Fundstücke - Thomas Geduhn - E-Book

Fundstücke E-Book

Thomas Geduhn

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Embryonale Stammzellen und ihre Nachfolger aus den Forschungslaboren und der industriellen Produktion, die iPS-Zellen: ein brennendes Thema der Zeit. Die Einsatzmöglichkeiten und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser ´Alleskönner` sind kaum absehbar! Dr. Max Brendel ist im Vorstand von ”Vitacell“, einem führenden Unternehmen in der biotechnologischen Branche. Für die Zukunft hält Brendel eine besondere Form von Stammzellen für unverzichtbar. Seinem Menschenbild entsprechend strebt er den Umbau der Gesellschaft an. Das, was die Beteiligten mit ihrem Wissen entscheidend zwischen den Zeilen sagen, ist kaltschnäuzig und an Machtgier kaum zu überbieten. Eine Pathologie missbrauchter Intelligenz … In einer einzigen Woche tun sich Abgründe auf. Motto: »Werft einen Stein ins Wasser und beschäftigt Euch mit den Wellen!« Auf der Suche nach neuen Freiheitsgraden bewegen sich die Hauptakteure zwischen rationaler Selbstentfremdung und instinktiven Erkenntnissen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Nicht, um zu töten ...

Erster Fund

Max Brendel und ”Vitacell“

Max Brendel ruft vergeblich an

Spaziergänger

Britta Zielke und ”Vitacell“

Britta Zielke findet nicht nach Hause

Nora Brendel und das andere Gesicht

Haeckermanns Frauen 1)

Ich hätte uns malen sollen

Tagebucheintrag: ”Blinder Fleck 1“

Zweiter Fund

Laura Domin 1)

Dr. Bader denkt, ...

McLellan 1

Letzte Begegnung

Tagebucheintrag: ”Blinder Fleck 2“

Besuch auf Hiddensee 1

Britta Zielke fährt los

Mutmaßungen

Kinderheim 1)

Tagebucheintrag: ”Kinderheim 2“

´Der Auftrag`

Brotlose Kunst

Eine Schifffahrt

Hagen Florin und ”Vitacell“

Dritter Fund

McLellan 2)

Strandschar

Vierter Fund

Alberich

Abgrund

“Belbor“: Professor Wouters und Dr. Hesse

Küchenwahrheit

Lotos

Der Brendelfaktor 1

Haeckermanns Frauen 2

Tagebucheintrag: ”Enthemmung“

Dr. Brendel und die Polizei

Der Brendelfaktor 2)

Max Brendel und Michael Hesse

Laura Domin 2)

Bis ins Mark: Haeckermanns Frischzellenkur

Familienaufstellung

Verbleib 1

Verbleib 2

Mutterliebe

Impressum

„FUNDSTÜCKE“

Roman

von

Thomas Geduhn

»Werft einen Stein ins Wasser und

beschäftigt Euch mit den Wellen!»

Nicht, um zu töten ...

In Kopenhagen kamen Unternehmer, Politiker und Wissenschaftler am Rande einer internationalen Tagung zusammen. Sie nannten es einen Informationsaustausch, bei dem es um neue Verfahren der Stammzellgewinnung und Konservierungsverfahren ging.

Dabei trafen sich Dr. Max Brendel mit einem parlamentarischen Staatssekretär des deutschen Gesundheitsministeriums und zwei Abteilungsleitern aus dem Wirtschaftsministerium zu einem vertraulichen Gespräch. Abschließend fasste Dr. Brendel zusammen:

»Wir reprogrammieren sehr erfolgreich! Aus iPS-Zellen werden wir in den kommenden Monaten Vorläuferzellen des Gehirns herstellen und in virtuelle Nervensysteme transplantieren. Einige unserer führenden Mitarbeiter drängen bereits jetzt auf weitere Schritte. Und ich füge hinzu, sie tun dies energisch. Die Branchenkollegen aus der Pharmazie wühlen bereits seit längerem in den Zukunftsoptionen.

Wir alle haben Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose ... Krebs natürlich auch, im Auge. Das ist unser gesundheitspolitischer Beitrag für Deutschland und die Menschheit! Sie kennen die Fallzahlen und sie kennen die Wachstumsprognosen. Für den gesetzlichen Rahmen sind sie zuständig! Machen wir uns also an die Arbeit. Gemeinsam!«

*

All diese Lügen!

Bei einem Abendessen hatten sich Brendel und sein Vorstandskollege Bader ihren Ideen hingegeben.

»Hör mir jetzt mal zu!«, hatte Max Brendel mit nicht mehr ganz sicherer Stimme von Bader gefordert. Sie waren beim Whisky angekommen. «Cheers!« Dr. Bader grinste.

»Wir entwerfen Konstruktionen jenseits vereinbarter Grenzen die wir, grob gesprochen, mit Ethik umreißen. Wir loten diese Grenzen aus, interpretieren sie frei und immer wieder neu.«, gab sich Brendel Mühe»Mensch, Max. Maximal laaangweilig!«, gähnte Bader.

Er stand auf, ging zu der Musikanlage und kurz darauf tönte ein Stück von Jeff Buckley durch den großen Raum.

»Und deshalb, mein Lieber, braucht es Lügen!«, beharrte Brendel schmallippig. Dass das Ideal der Mündigkeit der Bürger überdehnt würde, war fester Bestandteil seines Meinungsrepertoires. »Du Moralinchen..., nüchtern gefällst du mir besser! «, unkte Bader.

»Geht es um die Vorbereitung von Zumutungen gegen die eigene Bevölkerung, muss der Staat lügen. Der einzelne Mensch muss lügen, weil er sonst ein Problem mit seiner eingeschränkten Komplexitätsverarbeitung bekommt. Da heißt es dann: Welt und der Sinn des Lebens ..., jede Veränderung wird nach innen verwurstet. Das ist der Schlusspunkt gegen die Komplexität! Jetzt hör mir doch mal zu, Matthias.«

Ungerührt schwang Bader sein Bleiglas von links nach rechts, nahm einen Schluck und drehte sich dabei langsam um die eigene Achse. Mit einem weichen Hüftknick sagte er: »Ok, ok: Ich lüge, du lügst, er-sie-es lügt ... alle lügen«, ging es weiter.

Brendel stand auf, starrte durch die großen Fenster und kniff die Augen zusammen. »Wir machen hier Schluss, aber erst muss ich noch einen Fingerhut voll haben und abtanzen.«

Dr. Bader sagte undeutlich so etwas wie ´endlich und wäre jetzt auch mal gut`. Dann versuchte er sich zu dem Song ´Forget Her` an einem Ausdruckstanz, während Brendel zur geöffneten Terrassentür ging und draußen raumgreifend zu tanzen begann. An der Stelle ‚She was heartache from the moment that you met her’ warf er die Arme in den einsetzenden Regen nach oben.

*

»Für unser Marketing ist die Erkenntnis leider ein Muster ohne Wert. Damit können wir nicht arbeiten«, sagte Dr. Bader am nächsten Tag zu Brendel auf dem Weg in die Kantine.

»Es muss Menschen geben«, sagte er jetzt leiser, «die, wie hast du gestern gesagt, nicht in diesem hypnagogen Zustand sind.

Eins-Null-Eins-Null-Eins-Null ... eingeschränkte Dialektik ... ohne jede Farbsättigung.

Die Gesellschaft soll doch von uns aus weiter von der Illusion der Freiheit und ihrer Mitbestimmung der Zukunft träumen. Sollen sie ihre Gedanken und Gefühle mit in den Schlag nehmen und dort ihre Träume gestalten. Zwischen ihren Wachträumen und ihrem Arbeitsalltag steht der Wunschtraum nach Durchlässigkeit in einer Gesellschaft. Diese Pampe, Max, hält sie auf Trab! Und in diese Schnittstelle müssen wir gehen! Es dauert nicht mehr lange, bis sich unser Markt durchsetzt und die natürliche Nachfrage größer wird. Dann müssen sie uns sehen. Alle!«

Dr. Brendel sagte, er würde nicht glauben, dass es sich bei den meisten Menschen um Dummköpfe oder Opportunisten handelt. Nein, man müsste sie vertraut machen mit dem Neuen. Und das ... würde das eigentliche Problem sein. »Aber,« fügte er hinzu,»ein Fremder ist schließlich auch nur ein Freund, den man noch nicht kennen gelernt hat.«

«Was haben wir denn da?« Brendel inspizierte seinen Teller. «Ich hatte schon die Befürchtung, dass sich so ein dünnes, schwarzes Wurmwesen auf meinem Teller heimisch fühlt.«

«Eine Trüffelzeste!« Bader sah Brendel vorwurfsvoll an:

«Wir wissen, dass diese Dynamik von immer mehr Politikern erkannt wird. Es sind mittlerweile erhebliche Mittel, die aus dem Finanzhaushalt für das Mannsfelderinstitut und andere Bundesforschungseinrichtungen für Langzeitprojekte bestimmt waren, über Spin-Offs an ”Vitacell“ weitergeleitet werden. Jetzt habe ich Hunger. Mahlzeit!«

Britta Zielke saß einige Tische hinter ihnen und unterhielt sich mit dem Leiter der Abteilung Tissue Engineering. Irgendwie schien sie Brendel und Bader zuzuhören, aber sie hatte schnell begriffen, dass sie an dem Tisch der beiden Vorstandskollegen nicht willkommen war.

*

Hamburg, die Alster, meine Frau, Nora, unser Haus namenlos, ich, B r e n d e l, Max. Es brennt, es brennt, und niemand kommt der rennt, der löscht. Ah, was wissen wir schon vom Löschen! Wer löscht, der kneift! Nora ist keine, die kneift, die löscht nicht! Ich auch nicht. Wozu löschen? Wir sind keine Beauftragten von irgendjemandem. Wir sind uns selber überlassen. Wir müssen selber entscheiden. Also entscheide ich selbst. Wer sonst? Alles sonst ist kommissarisches Geschwätz.

Nein, es soll künftig nicht mehr wie bei Brahms in dem alten Kinderlied heißen: ´Morgen früh, wenn Gott will ...`. Vielmehr wird es so sein, dass wir an seine Stelle treten ... wir Gott ersetzen werden. Das ist keine Suada! Es ist exakt so gemeint!

Laut tönen die Gedanken in Max Brendel nach.

*

Rüttelt man an den Grundfesten ihrer Überzeugungen, kontern viele Menschen mit Moral und Ethik. Dabei wissen die meisten noch nicht einmal, für welche Prinzipien sie stehen. So ähnlich hatte Nora Brendel sich gestern geäußert.

»Aber Wirtschaft ohne Moral schadet allen und gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft! Diese Mahner vor der Habgier sehen sich immer Seite an Seite mit dem alten Thomas Jefferson, wie er dasitzt und liest, dass die menschliche Natur in keiner Weise geeignet sei, Wohlstand zu ertragen«, hatte seine Frau gesagt. »Ein Totschlagargument, weiter nichts!«. Max war bei ihr.

Sie überquerten die Elbchaussee und waren jetzt im Jenischpark. Nora hatte sich bei ihrem Mann untergehakt. Max sagte: »Die Aufrechterhaltung von Zeitgeist bedingten Tabus und die Errichtung von Schweigekartellen sind lediglich Wegkreuze, die in ein Apartheidsystem führen. Das weiß jeder!«

»Genau aus diesem Grund bist du nicht derjenige, der das letzte Band zerreißt und die Gesellschaft gleich mit. Oder?« Nora strich über Max Kopf. Sie schlenderten weiter.

Max Brendel schauderte, wenn er an die Menschen dachte, die ihr Weiterleben einem Organ von Hingerichteten verdankten. Staatlich legitimiert und somit legal. Pekings Gesundheitsministerium hatte das offiziell eingestanden. Die Hilfesuchenden hängen von nichts anderem ab, als von der Anzahl der Hinrichtungen.

Das Blut, die Zelle, die Heilung, das Geschäft, der Name, die Macht. Dr. Brendel lag nichts an einer bloßen Utopie.

Sie steuerten die Bank unter der mächtigen Ulme an. Mit angezogenen Beinen machte es sich Max auf der Bank bequem, während Nora sich an das freie Ende setzte und seinen Kopf liebevoll auf ihren Schoß legte.

Er meinte: »Trotz der verbalen und vordergründigen Aufgeschlossenheit vieler Menschen ist homo sapiens so unverändert verhaltensstarr.« »Tja, anders als am liebsten angenehm übersichtlich, mögen die Menschen sich die Welt doch gar nicht erklären.«, erwiderte sie und lachte.

Überrascht sieht Dr. Brendel seine Frau an, als sie sagte:

»Man kann nur gegen den Wind aufsteigen. Sonst treibt er einen vor sich her.«

Erster Fund

06.06., Samstag, 10:30 Uhr, Alt-Bessin, Hiddensee

Zwei Tage hatte es wie aus Kübeln geschüttet. Alles Wasser dieser Welt schien sich an diesem einen Ort versammelt zu haben. Jetzt blinkt die Luft in der Sonne und

die Sandbänke schlieren im saphirfarbenen Wasser. In dieser Farbe wirkt das Nass schwer und dickflüssig.

Eine kleine Bucht am nordöstlichen Ende von Hiddensee. Nur von der Seeseite kann man die weißen Kreideklippen sehen. Das Flachwasser drängt durch den dichten Schilfgürtel, der vom Festland weg eine grüne Wand bildet. Das Wasser erzeugt ein flappendes Geräusch und leckt den kleinen Strand hinauf. Auf der Suche nach Essbarem sprinten eifersüchtige Vertreter aus der großen Familie der Regenpfeifer über den Meeressaum; in der Luft – Austernfischer. Ihre durchdringenden Rufe passen nicht in die sich abzeichnende Trägheit des Tages hinein. Auf dem Wasser dösen zahlreiche Wildschwäne und Mantelmöwen, und die Kormorane verschwimmen als dunkle Punkte im Dunst des noch frühen Tages. Behäbige Wärme und Zeitlosigkeit machen sich breit. Inselsommerwetter!

Und irgendwann folgt wieder diese Stimmung, wie aus dem Endstadium der Sehnsuchtsprojektionen eines von den Zwängen der Grundversorgung befreitem Leben.

*

Gesine und Jakob sind Pensionsgäste auf der autofreien Insel. Das Paar ist Mitte zwanzig. Es ist jetzt Vormittag. Mit Fahrrädern machen sich die beiden auf den Weg zu den Kreideklippen. Der Abstieg zu den kleinen Sandstränden ist steil und gefährlich.

Sie haben den kleinen Ort Grieben im Osten passiert und radeln am Schilfgürtel vorbei. »Ein tolles Versteck!», sagt Gesine. »Kommt drauf an für was. Wenn du dir wie ein hungriger Reiher nasse Füße holen willst ...», erwidert Jakob. Er grinst und fragt sich, wie tief hier das Wasser sein mag. Das Paar verlangsamt das Tempo, hält an, dann steigen sie von ihren Rädern und legen sie auf die sandige Grasfläche.

Rasch steht die Entscheidung. Sich foppend und feixend ziehen sich Gesine und Jakob aus, dann gehen sie ins zunächst knietiefe Wasser. Nachdem sie übermütig die ersten Meter im Schilf hinter sich gebracht haben, gehen sie weiter, bis das erstaunlich warme Wasser ihnen über den Bauchnabel schwappt. Doch schon nach wenigen Metern steht das Schilf hinter ihnen wie unberührt. Gesine sieht angestrengt zu Jakob rüber. In ihrem Blick liegen Fragen:

Aus welcher Richtung sind wir gekommen, und wie weit sind wir vom Ufer entfernt, vor allem aber: Finden wir wieder raus?

Jakob scheint die Situation zu genießen. «Wir bewegen uns im Kreis, unser innerer Widerstand erlahmt, und du verfällst zuerst in Panik. Niemand wird auf die Idee kommen, hier zwei Menschen zu vermuten.« Gesine ballt die Faust und schlägt ihm leicht gegen die Brust. Dann küsst sie ihn kurz auf den Mund.

Im klaren Wasser blitzen Bewegungen auf. Fische, Amphibien, Vögel und ... Die zwei gehen vorsichtig voran. Dort, wo der Meeresboden schlickig ist, steigt hellbrauner Schlamm in zarten Schlieren unter ihren Füßen auf. Kleine Styroporbrocken treiben verstreut auf der Wasseroberfläche. Das Gebiet liegt in der Kernzone des Nationalparks. Selbst kleinste Abfallmengen sind hier ein klarer Gesetzesverstoß.

Noch etwas treibt teils auf, teils unter Wasser, etwas Helles, Rechteckiges. Vielleicht ist es ein Block aus diesem weißen Dämmmittel.

Das Paar bleibt stehen, sieht sich erstaunt an. »Kein Ufer ... kein Rest der Welt. Nichts! Nur diese grüne Wogen.», raunt Jakob geheimnisvoll und blickt Gesine herausfordernd an. »Hmm, der reinste Kindertraum!», antwortet Gesine mit leiser Gebetsstimme. »Gesine, wie fändest du ... wenn wir ... hier im Schilf.» Die junge Frau blickt ihren Freund an. »Gesine!», forciert Jakob gedehnt. Die Tonhöhe steigt mit den beiden letzten Silben dramatisch an. Jakob sucht Gesines Blick. »Pass du nur auf, dass sich kein Hecht an deinem kleinen Freund vergreift. Den brauche ich noch für später.»

Sie macht eine horizontale Schnittbewegung mit ihrer linken Hand. Die hüpft auf der Stelle, grinst und schüttelt ihre Brüste.

»Lass uns eine Schilfhütte bauen und Kinder großziehen.», sagt Jakob. Gesine zieht die Augenbrauen in die Höhe. Sie teilt entschlossen das Schilf und macht einen energischen Schritt nach vorne. »Auch eine Antwort, meine Liebe!», sagt Jakob und lächelt.

Sie sehen die Bewegung gleichzeitig. An einer Stelle ist das Wasser plötzlich unruhig.

Hechte, die sonst strikte Einzelgänger sind, stehen nahe beisammen. Das lange, entenschnabelförmige Maul strotzt nur so vor äußerst spitzen und nach hinten gebogenen Zähnen. Jakob und Gesine wundern sich, dass die sonst scheuen Räuber nicht sofort flüchten. Der Grund wird ihnen abrupt klar. Weißlich fahle Fleischfetzchen treiben umher und bilden einen kleinen löchrigen Teppich an der Oberfläche des Wassers.

Vor ihnen liegt ein Mensch im Wasser. Die beiden sehen sich bestürzt an.

Was Gesine und Jakob weit mehr entsetzt, ist die Tatsache, dass diesem Menschen Arme und Beine fehlen. Und als wäre das nicht bestürzend genug: Der Leiche fehlt der Kopf! Es ist der Torso einer Frau.

Max Brendel und ”Vitacell“

03.06., Mittwoch, 16:00 Uhr, ”Vitacell“, Hamburg-Eppendorf

Nach der letzten Besprechung an diesem arbeitsreichen Mittwoch packte Max Brendel in seinem Büro das auf dem Schreibtisch liegende Wochendossier, sein Laptop und diverse Schlüssel zusammen.

Er verschloss die Schreibtischschubladen, nahm seinen Pilotentrolley und verstaute alle Sachen in dem schwarzen Ungetüm. Sein Mobiltelefon steckte er in die Innentasche seines Jacketts.

Britta Zielke hatte sich bereits am frühen Nachmittag für den Donnerstag und Freitag entschuldigt, private Gründe, ein langes Wochenende, hatte sie kurz und bündig gesagt. »Britta, ich weiß es zu schätzen, dass sie mich ins Vertrauen ziehen. Bis Montag!», hatte Brendel lakonisch erwidert. Zielke und Brendel in einer Sitzung bedeutete häufig Kampf um das Setzen von Begriffen und um das letzte Wort.

Dr. Brendel war erleichtert, dass Hagen Florin gerade in Togo war. Der Einkaufsleiter ging Brendel auf die Nerven, weil er nie auf den Punkt kam, wenn es um Afrika ging. Levent Gül, der Finanzchef des Unternehmens, hielt sich eher am Rand der Vorstandsriege auf, wenn Brendel und Zielke in Fahrt kamen.

Dr. Matthias Bader war die vitacellsche Koryphäe für Produktentwicklung. Mit ihm konnte sich Brendel austauschen. Bader hatte keine Scheu, Zäune einzureißen. Es wäre der Kündigungsgrund schlechthin, es nicht zu tun, hatte Bader gesagt.

*

Brendel machte früher Schluss, um sich Zuhause in Ruhe auf seinen morgigen Vortrag vorzubereiten. Eine neue Lesart von ”Vitacell“ stünde ab jetzt auf dem Plan. Fünfzehn Pressevertreter, die meisten aus dem Printbereich, hatten ihr Kommen angekündigt. Neben dem Vorstand würden außerdem leitende Mitarbeiter anwesend sein.

Und am Freitag würde er mit seiner Frau an die kanadische Westküste fliegen.

Am folgenden Dienstag hatte Max bei “Gerontic Corporation“ in Baltimore Besprechungen, nur wenige Stunden, die er persönlich im Mutterkonzern von „Vitacell“ führen müssten. Er hatte Nora gefragt, ob sie mit ihm kommen würde.

»Kommt niemand sonst mit, Laura vielleicht?», wollte sie wissen. »Du bist eifersüchtig auf die talentierte Assistentin meiner Lieblingsgegnerin!«, neckte er Nora. Sie lachten leise. Also gut, dann Vancouver.

Außerdem wollten sie wieder ein gemeinsames Wochenende in ihrem Hiddensee-Haus verbringen. Eingebettet zwischen Dünenausläufern lag das Haus unterhalb der Streusiedlung Neuendorf. Nora nutzte es regelmäßig, während Max dazu kaum Zeit fand.

Brendel nahm seine Krawatte ab und steckte sie in den Rollkoffer. Er verriegelte die Fenster seines Arbeitszimmers, legte sich das Jackett salopp um die Schultern, nahm die Tasche und warf an der Türe stehend noch einen Blick auf seinen Schreibtisch.

Nachdem er sein Arbeitszimmer abgeschlossen hatte, sagte er seiner Assistentin, dass er wegen der Presseveranstaltung morgen früher käme und bat sie, wegen der letzten Vorbereitungen zeitig im Unternehmen zu sein. »Morgen müssen wir in Hochform sein.« Monika Strittmatter strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte, dass sie um 07:00 Uhr hier sein würde und dass er sich absolut auf sie verlassen könnte. Sie wünschte ihrem Chef einen schönen Abend.

Er ging über den Flur zum Aufzug. Nach wenigen Schritten stoppte er, ging zurück und fragte Strittmatter, ob sie wüsste, was mit Laura Domin los wäre. Sie verneinte. Strittmatter wusste nur, dass Domin bereits nach der Mittagspause gefahren wäre. »Sie hat ja jetzt das neue schöne Auto«, konnte sie sich nicht verkneifen, schaute ihren Chef vielsagend an und sagte:

»Vielleicht hat Frau Zielke ihr frei gegeben. Sie wollte ein längeres Wochenende einlegen.« »Das weiß ich. Sie hat es mir gesagt. Ich habe Frau Domin gemeint.

Na ja: Urlaubswahn!«, sagte er gedehnt. »Die Beiden sind aber auch total überarbeitet.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. Brendel ging zu Strittmatter, tätschelte unbeholfen deren linke Schulter und grinste. Strittmatter fühlte sich geschmeichelt und lachte devot.

Brendel ging erneut zum Aufzug, steckte den Sicherheitsschlüssel in ein spezielles Schloss, drückte auf dem Tableau auf U1 und fuhr von der dritten und obersten Etage des kubischen Gebäudes nach unten in die Tiefgarage.

Der zusätzliche Sicherheitsmechanismus sollte es Einbrechern unmöglich machen, ins Hauptgebäude einzudringen, auch dann, wenn sie sich den Zugang durch die ohnehin gut gesicherte Zufahrt zur Tiefgarage bereits verschafft hätten. Aus dem Aufzug schritt er zu den fünf Stellplätzen, die dem Vorstand von ”Vitacell“ vorbehalten waren.

Das in der Biotechnologiebranche erfolgreiche Unternehmen lag am Haynspark mit direktem Blick auf den Alsterlauf, unweit vom Universitätsklinikum Eppendorf.

Das weiß gestrichene Gebäude wollte keiner Vorzeigearchitektur huldigen. Ein Mezzanin über dem dreigeschossigen Gebäude lockerte die nüchterne Machart zwar auf, ansonsten war der Bau eher konventionell errichtet worden.

Kein Kombizonenkonzept, keine Kommunikationsbrücken und auch kein sichtbarer Anspruch an eine besondere bauliche Weite, die nach Ansicht der Baupsychologie die innere Größe des individuellen Mitarbeiters zum Vorschein bringen sollte.

Auffällig waren allerdings die großzügigen Fensterfronten und der in die Fläche gehende Grundriss.

Trotz der eher niedrigen Höhe besaß das Unternehmensgebäude genügend Platz, um Verwaltung, Vorstand, die wissenschaftliche Abteilung samt der Labore sowie das Archiv unter zu bringen. Die einhundertdreißig Mitarbeiter hatten keinen Grund sich zu beschweren, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Eine Tiefgarage komplettierte die Vertikale.

*

Seit knapp sechs Jahren war Brendel Vorstandsmitglied von ”Vitacell“. Er leitete die Abteilung Vertrieb und Marketing.

Er war ´angekommen`, wenn man die Prinzipien einer forcierten Leistungsgesellschaft zugrunde legt. Status, Geld, Ansehen: alles stimmte. Max Brendel war achtunddreißig, knapp einsneunzig groß, schmales, markant geschnittenes Gesicht, die Haare teerfarben, und trotz der sorgfältigen Rasur hatte er einen dunklen Bartschatten.

Er wirkte asketisch, jedoch mit einem Schuss Hedonismus, den Menschen benötigen, um nicht gänzlich linear zu leben.

Neben Betriebswirtschaft hatte er noch International Corporate Management an der angesehenen Universität in St. Gallen studiert. Bei einem überdurchschnittlichen Abschluss war diese Adresse eine wahrlich gute Voraussetzung, sich erfolgreich auf offene Leitungsstellen zu bewerben.

Der codierte Schlüssel öffnete den Porsche. Brendel hatte kurz überlegt, ob er nicht über Nacht nach Hiddensee fahren sollte. Drei Fahrstunden mit geöffnetem Verdeck würden vor ihm liegen. Raus aus der Innenstadt, über die Peripherie. Ab da ging es passabel vorwärts. Doch Max wollte erst nach Hause. Er nahm sich vor, seine Frau auf der Fahrt nach Hause anzurufen.

Im Vorstand standen zwei gegensätzliche Zukunftskonzepte zur Diskussion. Brendel hatte den Eindruck, dass die Vorstandsvorsitzende Britta Zielke mehr Rückenwind erhielt, seit Laura Domin für sie arbeitete. Dabei hätte er die Neue gerne für sich selber gehabt.

Brendel entschied gerne zügig und nahm klare Positionen ein. Diskurskultur wäre etwas für arbeitslose Akademiker, die versuchten, sich sozial am Leben zu erhalten, hatte er Zielke in einer Auseinandersetzung an den Kopf geworfen.

Ginge es nach ihm, würde „Vitacell“ Bioingenieure und Mediziner einstellen, die über umfassende Erfahrungen in der Stammzellforschung verfügten und Kenntnisse in der kommerziellen Verwertung von Biophysik, Biotechnologie mitbrachten. Keine Zuträger. Nein, souveräne Menschen, die anwendbares Wissen besaßen und mit einer Vorstellungskraft ausgestattet waren, mit der sie gesellschaftliche Visionen in Einfluss und Rendite verwandeln konnten.

Die verstanden, dass die ungleiche Verteilung von Geld der Vektor zur ungleichen Verteilung von Wahrheit war und deshalb keinem moralischen Rechtfertigungszwang unterlagen oder ethische Befangenheit vor sich her wälzten. Darin war er sich mit Dr. Bader einig. Doch die Vorstandsmehrheit lavierte. Dabei waren schon jetzt einzelne Politiker, Vertreter von diversen Syndikaten und meinungsführenden Medien mit im Boot.

´Unsere Zukunft ist die Zukunft der Biotechnologiebranche`, hatte ein parlamentarischer Staatssekretär kürzlich Brendel auf einem Empfang in Berlin gesagt.

Brendels Ehrgeiz hatte kein Problem damit, sich von nicht wettbewerbsfähigen Unternehmensbereichen wie dem Prüflabor ”Belbor“ in Leuven zu trennen. Die Rohware kam überwiegend aus Togo und Nigeria, und das belgische Unternehmen war zuständig für die zweistufigen Gütetests dieser Ware, bevor sie weiter nach Hamburg geschickt wurde. Doch der afrikanische Markt glich einer Hydra.

Das belgische Gesetz hatte großzügige Voraussetzungen für diese sensible Branche geschaffen. Noch vor fünf Jahren war ”Belbor“ ein ehrgeiziges Unternehmen, das internationale Investoren anzog.

Sehr bald war ”Vitacell“ mit rund fünfundfünfzig Prozent der größte Anteilseigner. An dem Geschäft war nicht zuletzt Dr. Hesse von ”Belbor“ beteiligt. Ein fähiger Syndikus, fand Brendel.

Jetzt könnte der Verkauf von ”Belbor“ ein starker Anfang und ein Zeichen für den Aufbruch von ”Vitacell“ sein. Zielke hielt sich bedeckt und Bader fand, dass Brendel den Zustand von ”Belbor“ dramatisierte. »Mein lieber Max, unser Belgiengeschäft mag nicht, noch nicht, optimal sein. Aber ”Belbor“ ist kein Dschungelcamp, es ist ein angesehenes Prüflabor und arbeitet günstiger als die deutsche Konkurrenz, vergiss das nicht. Und die arbeitet trotz höherer Preise keineswegs besser. Sprich mit Wouters.«

Mit Wouters sprechen? Der Professor war im gleichen Alter wie Brendel; ein Fleisch gewordener Hochbegabter und ohne Frage der begabteste Wissenschaftler im Unternehmen. Doch dieser Kerl mit dem bartlosen Gesicht unter der absurd hohen Stirn hatte den Laden in Leuven nicht im Griff. Außerdem hatte der Belgier so ein seltsames Flirren in seiner Persönlichkeit. Aber Bader hatte recht – natürlich war ”Belbor“ kein Dschungelcamp.

Levent Gül und Hagen Florin waren zwar keine Mitläufer. Sie neigten aber dazu, sich zügig auf die Mehrheitsseite zu stellen. Opportunisten, sagte sich Brendel, dessen Weitsichtigkeit im Vorstand trotz vieler Gegensätze anerkannt wurde.

*

Wie in allen Wirtschaftsunternehmen ging es auch bei „Vitacell“ um das ‚Kleine Einmaleins’ der Wirtschaft, die Rendite. Brendel ging es vor allem um den Innovationstakt. Wie eine Sinuskurve sollte dieser Takt durch „Vitacell“ pulsen. Die Fähigkeit, kontinuierlich exzellente Ergebnisse hervorbringen zu können, sollte die Konkurrenz in schweres Fahrwasser bringen und der Politik zeigen, wer das Alphatier dieser Zukunftsbranche ist. Nur mit den besten Köpfen und unter hohem Arbeitsdruck konnte ”Vitacell“ sich eine international unangefochtene Spitzenposition erobern und sichern. Dazu benötigten sie Wagniskapital, aber die Investoren verhielten sich wie Borderliner.

Die Konkurrenz wuchs schneller als die gesamte Branche. Von seinen Vorstandsmitgliedern verlangte Brendel deshalb mehr Freiheiten.

Und die Zielgruppe der Scharnierpersonen in Westafrika war empfindsam. Sie waren die eigentlichen Entscheidungsträger. Auch Hagen Florin wusste das. Er war der Kontaktmann zu ihrem Geschäftsführer in Lomé. Es war Britta Zielke, die ihn eingestellt und ihm alle Vollmachten verliehen hatte. Zielke hatte wirklich keine Ahnung...

Wie hieß der Leiter des operativen Afrikageschäftes in Lomé noch gleich? Irgendwas Schottisches oder Irisches ... McLellan, genau.

Brendel hatte vor einem Monat ein ehrgeiziges Positionspapier auf eigene Faust erarbeitet. Die anderen vier Vorstandsmitglieder zeigten sich von seiner Diagnose beeindruckt. Brendel war über die Resonanz eher erstaunt als erfreut.

*

”Vitacell“ war ein rechtlich eigenständiges Tochterunternehmen des an der Wallstreet Börse notierten Branchenführers ”Gerontic Corporation“ in Baltimore und spezialisiert auf die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus Nabelschnurblut.

In Europa gab es keinerlei Harmonisierung. Das machte das Geschäft politisch und gesetzlich kompliziert. Aus diesem Grund hatten sie mit der Produktion von iPS-Zellen begonnen. Als erster und einziger kommerzieller Anbieter hatte ”Vitacell“ eine Zulassung des Paul-Ehrlich-Instituts erhalten.

Das Unternehmen machte nach außen stets deutlich, dass durch die Forschungsarbeit unheilbare Krankheiten später besiegt werden könnten. Kritiker hielten ihnen vor, darauf aus zu sein, aus Zellkulturen komplette Organe, Körpergewebe zu züchten und das Klonen von Menschen voranzutreiben.

Sogar Britta Zielke fand das komisch. Wissenschaftler konnten im Erbgut schon länger Genmutationen so gut lesen wie man ein anspruchsvolles Buch liest. Das erzeugt einen Selektionsdruck auf das ungeborene Leben. Ganz sicher! Die meisten Menschen wissen das nur noch nicht.

Die Konsequenzen? Sie werden die Menschheit verändern. Revolutionär.

Weit mehr als je zuvor hing die Zukunft von Entscheidungen ab, die im Grunde bereits getroffen worden sind und nicht mehr revidiert werden können.

Dr. Brendel war unzufrieden mit der Wahrnehmung des Unternehmens in der Öffentlichkeit. Ein Freund der Brendels war Gerichtsmediziner. Bei einem Abendessen hatte er gesagt, dass es in Deutschland keine Obduktionspflicht gebe. Ebenso wenig wäre ”Vitacell“ verpflichtet, sich mitzuteilen, worauf Brendel erwiderte: »Wir sind keine Leiche ... obwohl manch einer Zombies vor Augen hat, wenn er an ”Vitacell“ denkt.« Hierüber lachten Nora und Max Brendel mit ihren Gästen.

Die Menschen achten darauf, dass ihnen keine Schlachttiere in ihrer Ethik herumlaufen. Ein erstaunlicher Blinder Fleck. Und eugenisches Handeln findet schon seit Jahren statt.

Wer sind die Täter? Keineswegs der Staat oder böse Wirtschaftsunternehmen, nein, Selektion findet durch Eltern statt. Eine Frage der semantischen Hygiene!

Der böse Ausdruck, der sich in Brendels Gesicht eingenistet hatte, verschwand. Der Vorstand und die Mitarbeiter waren keine Berufsverbrecher. Ihre Unternehmenspolitik bräuchte also nicht rechtfertigt werden.

Diejenigen, die es sich leisten konnten waren wild auf eine Verjüngung mittels eigener Stammzellen. Die gesamte hoch gerüstete Kosmetikindustrie stand bei Fuß. Hatten die Leute kein Recht am eigenen Körper?

Libertäres suum cuique! Der Markt – nicht die Moral!

*

”Vitacell“ hatte Verträge mit zahlreichen medizinischen Einrichtungen abgeschlossen und das Vorzugsrecht erworben, als erste das Nabelschnurblut zu kaufen. Das Unternehmen zahlte lukrative Provisionen an die Einrichtungen, sofern es diesen gelang, die jungen Eltern zur Überlassung dieses Rohstoffes zu bewegen.

In Blockseminaren verinnerlichte das zuständige Personal, entsprechende Hinweise an die Eltern weiterzugeben. Die dem Nabelschnurblut entnommenen Stammzellen wären ein wahrer Segen. Bei dem Kind könnten im Verlauf seines Lebens schließlich schwere Erkrankungen auftreten.

Zweitausendfünfhundert Euro kosteten die Entnahme, Extraktion, Separation, Konservierung und das Einfrieren auf konstant -196° in flüssigem Stickstoff. Das waren Nebeneinnahmen, fanden Matthias Bader und Levent Gül, ein Schritt durch die Alltagstür der Biotechnologie.

Der Gesamtbevölkerung auf lange Sicht helfen. Warum nicht. Seine Frau war sehr dafür. Höhere Weihen? Die Zielke wollte immer nur Unternehmerin sein. Du dumme Kuh! Dabei wusste sie, dass heute in den westlichen Industrienationen mehr als neunzig Prozent aller Schwangerschaften abgebrochen werden, weil Trisomie 21 nachgewiesen wurde.

Und wer nimmt die Diagnose in Anspruch? Die Eltern! Sie waren die eigentlichen Betreiber dieses Geschäfts.

Brendel begriff sich als Komponist von Leben, dessen Werk andere auf die Bühne bringen durften. Komponist von Leben: Das war ein noch weit lukrativerer Zukunftsmarkt, sagte er sich.

Max Brendel ruft vergeblich an

03.06., Mittwoch, 16:40 Uhr, Hamburg-Klein Flottbeck, Privathaus der Brendels

Das Haus der Brendels steht in Klein Flottbeck an der Elbchaussee. Hamburger Toplage. Nach Süden hinaus fällt der Blick auf die unten vorbei fließende Elbe. Gegenüber ist der Jenischpark mit seinem Naturschutzgebiet Flottbecktal und dessen alten Baumbestand. Die Haushälterin hat das Haus wie gewöhnlich am Vormittag versorgt.

Max Brendel hat sich einen starken Kaffee gemacht. Er nimmt die Tasse, geht mit ihr quer durch den großzügigen Raum bis zu der Stelle, wo der helle Bambusboden in lichtgrünes Sicherheitsglas übergeht. Dieses Bodenglas ist die konsequente Fortsetzung der großzügigen Panoramafenster, die das ganze kubische Gebäude auszeichnen.

Eingerahmt in die strenge äußere Form des Hauses und dieses Fensters hätte Brendel, aus der Distanz betrachtet, wie eines jener menschenähnlichen Figürchen ausgesehen, die ein Modellbauer für sein fertiges Werk nutzt, um dem Architekten einen lebensnahen Eindruck seines Projektes zu vermitteln.

Er nippt an der heißen Tasse und blickt auf das leicht abfallende Grundstück. Das Grün des weitläufigen Rasens läuft scheinbar dynamisch auf die Elbe zu. Eine mächtiger Strom, diese blau-graue Wasserader.

Brendel nimmt einen vorsichtigen Schluck aus der Tasse.

Er steht da und verliert auf eine für ihn angenehme Weise seine gewohnte Sachlichkeit, sein daran geknüpftes Selbstgefühl. Anders als sonst denkt er an nichts Konkretes, nicht an das fertige Bild im Kopf, wenn er etwas in der ´Pipeline` hat.

Mit Blick auf den großen Fluss verspürt er auf einmal etwas Vages, das sich wie ein Verlangen nach einer alten Erinnerung anfühlt. Er trinkt den restlichen Kaffee und fühlt eine plötzliche Leichtigkeit, die ihn glücklich macht. Max Brendel blickt in die Tasse, geradeso, als wäre dort verborgen, was er soeben empfunden hat.

*

Ein Bild drängt sich ihm auf; es ist eine ganze Spur zu kraftvoll, beinahe unangenehm. Brendel spürt nicht mehr den gläsernen Boden unter sich. Seine Hand, welche die Tasse hält, wird leicht und das Gewicht der Porzellantasse sphärisch. Sein Blick über die Elbe weicht einem Blick nach innen. Brendel steht straff, wie angewurzelt und dennoch wachsen ihm Flügel.

Ein Boot trägt ihn über die Elbe in die Nordsee und von da in den Atlantik. Dort will er die blaueste Stelle dieses Ozeans suchen und finden. Als Junge hatte er sich das gewünscht, wenn er in seinem Bett liegend durch das Dunkel des Zimmers auf den erleuchteten Globus sah. Jeden Abend verkörperte der für ihn die sprichwörtliche Welt. Er hatte sich vorgestellt, dass sich das Wasser an manchen Stellen des Globus so stark verdichten müsste, dass es zu eben diesem besonderen Dunkelblau wird. Später wurde ihm klar, dass der Hersteller dieser Globusse nur unterschiedliche Blautöne nutzte, um verschiedene Gegebenheiten auf der Erdoberfläche hervorzuheben. Das Blau, welches über den ozeanischen Gebirgsketten lag, war deshalb dunkler, weil es auf den Spitzen der untermeerischen Gebirge lag. Und die hatten einen schwarzen Ton. So einfach war das!

Der junge Brendel hatte dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen gegeben und dem Bekannten die Würde des Unbekannten, sowie dem Verstehbaren die Aura des niemals Ergründbaren verliehen.

Als er das erkannte, hatte er sich vor sich selbst geschämt.

*

Max Brendel erschrickt kurz und muss lächeln. Sein Körper löst sich aus der leichten Starre. Noch vor wenigen Jahren wären ihm solche Erinnerungen peinlich gewesen. Jetzt nicht. Er bewegt sich mit verspielten Kippbewegungen in der Hüfte Fuß um Fuß zurück zu der offenen Küche, wo er die Tasse auf der Anrichte abstellt.

Dann geht er, über drei Stufen hinab, hinüber zu dem begehbaren Kleiderschrank. Während er sich bequemere Kleidung heraus nimmt, wählt er die Nummer seiner Frau.

Er hatte vergessen, sie aus dem Auto anzurufen und überlegt, ihr von dem Tagtraum zu erzählen. Er ist sich sicher, dass er es tun wird. Brendel lässt es lange läuten. Nora wollte doch an ihrem Bild weiterarbeiten, erinnert er sich.

Wahrscheinlich hatte sie ihre Malutensilien auf den Fahrradanhänger geladen und war zu dieser großen Sandmulde mit den Föhren -oder waren es Seekiefern?- gefahren. »Das klare Licht, die Kontraste der Farben ... das inspiriert mich.«, hatte Nora ihm wie ein ernsthafter Backfisch gesagt.

Sie ist robust-sanft und sehr eigenwillig, dachte er. Eine Mischung, die er an ihr schätzt. Es gefällt ihm, dass seine Frau betont eigenständig ist. Nora mag seine Zielstrebigkeit und die Art, die Dinge weiter zu fassen. Das weiß er. Und er weiß, dass sie ihm nicht schmeichelt. Einmal hatte sie ihm gesagt, dass er seine Ziele bei ”Vitacell“ auf jeden Fall erreichen würde und die Hilfe würde vor ihm sitzen. Dabei hatte sie ihn seltsam angesehen.

Sie leben zwei Leben, er in Hamburg, sie überwiegend auf Hiddensee. Genauso wollten sie es. Es war keines jener kleineren Übel, das einem Mangel an Alternativen geschuldet war.

Noch einmal lässt er es lange läuten, doch ihr Handy bleibt stumm. Es kommt häufig vor, dass es auf der Insel eine nur sehr schwache Funkverbindung gibt. Auch im Hiddenseehaus hebt niemand ab.

Es ist 17:00 Uhr, höchste Zeit, wenn er noch fahren wollte. Gegen 19:00 Uhr wäre er in Schaprode und würde mit dem Wassertaxi über den Bodden nach Neuendorf übersetzen, um noch das Tageslicht, die Wärme und den Sonnenuntergang des Frühsommers genießen zu können. Und Nora!

Mit diesen Gedanken nimmt er seine Arbeitstasche und geht beschwingt in sein Arbeitszimmer, das in der oberen Etage liegt. Er öffnet ein zur Elbe weisendes Fenster und genießt die milde Luft. Nach einem längeren Blick auf die Landschaft setzt er sich an seinen Schreibtisch.

Er genießt die Vorfreude auf die anstehende Arbeit für den morgigen Tag. Morgen würde er grundsätzlich werden.

Ich bin ein glücklicher Mann, denkt Max Brendel!

Spaziergänger

Harvestehude zeichnet sich durch vier Merkmale aus:

Der Stadtteil ist selbst für Hamburger Verhältnisse dicht besiedelt; der Mangel an Kindern greifbar; die Lage an der Außenalster ausgesprochen attraktiv und ebenso teuer. Pöseldorf war ein vormals eigener Stadtteil, besser gesagt ein Geviert, dessen Bewohner mit einer mitleidlosen Exklusivität auf den Rest der Stadt blicken. Stellen sie sich die Nachfahren der „Mayflower“ in Boston vor. So ähnlich wird dieses Kleinod in der Stadt und von den Medien wahrgenommen.

Das Profil passt positiv zu Britta Zielke. Am Pöseldorfer Weg bewohnt sie, keine hundert Meter entfernt von der Außenalster, ein Stadthaus, dessen Garten zum Harvestehuder Weg liegt. Es ist ein geweißtes, neoklassizistisches Haus, das zur Straße hin einen ausladenden, halbkreisförmigen Erker hat, dessen großzügiger Eintritt von Säulen eingerahmt ist. Gehässige sprechen von einer ´Vom-Winde-verweht-Architektur` für Bürgerliche.

Ein für diese Wohngegend typischer Baustil. Die Straße ist trotz ihrer zentralen Lage in der Großstadt außerordentlich ruhig. Alter Baumbestand säumt die breiten Bürgersteige und taucht Teile der Straße und der Gehwege selbst an heißen Tagen in einen angenehmen Schatten.

Kein Mensch ist zu sehen. An der angenehmen Witterung kann es nicht liegen. Die Straße wirkt, wie das ganze Viertel, ausgestorben.

Sollte jemand bei passendem Wetter seinen parkähnlichen Garten benutzen, geschieht das so diskret, dass nur sie selbst davon mitbekommen. Sie gehen auch nicht in der eigenen Straße spazieren, sie queren sie höchstens zum Wasser. Man fährt mit dem Auto, hier. Auch kurze Wege. So ist das.

Von der benachbarten Milchstraße kommend sind an diesem warmen Frühabend noch zwei Spaziergänger unterwegs. Eine Frau und ein Mann. Ein kleiner Hund, eines dieser schwarz-weißen Energiebündel mit Drahthaar, die heutzutage offenbar alle besitzen müssen, leistet ihnen Gesellschaft.

In der Milchstraße stehen Häuser, die fast noch eindrucksvoller als die am Pöseldorfer Weg sind. Es könnten Touristen sein, die gelegentlich hierher kommen, um ein wenig die ´Schöner-Wohnen-Schau` zu betreiben. Neureiche Chinesen vielleicht oder nostalgietrunkene Japaner. Auch Gäste der nahe gelegenen Hochschule für Musik und Theater vertreten sich hier ab und zu die Beine.

Ohnehin kann man sich hier gefahrlos bewegen. Das Viertel ist, trotz seines Reichtums, sicher. Gelegentlich passieren Streifenpolizisten auf ihren Fahrrädern die Gegend. Ansonsten herrscht hier Friedhofsruhe.

Die Spaziergänger könnten, betrachtet man ihre Kleidung, auch Anwohner sein, die von einem Spaziergang an der Außenalster zurückkehren.

Sie ist etwa fünfzig Jahre alt, er Ende dreißig bis Mitte vierzig. Sie schlendern und unterhalten sich angeregt. Dann ein gelöstes Lachen.

Beide bleiben stehen. Der Hund, gleichermaßen irritiert wie erwartungsvoll, setzt sich, ohne jeden Befehl, neben sie.

Der hoch gewachsene Mann holt eine kleine Digitalkamera aus der Tasche seiner Clubjacke hervor. Kokettierend dreht er sich mal in diese, mal in jene Richtung und lichtet die Umgebung ab. Dann nimmt sie die Kamera und sieht durch den Sucher. Sie fotografiert zielstrebig: die alleenartige Straße, die Häuser in einem perspektivischen Anschnitt, den Hund und ihren Begleiter. Erneut lachen die beiden.

Der Mann stellt sich vor eines der Häuser auf den Bürgersteig, während die Frau ihn fotografiert. Charmant schwenkt er die Arme und stellt sich frontal vor den Zugang des Hauses.

Verrückter Kerl, denkt sie. Er sollte es nicht übertreiben. Wer sich hier so gebärt, dem droht ein Besuch von der Polizei. Der Hund läuft derweil die Straße entlang, schnüffelnd und suchend. Die Marotten seiner Besitzer müssen ihn nicht kümmern. Ein leiser Pfiff ist zu hören. Rasch kehrt der Hund zu der Frau zurück.

Während sie sich mit dem Hund beschäftigt, sieht sich der Mann die Einzelheiten des Gebäudes an. Vom Gehweg ruft die Frau etwas und setzt sich in Bewegung, während der Mann dem Haus langsam den Rücken zudreht, die schmale Straße diagonal quert und zu der Frau zurück geht.

Nicht ohne zum wiederholten Male zu lachen, schlendert das Paar nun weiter. Das Lachen der Frau klingt hoch und exaltiert, es erinnert an eine bekannte Fernsehwerbesendung aus den siebziger Jahren. Der Hund läuft voraus. Vom ersten Foto bis zum knapp gehaltenen und von einem erneuten Lachen untermalten Abschied sind gerade drei Minuten vergangen.

Dort, wo der Pöseldorferweg auf die Alsterchaussee stößt, geht die Frau mit ihrem Hund jetzt geradeaus. Dagegen wendet sich der Mann nach links und geht die Alsterchaussee in Richtung Rothenbaumchaussee.

Er hat ein Rendezvous in einem Hotel, ganz in der Nähe. Und er hat noch eine besondere Aufgabe vor sich.

Britta Zielke und ”Vitacell“

Sie hatte sich durchgesetzt, trotzdem versteht Britta Zielke die Welt nicht mehr. Stattdessen wieder heftige Auseinandersetzungen mit Brendel. Levent Gül und der Kollege Florin, beide keine dieser adrenalingesteuerten Männer, sind von Brendels Art angetan. Sie sind im selben Alter wie Brendel, der Führung beansprucht, leiten will. Zielke kann verstehen, dass es da Affinitäten gibt. Aber ”Vitacell“ ist kein Wildrevier für Rang und Ränke von Alphatieren und Omegas. Sie war es leid, die drei nachdrücklich daran zu erinnern, wer im Unternehmen primus inter pares ist.

Geblieben sind nach diesem Freitag inhaltliche Leere und ein sozialer Scherbenhaufen. Wer würde diesmal kehren?

*

»Wenn wir den Körper von ”Vitacell“ schützen wollen, werte Kollegen, müssen wir die faulen Teile rasch amputieren. Sonst riskieren wir einen Wundbrand!« Zum wiederholten Male ritt er auf seiner Körpermetapher. Rhetorische Sprengkörper, die bei den Omegas ankommen. Dieser Brendel sollte auf seinem Inselhaus bleiben, angeln, ein Buch schreiben oder malen, wie seine Frau, dachte sie.

Einzig Bader war gut, ließ sich aber nicht einfangen. Der Elsässer besaß Bodenständigkeit und Vernunft. Andererseits spitzte er seine Ideen glegentlich zu. Er nimmt lange Witterung auf, bevor er etwas unternimmt. Wie ich, dachte Zielke.

”Belbor“ würde noch nicht verkauft. Doch sie würde den richtigen Zeitpunkt bestimmen.

Über den Kopf von Professor Wouters hatte Zielke zwei Biologen austauschen lassen. Brendel konnte das nicht imponieren. ‚Wundbrand’. Für den notwendigen Schritt war eine harte Hand gegen den Widerstand des belgischen Tochterunternehmens nötig. Wouters hatte geschäumt. Er war der Kopf von „Belbor“.

Die Stimmung färbte sich rasch nationalistisch ... die Deutschen. Es gab Widerstände und Drohungen wurden ausgesprochen.

Wouters hatte ihr mitgeteilt, dass hohe Geldforderungen, die Rede war von zwei Millionen Euro, gestellt wurden und Zielke ein anonymisiertes Schreiben gezeigt, aus dem hervorging, dass ein Finanzrichter sich, zusammen mit einem der Staatsanwälte aus Leuven, keinen Scherz erlauben würde, wie es hieß. Es gäbe ein fertiges Urteil gegen den ´Drecksstall` ”Belbor“.

´Keinen Scherz erlauben würde`? Das klang dilettantisch. Doch was sollte das bedeuten? Versuchte Wouters etwa zu retten, was noch zu retten war, und er selbst hatte dieses Schreiben angefertigt, um das Geld vor dem Kollaps von ”Belbor“ noch schnell auf Seite zu schaffen? In jedem Fall war es ein Desaster für ”Vitacell“. Erpressung. Große Öffentlichkeit, Strafen gar. Gesetzliche Auflagen und Verbote!

Es war eine Frage der Zeit, wann die Brüsseler Generalstaatsanwaltschaft einen Hinweis erhalten und ihrerseits mit den Untersuchungen beginnen würde. Würden sie ”Belbor“ zum jetzigen Zeitpunkt abstoßen, käme es zwangsläufig zu einem Rechtshilfeersuchen der belgischen Justiz bei den deutschen Behörden.

Möglich auch, dass Brendel hinter den Querelen steckte. Sie verfluchte ihre mangelhafte Menschenkenntnis. Hatte er Kontakte zu den Rechtsinstanzen in Leuven und die Drohungen gestreut?

Erst die Karre im Sand festfahren ...

Britta Zielke war verunsichert! Erst vorgestern hatte er sie in Hamburg noch um ein persönliches Gespräch gebeten. Gegen zehn Uhr war er in ihr Büro gekommen. Anfänglich sah alles nach einem guten Gespräch aus. Sie machte sich sogar Hoffnung, dass Brendel einlenken würde.

Die Unterredung eskalierte. Er hielt ihr Entscheidungsschwäche und taktische Fehler vor, und er hatte ihr gesagt, dass es für sie keine Mehrheit im Vorstand gäbe. Gül und Florin teilten bereits Brendels Meinung, sagten es aber nicht. Jetzt hieß es Dr. Bader und sie selbst gegen diese drei.

*

Sie musste etwas unternehmen, konnte aber nicht ständig mit der Keule arbeiten, dass sie die Vorsitzende im Vorstand war. Brendel akzeptierte sie nicht. Sie sollte ihr Verhalten ändern und eine neue Strategie wählen. Von Brendel durfte sie das nicht erwarten. Sie brauchte dringend Verbündete. Aber wen und wie anfangen? Vielleicht ein Gespräch von Frau zu Frau, Max Brendels Frau. Nora Brendel war schon besonders, fand Zielke. Unkonventionell. Britta Zielke machte sich mehr aus Frauen als aus Männern.

Ohne besonderen Anlass organisierte der Vorstand Feste für die Mitarbeiter. Wer verheiratet oder anderweitig liiert war, konnte seinen Liebsten oder seine Liebste mitbringen.

Auch Brendels Frau kam stets gerne zu den bisweilen holprigen, aber gerade deshalb kurzweiligen Feiern, deren Gestaltung Zielke persönlich in die Hand nahm. Dabei hatte sie die Frau ihres ärgsten Widersachers nicht nur schätzen gelernt.

Sie hatte sich angeregt mit einem Mitarbeiter unterhalten und ließ sich an der verwaisten Cateringtheke ein Glas Sekt geben. Genießerisch nahm sie einen großen Schluck und ließ sich sofort nachschenken. Nora Brendel kam direkt auf sie zu, bestellte einen Weißwein und sagte: »Es ist wie immer sterbenslangweilig, liebste Britta.« Zielke war erstaunt und wusste nicht, wie sie diesen Satz einschätzen sollte.

War es Sarkasmus, unverschämte Offenheit oder nur plumpe Provokation, eine Stichelei, hinter der ihr Mann stand? Außerdem hatte Nora Brendel sie noch nie nur bei ihrem Vornamen genannt. Nora Brendel beobachtete Zielkes offensichtliche Irritation und schob nach: »Das war nur Spaß. Wirklich! Es ist nett hier. Alles ist wunderbar arrangiert, und es trägt ganz eindeutig ihre Handschrift.« Nora Brendel strahlte Britta Zielke an. «Sie haben das wieder wunderbar hinbekommen. Ich fühle mich wohl, und Britta, wissen sie was, das liegt auch an ihnen.«

Brendel sah Zielke fest an und umarmte sie. Dabei drückte sie ihren Körper fest an den von Zielke. Es dauerte kaum zwei Sekunden, doch Britta Zielke kam es vor, als wären sie endlos aneinandergeschmiegt. Nora drückte der verdatterten Zielke noch einen Kuss auf die Wange, nahm ihr Weinglas und verschwand so zielstrebig, wie sie gekommen war. Für einen Moment stand Zielke wie versteinert da.

Auch wenn Homosexualität heutzutage nichts mehr war, was die Menschheit verschrecken konnte - eine gewisse Camouflage war unumgänglich, sagte sich Zielke.

Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, fühlte sie sich mit einem mal alt; älter noch als fünfundfünfzig Jahre.

Nicht, das ihr die Arbeit keinen Spaß machte, im Gegenteil. Aber der Rest! Welcher Rest? Da war nichts!

In dem Erzählband eines deutschsprachigen Schriftstellers hatte sie eine Textstelle gefunden und markiert:

»... Das sind die Felsen in der Schlucht des Wasserfalls, die stehen geblieben sind; der ganze Rest ist unsagbare Strömung ...«

Das gefiel ihr, es schmerzte sie aber gleichzeitig! Sie lebte ein felsenloses Leben. Kein Ort, nirgends! Britta Zielke war diejenige, die in dieser Strömung trieb.

Zur Planung der Feste gehörten Spiele und tanzbare Livemusik. Die Veranstaltungen fanden immer in der Unternehmenskantine statt, deren Design und Ausstattung jedoch eher einem gehobenen Restaurant als einer säuerlich riechenden und trist gestalteten Essenabfertigungseinrichtung entsprachen.

Laura Domin, Zielkes neue Assistentin, hatte Psychologie studiert. Sie wusste, dass ihrer Chefin viel an einem guten Unternehmensklima lag und hatte den Vorschlag gemacht, hierarchiefreie Kommunikationsbrücken, wie sie es nannte, in die Feiern einzubauen.

Wie überall bei solchen Anlässen wurde zunächst gegessen und getrunken. Nach der sich anschließenden kleinen Rede, die abwechselnd jemand aus dem Vorstand hielt, sollte die Tabuzone zwischen den mit weißen Hussen geschmückten Tischen und der Bühne aufgelöst werden.

Domins Idee bestand darin, dass sich die Vorständler in diese Tabuzone stellen und sich von ihren Mitarbeitern betrachten lassen sollten. Kommentarlos!

»Wir können nicht nicht-kommunizieren«, hatte Domin gesagt, deren Studienschwerpunkt ´Selbstregulation und die Nutzung non-verbaler Kommunikation zur Leistungsoptimierung in Wirtschaftsunternehmen` war. ´Kann der Blick nicht überzeugen, überredet die Lippe nicht.`

Sie kannte die Wirkungen der Augensprache ... all die liebevollen, neidischen, vorwurfsvollen oder treuen, kritischen und gehässigen Blicke.

Die Schweigesituation dauerte nie lange. Das erste Lächeln steckte an und ging in einem allgemeinen Lachen auf. Es gab lockeren Gesprächsstoff zwischen den Vorstand und den Mitarbeitern, und die Musiker spielten ein vorher abgesprochenes Stück. Man konnte das Manipulation nennen. Doch zuverlässig begannen die meisten Anwesenden zu tanzen. »Wenn es hilft, haben wir alles richtig gemacht«, sagte Britta Zielke zu ihrer Assistentin.

Einmal hatte Monika Strittmatter, die persönliche Mitarbeiterin von Dr. Brendel, in die Leersekunde, die zwischen den letzten Blicken und dem ersten Lachen entstand, hinein gesagt: «Wenn Blicke töten könnten!« «Dann kommt wie immer der Leichenwagen, und wir haben einen Mörder«, hatte jemand belustigt geantwortet.

Für einen Moment, der sich für viele deutlich länger anfühlte, war es so still, dass es beinahe schmerzte. Die Gesichter der Anwesenden drückten mulmiges Schweigen aus. Die Münder zuckten und die übrigen fleischigen Gesichtspartien wirkten in einem wörtlichen Sinne wie betreten. Es war Nora Brendel, die als erste lachte und diejenige, die als erste tanzte. Wenn Blicke töten könnten!

Nora und Laura trafen sich am Ende der Veranstaltung auf ein Glas Wein. Sie waren alleine in dem Saal und betrachteten sich mit schelmischen Blicken.

»Die Strittmatter!« Nora Brendel lachte und Laura Domin lachte spontan mit ihr. »Ich habe übrigens auch Psychologie studiert«, sagte Brendel und wie ein Kind hielt sich eine Hand vor den Mund.

»Dann sind wir beide eine Macht«, erwiderte Domin vergnügt und stieß erneut mit Brendel an.

Britta Zielke findet nicht nach Hause

Britta Zielke fährt durch Hamburg. Sie will noch nicht nach Hause. Zuhause ist sie alleine; zuletzt allein, egal wie faszinierend ihr Haus ist.

Während ihr sanft und stetig der Schweiß aus den Poren dringt, würde sie ihren hämmernden Herzschlag hören; hören, wie er sich an den mit Bildern und Gobelins geschmückten Wänden bricht und zu ihr zurückkehrt. Wie er ihr unbarmherzig sagt, dass sie leidet und kein zweites Leben hat.

Sie steht im dichten Abendverkehr und denkt: Nora ist wundervoll. Eine Autolänge anrollen, das zarte Grollen der zwölf Zylinder, erneut abbremsen. Sie drückt auf einen Knopf in der Mitte der mit weichem Leder ausgeschlagenen Konsole und das Autodach öffnet sich rasch. Der britische Wagen war teuer, ist sehr luxuriös und äußerst dynamisch. Sie wollte den Vanquish haben. Must have hatte sie dem Verkäufer lächelnd gesagt, als sie den Vertrag unterschrieb.

Kurz blickt sie in den nachmittäglichen Himmel, der sich in einem leuchtenden Blau zeigt. Ein Gefühl überkommt sie mit Macht. Wie gerne würde sie jetzt ausbrechen und das Gaspedal bis auf den Boden durchtreten. Zielke erschrickt über diese Vorstellung, atmet tief durch und blickt besorgt auf ihr rechtes Bein.

Du musst ruhig sein, sagt sie sich, hörst du. Du musst ruhig sein, unbedingt. Die Autoschlange bewegt sich weiter. Die Frau mit. Erneut halten die Fahrzeuge. Stillstand.

Ob ich jemanden anrufen soll, fragt sie sich. Niemand fällt ihr ein. N i e m a n d. Zielke spürt, wie sich ihre Lider von alleine senken. Ihre Mundwinkel ziehen nach unten. Es passiert einfach. Sie hebt die Hände, presst sie fest ins Gesicht, so, dass ihre Fingerkuppen hart an ihren Nasenöffnungen liegen. Langsames Anfahren. Ein leiser Fluch. Jemand drängt sich unverschämt vor sie. Sie hupt. Alles steht!

Zielke klappt die Sonnenblende herunter und blickt in den Kosmetikspiegel. Mit fahrigen Bewegungen richtet sie das Haar an der linken Stirnseite, wo ein starker Wirbel ihren Versuchen, die neue Frisur herzurichten, widerborstig widersteht und die Haare nach rechts dreht. Vielleicht hilft eine Operation, denkt sie und klappt die Blende nach oben.

Was machst Du mit dem Rest Deines Lebens? Die Frage schießt ihr durch den Kopf. Bist immer im Werden und fast nie im Sein. Es trifft, nüchtern betrachtet, auf sie zu. Anderseits sind ihr die von Seele besoffenen Gesichter widerlich. Dieses sozial aufgeschäumte Menschsein. Kein Abschaum, aber eben Schaum. Die falsche Temperatur hier, ein kleiner Luftzug da, und schon fällt das menschelnde Momentum in sich zusammen. Dann laufen sie davon in ihre kleinen Höhlen.

Sie hält es lieber mit der Parole: Betrachte die Dinge nüchtern, lass Dich nicht einschüchtern, niemals.

Britta Zielke, geboren 1954 in einem kleinen Kaff namens Quitzow bei Perleberg. Ihr Vater war evangelischer Theologe, die Mutter unterrichtete Fremdsprachen an der Regelschule. Ihre Erziehung war streng und körperlos. Als sie drei Jahre alt war, wurde eine Pfarrstelle in Prenzlau frei. Zielke, die als kleinste ihrer Klasse, die die Schnellste der ganzen Unterstufe war.

Sie war zehn, als die aus Hanau stammenden Eltern, die wegen des Pfarrermangels in die nach dem Krieg noch offene DDR gezogen waren, mit ihr geflohen sind. Nach Singen am Hohentwiel. Britta Zielke. Die später am Heilig-Geist-Gymnasium das beste Abitur seit Bestehen der Schule gemacht hatte und die nie wirklich einen Freund oder eine Freundin hatte.

Nur ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie sich mit einem Mann eingelassen. Universität in Köln, Volkswirtschaftslehre und Soziologie.

Erstes Semester. Eine Studentenfeier. Wie hieß er noch gleich? Leid. Nein, sie wollte sich nicht erinnern. Kein Mensch hat keinen Freund. Britta Zielke ist ein Mensch.

Ins Gelingen verliebt sein, darum muss es doch gehen, hatte sie auf einer Unternehmensfeier gesagt. Wenigstens etwas, in das sie vernarrt ist, haben sich damals viele gedacht. Ein harmloser Satz, wer wollte ihn nicht unterstreichen! Aber aus ihrem Mund hörte er sich an wie: ‚Ich vertraue dem Glück nicht, weil sein Preis zu hoch ist!’ Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es miteinander teilt. Und wird das Ich nicht erst durch das Du zum Ich. DU!?

Schon mitten im Leben sind manche vom Tod umfangen. Sind das Gedanken, die einem nur kommen, wenn man in einem zweihundertzwanzigzigtausend Euro teuren Auto sitzt? Für einen winzigen Moment muss Britta Zielke lächeln.

Das Leben ist eine Tragödie für die, die fühlen und eine Komödie für die, die denken.

Wohin gehörst du: Britta Zielke?

Es scheint, als würden alle Ampeln auf Rot stehen. Die Zeit ist wie ein besonderer Teig. Sie fließt langsamer, wird träge, sie verdichtet sich, stoppt und bildet einen weichen Kern aus.

Mit dem Bewegungsverhalten eines Chamäleons klappt die Mittfünfzigerin die Sonnenblende erneut herab und blickt wieder in den Kosmetikspiegel. Sie sieht in ein weiches Frauengesicht, das sich in den Falten sichtbar geworden grämt, dabei gleichzeitig Spuren von unterdrückter Wut in den wachen Augen zeigt. Die etwas weit auseinander liegenden Augen scheinen durch den Spiegel hindurch zu sehen. Zielke streicht sich durch das noch dunkelbraune Haar, schiebt die Lippen nach innen und fängt an zu grimassieren. Sie denkt, mein Gesicht ist aus Stein.

Oberhalb ihres Magens spürt sie eine seltsam reibende Empfindung. Ihr Sonnengeflecht regt sich. Wie früher, als sie von ihren Eltern gemaßregelt wurde.

Schnell klappt sie die Blende wieder nach oben.

Der Verkehr rollt an. Endlich beschleunigen. Sie fährt über die Sechslingspforte am St. Georg-Krankenhaus vorbei. Kurz darauf biegt sie links in die Uferstraße ‚An der Alster’ ein, um im weiteren Verlauf die Kennedybrücke zu überqueren. Die breite Außenalster liegt rechts von ihr. Verschiedene Boote fahren unter der Brücke hindurch, Segelboote zumeist, mit ihren weißen Spitzen vor taubenblauem Wasser. Die Fahrt über die Brücke empfindet sie wie eine extreme Zeitlupenaufnahme.

Ihr Körperäußeres ist eine Hülle, dehnbares Plasma, das, bernsteingold, wie in der Reklame für Motorenöl, Zähigkeit beweist. Sie spürt den Schwindel, ihr Blut fühlt sich an wie ein überhitztes Gel, durchstreift den Körper und setzt sich maskenartig in ihrem Gesicht fest. Auf der gesamten Haut macht sich ein unangenehm feucht-warmer Film bemerkbar, wie ein eigenständiges Lebewesen. An einer Ausbuchtung der Straße lenkt sie den Aston Martin rechts ran und bleibt dort stehen. Sie muss, weil sie in diesem Zustand nicht fahren kann.

Später wird sie die Rothenbaumchaussee nehmen und vor dem Völkerkundemuseum, wie stets, rechts abbiegen, um zu ihrem Haus zu gelangen. Sie ist jetzt entschlossen, etwas zu ändern.

Nora Brendel und das andere Gesicht

02.06., Dienstag, Hiddensee

Bereits am frühen Dienstagmorgen war Nora Brendel nach Hiddensee gefahren. Es machte ihr Freude, den Garten mit verschiedenen Stauden und Rankenpflanzen zu schmücken. In Hamburg hatte sie mit dem Van Einkäufe gemacht, da manche Dinge auf der Insel nicht erhältlich waren.

Meistens fuhr sie mit ihrem Mann nicht nach Hamburg zurück, sondern blieb auf der kleinen Insel, um an ihren Bildern zu arbeiten. Ihr aktuelles Bild war unfertig und zeigte den Ausschnitt einer Landzunge, die wie ein Sandhaken ins Meer überging. Neben Menschen am Strand waren zwei Segelboote zu sehen, die vor dem Strand dümpelten.

Vor drei Jahren hatte sie die Malerei für sich entdeckt. Die Naturmalerei hatte es ihr besonders angetan, wie die Künstler, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie auf Hiddensee gebildet hatten.

Nora Brendel kannte die Schaffensplätze jener Künstler, die durch ihr hiesiges Wirken berühmt wurden und suchte diese Plätze auf. «Malen ist kein Problem; das Problem ist: was tun, wenn man nicht malt!«

Ihr Mann hatte nie einen Einwand erhoben. Im Gegenteil. Er fand es gut, dass seine Frau ihrer inneren Stimme folgte, mochte diese Stimme auch noch so skurril erscheinen und bisweilen vergangene Geister wichtiger nehmen als ihre gemeinsame Gegenwart.

Nora hatte oft böse Träume. Max war beunruhigt, wenn er von ihren Lauten wach wurde. In diesen Träumen mussten wohl dämonische Wesen vorkommen, die sich seiner Frau in solchen Nächten bemächtigten. Dann weckte er sie vorsichtig, um sie zu beruhigen, nahm sie in den Arm und sprach leise mit ihr.

In diesen Momenten hatte sie einen Blick, den er sonst nicht von ihr kannte.

Wahrscheinlich war alles harmlos: Nora war eine Malerin, die wie alle Künstler ein starkes, inneres Spannungsfeld hatten.

Daran wollte er glauben. Doch diese Erkenntnis verdeckte einen blinden Fleck und war nichts wert. Denn seine Intuition sagte ihm etwas anderes.

Haeckermanns Frauen 1)

05.06., Freitag, Hiddensee

Die ganze Insel ist Teil eines Nationalparks. Der äußerste Süden und die seltsam, wie Rüssel geformten Gebiete im Norden sind besonders streng geschützt.

Der Küstenabschnitt im Süden gehört zu den schönsten an der Ostsee. Lang und rund gezogen, bis die Kräfte der Natur befanden, dass das Modellieren jetzt ein Ende haben müsste.

Ansonsten ist Hiddensee ein wahrer Ausbund an Friedfertigkeit. Bis auf gelegentliche Reibereien zwischen Nachbarn, Pensionswirten oder sich ereifernden Touristen gibt es keine Vorfälle. Kein Autoverkehr, nur Pferdekutschen, Fußgänger, Fahrräder. Saumseligkeit. Das einzig Kriminelle findet im Inselkino statt. Wöchentlich abwechselnd werden in einem großen Zelt Thriller und Krimis gespielt.

Gerhard Haeckermann geht mit seinem Hund vom Norderende aus am Strand spazieren. Er nimmt seine Dienstmütze ab und fährt mit einer Hand durch das füllige braune Haar. Seine schmale, kurze Nase und der Strichmund bilden einen Kontrast zu seinem gut sichtbaren Doppelkinn und den munter wirkenden blauen Augen. Liebevoll blickt er auf seinen Hund.

Leo rennt gerne geworfenem Holz hinterher. Der gutmütige und leicht füllige Haeckermann weiß, was seinem gestromten Mischlingsrüden Spaß bereitet.

Treibholz als Wurfmaterial gibt es in Hülle und Fülle. Er wirft das Holz ins Wasser, auf die Kuppe der sanft ansteigenden Dünen oder in Gehrichtung: der Hund bringt alles zurück. Das Holz fest im Maul, schüttelt er sich, wenn er aus dem Wasser kommt. Eine belustigende Situation, in der, könnte man sagen, der Hund viel Würde versprüht.

Das unbeschwerte Spiel mit dem Hund, die Farbkontraste, das Wasser, die mehrdimensionale Weite zwischen seinen Füßen und dem Himmel: Alles wie geschaffen für Maler, selbstvergessene Poeten und andere kreative Geister.

Vieles auf der Insel ist dem Mitfünfziger vertraut. Trotzdem gibt es immer wieder etwas, wo er denkt: So habe ich das noch nicht gesehen!

Jetzt seufzt der Chef der Hiddenseer Polizeistation. Er könnte ein Heureka gut gebrauchen, denn ihm schwirren an diesem schönen Frühabend unschöne Gedanken wie Ringgeister durch den Kopf. Und das war noch nie wirklich gut, wie der Polizeihauptmeister und Chef der Inselpolizei sich selbstkritisch eingesteht. Vertraute Dinge waren ihm eindeutig lieber.

*

Manchmal fragt Haeckermann sich, warum sich bestimmte Menschen anderen Leuten überlegen fühlen. Das, meint er, wäre dumm und diskriminierend. Denn erst die Ungleichheit würde sie doch einander ebenbürtig machen, weil jeder in seinem Leben Chancen hat, genau das zu versuchen: ebenbürtig zu sein, hatte er er Jörg Niebel, seinem Kollegen erläutert. Der junge Polizeimeister hatte ihn staunend angesehen.

Für Haeckermann ist jedenfalls klar, dass hierin der Schlüssel zur Dynamik menschlicher Existenz liegen muss.

Aber muss man auch, um die Unterschiede zu betonen, gleich jemanden ermorden?

Den rechtschaffenen Haeckermann verwirrt dieser Gedanke. Der Polizist weiß, dass das Leben keine Sonntagskirche ist. Zudem fehlt ihm fehlt die Autonomie des Finsteren in seinem Erfahrungsrepertoire, welches manche Menschen wie eine Naturbegabung besitzen. Und aus genau diesem Grund, hatte er Niebel gesagt, würde ihn die gehobene Polizeilaufbahn nicht interessieren, denn da käme er weitaus häufiger mit solchen Begabungen in Berührung.

Der leichte, noch warme Wind flaut ab, und die Oberfläche der Ostsee ist beinahe glatt. Im Westen steht die Sonne immer noch hoch genug, um ihre wärmenden Sonnenstrahlen auf das Eiland zu schicken.

Leo streift derweil ungestüm um die Beine seines Herrchens herum und fordert den nächsten Wurf. Noch während der Hund dem Holz nachjagt, dreht Haeckermann um und beschließt, zur Polizeistation zurückzugehen und nach dem Kollegen Niebel zu sehen. Bei dem Gedanken, dass Niebel durch die Tagesereignisse mitgenommen sein könnte, fühlt er sich merkwürdig gestärkt. Niebel wäre jemand, dem er helfen könnte. Leo würde er mit auf die Wache nehmen.

*

Am späten Vormittag hatten Haeckermann, Niebel und Dr. Bergans die kleine Straße auf der Boddenseite nach Kloster genommen. Ingo Bergans, der von Hugenotten abstammte, war der einzige Notfallmediziner auf der Insel. Das Einsatzfahrzeug des Arztes hatten sie am Hafen abgestellt, um anschließend mit einem russischen Allradfahrzeug über das Hochland zu fahren.

---ENDE DER LESEPROBE---