullachtfünfzehn. Ich brauche nichts Ausgefallenes. Ich wäre glücklich gewesen.
Doch je mehr ich mir unsere Zukunft vorgestellt habe, desto mehr hat sie sich von mir distanziert. Ihre Arbeit war ihr schon immer wichtig, doch es gab Zeiten, da hat sie nur noch gearbeitet. Und irgendwie wusste ich nicht, ob es wegen der Arbeit war oder wegen mir.
Ich liebe ihr zartes Aussehen. Ganz im Kontrast dazu steht ihr loses Mundwerk. Sie ist klug, aber vulgär. Ich hasse es, wenn sie flucht, und sie flucht oft. Aber sie hat diese unglaubliche Tiefe. Sie kann Momente verzaubern. Sie füllt ein Raum mit ihrer Aura, wenn sie ihn betritt. Ich war sofort verliebt. Sie ist verletzlich, oft grundlos traurig, aber gibt es nicht zu. Ich hätte ihr gerne den tiefen Schmerz, den sie zu verstecken versucht, genommen. Aber er liegt bleiern auf ihrem Herzen, wo sie keinen ranlässt.
»Sie verarscht dich, Lukas, sie hält dich nur hin«, sagte mir meine Kollegin Nadine, als ich ihr mein Herz ausschüttete.
»Du kennst sie nicht«, war meine Antwort.
Wenn Johanna da war, genoss ich die Zeit mit ihr umso mehr. Unser Sex war gut. Ein Moment, in dem ich ihr ganz nah sein konnte und in dem sie es zuließ. Dass alles so enden würde, war nicht geplant.
Wir sahen uns eine gemeinsame Wohnung an. Wollten zusammenziehen. Wochenlang habe ich sie davon überzeugt. Auf sie eingeredet. Ich wollte es ernst werden lassen. Ich dachte, wenn wir erst zusammenwohnen, würde sie merken, dass es passt. Dass wir zwei zusammenpassen. Und ihr Schmerz würde verschwinden.
Stattdessen spürte ich, dass es nicht richtig war. Dass ich mich immer mehr zu Nadine hingezogen fühlte, die meine Nähe erwiderte.
Ich fühle mich wie der größte Verräter. Und jetzt muss ich Hanna gehen lassen. Mit all Ihrem Schmerz, mit all ihrer Wut.
I
Als am Morgen der Wecker klingelt, muss ich mich aus dem Bett schleppen. Meine Augenlider wiegen schwer und die üppige Menge Wein vom Abend hat Spuren hinterlassen. Ich stelle mich unter die heiße Dusche und lasse das Wasser auf mich herabrieseln. Das Telefonat mit Lukas kommt mir unwirklich vor. Gestern war ich noch in einer langjährigen Beziehung kurz vor der ersten gemeinsamen Wohnung mit einem Mann und Booom - Single.
Tränen schießen mir wieder in die Augen. Ich versuche, nicht daran zu denken und zu funktionieren. Ich mache mich fertig und schnappe mir die Autoschlüssel. Träge schleppe ich mich die Stufen zur Tiefgarage hinab und steige ins Auto. Als ich die Tür schließe, wird es ruhig um mich herum. Ich starre auf das Lenkrad. Anstatt mich glücklich mit Kindermöbeln und Küchenmaschinen zu beschäftigen, sitze ich hier: Ende 20, betrogen und wieder Single.
Ich atme tief durch und starte den Motor. Dann fahre ich ins Büro.
Das erste Meeting mit dem Vorstand geht zügig zu Ende und ich halte mich dezent zurück, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Wieder an meinem Schreibtisch öffne ich die aktuellen Wochenzahlen und beginne, diese mit den Planzahlen abzugleichen.
Mein Handy vibriert, und ich blicke auf den Kussmund, den Jasmin mir geschickt hat. Dann scrolle ich zu Lukas. »Fick dich Arschloch« sind die letzten Worte.
»Johanna, alles klar? Du wirkst abwesend.« Brigitte, meine Arbeitskollegin, reißt mich aus meinen Tagträumen.
Verdammt, sie kennt mich zu gut. Mit ihrer lustigen Nickelbrille und den bereits grauen Haaren sieht sie liebevoll umsorgend aus. Seit fast sieben Jahren teilen wir uns das Büro und trotz des Altersunterschiedes von über zwanzig Jahren liegen wir auf einer Wellenlänge.
Ich seufze und blicke über meinen Bildschirmrand. »Ich bin seit gestern wieder Single.«
»Oh Gott, das tut mir leid«, sagt sie.
Ich atme tief aus. »Jepp, er hat mich beschissen.«
Brigitte schüttelt fassungslos den Kopf. »Willst du drüber reden?«
Ich schüttle den Kopf. »Eigentlich nicht. Es überfordert mich selbst gerade noch.«
»Kaffee?« Brigitte zieht die Augenbrauen hoch und deutet auf die Bürotür.
»Kaffee!«
Wir machen uns auf den Weg zur Kaffeeküche. Ich hatte mich heute Morgen besonders hübsch angezogen in der Hoffnung, von meinen tiefen Augenringen abzulenken. Mein figurbetontes Kleid hat Lukas immer gefallen. Auch wenn der Schmerz inzwischen etwas nachgelassen hat, so bin ich doch gekränkt. Beschissen zu werden fühlt sich beschissen an.
»Hallo Schönheiten!«, ruft Sebastian uns entgegen und mustert mich von oben bis unten. In seiner Hand hält er seine Tasse, auf der »Komm ins Marketing« steht.
Brigitte wackelt mit den Schultern und fühlt sich offensichtlich geschmeichelt.
»Hi Basti«, sage ich kühl und laufe mit hochgezogenen Augenbrauen an ihm vorbei.
»So charmant wie immer«, flüstert mir Brigitte zu und grinst wie ein Teenager.
»Du kannst dich schon noch an die letzten sieben Weihnachtsfeiern erinnern?«, frage ich, und sie weiß sofort, was ich meine.
Sebastians Baggertouren auf den Firmenfeiern sind jedem im Unternehmen bekannt. Seine Kollegen setzten jedes Jahr eine Wette auf, welche arme Praktikantin oder neue Mitarbeiterin auf seiner Abschleppliste steht.
»Ach komm«, sagt sie und winkt ab. »Es ist doch nett von ihm.«
Ich seufze und atme tief durch. Ich liebe Brigitte für ihre positive Art. So genau und penibel sie in der Buchhaltung arbeitet und keinen Fehler duldet, so herzlich und liebevoll ist sie im Privaten. Sie lässt mir einen Kaffee raus und reicht mir die Tasse.
Der restliche Tag vergeht schnell und so bin ich schon gegen halb sechs wieder zuhause. Als ich eintrete, bemerke ich sofort den Post-It an meiner Garderobe.
»Ich habe gebacken, lass es dir schmecken.«
Meine Mum war da und ich danke Gott für die süße Überraschung. Manchmal lässt mich ihr natürlicher Mutterinstinkt schaudern. Ich schlüpfe in meinen Jogginganzug und schleiche in die Küche. Im Kühlschrank finde ich zwei große Stücke Apfelkuchen. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denke ich mir und überlege kurz, ob ich sie anrufen und über meine Trennung informieren soll. Doch sie und Papa werden vermutlich enttäuscht sein. Sie mochten Lukas und seine korrekte Art, daher schicke ich ihr über WhatsApp ein »Danke« und einen Kussmund.
Auch Jasmin texte ich noch schnell: »Alles ok bei mir! Brauchst nicht kommen. Hab Kuchen.« Ein Bild von Mamas Apfelkuchen hänge ich auch mit dran. Es ist eine kleine Notlüge, denn eigentlich hätte ich sie jetzt gerne bei mir.
Tatsächlich sind die fünfunddreißig Minuten Autofahrt die bislang größte Distanz zwischen meiner besten Freundin und mir, abgesehen vom Auslandssemester. Schon als Kinder gingen wir bei dem anderen ein und aus, nur drei Straßen trennten uns voneinander. Wir wuchsen beide behütet in unserem kleinen Vorort auf, besuchten den gleichen Kindergarten und die gleiche Schule. Nach dem Abi zogen wir zusammen in eine kleine Altbauwohnung und feierten uns durch das Studium. Wir wohnten Zimmer an Zimmer und waren bei jedem Hoch und Tief füreinander da. Nach dem Studium zog sie mit Patrick in die Einfamilienhaussiedlung und ich in meine Wohnung einmal quer durch die ganze Stadt. Die Entfernung zu ihr kommt mir gerade unendlich vor.
***
Die Woche im Büro verläuft ruhig. Auf der Heimfahrt am Freitag versuche ich, meine Foto-Checkliste durchzugehen. Normalerweise freue ich mich auf meinen Zweitjob am Wochenende. Gerade aber hält sich meine Motivation in Grenzen. Akku laden, denke ich. Das hatte ich die letzten Tage durch die ganze Sache mit Lukas vergessen. Meine Augenlider wiegen weniger schwer und den Schlüssel zu seiner Wohnung habe ich bereits von meinem Schlüsselbund abgenommen und ihm kommentarlos per Post gesendet. Die gemeinsamen Fotos sind verschwunden und durch zwei Urlaubsbilder mit Jasmin ersetzt worden.
Jasmin hatte wie immer recht.
Ich hatte zwar einen Schlüssel zu seiner Wohnung, er jedoch nicht zu meiner. Ich konnte mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dass er spontan bei mir auftauchen könnte. Ohne Vorankündigung. Ohne dass ich Bescheid wusste. Lukas hat das akzeptiert.
Bis auf die Tatsache, dass er mich betrogen hat, kann ich ihm nichts anlasten. Er hat alle meine Launen akzeptiert. Immer und geduldig. Er nahm meine kurzfristigen Absagen hin und log für mich über meine Abwesenheit bei seiner Familie. Ich wusste, dass ihn das verletzte, und er wusste, dass ich meinen Freiraum brauchte.
Fuck.
Neben meiner Wut auf den Betrug macht sich Erleichterung breit. Die Tatsache, dass ich vor keinem mehr Rechenschaft über meine Abwesenheit ablegen muss, stimmt mich versöhnlich. Bei einem Glas Weißwein packe ich meine Fototasche für den morgigen Tag und schlafe an diesem Abend entspannt ein.
Am nächsten Morgen bin ich fit und munter. Ich überprüfe den Zeitplan des Brautpaars und hake strukturiert meine Nicht-vergessen-Liste ab. Dann überprüfe ich sie ein zweites Mal und steige in mein vollgepacktes Auto.
Die Vorkehrungen für Braut und Bräutigam sind bereits im vollen Gange, als ich ankomme. Herzlich und mit einem Lächeln auf den Lippen begrüße ich sie. The show must go on, denke ich mir und fühle mich schnell selbstbewusst und sicher in dem, was ich tue.
Mein anfängliches Hobby wurde schon während des BWL-Studiums zu einem kleinen Nebenerwerb, und auch jetzt, neben meinem Vollzeitjob, habe ich Spaß dabei, an einigen Samstagen im Jahr zur Kamera zu greifen.
Wir gehen noch einmal den Ablauf durch und starten dann mit den Brautpaarbildern. Während der kirchlichen Zeremonie lichte ich jeden wichtigen Moment ab. Der tosende Beifall nach dem Kuss lässt mich kurzzeitig zurück in meine Gedankenwelt fallen. So hätte es für mich ausgehen können. Ich sehe Lukas im Anzug und mich im weißen Kleid. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter, voller Tränen, in der Kirchenbank steht. Jasmin und Sophia werfen Blumen. Und Chris crasht meine Hochzeit.
Fuck!
Sofort halte ich inne. Das habe ich gerade nicht wirklich gedacht, überlege ich. Doch mir bleibt keine Zeit, meine Gedanken weiter zu spinnen. Noch bevor die Kirche zu Ende ist, eile ich voraus und mache meinen Job.
Nachmittags ist die Stimmung ausgelassen. Die Band spielt einen Hit nach dem anderen und die Gäste stehen auf den Bänken und feiern und klatschen. Ich beobachte von der Seite und versuche, die feiernde Menge in Bilder einzufangen. Zwischendurch sortiere ich Bilder aus.
Auf einmal packen mich zwei Hände an der Hüfte und schieben mich in Richtung der Feiernden. Ich drehe mich um, nehme sofort die Kamera vors Gesicht und drücke ab.
»Hey Paparazzi!«, schreit ein blonder Wuschelkopf in die Kamera.
Ich nicke, grinse und lasse die Polonaise an mir vorbeiziehen. Die Menge tanzt weiter, und ich wechsle den Standort. Dann blicke ich auf das letzte Bild, das ich gemacht habe. Der blonde Wuschelkopf grölt mit weit geöffnetem Mund in das Weitwinkelobjektiv. Vermutlich nicht mehr ganz nüchtern.
Heißer Typ, denke ich und arbeite weiter.
Als die Gäste essen, nehme ich an der Bar Platz und bestelle mir eine Coke. Ich genieße den kurzen Moment, um durchzuatmen und meine Füße zu entspannen. Fokussiert arbeite ich mich durch die letzten Bilder auf meiner Kamera und lösche die Duplikate.
»Ein Bier bitte.«
Ich drehe den Kopf nach rechts.
Neben mir steht der blonde Typ vom Nachmittag. Sein Hemd ist bereits bis zur Brust aufgeknöpft und offenbart einen muskulösen Oberkörper. »Hi«, sagt er und nickt mir zu.
»Hi.« Um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen, nehme ich mir wieder meine Kamera und arbeite weiter.
»Ich hab mir jetzt Mut angetrunken«, sagt der Typ. »Ich finde dich süß.«
What the fuck?
Ich sehe ihn ungläubig an. Steht jetzt etwa »Single und verzweifelt« auf meiner Stirn? Ich blicke in die Menge und suche nach lachenden Freunden oder einer Traube an Menschen, denen er etwas zu beweisen hat. Der Wuschelkopf ist vermutlich gerade mal volljährig.
»Darf ich mich zu dir setzen?« Er zeigt auf den Barhocker neben mir.
»Äh, ja«, sage ich, »ich muss aber wieder arbeiten.«
»Klar«, sagt er und legt den Kopf schief. »Ich bin Manuel.«
»Hi Manuel«, sage ich und strecke ihm meine Hand entgegen. »Ich bin Johanna.«
Etwas irritiert erwidert er meinen Handschlag.
Ich komme mir blöd vor. Ein Handschlag? Das war nicht gerade lässig. Aber ich bin hier schließlich am Arbeiten.
Er lächelt mich eine Weile an und nippt an seinem Bier. »Äh, was hörst du so für Musik?«, fängt er an.
Diese Frage hatte ich seit meiner Pubertät nicht mehr gestellt bekommen. »Nix Besonderes, Mighty Oaks, Wanda, so querbeet.«
Manuel nickt.
»Und was arbeitest du so?«, startet er einen neuen Versuch. »Ja, das war dämlich, du fotografierst«, sagt er und grinst.
Ich muss lachen. Ich bin mir nicht sicher, ob es seine Naivität oder der Alkohol ist. Seine unbeholfene Art schmeichelt mir. Mit etwas mehr Gel in den Locken könnte er glatt als Elevator Boy durchgehen. Ich feiere mich selbst für diesen Vergleich.
Wo ist Jasmin, wenn mein Hirn so geistreiche Einfälle hat?
Trotzdem traue ich der Situation noch nicht. Ich erkläre ihm, dass ich unter der Woche im Büro arbeite und nur am Wochenende zur Kamera greife.
»Und natürlich, weil ich mich umsonst durchfressen kann.« Ich zwinkere ihm zu.
Er reißt die Augen auf. Die blonden Strähnen fallen ihm immer wieder ins Gesicht. »Raffiniert, das ist ja ein Traumjob.«
Seine tiefblauen Augen treffen mich ins Mark.
Vielleicht was Schnelles. Nur zum Vergessen. Fuck you, Lukas!
Sofort lösche ich die Gedanken aus meinem Kopf und muss an Jasmins Warnung denken, nicht wieder in mein altes Muster zu verfallen.
Wir sprechen über seine Arbeit, Sport und über die Fotografie. Das Gespräch tut mir gut und es lenkt mich ab. Wir unterhalten uns, lachen und leeren zusammen unsere Getränke. Als der Vater der Braut sein Glas erhebt und zu einer Rede ansetzt, rutsche ich vom Stuhl.
»Ich muss wieder«, sage ich.
Der weitere Abend zieht sich, die Programmpunkte für das Brautpaar reihen sich aneinander, meine Füße schmerzen, die Gedanken schweifen ab. Ich denke an Lukas, und an unsere gemeinsame Zeit. Ich denke an den Abend, an dem er mir schrieb: »Komme später, habe noch ein Termin mit meinem Chef.«
Tränen schießen mir in die Augen. Ich habe es nicht hinterfragt, obwohl er noch nie länger im Büro bleiben musste. Ich war sogar froh, dass ich mir alleine einen schönen Abend mit Pizza und Badewanne machen konnte.
In meinem Herzen wird es schwer. Schöne Momente der Zweisamkeit mischen sich mit Gedanken an unseren letzten großen Streit. Nach vier Jahren setzte Lukas mir das Messer auf die Brust: Entweder wir ziehen zusammen oder er würde sich trennen. Er fühlte sich mir nicht mehr nahe genug, und auch ich ging davon aus, unsere Problemchen würden mit gemeinsamen Räumlichkeiten verschwinden. Ich wollte nicht in seine 40-Quadratmeter-Wohnung ziehen und gleichzeitig meine Wohnung vorerst als Rückzugsort behalten. Das verschwieg ich Lukas jedoch.
Ich hatte einen perfekten Plan. Ich bat um eine größere gemeinsame Wohnung zur Miete und würde meine Wohnung als Kapitalanlage behalten und vermieten. Das klang plausibel. Nur dass ich meine Wohnung vorerst nicht vermieten wollte. Aber das musste Lukas ja nicht wissen.
Ich hatte mich vor Jahren in diese Wohnung verliebt und sie sofort gekauft. Sie war kein Schnäppchen gewesen, aber da ich nach dem Studium einen tollen Job in der Buchhaltung ergattert und meine Eltern noch etwas beigesteuert hatten, war die Finanzierung kein Problem gewesen. Lukas war damit einverstanden, und so machten wir uns auf die Suche nach einer Wohnung zur Miete. Das gemeinsame Projekt beflügelte unsere Beziehung und belebte sie neu. Ich ließ mehr Nähe zu und Lukas freute sich auf mehr Zeit zu zweit. Dachte ich zu mindestens.
Eine Träne kullert mir unerwartet über die Wange.
Scheiße!
Schnell halte ich die Kamera vor das Gesicht. Ich wische die Träne ab und versuche, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren. Tisch für Tisch arbeite ich mich durch die feiernde Menge und halte glückliche Momente fest.
Nach 23 Uhr verabschiede ich mich von meinem Brautpaar und verlasse die Location. Ich packe meine Sachen zusammen und lade alles ins Auto. Ich bin froh, dass der Tag vorüber ist. Erschöpft schlüpfe ich aus den Schuhen und tausche sie gegen bequeme Sandalen.
»Hey.«
Ich blicke auf. Es ist Manuel. Das wenige Licht am Parkplatz wirft Schatten auf sein Hemd, das inzwischen bis zu den Ellenbogen hochgeschoben ist. Die blonden Haare stehen von Schweiß kreuz und quer und kleben leicht an seiner Stirn. In den Händen hält er zwei Flaschen Coke.
»Ich leg gerade ne Trinkpause ein«, sagt er grinsend und hält mir das Getränk hin.
»Dank dir«, erwidere ich und lehne mich mit dem Rücken gegen die Tür meines SUVs.
»Und? Bilder was geworden?«
»Vermutlich.« Ich grinse und nippe an meinem Getränk.
»Hast du auch ein Foto von mir?«
»Vielleicht«, sage ich lachend.
»Das würd ich gern mal sehen.«
Ich nehme die Kamera vom Fahrersitz und öffne den Ordner mit den abendlichen Aufnahmen. Während ich suche, blicke ich kurz zu ihm auf.
Hier. Jetzt. Im Auto. Nur um den Kopf frei zu kriegen. Nur als Gelegenheitsfick.
Sofort fallen mir Jasmins Worte ein und ich konzentriere mich wieder auf meine Kamera. Nach einer kurzen Weile habe ich ein Foto von ihm gefunden. Arm in Arm mit seinen Freunden, grölend in der Menge. Durch die kurze Belichtung färben die Scheinwerfer die Menge in alle möglichen Farben. Das Bild ist knackescharf, bunt und voller Bewegung. Ich drehe ihm das Display zu.
»Krass, good job. Da sind bestimmt noch mehr Bilder von mir drauf«, sagt er und tippt auf die Kamera.
Ich zucke mit den Schultern und leere die Cola. »Danke dafür«, verabschiede ich mich und drücke ihm die leere Flasche in die Hand.
»Wenn ich ehrlich bin, die geht aufs Brautpaar.« Er lacht.
»Ach was.« Ich öffne die Türe meines SUVs und steige ein.
»Also, wann soll ich mal bei dir vorbeischauen?«
Ich blicke ihn fragend an.
»Naja, wegen der Fotos mit mir. Die muss ich ja vorher freigeben.« Selbstbewusst steht er an der Seite und hält die Tür auf. »Morgen Abend? Ich spiele bis 17 Uhr Fußball, danach habe ich noch nichts vor.«
Meine Hände umschließen das Lenkrad und ich rutsche auf dem Sitz hin und her. Das Adrenalin schießt in meine Adern, während ich meinen Blick auf ihn richte. Seine blauen Augen blicken mich fragend an. Ich bin unsicher, öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber ich weiß nicht was.
Fuck. Scheiß drauf.
»Klar«, sage ich und merke, wie sein Körper sich sichtlich entspannt. Ich krame eine Visitenkarte hervor. »Komm vorbei«, sage ich.
»Safe«, sagt er und weicht einen Schritt zurück, sodass ich die Autotür schließen kann. Er grinst und hebt kurz die Hand zum Abschied, dann fahre ich los.
II
»Sag mal, bist du bescheuert? Du hast mir ins Gesicht gesagt, es artet nicht aus! Stell dir mal vor, der Typ ist ein Triebtäter.«
Ich verdrehe die Augen, schalte mein Handy auf Lautsprecher und schlage die Bettdecke zurück. Im Hintergrund brabbelt Sophia. Ich blicke auf die Uhr. Es ist 10 Uhr vormittags und der Schmerz in meinen Füßen ist verschwunden.
»Danke, das ist genau das, was ich hören wollte. Du bist wie immer eine große Unterstützung.« Ich atme einmal tief durch, bevor ich fortfahre: »Zum einen sind es bereits sechs Tage, und zum anderen bezweifle ich, dass er ein Schwerverbrecher ist. Ich habe eher die Angst, dass ich mich strafbar mache. Ich hoffe, er ist schon 18«, witzle ich.
»Du hast vor, mit Ihm zu schlafen?«
»Mama, ich nicht schlafen!«, schreit Sophia im Hintergrund.
»Aber Tante Hanna muss schlafen. Sie hat gestern gearbeitet.«
»Mensch Jassi, das war ein Witz. Wir haben uns einfach gut unterhalten. Vielleicht ist heute ja nüchtern betrachtet alles ganz anders. Vielleicht taucht er gar nicht auf. Wer weiß …«
»Hanna, ich weiß, das mit Lukas hat weh getan. Aber bitte versuch das nicht wieder so zu kompensieren. Das ging damals schon nicht gut aus.«
»Damals.« Ich schnaufe dramatisch ins Telefon. »Ich bin alt genug, Mama.«
»Ich meine das Ernst.«
»Okay, Mama!«
»Jaja, und am Ende heißt es, ich hätte dich nicht gewarnt. Steig nicht gleich mit ihm in die Kiste. Nicht als Lückenbüßer.«
»Hmm.«
Jasmin seufzt.