Fünf Winter - James Kestrel - E-Book

Fünf Winter E-Book

James Kestrel

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Beschreibung

Honolulu, 1946: Vor fünf Jahren untersuchte Detective Joe McGrady den Mord an einem jungen Mann und dessen Freundin, einer Japanerin. Die Spur führte nach Hong Kong, wo McGrady in Kriegswirren geriet, verhaftet und verschleppt wurde und schließlich in Japan untertauchen musste. Nach nunmehr fünf Wintern kehrt McGrady als Privatdetektiv nach Hawaii zurück, fest entschlossen, den Fall, der ihn nie losließ, endlich abzuschließen …

Fünf Winter ist ein gewaltiges Epos im Cinemascope-Format, das einem für immer im Gedächtnis bleiben wird: ein fesselnder Thriller, eine Geschichte des Überlebens trotz aller Widrigkeiten, ein erschütterndes Porträt des Krieges und eine herzzerreißende Liebesgeschichte in einem.

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Seitenzahl: 546

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Ähnliche


Cover

Titel

James Kestrel

Fünf Winter

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Five Decembers bei Hard Case Crime.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 4. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5317.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2021 by James Kestrel

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: CollaborationJS/Trevillion Images (Mann); Dylan Bradley/EyeEm/Getty Images (Strand); FinePic® (Papierstruktur)

eISBN 978-3-518-77586-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Messer und Narben. Honolulu/Wake Island/Hongkong

26. November 1941 – 7. Dezember 1941

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Chakken. Hongkong/Tōkyō

7. Dezember 1941 – 6. Januar 1942

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Haus der Andacht. T

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/Honolulu/Hongkong

23. November 1944 – 31. Dezember 1945

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Danksagungen

Informationen zum Buch

Fünf Winter

1

Messer und Narben

Honolulu/Wake Island/Hongkong 26. November 1941 – 7. Dezember 1941

1

Joe McGrady betrachtete seinen Whiskey. Er war so frisch, dass das Eis noch nicht zu schmelzen begonnen hatte, trotz der Hitze. Um ihn herum herrschte eine einzige Kakophonie. Matrosen bestellten zehn Bier auf einen Schlag und streckten die Arme durchs Gewühl, um den Mädchen die Zigaretten anzuzünden. Jemand warf einen Nickel in die Wurlitzer, dann legten Jimmy Dorsey und sein Orchester los. Die Männer passten sich dem wachsenden Geräuschpegel an. Sie verständigten sich mehr oder weniger brüllend mit den Mädchen, und sie waren in der Überzahl. Der Abend hatte gerade begonnen, bis jetzt tranken sie nichts Stärkeres als Bier. Einige Stunden würden sie noch ohne Schlägereien auskommen. Wenn es losging, sollte sich ein anderer Cop damit auseinandersetzen. McGrady nahm seinen Drink und roch daran. Fünfundvierzig Cent für drei Zentiliter. Jeden Penny wert, auch wenn ein drei Fingerbreit volles Glas mehr kostete, als er in einer Stunde verdiente.

Noch bevor er den Whiskey probieren konnte, war der Barkeeper wieder bei ihm. Kahlrasierter Schädel, geschwollene Augen, Rasierklingennarben auf beiden Wangen. Ein Gesicht, bei dem man so schnell wie möglich austrinken wollte. Aber McGrady stellte sein Glas ab.

»Joe«, sagte Tip.

»Ja.«

»Telefon – Captain Beamer, glaube ich. Du kannst es oben annehmen.«

Er kannte den Weg. Also griff er nach dem Glas und stürzte es hinunter. Alles auf einmal, in einem Schluck. Weich und rauchig. Er konnte ihn sich gönnen. Wenn Captain Beamer um diese Zeit anrief, bedeutete das Überstunden. Den morgigen Tag – Donnerstag – würde er vergessen können. Molly würde enttäuscht sein. Auf der anderen Seite verdiente er zusätzliches Geld, sodass er sich leisten konnte, es später bei ihr gutzumachen. Er legte drei halbe Dollar auf die Theke, wischte sich den Mund am Hemdsärmel ab und ging nach oben.

»Detective McGrady hier.«

»Gott sei Dank.«

»Sir?«

»Sie sind nicht betrunken.«

»Ich habe vor einer halben Stunde ausgestempelt. Hätten Sie mir eine ganze Stunde gelassen, hätte ich es vielleicht geschafft.«

»Ein anderes Mal. Kommen Sie her, aber im Laufschritt. Der Chief wartet.«

»Ja, Sir.«

Er hängte den Hörer auf die Bakelitgabel und nahm das andere Treppenhaus, das vom Büro im Obergeschoss des Bowsprit direkt hinaus auf die Straße führte. Es regnete, aber sicher nicht lange. Abgesehen davon hatten die meisten Läden in Chinatown Markisen oder Vorbauten. Den Fußweg zur Merchant Street konnte er, von den letzten Metern abgesehen, komplett im Trockenen zurücklegen. Er wartete auf der Treppe vor der Yokohama Specie Bank, bis ein Dutzend Cops in schwarzen Jacken ihre dröhnenden Motorräder quer zum Bordstein abgestellt hatten. Dann überquerte er die Merchant Street und betrat das Hauptquartier.

Captain Beamers Büro lag im Untergeschoss. Ohne anzuklopfen trat McGrady ein und schloss die Tür. Er nahm den Hut ab und legte ihn, als er sich gesetzt hatte, auf seine Knie.

»Die Sache ist gerade reingekommen«, sagte Beamer. »Vor nicht mal einer halben Stunde.«

»Sie sagten, der Chief wäre hier.«

»Er ist nur kurz raus.«

Beamer schob seine Brille hoch und drehte den Schirm der Lampe, bis die nackte Glühbirne zum Vorschein kam. Jetzt war der Raum heller, aber genauso stickig wie zuvor. Beamer rauchte bei geschlossener Tür Kette. Es gab keine Belüftung, durch das Fundament stieg tropische Hitze auf. Gerade zündete er sich am Stummel seiner Zigarette eine neue an. Er drückte die alte aus, wobei der Inhalt des Aschenbechers teilweise auf den Schreibtisch quoll. Nicht mal hier drinnen rollte Beamer die Ärmel hoch. Er war so ein Typ. Er trug eine dunkle Uniformjacke und Krawatte, sein Sam-Browne-Gürtel zog sich um die Hüfte und über die Brust. Der Mann war zu dünn zum Schwitzen.

»Wir sind knapp mit Personal. Wie jedes Jahr am Tag vor Thanksgiving. Ich würde selbst hinfahren, wenn der Chief jemand anderem zutrauen würde, die Nacht über auf diesem Stuhl zu sitzen. Er will Sie lieber draußen vor Ort haben als hier am Telefon. Auch wenn Sie ein Risiko darstellen. Ist das für Sie in Ordnung?«

»Ja, Sir.«

»Haben Sie das beim Militär gelernt?«, fragte Beamer. »Egal, was kommt, Sie sagen Ja, Sir?«

»Ja, Sir«, sagte McGrady. »Genau so läuft’s.«

»Ich versuche noch, ein Gefühl für Sie zu bekommen.«

»Ja, Sir.«

»Haben Sie schon mal an einem Mordfall gearbeitet?«

»An fünfen, auf Streife. Ich war als Erster am Tatort …«

»Auch als Ermittler?«

»Nein, Sir. Das wissen Sie auch.«

»Ich will Ihnen nur etwas in Erinnerung rufen. Außerdem sind Sie nicht von hier, stimmt’s?«

Falls Beamer einen Blick in die Personalakte geworfen hatte, musste er wissen, dass McGrady von nirgendwo war. Er hatte in Chicago, San Francisco, Norfolk und San Juan gewohnt, noch ehe er sechs geworden war. Und das war nur das Warmlaufen für später. Sein Vater hatte ihm einen guten Eindruck vom Leben in der Navy vermittelt, sodass er es lieber auf dem College versucht hatte. Vier Jahre später war er wieder dort, wo er begonnen hatte. Nur dass er sich für die Army entschied. Seine Reise hatte in Honolulu geendet, wo er geblieben war. All das konnte Beamer über ihn wissen, wobei dieses Wissen ziemlich einseitig war. McGrady hätte nicht mal sagen können, wie sein neuer Captain mit Vornamen hieß.

»Ich bin fünf Jahre hier, seit meiner Entlassung aus der Army. Länger, als ich je an einem Ort gelebt habe. Hier ist mein Zuhause.«

»Man ist von hier oder man ist es nicht«, erklärte Beamer. »Und Sie sind es nicht. Haben Sie mal einen Hund ausgeführt?«

»Ja, Sir.«

»Wenn ein Hund nicht weiß, wie lang seine Leine ist, kann ihm schnell etwas passieren.« Dann hielt Beamer demonstrativ die Hände hoch, in einem Abstand von etwa zehn Zentimetern. »So lang ist Ihre. Wenn Sie wild drauflosrennen, reiße ich so fest daran, dass Ihr Genick bricht.«

»Okay«, sagte McGrady.

Es war nur eine Kleinigkeit, das Sir wegfallen zu lassen. Aber diese Kleinigkeit hielt ihn davon ab, über den Schreibtisch zu langen, sich Beamers Krawatte um die Faust zu wickeln und sein verhärmtes Gesicht auf die Tischplatte zu schlagen. Aber Beamer registrierte es nicht mal. Entweder man war in der Army gewesen oder eben nicht.

»Haben wir uns ganz klar verstanden?«

»Sicher doch, Cap.«

»Dann kommen wir gut miteinander aus.«

Beamers Tür ging auf, Chief Gabrielson trat ein. McGrady wollte aufstehen, aber Gabrielson bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Es gab noch einen leeren Stuhl, aber der Chief blieb mit dem Rücken zur geschlossenen Tür stehen.

»Haben Sie es ihm schon gesagt?«, fragte er Beamer.

»Ich wollte gerade zum Punkt kommen.«

»Fangen Sie mit dem Anruf an«, sagte Gabrielson.

Beamer blies Rauch in McGradys Richtung. »Kennen Sie Reginald Faithful?«

»Ich habe den Namen gehört. Der Milchmann.«

»Er hat ein Haus in der Nähe der Kahana Bay. Aber der Großteil seiner Herde befindet sich im Kaʿaʿawa Valley. Er und der Chief sind befreundet, also hat er als Erstes den Chief angerufen. Können Sie folgen?«

»Nein.«

»Er hat nicht die Nummer der Zentrale gewählt, seine Geschichte erzählt und sich von Einem zum Nächsten verbinden lassen.«

»Okay.«

»Was bedeutet, dass in diesem Moment genau drei Personen hier im Revier von der Sache wissen. Was wiederum bedeutet, dass ich morgen, wenn ich meine Zeitung aufschlage, nichts darüber lesen werde. Stimmt’s?«

»Verstanden.«

»Reggie hat diesen Boy«, sagte Gabrielson. »Miguel.«

»Wenn Sie Boy sagen …«

»Meine ich nicht seinen Sohn. Sondern einen Landarbeiter.«

»Okay.«

»Also, heute Abend hat Miguel an seine Tür geklopft«, fuhr Gabrielson fort. »Er war sehr aufgewühlt und hatte eine haarsträubende Geschichte zu erzählen. Reggie wusste nicht, ob er ihm glauben sollte oder nicht. Aber wenn es stimmt, haben Sie einen Fall. Glauben Sie, Sie können damit umgehen?«

»Auf so eine Chance warte ich schon lange.«

Beamer blies Rauch Richtung Decke.

»Es gibt einen Geräteschuppen im hinteren Teil des Tals«, sagte Gabrielson. »Miguel hat da ein Feldbett und eine Decke. Wahrscheinlich auch eine Flasche. Heute Abend ist er reingegangen, hat seine Lampe angezündet und als Erstes einen Kerl gesehen, der von den Dachbalken hing.«

»Selbstmord?«

»Haben Sie schon mal gehört, dass sich jemand kopfüber an einem Fleischerhaken erhängt?«

»Er hing an einem Haken?«

»Fahren Sie los und finden Sie es raus«, sagte Beamer. »Vielleicht reden wir nur über einen Hilfscowboy im Delirium tremens. Aber sobald Sie Genaueres wissen, tun Sie was?«

Wieder hielt Beamer die Hände hoch, um McGrady die Länge seiner Leine zu demonstrieren.

»Ich erstatte Bericht.«

»Mir.«

»Ja.«

»Das ist Ihr erster Mordfall. Sie sind jetzt fünf Jahre hier. Ich habe schon mit Chang Apana Fälle gelöst, da waren Sie noch nicht geboren. Denken Sie daran, dann kommen wir beide klar.«

McGrady nahm die Pali Road. Als er höher in die Berge fuhr, verschwanden die Lichter Honolulus in seinem Rücken. Dann ließ er die höchste Stelle hinter sich, das einzige Anzeichen von Zivilisation war jetzt die Straße selbst. In völliger Dunkelheit fuhr er durch die Serpentinen. Er befand sich jetzt auf der Windseite der Insel. Der Dschungel ragte bis über die Straße und zwängte sich durch Risse im Asphalt. Wo die Straße über Bäche und Flüsschen führte, war die Fahrbahn von Wasserfällen besprüht.

Bei perfekten Bedingungen dauerte die Fahrt zur Kahana Bay eine knappe Stunde. In der Nacht brauchte man doppelt so lange, der Regen kostete eine weitere halbe Stunde. Es war kurz nach zehn, als er die Auffahrt zu Reggie Faithfuls Haus verpasste. Er fand einen Abzweig, wendete dort und kam rutschend hinter drei anderen Autos zum Halten.

Er schaltete das Licht aus, stieg aus dem Wagen und schaute hinauf zu dem teilweise mit Schindeln verkleideten Haus im Pseudotudorstil. Schon die Größe war beeindruckend. McGrady wohnte in einem kleinen gemieteten Zimmer über einem Chop-Suey-Laden an der King Street, wo die Wände den Geruch von Zwiebeln und öligem Schweinefleisch ausschwitzten. Wenn er auf dem Bett lag und den Arm ausstreckte, konnte er mit der Hand seine beiden an der Wand hängenden Anzüge erreichen.

McGrady schloss die Wagentür ab und stieg die steinernen Stufen zur Veranda hoch, wo Reginald Faithful ihn erwartete.

»Sie sind McGrady?«

»Genau der. Sie haben noch mal mit Chief Gabrielson telefoniert?«

»Ich wollte wissen, wann Sie endlich kommen. Und das war vor einer Stunde.«

»Vielleicht kennen Sie einen schnelleren Weg über die Berge. Wo ist Miguel?«

»Drinnen. Meine Frau behält ihn im Auge.«

»Steht er unter Schock?«

»So könnte man es ausdrücken.«

»Wie würden Sie es ausdrücken?«

»Der Junge konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wenn wir ihm nicht das Sofa angeboten hätten, läge er jetzt auf dem Boden.«

»Haben Sie ihm etwas zu trinken gegeben?«

»Das war nicht nötig. Er ist schon betrunken hier angekommen.«

»Ist das sein Laster, der unten an der Straße steht?«

»Es ist meiner – er gehört meiner Firma. Aber er fährt ihn.«

»Ihre Frau fährt den LaSalle und Sie den Cadillac.«

»Ja.«

»Ist sonst noch jemand im Haus?«

»Nein.«

Der Milchproduzent legte die Hand aufs Geländer der Veranda und schaute hangabwärts auf seine Zufahrt. Er trug ein verwaschenes weißes Hemd. Schwarze Hosenträger und eine Khakihose. Er hatte die Krawatte gelockert. Nach einem Blick auf die vier Fahrzeuge wandte er sich wieder an McGrady.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte er. »Kein Partner? Sie kommen ohne Unterstützung?«

»Ich bin allein.«

Faithful tippte die Asche seiner Zigarre am Geländer ab.

»Wenn Sie alle Hilfe sind, die ich bekomme, bringe ich Sie jetzt besser zu Miguel.«

»Ich würde mir lieber die Leiche ansehen – falls es eine gibt. Kann Miguel gehen?«

»Die Stufen runter werden wir ihm beide helfen müssen.«

»Okay, dann kommen Sie auch mit.«

Miguel Silva, Reggie Faithfuls Hilfscowboy, musste älter sein als Reggie Faithfuls Vater. Seine runzlige sonnengebräunte Haut hatte die Farbe von angesengtem Mahagoni. Die schwarzen, teilweise ergrauten Haare waren kurz geschnitten. Er lag auf der Couch, die Augen unter einem zusammengerollten Handtuch verborgen.

»Ernsthaft? Sie wollen ihn mitnehmen?«

Mrs Faithful kniete neben dem Landarbeiter ihres Mannes auf dem Fußboden. Sie trug ein kariertes Hauskleid, dessen oberster Knopf offen stand. Gewellte, dunkle Haare und dunkle Augen.

»Kann er nicht hier bei mir bleiben?«, fragte sie. »Schauen Sie sich den armen Mann doch an.«

»Ehe ich nicht weiß, was los ist, sollten Sie lieber nicht allein mit ihm bleiben.«

»Er ist schon seit Ewigkeiten bei uns. Ich vertraue ihm.«

»Dann sollte ich auch mit ihm klarkommen.«

Miguels Kleidung war völlig verschwitzt. Ein penetranter Alkoholgeruch hüllte ihn ein. Ansonsten schien ihm nichts zu fehlen. Er brauchte Mrs Faithfuls sanfte Fürsorge nicht. Er konnte seinen Rausch in einer Zelle mit Betonwänden ausschlafen, sich von einem Eimer Wasser wecken lassen und reden.

McGrady beugte sich hinunter, zog das Handtuch vom Gesicht des alten Mannes und schlug ihn auf die linke Wange. Er hätte auch grober zuschlagen können, was den Kerl schneller aufgescheucht hätte, aber McGrady dachte an Mrs Faithful. Er wollte sie auf seiner Seite haben. Irgendjemand musste auf seiner Seite sein.

Der alte Mann öffnete ein Auge.

»Sind Sie ein Cop?«

McGrady hatte eins dieser Gesichter. Kantig und irgendwie unfertig, als wäre der Meißel seines Bildhauers am zu harten Stein zerbrochen.

Er nickte, der Mann richtete sich langsam auf.

»Sie kommen mit uns.«

»Will da nicht wieder rein.«

»Trotzdem.«

Er packte Miguels Handgelenk und zog ihn hoch. Dann gingen sie zu dritt nebeneinander, McGrady auf der einen und Reggie Faithful auf der anderen Seite. Miguels Arme lagen über ihren Schultern. Über die Veranda, die Stufen hinunter, dann zum Wagen. Sie ließen ihn lang ausgestreckt auf dem Rücksitz liegen. McGrady schloss die Tür und sah zurück zum Haus. Mrs Faithful stand auf der obersten Stufe, vor dem hell erleuchteten Haus zeichnete sich ihre Silhouette ab.

2

Der Straßenbelag endete, sobald er von der Küstenstraße ins Kaʿaʿawa Valley abbog. Anfangs war das Tal breit, beiderseits des Flusses erstreckten sich Weiden. Er roch feuchtes Gras, Rinder und aus dem Dschungel kommendes Wasser, das aus den Bergen ins Tal hinabfloss. Aber je weiter er fuhr und je näher die Berghänge an den Fluss rückten, desto enger wurde das Tal, desto schmaler die Weiden. Sie fuhren durch einen Bestand von Mangobäumen und kamen dann auf eine feuchte Wiese, auf der nur Ingwer wuchs.

»Es ist gleich hinter der Kurve«, sagte Faithful. »Einen knappen halben Kilometer noch.«

McGrady warf einen Blick nach hinten. Miguel war wieder eingeschlafen.

»Wo wohnt er, wenn er nicht im Schuppen schläft?«

»Seine ganze Familie lebt draußen in Nānākuli.«

»So weit weg?«

»Er fährt ein- oder zweimal im Monat hin.«

»Dann lebt er also in dem Schuppen.«

Faithful zuckte die Achseln.

»Er hat dort alles, was er braucht.«

McGrady bog um die letzte Kurve und sah die Hütte. Sie schmiegte sich an den Hang, rechts von ihr bildete der aus den Bergen kommende Bach einen kleinen Wasserfall. Die Hütte bestand aus unlackierten Hartholzschindeln, die von innen nach außen verrotteten, aber die Bretter waren so dick, dass sie wahrscheinlich noch hundert Jahre hielten.

»Ich gehe rein«, sagte McGrady. »Bleiben Sie hier bei Silva. Rufen Sie, wenn er aufwacht oder abzuhauen versucht. Oder wenn er auf Sie losgeht.«

Er zog die Schlüssel aus dem Zündschloss, stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu. Faithful sprang heraus und sprach ihn über das Dach hinweg an.

»Wenn er auf mich losgeht?«

»In der Hälfte der Fälle ist derjenige, der die Leiche findet, auch der Täter. Wenn er also auf Sie losgeht, tun Sie, was Sie tun müssen. Und rufen Sie mich. Dann komme ich sofort.«

McGrady trat ans Heck des Wagens, schloss den Kofferraum auf und nahm seine Taschenlampe heraus. Ein großes, sechs Batterien fassendes Gerät aus Walzstahl. Er drückte den Schalter. Nichts passierte. Als er mit der linken Handfläche dagegenschlug, flutete gelbes Licht in den Kofferraum. McGrady sah eine schwarze Ledertasche mit Ausrüstung. Er öffnete sie und fand zwischen Handschellen, den Blocks mit Formularen und dem Schlagstock aus Teak seine Ersatzwaffe, eine .45er ACP Automatic. Ein inoffizielles Überbleibsel aus seinen Tagen bei der Army. Sicher nichts, was er unbeaufsichtigt in einem Wagen lassen wollte, in dem ein Freund des Chiefs und ein potenzieller Mordverdächtiger saßen. Er lud die Waffe durch, steckte sie in seinen Gürtel und schlug den Kofferraumdeckel zu.

Reginald Faithful stand neben ihm, kniff die Augen zum Schutz vor dem Licht zusammen und schlug nach den Mücken, die sein Gesicht umschwirrten.

»Haben Sie auch eine für mich?«

»Nein.«

»Wie wäre es mit einer Taschenlampe?«

»Sie haben die Innenbeleuchtung des Wagens.«

»Wollen Sie mich wirklich hier draußen lassen?«

»Es ist doch Ihr Land.«

Er ging über den von Hufen plattgetretenen Erdboden zur Hütte, drückte die Tür mit der Schulter auf und setzte einen Fuß hinein. Noch bevor er die Taschenlampe einschaltete, war ihm klar, dass der alte Mann sich nicht alles ausgedacht hatte. Der Tod war gegenwärtig. Wenn der Geruch ihn nicht verraten hätte, dann auf jeden Fall die Fliegen.

Am Tag hatte die Temperatur dreißig Grad erreicht. Jetzt, nach mehreren Regengüssen, war es kühler. Aber die Hütte war dicht verschlossen gewesen, sodass sich die Hitze gehalten hatte. Sobald die Tür sich einen Spalt geöffnet hatte, erkannte McGrady den Geruch. Auf der Westseite der Insel gab es ein Schlachthaus, das er im letzten halben Jahr aus beruflichen Gründen zweimal besucht hatte. Daher war ihm der Geruch von Blutpfützen und aufgetürmten Innereien vertraut, was immerhin eine Art Vorbereitung auf den Anblick darstellte, der sich ihm jetzt bot.

Der tote Mann hing kopfüber von den Dachbalken herab, beide Fußgelenke auf die Haken an den Enden einer eisernen Stange gespießt. Er musste tot sein. Er war mehr oder weniger in zwei Teile aufgerissen, der größte Teil seiner Innereien hing auf den Lehmboden herab. McGrady legte die linke Armbeuge über Mund und Nase und trat weiter in die Hütte.

Eine Fliege erhob sich vom Boden und ließ sich auf der Linse seiner Taschenlampe nieder. Er wedelte sie weg und hockte sich hin, um das Gesicht des Mannes sehen zu können. Er war jung, vielleicht achtzehn oder zwanzig. Es war schwer zu sagen, denn seine Augen fehlten, vielleicht auch seine Zunge. McGrady wollte nicht in seinem zertrümmerten Mund herumwühlen, um sich zu überzeugen.

Er richtete sich wieder auf, drehte sich langsam um und ließ den Lichtkegel durch den Schuppen schweifen. Er sah Miguels Campingkocher, seine Kaffeekanne. Es gab einen hölzernen Eimer und eine Schöpfkelle aus Bambus. Außerdem Schaufeln und Spitzhacken und andere Werkzeuge, die an Wandhaken hingen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Feldbett, darauf türmten sich Laken, alte Segeltuchplanen und Kleidungsstücke.

Er richtete die Lampe nach oben, wo er die Balken und die Unterseite des Blechdachs sah. Die Spreizstange hing an einem Seil, das an einem Flaschenzug befestigt war. Jemand hatte den Mann hochgezogen, sodass sein ganzes Gewicht an den tief in seine Fußgelenke eingedrungenen Haken hing.

Falls er dabei noch am Leben gewesen war, hätte man die Schreie kilometerweit hören müssen. McGrady vermutete, dass er noch am Leben gewesen war. Seine Beine und sein Rücken waren voller Blut, das von den Fußgelenken heruntergelaufen war – unmöglich, wenn er schon tot gewesen wäre. Also musste er geschrien haben, lange und laut. Aber weit und breit wohnte niemand. Hier, im hintersten Winkel des Tals, hatten ihn höchstens die Rinder gehört.

McGrady verließ die Hütte. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging zum Wagen. Miguel lag reglos auf der Rückbank. Reginald Faithful trat aus dem Schatten heraus.

»Ist es wahr?«

»Ich muss Ihr Telefon benutzen«, sagte McGrady. »Es sei denn, es gibt eins, das nicht so weit entfernt ist.«

»Wir verschwinden hier einfach?«

»Je eher wir fahren, desto eher kann ich zurückkommen. Aber ich muss mit meinem Captain sprechen und den Leichenwagen anfordern.«

Die Faithfuls ließen ihn im Haus allein. Er beschloss, zuerst Molly anzurufen. Eine ihrer Mitbewohnerinnen kam an den Apparat. Die Neue aus Kalifornien. Ihr Name fiel ihm nicht ein.

»Hier ist Joe«, sagte er. »Kannst du Molly holen?«

»Sie schläft schon seit einer Stunde. Seit sie aus der Bibliothek zurück ist. Soll ich sie wecken?«

»Kannst du ihr eine Nachricht hinterlassen?«

»Welche Nachricht?«

»Ich habe einen großen Fall zugewiesen bekommen. Wenn ich es schaffe, komme ich morgen zum Abendessen. Falls nicht, sag ihr, es tut mir leid.«

Die Kalifornierin murmelte etwas und hängte ein. McGrady rief noch einmal die Vermittlung an und ließ sich mit der Polizei im Stadtzentrum verbinden, mit dem Büro der Detectives. Es dauerte keine Minute, bis er Captain Beamer in der Leitung hatte.

»McGrady?«

»Ja.«

»Ich habe mich schon gefragt, ob ich Ihnen vertrauen kann. Was ist da oben los?«

»Wie der Mann gesagt hat: eine Leiche, die an den Dachbalken hängt. Aber er ist übel aufgeschlitzt.«

»Ein Mann?«

»Ja.«

»Sind Sie sicher?«

»Er ist nackt.«

McGrady hielt inne und wartete auf eine Bemerkung des Captains. Als der Mann nichts sagte, fuhr er fort.

»Ich vermute, er ist an der Ausweidung gestorben.«

Beamer rieb mit dem Telefonhörer über seine Haut. Er hatte sich schon länger nicht rasiert.

»Andere Verletzungen?«

Tatsächlich hatte McGrady die Leiche vielleicht zehn Sekunden betrachtet, im zitternden Licht seiner Taschenlampe. Der Kerl konnte Wörter in den Rücken gekratzt haben, ganze Abschnitte mit Namen und Adressen, ohne dass er sie bemerkt hätte. Er hatte den Toten nur aus einem einzigen Winkel gesehen.

»Wenn der Coroner ihn abgewaschen hat, wissen wir vielleicht mehr«, sagte er.

»Kennen wir den Toten?«

»Schwer zu sagen. Er ist voller Blut und von seinem Gesicht ist nicht viel übrig. Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Ich weiß nicht, wen Sie kennen.«

»Rasse?«

»Er hat weiße Haut – das weiß ich mit Sicherheit. Aber wenn einem Mann die Augen ausgestochen werden, bleiben Fragen offen.«

»Sie wollen sagen, er könnte ein Japs sein. Welche Haarfarbe hat er?«

»Blutig«, sagte McGrady und rief sich das Bild der Leiche vor Augen. »Aber wenn ich tippen müsste, würde ich sagen, er ist ein Weißer. Er ist zu groß und hat breitere Schultern als ich.«

»Also gut«, sagte Beamer. »Fahren Sie zurück und warten Sie. Ich schicke Hilfe. Und geben Sie mir Reggie. Ich will mit ihm reden.«

McGrady stellte das Telefon auf den Tisch und trat vor die Tür. Er fand die Faithfuls auf der Veranda. Reggie lehnte am Geländer und sah hinaus zur Straße. Seine Frau saß zehn Meter entfernt auf einem Schaukelstuhl am gegenüberliegenden Ende. McGrady sah nur ihren Schatten und die Glut einer Zigarette. Er hätte sie nicht für eine Raucherin gehalten. Vielleicht gönnte sie sich an Abenden, an denen auf ihrem Land Leichen gefunden wurden, eine Ausnahme. Dafür hätte er Verständnis.

Reggie hörte, wie die Tür zuschlug, und drehte sich um.

»Ja?«

»Beamer will Sie sprechen«, sagte McGrady. Er setzte den Hut wieder auf und nickte in Mrs Faithfuls Richtung. Dann ging er schnell die Stufen hinunter zu seinem Wagen. Miguel schlief immer noch auf der Rückbank. Das war gut. Er konnte ihn den Streifenbeamten übergeben, wenn sie kamen. Oder ihn selbst in die Stadt bringen.

3

Er fuhr durch die letzte Kurve vor der Hütte und nahm den Fuß vom Gas. Auf dem holprigen Boden wurde der Wagen langsamer. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem Stöhnen. Er wandte den Kopf, um nach Miguel zu sehen. Ein unaufmerksamer Moment, der McGrady fast das Leben gekostet hätte.

Miguel war von der Rückbank gefallen und lag noch quer über dem mit Teppich bedeckten Buckel, unter dem sich die Antriebswelle der Hinterachse verbarg. Er war nicht aufgewacht, es gab also kein Problem. McGrady schaute wieder nach vorn, und diesmal trat er hart auf die Bremse.

Keine zwanzig Meter vor ihm sah er im Licht seiner Scheinwerfer die Hütte. Ein paar Meter davor stand ein blassgelber Packard-Zweisitzer. Zwischen dem Auto und der Hütte stand ein Mann. Er trug einen grünen Mechaniker-Overall und eine schwarze Strickmütze, unter der seine Haare komplett verschwanden. Auf seiner linken Gesichtsseite zog sich eine Narbe vom Ohr bis zum Mundwinkel. Er hatte eine dunkle Gesichtsfarbe, nur die Narbe glänzte weißlich im Scheinwerferlicht. In der linken Hand hielt er eine Säge mit Holzrahmen, neben dem rechten Fuß stand ein Zwanzig-Liter-Benzinkanister. Er blinzelte ins grelle Licht und hielt sich die freie Hand schützend vor die Augen. Offenbar versuchte er, den Wagen oder den Fahrer zu erkennen. Dann ließ er die Säge fallen und griff in seinen Overall.

McGrady tastete nach der Waffe, aber der Mann draußen war ihm zuvorgekommen. Während McGrady noch seine Dienstpistole aus dem Holster zerrte, hob der Mann schon einen großen Revolver. Er nahm eine beidhändige Schussposition ein, die Füße fest am Boden und die Knie gebeugt, und begann zu feuern.

McGrady sah die Mündungsfeuer – eins, zwei, drei –, aber er konnte sich später nicht erinnern, die Schüsse gehört zu haben. In der Windschutzscheibe tat sich ein faustgroßes Loch auf. Im Handumdrehen waren seine Stirn und der Unterarm von messerscharfen Glassplittern übersät. Eine Kugel ging knapp am rechten Ohr vorbei. Als die Scheibe explodierte, trat er aufs Gas. Der Mann draußen korrigierte seinen Anschlag, weitere Kugeln drangen in einer waagerechten Linie ein. Die letzte hätte ihm fast den Kopf vom Hals gerissen, aber inzwischen hatte er seine .38er gezogen, die Tür geöffnet und sich nach draußen geworfen. Mit der Schulter voran landete er auf dem Boden, während das Auto weiterfuhr. Er rollte sich vom Wagen weg, kam auf die Knie und feuerte zweimal.

Schnelle, wilde Schüsse, ohne den Versuch, ernsthaft zu zielen. Vielleicht hatte einer sogar seinen Wagen getroffen, aber das machte nichts mehr aus, denn das Auto war sowieso von Schüssen durchsiebt. Es bewegte sich noch immer, kam aber langsam zum Stillstand. Mit letzter Kraft rammte es die Seite des Schuppens. Der Motor erstarb, aber die Scheinwerfer leuchteten weiter. Es war hell genug, um den Mann zu sehen. Er hatte Deckung hinter dem gelben Packard gesucht und zielte jetzt über das Dach hinweg.

Er schoss noch dreimal, McGrady spürte die Kugeln an sich vorbeizischen. Kein Treffer, jetzt war die Waffe des Schützen wahrscheinlich leer. McGrady stand auf und gab noch zwei Schüsse ab, ins Fenster des Packards, weil er hoffte, durch beide Scheiben hindurch treffen zu können. Der Mann schien zu fallen, aber McGrady wollte nicht glauben, so viel Glück gehabt zu haben. Er ließ sich auf die Knie und dann auf die Seite fallen und schoss noch zweimal unter dem Fahrgestell hindurch. Dann steckte er die .38er ein, stand auf und zog die Armeepistole aus dem Hosenbund. Er hielt sie tief unten und ein Stück hinter dem Körper.

Er machte mehrere Schritte auf den Wagen zu.

»Du hast keine Munition mehr«, rief er. »Ich auch nicht. Jeder sechs Schuss, stimmt’s?«

Keine Antwort. Vielleicht konnte der Kerl ihn nicht mal hören. Sechs Schüsse aus einem großen Revolver konnten diese Wirkung haben.

»Komm raus, dann reden wir. Von Mann zu Mann.«

Er näherte sich dem Zweisitzer. Im Fenster auf der Beifahrerseite waren, eine Handbreit voneinander entfernt, zwei Einschusslöcher. Ansonsten war durch das Glas nichts zu erkennen, es wurde nur von der laminierten Sicherheitsbeschichtung zusammengehalten. Er konnte nicht sehen, ob seine Schüsse das Beifahrerfenster durchschlagen hatten. Zu hören war nichts außer dem Klingeln in seinen Ohren. Er machte sich auf den Weg zum Kühler. Als er auf Höhe der Stoßstange war, nahm er links von sich eine Bewegung wahr. Miguel Silva stolperte aus dem zum Stillstand gekommenen Stadtauto, so desorientiert, dass er kaum stehen konnte.

McGrady wandte sich wieder dem Zweisitzer zu, wo die Gefahr lauerte. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mann auf ihn zustürzte. Er hatte sich wie eine Feder zusammengekauert, um dann über die Kühlerhaube des Packards zu schnellen. Seinen großen Revolver hielt er am Lauf, wie einen Knüppel. McGrady machte zwei Schritte zurück, verlor in einer schlammigen Radspur den Halt und fiel. Ehe er auf dem Boden aufschlug, gab er fünf Schüsse ab.

Die Blitze des Mündungsfeuers ließen die Szene wie Einzelbilder eines Films vor ihm vorbeiziehen. Fast wie in den alten Spielhallen. Der Mann breitete die Arme wie Flügel aus. Er drehte sich, zuckte. Der leere Revolver flog durch die Luft, auf den Zweisitzer zu.

Dann lag McGrady im Schlamm, zwischen Banyanwurzeln, er hörte nur noch das Klingeln in seinen Ohren.

McGrady stand auf. Der andere Mann nicht. Er lag vor dem Packard, das Gesicht nach unten, die Arme vor sich ausgestreckt. McGrady holte die Taschenlampe aus seinem Auto. Er schlug dagegen, bis sie funktionierte, und ließ den Lichtkegel über den Mann gleiten. Seitlich in seinem Kopf und zwischen den Schulterblättern waren große Austrittswunden zu erkennen. Sein Overall war zerfetzt und schwarz verfärbt. Es war nicht nötig, sich hinzuknien und nach seinem Puls zu tasten.

McGrady hörte etwas in seinem Rücken. Eine Stimme vielleicht, er hätte es nicht sagen können. Seine Ohren klingelten so laut, dass ihm schwindlig wurde. Als er sich umdrehte, sah er Miguel. Sein Mund bewegte sich, aber McGrady konnte noch immer nichts hören. Er trat näher.

»Was ist?« Auch seine eigene Stimme klang falsch. Als würde er irgendwo tief unter der Erde reden. »Du musst lauter sprechen.«

Miguel stützte sich an der offenen Wagentür ab. Er sah aus, als könne er jeden Moment vornüberfallen. Aber mit einiger Mühe gelang es ihm, den Kopf zu heben und zu sprechen.

»Sind Sie ein Cop?«

»Wir haben uns schon unterhalten.«

»Da drin … Ist es wirklich passiert?«

McGrady sagte nichts. Wie es jetzt aussah, würde er sich mindestens achtundvierzig Stunden auf den Beinen halten müssen. Bloß keine Energie verschwenden. Stattdessen fesselte er Miguel mit Handschellen an die Wagentür. Es war besser, wenn er nicht weiter hier draußen herumlief. Dann nahm McGrady die Lampe und ging zurück zu dem Mann, den er erschossen hatte. Die Säge und der Benzinkanister standen einige Schritte voneinander entfernt auf dem Boden. Nachdem er den Jungen aufgeschlitzt und die Hütte verlassen hatte, mussten ihm Zweifel gekommen sein. Er musste sich Sorgen darüber gemacht haben, etwas zurückgelassen zu haben. Also hatte er die Säge und das Benzin genommen und war noch einmal hergekommen, um die Sache zu Ende zu bringen. So weit klang es plausibel, aber irgendetwas übersah McGrady noch.

Er kniete sich neben den Toten und tastete ihn ab. Keine Brieftasche. Nichts in den Taschen, von einem Klappmesser und einem Ronson-Feuerzeug abgesehen. Kein Autoschlüssel. McGrady drehte ihn auf den Rücken. Sein Gesicht war entstellt. An den Stellen, die nicht blutbeschmiert waren, klebten Schlamm und tote Blätter. An der Vorderseite des Overalls gab es jede Menge Taschen. Er tastete jede einzelne ab, fand aber nichts. Nicht mal ein Kaugummipapier.

McGrady ging zu dem Zweisitzer und öffnete die Tür. Die Innenbeleuchtung schaltete sich ein. Auf den genähten Ledersitzen glitzerten feine Glasscherben. Weder im Zündschloss noch irgendwo anders entdeckte McGrady die Schlüssel. Dafür war der Kabelstrang hinter dem Armaturenbrett herausgerissen worden, er baumelte am Lenkrad herunter. Unten im Fußraum lagen kleine Stücke der Gummiisolierung, die wahrscheinlich mit dem Klappmesser, das er entdeckt hatte, von den Zündkabeln gelöst worden waren.

Er setzte sich auf den Fahrersitz und beugte sich hinüber, um das Handschuhfach zu öffnen. Der Kerl musste die Registrierung aus dem Fenster geworfen haben, nachdem er sich mit dem Wagen aus dem Staub gemacht hatte. McGrady stieg aus und ging zum Heck, um nach dem Kennzeichen zu sehen. Es fehlte ebenfalls. Die Gewinde, in denen die Schrauben gesteckt hatten, waren blank. Das Nummernschild musste heute abgeschraubt worden sein, sonst hätte sich in den Löchern längst Straßenstaub festgesetzt.

Er sah noch einmal nach Miguel und schritt dann durch die tiefen Schatten der Mangobäume. Der Regen hatte sich verzogen, McGrady stellte sich an den Rand des Weidelands unter den sternklaren Himmel. Er sah die dunklen Umrisse der im Stehen schlafenden Rinder. An den Lattenzaun gelehnt zog er Bilanz.

Er hatte zwei unbekannte Leichen. Einen jungen Mann, der wie ein Tier im Schlachthof getötet worden war, und den Narbengesichtigen, der zum Aufräumen zurückgekommen war. Ein bisschen sauberzumachen war an sich keine schlechte Idee gewesen, wenn der Kerl nicht in einem gestohlenen Wagen und gerade im passenden Moment aufgetaucht wäre, um sich von McGrady erschießen zu lassen. Schlechtes Timing, aber Tote waren meist keine Glückspilze. Nicht dass McGrady selbst sich wie einer vorgekommen wäre. Wenn irgendjemand den Anblick im Schuppen hätte erklären können, dann Narbengesicht. Das konnten sie jetzt vergessen.

McGrady blickte auf.

Von der Zufahrt zum Tal her näherten sich Scheinwerfer. Er stieß sich vom Zaun ab und ging ein Stück die Straße entlang, um die Kavallerie in Empfang zu nehmen. Mitten auf der Brücke blieb er stehen und hielt die Dienstmarke hoch. Drei Meter vor ihm kam der Wagen zum Stehen. Der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter und öffnete die Tür einen Spalt weit, sodass die Innenbeleuchtung sich einschaltete.

McGrady sah in ein Gesicht, das er von seinem ersten Jahr auf Streife kannte. Ein alter Sergeant namens Kondo. Bei jedem Straßenkampf eine echte Bank, aber nicht nur zum Prügeln zu gebrauchen. All die Flaschen und Ziegel, die er über den Kopf bekommen hatte, hatten keinen bleibenden Schaden angerichtet.

»Wo ist der Kerl?«, fragte Kondo. »Beamer hat von einem Schuppen gesprochen.«

»Ein gutes Stück die Straße runter.«

»Wollen Sie einsteigen?«

»Ich will, dass Sie aussteigen. Fahren Sie an die Seite, um Platz für den Leichenwagen zu machen. Er muss näher ran, aber die anderen Autos können hier unten bleiben.«

»Was ist los?«

»Ich musste auf jemanden schießen.«

»Was?«

»Er wollte gerade alles abfackeln. Ich bin ihm in die Quere gekommen. Es lief schnell.«

»Überraschung, Arschloch! Hier kommt das HPD!«

»So ungefähr. Jedenfalls hat er seine Waffe gezogen.«

»Ist er tot?«

»Sauberer Kopfschuss. Vor dem Schuppen herrscht ein ziemliches Chaos. Wir brauchen auch zwei Abschleppwagen. Für mein Auto und für seins. Wen haben Sie dabei?«

»Alle, die Beamer entbehren konnte.«

»Sie sind der Dienstälteste?«

»Ja.«

McGrady versuchte, aus dieser Information Schlüsse zu ziehen, kam aber zu keinem Ergebnis. Entweder konnte Beamer keinen anderen Detective auftreiben, der den Fall übernehmen konnte, oder er traute McGrady die Leitung zu. So oder so lief es wahrscheinlich aufs Selbe hinaus. McGrady würde sein Bestes geben.

»Fahren Sie an den Straßenrand und holen Sie Ihre Leute, damit wir uns besprechen. Ich will, dass wir alles richtig machen.«

4

Sie bildeten einen Kreis vor Kondos Wagen. Fünf Streifenpolizisten, zwei Männer aus dem Büro des Coroners und McGrady. Außer dem alten Sergeant kannte er keinen von ihnen, aber das war in Ordnung. So würden sie nicht auf die Idee kommen, sich Gedanken über seine Erfahrung zu machen. Die war gleich null, was Fälle wie diesen betraf. Er brachte die Männer auf den Stand. Er wollte auf Nummer sicher gehen und nicht hetzen. Zwei der Uniformierten sollten Miguel von McGradys Rücksitz holen und ihn in die Stadt bringen, wo er in einer Zelle seinen Rausch ausschlafen konnte. Zwei weitere Streifenbeamte sollten zurück durch das Tal fahren. Einer sollte aussteigen und die Zufahrt ins Tal bewachen, der zweite zu Faithfuls Haus fahren, um zu telefonieren. Sie brauchten zwei Abschleppwagen. McGrady, Kondo und die Männer des Coroners würden am Tatort bleiben.

Im Leichenwagen gab es mehrere Leichensäcke, was gut war. Außerdem eine Kameraausrüstung, das war noch besser. Aber sie hatten weder starke Lampen mit Stativen noch das richtige Filmmaterial, um Aufnahmen im Dunkeln zu machen. Die Fotos mussten also bis Sonnenaufgang warten. Was nicht mehr allzu lange hin war.

Die Männer des Coroners konnten im Garten der Hütte warten und auf Tiere achtgeben. Die Leiche musste für den Fall geschützt werden, dass eine Rotte Wildschweine den Blutgeruch aufnahm und aus dem Unterholz brach. In der Zwischenzeit würden McGrady und Kondo sich in der Hütte aufhalten. Da drinnen gab es noch reichlich zu sehen.

Sie ließen die Tür offen, um Frischluft hineinzulassen, blieben gleich hinter der Tür stehen und richteten ihre Lampen auf die hängende Leiche. McGradys Batterien gaben langsam ihren Geist auf, das Licht wurde schwächer und gelblich.

»Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«

Kondo brummte kopfschüttelnd.

»Nicht mal annähernd«, sagte er. »Der Kerl muss jemandem richtig auf den Sack gegangen sein.«

»Meinen Sie?«

»Bei einem Mädchen wäre es etwas anderes. Dann könnte sich jemand seinen Spaß gemacht haben. Ein Perverser. Aber bei einem Mann … nein. Was glauben Sie, wie lange er da hängt?«

»Ich frage den Coroner.«

»Aber was schätzen Sie?«

»Einen Tag oder zwei.«

»Sicher nicht länger«, sagte Kondo. »Dafür ist das Blut nicht trocken genug.«

McGrady trat zum Regal im hinteren Teil der Hütte und entdeckte eine Schachtel Streichhölzer. Dann ging er durch den Raum und zündete alle drei Lampen an. Er drehte die Dochte höher, bis die kleine Hütte von weißem Licht und unheimlichen Schatten erfüllt war.

»Was soll ich tun?«, fragte Kondo. »Wir könnten den Jungen runterheben.«

»Lassen Sie ihn. Behalten Sie mich einfach im Auge.«

»Wobei?«

»Wenn ich etwas finde, können Sie bezeugen, dass ich es nicht selbst hier deponiert habe.«

Kondo setzte eine beleidigte Miene auf. Seine Stirnhaut warf tiefe Falten über dem Knochen. Offenbar hatte McGrady irgendeinen Ehrenkodex in Zweifel gezogen.

»Ich könnte zu Hause im Bett liegen und würde es trotzdem mit der Hand auf der Bibel beschwören.«

»Aber wenn Sie hier sind, messen die Geschworenen Ihrer Aussage mehr Gewicht bei.«

»Welche Geschworenen?«, fragte Kondo. »Sie haben den Typen erschossen. Fall erledigt.«

»Ich glaube, er hatte Hilfe.«

»Warum?«

»Nur so ein Gefühl.«

»Haben Sie auch ein Gefühl, was dieses Bett betrifft?«

McGrady warf einen Blick auf das Feldbett. Jetzt wurde es von beiden Taschenlampen angestrahlt. Schmutzige Decken und alte Kleidungsstücke stapelten sich darauf.

»Was ist damit?«

»Es blutet.«

Kondo hatte recht. Auf dem Boden unter dem Bett war eine Lache zu erkennen. Die dünne Matratze war von Blut durchweicht. Es war heruntergetropft und hatte auf dem Boden eine Pfütze gebildet. Schwarze Ameisen hatten sie entdeckt und tummelten sich an den Rändern.

»Scheiße.«

»Haben Sie vorher nicht darunter nachgesehen?«

»Ich hab das Blut nicht bemerkt.«

Er hatte es zu eilig gehabt, die Hütte zu verlassen, Beamer ans Telefon zu bekommen und Verstärkung anzufordern. Er trat ans Bett, nahm eine fadenscheinige Jeans herunter und legte sie zur Seite. Dann ein kariertes Cowboyhemd und ein vergilbtes Unterhemd. Ein altes Laken. Ein zerrissenes Kissen. Als Letztes eine dünne Baumwolldecke. Sie war an mehreren Stellen blutgetränkt und so feucht, dass sie an der Gestalt darunter klebte. Inzwischen hatte das Blut zu trocknen begonnen, die Decke würde an der Haut kleben, wenn er sie hochhob. Der Umriss verriet McGrady, was er unter der Decke finden würde, woran sie festhing. Er nahm eine trockene Ecke und zog.

»Oh, verdammt«, sagte Kondo. »So etwas hasse ich.«

Sie war hübsch gewesen, das hatte Kondo gemeint. Wahrscheinlich war sie hübsch gewesen, das ließ sich jetzt schwer entscheiden. Sie hatte dunkle Haare, lang und glatt und glänzend. Das zumindest ließ sich problemlos feststellen. Sie war nackt, ihre Handgelenke waren hinter den gebeugten Knien gefesselt. Der Mann musste sein Messer wirklich lieben. Er hatte ihren Körper unversehrt gelassen und seine Energie auf ihren Hals und ihr Gesicht gerichtet.

»Beide nackt und zerschnitten«, stellte Kondo fest. »Glauben Sie, sie war seine Freundin? Vielleicht hat das ihrem früheren Freund nicht gefallen.«

»Möglich.«

»Orientalin, weißer Mann«, sagte Kondo. »Wenn sie zusammen waren, hatten sie vielleicht Gründe, es geheim zu halten. Daddy überrascht sie, und …«

»So etwas macht kein Vater«, sagte McGrady. »Und falls sie ein Liebespaar waren, hat die Sache woanders angefangen. Beide sind nackt, aber ihre Kleidung ist nicht hier.«

»Der Kerl war schon mal weg und ist wiedergekommen. Vielleicht hat er die Kleidung schon mitgenommen.«

»Jedenfalls haben sie alles durchdacht«, sagte McGrady. »Sie haben einen Wagen gestohlen und sich den Ort zum Töten schon im Voraus ausgesucht.«

»Sie sprechen schon wieder von mehreren Tätern.«

»Der Kerl, den ich umgelegt habe, hatte Hilfe. Er hat das nicht alles alleine gemacht. Und ich glaube nicht, dass er derjenige war, der es geplant hat. Sein Partner hält sich zurück und geht keine großen Risiken ein. Narbengesicht da draußen – der wurde zurückgeschickt, um die Schweinerei zu beseitigen.«

McGrady ging in die Knie und schaute sich an, was vom Gesicht der jungen Frau noch übrig war. Ihre Augen waren nicht entfernt worden. Die Täter hatten gewollt, dass sie sehen konnte. Sie hatten sie so hingelegt, dass sie den jungen Mann im Blick hatte. Sie hatten sie zum Zusehen gezwungen, als sie sich an ihm zu schaffen gemacht hatten. Schnitt für Schnitt. Es konnte Stunden gedauert haben. Und dann hatten sie mit ihr weitergemacht.

»Was wollen Sie tun?« fragte Kondo.

»Nehmen wir uns noch mal seinen Wagen vor«, sagte McGrady. »Ich kann ein bisschen frische Luft gebrauchen.«

Es war ein Packard-Zweisitzer, wahrscheinlich Baujahr ’37 oder ’38. Unter der langgestreckten Kühlerhaube befand sich ein Achtzylindermotor. In Gehäusen zwischen den vorderen Kotflügeln und dem schmalen Führerhaus waren die Reservereifen verstaut. Im Inneren gab es eine großzügig bemessene lederüberzogene Sitzbank und einen winzigen Rücksitz. Der stark abgeschrägte Kofferraum endete an einer gebogenen Stoßstange. Alles in allem eine Menge Auto. Überall Chrom, luxuriöse Lackierung. Wahrscheinlich war der Wagen dreimal so teuer wie McGradys Ford-Stadtauto. McGrady öffnete die Tür. Die Innenbeleuchtung ging an, aber seine Taschenlampe war leer. Er tauschte mit Kondo und kniete sich hin. Unter den Sitzen war nichts versteckt. Im Handschuhfach hatte er schon nachgesehen.

»Was ist mit dem Kofferraum?«, fragte Kondo.

Sie öffneten den Kofferraumdeckel, der nicht abgeschlossen war, und richteten die Taschenlampe ins Innere. Die Filzauskleidung war dunkelbraun, allerdings waren auch einige noch dunklere Flecken zu erkennen.

»Ist das Blut?«, fragte Kondo.

McGrady berührte einen der Flecken und betrachtete seine rote Fingerspitze.

»Ja, muss wohl.«

Er beugte sich mit der Taschenlampe noch weiter hinein. Dann trat er zurück, richtete sich auf und zeigte Kondo, was er gefunden hatte. Er richtete den Strahl der Taschenlampe direkt auf das lange, schwarze Haar, das er vom Boden aufgelesen hatte.

»Es hat woanders angefangen«, sagte McGrady. »Sie haben sich die beiden geschnappt und sie ausgezogen.«

»Falls sie nicht schon nackt waren.«

»Auch möglich. Dann wurden sie in den Kofferraum gepackt und hierhergebracht.«

»Hätten die beiden da überhaupt hineingepasst?«

»Das Mädchen war ziemlich klein«, sagte McGrady.

»Aber es muss sehr eng gewesen sein. Und es gab kaum Luft zum Atmen.«

»Das wird den Tätern egal gewesen sein.«

»Und jetzt?«

McGrady drehte sich um. Die Männer des Coroners warteten unter den Bäumen auf der dem Wind abgewandten Seite der Hütte. Der Mann, den er erschossen hatte, lag immer noch mit offenem Mund auf dem Boden und lockte die Fliegen an.

»Machen Sie die Motorhaube auf«, sagte McGrady. Er zückte Stift und Notizbuch. »Ich will die Nummer auf dem Motorblock notieren.«

5

Zehn Uhr, McGrady saß auf dem Beifahrersitz von Kondos Streifenwagen. Sie waren auf dem Rückweg die Serpentinen des Nuʿuanu Pali hinauf. Vor ihnen fuhr der Leichenwagen mit drei nicht identifizierten Toten. Sie erreichten den höchsten Punkt, wo ineinander verschlungene Farne sich an die Berghänge klammerten. Sägezahnartige Bergspitzen verschwanden in den Wolken.

»Was denken Sie?«, fragte Kondo.

McGrady schüttelte den Kopf.

»Beamer wird nicht glücklich sein. Eine Leiche, habe ich gesagt. Jetzt haben wir drei.«

»Die dritte wird ihm gefallen. Sie haben den Kerl voll erwischt.«

»Ihm sind die Kugeln ausgegangen. Mir nicht.«

»Sie scheinen ziemlich cool damit umzugehen.«

McGrady antwortete nicht.

»Es war nicht Ihr erstes Mal«, stellte Kondo fest.

»Nein, und auch nicht das zweite.«

»Aber nicht hier, sonst hätte ich davon gehört.«

»Nicht hier.«

»Sondern in der Army.«

McGrady nickte.

»Philippinen?«

»Bei Foochow. 1934.«

»Foochow – wo ist das?«

»In China. An der Formosastraße.«

Kondo fuhr langsamer, weil die Straße hier schlechter wurde. Sie passierten einen Wasserfall, der die Fahrbahn und dann auch das Auto in einen Sprühnebel hüllte.

»Wir waren ’34 in China?«

»Ich schon. Ich war in der Army, wurde aber einer Kompanie der Marines zugewiesen. Wir haben ein Konsulat geschützt.«

»Haben Sie eine Geschichte zu erzählen?«

»Nichts Interessantes«, sagte McGrady. »Nur, dass bei dem, was da drüben passiert ist … Ich hatte ein Model 1903.«

»Was soll das heißen?«

»Mit einem Gewehr ist es anders. Man liegt unter einem Busch. Man schaut durch ein eisernes Visier und überlegt, welchen Einfluss der Wind haben könnte. Die Typen waren vierhundert Meter entfernt. Ich konnte ihre Gesichter nicht sehen.«

Das Gesicht von Captain Beamer sah er aus anderthalb Metern. Zwischen ihnen befand sich ein Schreibtisch, sonst nichts. Beamer hatte die gelbe Haut eines Rauchers, die sich über seinen Gesichtsknochen spannte, und war unrasiert. Er hatte die ganze Nacht und den halben Vormittag am Schreibtisch verbracht. Vor einer Minute hatte McGrady seinen Bericht beendet, aber Beamer hatte noch kein Wort gesagt. Schließlich unterbrach er den Augenkontakt, nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette und drückte sie im Aschenbecher aus. Er zündete sich keine neue an. Zum allerersten Mal sah McGrady ihn ohne Zigarette.

»Sie haben von Faithfuls Haus aus angerufen und gesagt, es gebe nur eine Leiche. Die männliche.«

»Die andere hatte ich noch nicht gefunden.«

»Ich hatte Ihnen aufgetragen, sich die Sache anzusehen und mir zu berichten. Was war daran schwer zu verstehen?«

»Ich war an der kurzen Leine unterwegs«, sagte McGrady und hielt die Hände einige Zentimeter auseinander. »Ich habe gesehen, dass wir es tatsächlich mit einem Mord zu tun hatten. Also bin ich zurückgefahren und habe ihn gemeldet. Ich dachte nicht, dass ich den Schuppen vor meinem Anruf noch auf den Kopf stellen sollte.«

Beamer warf einen Blick auf seine Zigarettenschachtel, ließ aber die Finger davon.

»Das ändert alles«, sagte Beamer. »Wie Ihnen sicher klar ist, nicht wahr?«

»Tut es das?«

Beamer schüttelte den Kopf, griff nach dem Päckchen und klopfte eine Zigarette heraus.

»Wo war sie überhaupt?«

»Auf einem Feldbett, unter einem Stapel dreckiger Wäsche«, sagte McGrady. »So fest verschnürt, dass man sie in einen Koffer hätte packen können.«

»Die gleiche Art Verletzungen?«

»Mit dem Messer, ja. Sie war nicht ausgeweidet. Dafür haben sie ihr Dinge angetan, die sie mit ihm wahrscheinlich nicht gemacht haben.«

»Und sie war eine Japse?«

»Das war mein Eindruck. Und auch Kondos.«

»Ich traue Kondo eher als Ihnen.«

»In der Hinsicht sicher. Er ist von hier.«

»In jeder Hinsicht«, sagte Beamer. »Außerdem ist er selbst halber Japs. Die erkennen sich gegenseitig. Was ist mit Faithfuls Boy? Miguel.«

»Ich würde ihn lieber schwitzen lassen und nach den Autopsien mit ihm reden, wenn ich ein bisschen mehr weiß. Abgesehen davon ist er im Augenblick so betrunken, dass er keine drei Worte am Stück herausbringt.«

Beamer musste nicken. Es so anzugehen, ergab Sinn.

»Wann finden die Autopsien statt?«

»Um elf«, sagte McGrady. »Ich muss bald los. Ich brauche noch einen Wagen.«

»Es ist gleich um die Ecke. Wir können zu Fuß gehen.«

»Nein, es ist in Fort Shafter. Der Kompressor im Kühlraum des Coroners hat den Geist aufgegeben. Sie können die Leichen nicht lagern. Also hat er seinen Jungs gesagt, sie sollen sie ins Tripler bringen.«

Beamer sog an seiner Zigarette, bis sie keinen Zentimeter mehr lang war.

»Die Army führt meine Autopsien durch?«

»Es bleibt unser Fall. Sie tun uns bloß einen Gefallen«, sagte McGrady. »Kondo ist schon da draußen und behält alles im Auge. Es war die Entscheidung des Coroners. Nicht meine.«

Beamer stieß Rauch durch die Nase aus. Mit der Fingerspitze wischte er sich einen Tabakkrümel von den Zähnen.

»Sie können mit mir fahren«, sagte er und sah auf die Uhr. »Vorher müssen wir nach Pearl. Kimmels Mann will seinen täglichen Bericht, er wartet nicht.«

»Die Navy hat ihre Finger im Spiel?«

»Nein, und seien Sie dafür dankbar. Denen möchten Sie nicht Rede und Antwort stehen. Hurensöhne in Kellneruniformen, die Spielzeugschiffe über Landkarten schieben.«

»Es geht also nur um die morgendliche Liste.«

»Die Liste der Festnahmen, genau.«

»Müssen Sie das regelmäßig tun, und dann noch persönlich?«

Beamer schüttelte den Kopf. »Nach allem, was ich höre, hat der Admiral ausgerechnet heute ein verschärftes Interesse.«

»Haben wir letzte Nacht jemand Speziellen geschnappt?«

Beamer neigte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen. Vielleicht besaß McGrady irgendwo zwischen seinen Ohren tatsächlich ein Gehirn. Hätte Beamer selbst eins gehabt, wäre ihm das schon vor sechs Monaten aufgefallen.

»Die Frage habe ich mir auch gestellt. Ich bin vor einer Stunde an den Zellen vorbeigegangen. Niemand ist mir besonders aufgefallen. Ich habe mir die Listen angeschaut, aber bei keinem Namen hat es geklingelt. Und ich kenne eine Menge Namen. Abgesehen davon waren sämtliche Männer Soldaten.«

»Und die Zivilisten, die sich nicht ausweisen konnten?«

Solche gab es immer. Männer, die sich aus dem Staub machten, ihre weißen Navy-Uniformen auszogen und sich in Chinatown austobten, als gäbe es kein Morgen.

»Es waren ein paar Zivilisten dabei«, sagte Beamer. »Japse und Penner. Niemand, der Kimmel nervös machen würde.«

Beamer zog seine Schublade auf und nahm ein Metallröhrchen heraus. Ein Benzedrin-Inhalator, zehn Cents im Benson Smith Drug Store. Er schraubte die Verschlusskappe ab und nahm drei Stöße pro Nasenloch. Dann zündete er sich die nächste Zigarette an. Kein Wunder, dass der magere alte Drecksack die Zähne bis auf ein paar braune Stummel heruntergeknirscht hatte.

Beamer fuhr ein Stadtauto. Er rauchte Luckies, sog an seinem Inhalator und hatte eine Blechtasse Kaffee dabei. Das Einzige, was McGrady ihn je hatte essen sehen, war ein hartgekochtes Ei. McGrady öffnete sein Ausstellfenster und lehnte sich dicht daran, um frische Luft zu bekommen.

Sie erreichten den Kamehameha Highway, fuhren an Bars und Pfandleihen und Essensverkäufern vorbei, bis sie Pearl Harbor erreichten. Die Flugzeugträger lagen im Hafen. Die Lexington und die Enterprise überragten die Docks und überhaupt alles im Bereich des Stadtzentrums. Marineblaue Wildcats drängten sich Flügelspitze an Flügelspitze auf den flachen Decks. Neben Ford Island lag ein Schlachtschiff neben dem anderen. Grauer Stahl und lange Geschütze. Kanonen, die in den Himmel ragten.

Chinatown würde heute Abend außer Rand und Band geraten. Wie jeden Abend.

Die Navy diktierte die Preise, das HPD setzte sie durch. Seeleute standen auf der Hotel Street in Zweierreihen vierhundert Meter Schlange. Ein Token kaufen, nach oben gehen. Drei Dollar für drei Minuten. Die Uhr lief in dem Moment, in dem das Mädchen den Vorhang zuzog. Keine Ausnahmen. Schließlich wartete die Schlange. Schließlich wartete ein zurückgestauter Strom der Lust. Nachher: ein Ausfluss an verbrauchter, ausgespiener Begierde. Und jeden Morgen übergab das HPD dem Pazifikkommando eine Liste der Festnahmen. Heute Morgen befand diese Liste sich in Beamers Aktenmappe.

Beamer bog links ab. Er drängte sich in die Schlange der Autos, die darauf warteten, durch Pearl Harbors Osttor eingelassen zu werden. McGrady sah nach vorn. Die Waianae-Range ragte blaugrün aus dem von Zuckerrohrfeldern aufsteigenden Qualm heraus. Eine Fliegerstaffel näherte sich durch die Lücke in der Kammlinie. Auf den Propellern fing sich das Sonnenlicht, sie zogen goldene Kreise, als die Maschinen synchron in Schräglage gingen.

Beamer hielt am Tor und präsentierte seine Dienstmarke. Der Schlagbaum hob sich, Beamer fuhr weiter. Vor ihnen ragte zehn Stockwerke hoch der Turm auf, in dem Besatzungen übten, sich aus havarierten U-Booten zu retten. Das COMSUBPAC-Hauptquartier befand sich in einem langgezogenen U-förmigen Betonbau. Zwischen dem Gebäude und den Docks lag eine grüne Rasenfläche. Jenseits davon zählte McGrady sechs U-Boote.

Beamer parkte in der zweiten Reihe neben dem Lincoln-Zephyr eines Flaggoffiziers.

»Warten Sie auf mich.«

»Okay.«

Beamer schnappte sich seine Aktenmappe aus Presspappe. Er hatte seine Mütze aufgesetzt und die Uniformjacke angezogen. Er war spindeldürr. Sein auffälligstes körperliches Merkmal war der Adamsapfel, der so weit vorragte wie die Nase. Beamer hatte Zigaretten und Inhalator auf dem Sitz liegen lassen.

McGrady nahm sich eine von Beamers Zigaretten und klopfte seine Taschen ab. Er fand das Ronson-Feuerzeug des Toten, zündete die Zigarette an und stieg aus. Seine letzte hatte er am Ufer des Min-Flusses geraucht, in dem tote Hunde und aufgeblähte Kühe getrieben waren. Jetzt lehnte er sich rauchend an Beamers Auto und schaute zum Himmel. Er streckte sich, um sich wach zu halten.

Nach gerade mal vierzehn Minuten tauchte Beamer wieder auf. Er schwang sich hinters Lenkrad, zündete sich eine Zigarette an und ließ den Motor an.

6

Das Tripler Hospital lag rund vierhundert Meter hinter der Einfahrt zu Fort Shafter. Blumenbeete und auch hier grüne Rasenflächen. Niedrige, mit Schindeln verkleidete Häuser, strahlend weiß getüncht. Sie stiegen ein paar Holzstufen hinauf und überquerten eine breite Veranda, auf der ein Mann in einem Rollstuhl mit einer Binde über der linken Gesichtshälfte saß. Beide Beine und der linke Arm steckten in Gipsverbänden. An seinem Hemd waren Pilotenschwingen festgesteckt. Nur sein rechter Arm war unversehrt. Mit der Hand balancierte er eine schwitzende Coladose auf dem Oberschenkel.

Sie betraten das Krankenhaus, McGrady entdeckte die diensthabende Schwester. Beamer hielt sich im Hintergrund und überließ es McGrady, seine Marke vorzuzeigen.

»Autopsie?«, fragte sie.

»Ja.«

»Das Leichenschauhaus ist in Gebäude T-6 – wieder raus und quer durch den Innenhof.«

»Okay.«

Sie verließen das Gebäude, folgten einem Pfad um das Gebäude herum und überquerten eine Rasenfläche. Auf halbem Weg blieb Beamer stehen.

»Ist das Ihre erste Autopsie?«

McGrady schüttelte den Kopf. »Ich war bei einer im Presidio dabei.«

»Erzählen Sie.«

»Ein neunzehnjähriger Private tauchte nicht zum Morgenappell auf. Wir fanden ihn in seinem Bett. Mit einer Decke über dem Kopf.«

»Warum hat man Sie geschickt?«

»Ich habe mich selbst geschickt. Ich war sein Vorgesetzter. Also hat es mich interessiert.«

»Und?«

»Jemand hatte ihm im Schlaf einen Eispickel ins Ohr geschoben.«

»Haben Sie ihn erwischt?«

»Ich wurde wenige Tage später nach China abkommandiert. So habe ich es nie erfahren.«

Beamer dachte kurz nach.

»Welchen Rang hatten Sie?«

»Damals? Oder bei meiner Entlassung?«

»Bei der Entlassung.«

Natürlich stand es in seiner Personalakte. Vielleicht hatte Beamer sie nur überflogen. Vielleicht lechzte er nach Benzedrin und wollte sich ablenken.

»Ich war Captain«, sagte McGrady. »So wie Sie.«

Er ging das letzte Stück zum Gebäude T-6. Die mit Läden versehenen Fenster standen offen. Der Passatwind war kräftig genug, um drinnen für Frischluft zu sorgen. Was gut war. Noch besser war, dass vor jedem einzelnen Fenster und vor der Eingangstür Fliegengitter gespannt waren. Heute Morgen hatte er genug Fliegen erschlagen.

Der Arzt hatte einen höheren Rang als sie beide. Er war Colonel, auf seinem Namensschild stand Underhill. Der Raum war mit schwarz-weißen achteckigen Fliesen ausgekleidet und so ausgestattet, wie McGrady es erwartet hatte: Abflüsse im Fußboden, stählerne Tische mit Ablaufrinnen, ein Kühlraum mit einem Dutzend Fächern und ausziehbaren Tragen. Es gab drei Tische mit drei zugedeckten Leichen. Ein dunkelhaariger Corporal mit einem Klemmbrett trat ein. Er setzte eine Lesebrille auf und zog einen Stift aus der Tasche. Underhills Protokollführer.

Kondo erhob sich von einem Stuhl in der Ecke und kam zu ihnen herüber. Er schüttelte McGradys Hand und nickte Beamer zu. Die Männer des Coroners waren auch anwesend. Sie hatten einen neuen Film in ihre Kamera eingelegt und die Batterien des Blitzlichts ausgetauscht.

»Ich fange mit der jungen Frau an«, sagte Colonel Underhill. Er hatte sich eine Metzgerschürze umgebunden und nahm mehrere Schneidewerkzeuge aus einer Holzschublade.

»Ganz egal«, sagte Beamer und zündete sich eine Lucky an.

Der Colonel trat an den mittleren Tisch und schnitt den Leichensack mit einem Skalpell der Länge nach auf. Dann drehte er die Frau auf die Seite und zog den Sack weg. Die Tote war immer noch gefesselt. McGrady hatte die Männer des Coroners angewiesen, sie so in den Sack zu packen, wie sie sie gefunden hatten.

»Orientalin«, sagte Underhill. »Vielleicht zwanzig Jahre alt. Gesund – jedenfalls bis das hier passiert ist.«

Er umrundete den Tisch, beugte sich hinunter und betrachtete ihre hinter den Knien gefesselten Handgelenke. Die Hände waren schwarz-violett verfärbt.

»Sie wurde mit einem gut einen Zentimeter dicken Hanfseil gefesselt. Palstek am linken Knöchel. Mastwürfe an den Handgelenken, dann wieder ein Palstek am rechten Fußgelenk.«

Beamer trat von einem Fuß auf den anderen. »Okay«, sagte er. »Binden Sie sie los und fangen Sie an.«

»Wir folgen einem festen Prozedere.«

Beamer zog an seiner Lucky.

»Machen Sie eine Aufnahme von den Knoten«, sagte McGrady und schob den Fotografen nach vorn.

Der Colonel trat beiseite und ließ den Mann drei Fotos machen. Dann ging er in die Knie und betrachtete den Rücken der jungen Frau. Mit den Handflächen zog er ihre Pobacken auseinander. Beamer sah weg. Underhill gab das Vorhandensein von getrocknetem Sperma zu Protokoll. Er zählte die Blutergüsse und Verletzungen auf.

Dann trat er um den Tisch herum und schaute in ihr Gesicht. Er drehte ihr Kinn ein Stück, um den Hals besser sehen zu können.

»War am Tatort viel Blut?«

»Unter ihrem Kopf, ja«, sagte McGrady. »Es ist durch die Matratze gesickert und hat auf dem Boden eine Pfütze gebildet.«

»Dann ist die aufgeschlitzte Kehle wahrscheinlich die Todesursache«, erklärte Underhill. »Wir werden sehen. Ich mache sie ein bisschen sauber. Haben Sie schon ein Foto von ihrem Gesicht?«

»Ja.«

Underhill trat an ein Spülbecken und kam mit einer Schale voll Wasser und einem Schwamm zurück. Sanft wusch er ihr Gesicht, dann die Haare, wobei er das verdickte Blut mit den Fingerspitzen löste. Das Wasser in der Schale färbte sich bräunlich-rosa und wurde dann immer dunkler.

Als er fertig war, strich Underhill mit dem nackten Finger über ihre Wange. Dort war ein gerader, dunkler Bluterguss zu erkennen, darin vier gleichmäßig verteilte Male von Einstichen. Gleich oberhalb des Blutergusses war mit einer Klinge ein gerader Schnitt von der Schläfe hoch zur Kopfhaut gezogen worden. Das alles war bis eben nicht zu sehen gewesen.

»Sergeant Kondo hat mir gesagt, dass Sie in der Army waren«, sagte Underhill zu McGrady.

»Ja, Sir.«

»Dann müssten Sie wissen, worauf diese Wunden zurückzuführen sind.«

McGrady trat ein Stück näher. Der Bluterguss und die Einstiche verliefen parallel zu der Schnittverletzung. Er kam zur offensichtlichen Schlussfolgerung. Sie stammten von derselben Waffe und waren ihr mehr oder weniger gleichzeitig zugefügt worden. Im Geiste ging McGrady eine Liste von Waffen durch.

»Ein Mark-I-Grabendolch«, sagte er. Er drehte sich zu Beamer und Kondo um. »Er hat eine zweischneidige Klinge und einen bronzenen Schlagring als Griff. Für den Nahkampf entwickelt. Ich habe nie einen besessen. Zu meiner Zeit wurden sie nicht mehr ausgegeben. Aber man sah sie noch hin und wieder. Die älteren Offiziere haben sie als Briefbeschwerer benutzt.«

Underhill nickte.

»Er hat ihr mit dem stachelbesetzten Griff ins Gesicht geschlagen. Wahrscheinlich wurden ihr einige der Schnittwunden eher unabsichtlich zugefügt. Die Klinge hat sie einfach nach dem Schlag erwischt. Ich bin sicher, dass es ein Mark I war. Ich hatte selbst einen.«

»Gibt es noch viele davon?«, fragte Kondo.

»Jede Menge. Ich hab meinen auf dem Schiff nach Frankreich bekommen. Unser Sergeant hat sie aus einer großen Kiste genommen und damit um sich geworfen.«

»Haben Sie damit mal jemandem ins Gesicht geschlagen?«, wollte Kondo wissen.

»Der Krieg war vorbei, bevor ich die Möglichkeit dazu hatte.«

»Sind die Messer immer noch verbreitet?«, fragte McGrady.