Fünfundzwanzig Yards zwischen uns - Lea Diamandis - E-Book
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Fünfundzwanzig Yards zwischen uns E-Book

Lea Diamandis

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Beschreibung

"Dieser Ort gibt mir die Illusion, aus hellen zarten Farben zu bestehen. Fragil wie die Membran einer Seifenblase – dahinter kommen die Grautöne zum Vorschein, in denen Jeanne mein Leben zeichnet."   Charlie will nur zwei Dinge im Leben: nicht mehr das Mädchen mit dem toten Bruder sein und Erfolg im Feldhockey. Ein Platz an der New South Wales Academy of Athletes verspricht ihr beides. Ihre Trainerin Jeanne Martin, deren Karriere durch einen tragischen Unfall bei den Olympischen Spielen ein vorzeitiges Ende gefunden hat, verfolgt jedoch einen anderen Plan. Ihre Tochter Maxine wird zu Charlies größter Konkurrentin, obwohl sie Trikots in derselben Farbe tragen. Je länger Charlie das Spielfeld mit ihr teilt, desto mehr erkennt sie, dass Maxine nicht nur mit Jeannes Erwartungen kämpft, sondern vor allem gegen ihren eigenen Körper.  Und dass Maxine Gefühle für eine Teamkameradin entwickelt, ist auf Jeannes Spielplan nicht vorgesehen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

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E-Mail: [email protected]

Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.

Lektorat: Lektorat Mitternachtsfunke

Korrektorat: Kimberly Wehr

Cover: Bleeding Colours Coverdesign

Grafiken: Adobe Stock

Satz: Bleeding Colours Coverdesign

ISBN: 978-3-98947-087-3

Alle Rechte vorbehalten

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

Für mein dreizehnjähriges Ich.

Dieses Buch ist keine Entschuldigung für alles, was passiert ist. Aber ich weiß, dass du stolz auf mich wärst. Weil ich das in Worte fasse, wofür dir der Mut gefehlt hat. Weil ich noch hier bin und die Fäden jedes Mal zerschneide, wenn ich drohe, mich in alten Mustern zu verlieren.

Inhalt

Content Notes

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Nachwort

Content Notes

Content Notes

Dieses Buch thematisiert Anorexie sowie die mit dieser psychischen Krankheit einhergehenden Gedanken, Verhaltensweisen und Folgen aus der Sicht einer Betroffenen sowie aus der Sicht einer Angehörigen. Bitte entscheid e vor dem Lesen selbst, ob du emotional mit diesem Thema umgehen möchtest.

Eine Auflistung weiterer sensibler Themen, die behandelt werden, ist am Ende dieses Buches zu finden.

Kapitel 1

Taylor Swift – Clara Bow

Maxine

Juli

3:3

Wie hypnotisiert betrachte ich den Punktestand, als könne ich die Ziffern mit Willenskraft zwingen, sich zugunsten meines Teams zu verändern.

1:12 – die Zeit der Entscheidung über den Sieg.

Ein Unentschieden würde einer Niederlage gleichkommen. Ich muss das schaffen.

Ein Echo, das zu einem Hämmern hinter meinen Schläfen anschwillt, übertönt die Gedanken: Das schaffst du nicht.

Der Mut, welchen ich mir zugesprochen habe, kommt einem Spiegel gleich, dessen Glas Sprünge zieren. Zu fein, um sie mit bloßem Auge auszumachen, doch ihr Knirschen tönt mir in den Ohren.

0:43

Ich richte jede Faser meines Körpers auf den Hockeyball aus. Eine Gegnerin spielt ihn mit einem Stecher in Richtung einer ihrer Teamkameradinnen. Mica hält ihn mit der flachen Seite ihres Schlägers an, dribbelt ihn über die Mittellinie und nickt mir zu.

Jeannes Blick ist Feuer in meinem Nacken. Wahrscheinlich hat sie sich mit Mica abgesprochen und möchte mir beim Versagen zusehen, um mich anschließend zu kritisieren.

0:27

Mit stolperndem Herzen beschleunige ich. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine meiner Gegnerinnen wahr. Ich ziehe an ihr vorbei und trete in den Schusskreis.

0:16

Mica passt mir den Ball zu, ich nehme ihn auf. Meine Beine sind wie aus Gummi; ich täusche einen Schlag an. Die Torwartin wendet sich nach links, ich befördere den Ball über meinen Fuß hinweg nach rechts. Er rollt ins Netz, und ein Pfiff verkündet das Ende des Spiels.

Jubel brandet auf. 4:3. Nach mehrmaligem Blinzeln verschwindet die Vier nicht von der Punktetafel. Erleichterung strömt in jede Pore meines Körpers, Licht bricht in den Rissen, die mein fragiler Mut davongetragen hat. Goldschimmernder Leim, der mich zusammenhält. Ein Gewicht fällt von meiner Brust und ich atme aus.

Jemand berührt mich an der Schulter.

Ich zucke zusammen, all meine Muskeln spannen sich an, und ich wende mich Mica zu. Mein Puls beruhigt sich.

»Du hast es geschafft.« Ihre Wangen sind gerötet, ein Lächeln teilt ihre Lippen. »Dank dir haben wir in letzter Sekunde gewonnen.«

Meine Mundwinkel zucken, ein Teil von mir sperrt sich vor dem Lob. »Wir haben es gemeinsam geschafft.«

Sie sieht mich so eindringlich an, dass ich einen Schritt zurückweiche. »Dein Tor ist das entscheidende gewesen, du hast den Winter Cup für uns gewonnen.«

Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange. »Wir standen oben in der Tabelle, durch die Gesamtsiege hätten wir …«

»Maxine!«

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne in meinem Inneren. Über den Jubel und die Schritte hinweg habe ich sie nicht kommen hören.

Jeannes Miene ist die einer Marmorstatue, die platinblonden Locken umrahmen sie wie aus einem Guss. Der Mund ist zu einem Faden vernäht, sturmgraue Klingen zielen auf meine Brust.

Am liebsten möchte ich die Arme um die Körpermitte schlingen. Das Licht festhalten, dessen Leuchten von Jeannes Präsenz gedimmt wird, und mein Selbstbewusstsein zusammenhalten, das Risse ziert, deren Splittern in mir nachhallt. Bis Stücke herausbrechen, ist es eine Frage der Zeit. Mir bleibt, den Hockeyschläger zu umklammern, als könne er mich vor ihr schützen.

Jeanne stützt sich auf ihren Gehstock, mit der anderen Hand bedeutet sie Mica, zu verschwinden. Diese bedenkt mich mit einem mitleidigen Lächeln, welches die Klingen meiner Haut näherbringt. Schleppenden Schrittes zieht sie sich zum Rest des Teams zurück. Ein Flüstern dringt an meine Ohren. Das Summen eines Wespenschwarms, die Blicke meiner Teamkameradinnen stechen mir in die Haut. Sie bleiben so nahe bei uns, dass sie vor Jeannes Sturm geschützt sind, ohne zu verpassen, wie er mich niederreißt.

»Du musst an deiner Konzentration arbeiten.« Jeannes Stimme zielt einem Vorschlaghammer gleich auf mein zerbrechendes Selbstbewusstsein. »Deine Beinarbeit ist unsauber gewesen, und deine Arme haben gezittert, als du den Ball aufgenommen hast. Du hast deine Reflexe nicht unter Kontrolle und kannst von Glück reden, dass es für den Siegestreffer gereicht hat.«

Mein Selbstbewusstsein zerspringt, die Kanten der Scherben bohren sich in meine Brust. Jedes Schlucken gleicht Glassplittern in meiner Kehle. »Ich werde in Zukunft aufmerksamer sein und doppelt so hart trainieren.«

Den Mund verzieht sie zu einem Lächeln, das ihren sturmverhangenen Augen fernbleibt. »Das will ich hoffen. Obwohl ich weiß, woran ich bei dir in Sachen Versprechen bin.« Sie streckt eine Hand nach mir aus, meine Glieder verkrampfen sich. Das Echo vergangenen Schmerzes pocht in meiner Wange, ich spanne mich an. Es ist meine Schulter, die sie drückt, gerade so fest, dass sich der Trikotstoff wölbt, und meine Haut sich mit ihm. »Lass mich nicht bereuen, dass ich dir einen Platz an der renommiertesten Sportakademie Australiens besorgt habe.«

Jedes Wort ist eine Note in der Symphonie der Enttäuschung. Die verborgene Bedeutung dahinter ein Ton im Vibrato, der stetig angeschlagen wird.

Du bist nicht gut genug!

Ich forme die Antwort, welche sie hören möchte, mit rauer Stimme: »Ich werde dich nicht wieder enttäuschen und mir an der New South Wales Academy of Athletes meinen Platz erkämpfen.«

So wie du damals. Die Silben verfangen sich in meinen Stimmbändern wie ich mich in Jeannes Spinnennetz.

Sie würden sie daran erinnern, was sie verloren hat. Wenngleich sie sich zurückgekämpft hat; ihre Karriere ist am Ozeangrund zurückgeblieben. Darauf lauernd, mich mit eisernen Ketten zu umschlingen und mich in die Tiefe zu ziehen. Schwimmen oder ertrinken – manchmal bin ich mir unsicher, ob ich es vorziehe, an Salzwasser zu ersticken oder Jeannes Erwartungen zu schultern.

»Ich versuche, das zu glauben.« Sie hebt das Kinn, wenngleich sie mich längst überragt, durch das Glasdach einfallende Sonnenstrahlen verwandeln ihr Haar in gleißendes Platin. »An der Academy soll niemand denken, dass meine Tochter Sonderrechte hat.« Ihre Finger verkrampfen sich um meine Schulter, ein Stechen durchfährt mich. »Geh duschen und zieh dich um. Sonst beginnt die Siegesfeier ohne dich.«

Sie macht auf dem Absatz kehrt, das Zusammentreffen des Gehstocks mit dem Hockeyfeld echot meinen Herzschlag.

Meine Sicht verschwimmt, Salz brennt in meinen Augen, vermischt sich auf meinen Lippen.

Keine Schwäche zeigen!

Jeannes Stimme spricht die Worte; ich wische die Tränen mit dem Handrücken fort und platziere die Maske einer Siegerin auf meinem Gesicht. Die Freude über den gewonnenen Oceania Winter Cup liegt zerschlagen zu meinen Schuhspitzen. Stünden die Zahlen in anderer Reihenfolge auf der Punktetafel, wäre das Ergebnis dasselbe: ob 4:3 oder 3:4, ich bin nicht gut genug; meine Füße passen nicht in Jeannes Fußstapfen.

Scherben meines Selbstbewusstseins lasse ich auf der Flucht an meinen Teamkameradinnen vorbei zurück. Sie machen mir Platz oder nehmen mich nicht wahr, zu eingenommen davon, dass ihre Familien sie auf der Tribüne in Empfang nehmen. Mit gesenktem Kopf laufe ich in die leere Umkleide. Eine Duschkabine habe ich für mich allein. Ich wage keinen Blick in den Spiegel und drehe das Wasser so heiß auf, dass sich die Tropfen nadelspitz in meine Haut bohren. Ihre milchig bleiche Farbe weicht Scharlachrot, und Schmerz übertönt den Sturm der Emotionen in meinem Inneren. Meine Tränen verdunsten, Salzkristalle bleiben als Spuren der Schwäche auf meinen Wangen zurück.

***

Ich schlüpfe aus meinen abgetragenen Converse, die einmal weiß gewesen sind, ziehe die Tür des Bungalows hinter mir zu und sperre den Regen aus. Wasserperlen haben sich in meinem Haar verfangen und tröpfeln auf das Parkett.

»Das machst du sofort sauber.«

Ich nicke, und Jeanne schiebt sich an mir vorbei ins Wohnzimmer.

Der Wetterumschwung hat unserer Siegesfeier ein Ende bereitet und mich davor bewahrt, weitere Minuten, die zu Stunden werden, am Rand der Picknickdecke zu sitzen. Die Stimmen der anderen waren ein Donnern hinter meinen Schläfen, übertönt von meinem grummelnden Magen. Dem Ernährungsplan als Leistungssportlerinnen und Jeannes Einwänden, dass sie auf sich zu achten haben, zum Trotz, hat mein Team Pizza aus der teuersten Pizzeria Sydneys gegessen.

Mir hat Jeanne einen Salat bestellt, mit Tofu für die Proteine. Auf meiner Zunge liegt dennoch Fettgeschmack, und jedes Mal, wenn sich die verschmierten Finger der anderen in meine Richtung bewegt haben, bin ich zusammengezuckt.

Mein Magen knurrt, und sobald er aufgibt, senkt sich vertrauter Nebel über meinen Verstand, der meine Gedanken träge macht und eine Barriere zwischen meinen Emotionen und mir bildet.

Mit dem erstbesten Handtuch aus dem Gästebad wische ich das Wasser auf, hänge es über die Heizung und durchquere auf leisen Sohlen den Flur. Meine Teamkameradinnen sind eine Mauer zwischen Jeanne und mir. In diesem Haus leben sie, ich und die Enttäuschung, welche sie für mich empfindet. Wird sie mich auf mein unzufriedenstellendes Spiel ansprechen? Jetzt, wo keine Personen da ist, aus deren Fehlern sie ein Podest für ihre Tochter bauen muss?

Jeanne hat die Wohnzimmertür zugezogen, die perfekte Gelegenheit, unbemerkt in mein Zimmer zu flüchten.

Von den cremefarbenen Wänden im Flur beobachten mich ihre Abbilder. Sturmgraue Augen fixieren mich wie eine Katze ihre Beute. Zeitungsartikel, die Jeanne Martin als zukünftige Olympiasiegerin im Feldhockey anpreisen oder über den Beginn ihrer Karriere als Trainerin sowie ihre Erfolge in diesem Beruf berichten. Jeden Schnipsel hat sie aufbewahrt und die Wände mit ihrer Vergangenheit tapeziert.

Die blinden Flecken dazwischen sind Tintenschliere, welche das weiße Papier mit Dunkelheit füllen. Egal, wie sehr Jeanne versucht, sie auszuradieren, verschwinden werden die Schatten über ihrem Leben nicht. Eine Google-Suche genügt, um ihnen Gestalt zu verleihen und Berichte über den Unfall ans Tageslicht zu befördern. Bei den Olympischen Spielen sind bei Feldhockey-Sensation Jeanne Martin mehrere Bänder in beiden Knien durch einen Sturz gerissen, beim Aufprall hat sie sich die Hüfte gebrochen.

Der Unfall hat sie in die Tiefe eines düsteren Ozeans gezogen, wenn ich den Medien glaube. Mir gegenüber hat sie nie ein Wort darüber verloren. Beim Durchbrechen der Oberfläche soll sie nicht mehr dieselbe gewesen sein. Verbissen hat sie an ihrem Traum von einer Feldhockeykarriere festgehalten.

Ihr Versuch, diesen zu erreichen, begegnet meinem Blick im Spiegel, wann immer es mir nicht gelingt, rechtzeitig fortzusehen. Ihre Krone mag rostig sein, doch ich bin nicht in der Lage, den Kopf lange genug erhoben zu halten, damit sie nicht herunterfällt. Jeanne bleibt die Königin des Feldhockeys, die meinen Spielplan schreibt, ohne mir die Chance zu geben, eigene Strategien zu wählen. Unsere Schicksale sind aneinandergekettet, auf jeder meiner Urkunden steht sowohl mein als auch ihr Name, und auf dem Weg in mein Zimmer verfolgt mich ihr Gesicht.

Ich bin ohne eine Tür aufgewachsen. Die Erhebung im Boden zwischen dem Flur und meinem Zimmer zu übertreten, gleicht einem Aufatmen. Die Wände sind in einem zarten Flieder gestrichen, die Kissen und die Applikationen an den Möbeln sind pastellfarben, von Frühlingsgrün bis Puderrosa. Dieser Ort gibt mir die Illusion, aus hellen zarten Farben zu bestehen. Fragil wie die Membran einer Seifenblase – dahinter kommen die Grautöne zum Vorschein, in denen Jeanne mein Leben zeichnet.

Automatisch ziehen die Fotos über meinem Bett meine Aufmerksamkeit an. Andere Achtzehnjährige haben Polaroids von ihren Freund*innen an den Wänden. Das Erste, was ich beim Aufwachen sehe, ist ein Portrait von Jeanne auf dem Hockeyfeld, am Morgen vor dem Unfall. Daneben hängt eins von mir, in derselben Angriffspose. Original und Fälschung. Alles, was ich nicht bin. Egal, wie ich mich hinstelle, aus welchem toten Winkel ich die Fotos nebeneinander betrachte, kein Lichteinfall verwandelt mich in Jeanne.

Die Blicke der Fotos im Rücken, sinke ich auf die mit fliederfarbenen Kissen gepolsterte Fensterbank und lehne die Wange an die regennasse Scheibe, hinter der sich mein Fenster verzerrt, verschwommen und regengrau spiegelt. Darüber erhebt sich mein Gesicht, zusammengesetzt aus den winzigen Tropfen. Sturmgraue Augen, feine Gesichtszüge, milchweiße Haut, bepudert von Sommersprossen. Erdbeerblonde glatte Strähnen, zerzaust von der Witterung am Strand.

Der Regen verwischt das Zerrbild, meine Persönlichkeit tropft mir vom Gesicht. Sonnenschimmer bricht in den Rinnsalen, verwandelt mich in Jeanne – wir beide sehen sie in mir. Die Kopie, welche ihrer Geschichte ein anderes Ende schreiben soll. In den Zeitungsartikeln wird ihr Name stehen, meiner ist vergänglich wie die Tropfen, welche nach dem Wolkenbruch verdunsten.

Kapitel 2

Taylor Swift – All You Had To Do Was Stay (Taylor’s Version)

Charlie

Das Meer erzählt Geschichten. Auf einer Frequenz für diejenigen, die genau hinhören.

Meine Zehen versinken in feinkörnigem Sand. Muschelschalen stechen mir in die Fußsohlen. Möwen ziehen am wolkenlosen Abendhimmel ihre Kreise. Ihr Kreischen berichtet von fernen Orten voller Abenteuer. Salzwasser spritzt meine Waden hinauf. Der Wind zupft einzelne Locken aus meinem hohen Pferdeschwanz. Salzige Luft strömt in meine Lunge. Sonnenlicht verwandelt den Sand in Goldstaub und die Ostsee in einen Teppich aus Saphiren.

Strahlen tänzeln über meine Haut, ein warmer sicherer Kokon umgibt mich.

»Charlie?«

Die Stimme dringt durch die Wände des Kokons. Ribbelt seine Fäden auf, die vom Wind davongetragen werden. Unsanft pralle ich in der Wirklichkeit auf. Der Grund, wieso ich die Umarmung der Ostsee brauche, betrachtet mich aus braun-grünen Augen.

»Was?«

In Oles Mundwinkeln zuckt es. »Bist du mit deinen Gedanken schon auf der anderen Seite der Erde?«

Seine Frage nimmt dem Sommerabend die Wärme. Eine Gänsehaut kriecht meinen Rücken hinab. Klingt das Rauschen der Wellen des Pazifiks anders? Ist der Sand feiner oder grobkörniger? Verbirgt sich Kies darin, oder Muscheln? Was, wenn ich nicht in der Lage bin, die Geschichten eines anderen Ozeans zu verstehen?

Ole drückt meine Hand. »Hörst du mir zu?«

Ein Stich schlechten Gewissens durchfährt mich.

Die Lippen hat er zusammengepresst. Seine Augen haben mich immer an den Wald erinnert. Wolken sind über den sommergrünen Reflexen aufgezogen.

Ich schlucke. »Bald tausche ich die Ostsee gegen den Pazifik und die Kleinstadt gegen eine Metropole.«

Ein gequälter Ausdruck zerrt an seinen Zügen. »Du hast dich für das Sportstipendium an der New South Wales Academy of Athletes entschieden.« Mit der freien Hand fährt er sich durch die dunkelblonden Locken. »Du wirst den ganzen Tag Feldhockey spielen und eine neue Stadt erkunden.«

Ein flaues Gefühl drückt auf meinen Magen. »Warum klingt das wie ein Vorwurf?«

Er ergreift meine andere Hand und stellt sich vor mich. »Ich freue mich für dich …«

Die Bitterkeit in seinem Ton macht mir begreiflich, dass ihm dasselbe durch den Kopf gehen muss. Unsere Zeit zerrinnt wie der Sand zwischen meinen Zehen. Alles in mir sträubt sich gegen die nadelspitzen Silben in meiner Kehle. Ich habe dieses Match schon einmal gespielt. Vor zwei Jahren. Verloren haben wir beide. Mit dem Unterschied, dass ich diesmal das verheerende Tor schieße.

»Ich möchte, dass du glücklich bist. Das bist du mit einer Freundin auf der anderen Erdhalbkugel nicht. Eine Fernbeziehung würde uns zurückhalten …«

Er lässt meine Hände los, als hätte er sich verbrannt. Schließt die Augen. Schmerz verschlingt seine Iriden, als er sie öffnet. »Ich weiß. Ich habe auch darüber nachgedacht.« Die Anspannung seiner Muskeln spiegelt sich in seiner Stimme. »Die Ausbildung dauert drei Jahre … Was ist, wenn du dich entscheidest, in Australien zu bleiben? Ich möchte nicht …«

»Du musst mir das nicht erklären.« Das Schwert in einer verlorenen Schlacht zu ziehen, bringt uns nicht weiter. »Wir haben diese Entscheidung beide getroffen.« Hinter einem Tränenschleier verschwimmt der Sand zu rostig-goldenen Wirbeln. »Ich möchte, dass du gehst. Ich möchte den Urlaub mit meiner Familie nicht verloren in Gedankenspiralen verbringen. Ich brauche Zeit zum Heilen, bevor ich fliege, und du kannst früher neu anfangen.«

Meine Ohren fangen einen schweren Atemzug auf. Gefolgt von Schritten, die sich entfernen und verklingen. Stille bleibt zurück. Kraftlos sinke ich in den Sand, ein Zittern bemächtigt sich meiner. Ich presse die Knie an den Körper. Mir ist, als ziehe mich der Schmerz auf den Meeresgrund. Atem bleibt meiner Lunge fern, bis ein Schluchzen über meine Lippen dringt. Meine Umgebung verschwimmt, was dem Meer seine Vertrautheit nimmt. Etwas Raues, Unbeugsames haftet ihm an. Am Horizont haucht der Tag in Azur, Gold und Puderrosa sein Leben aus. In mir herrscht Nacht.

Auf der Suche nach einem Lichtschimmer ziehe ich mein iPhone aus der Tasche meiner khakifarbenen Shorts. Meiner Komplizin, die ich eingeweiht habe und am meisten sehen möchte, schicke ich meinen Standort. Zwei blaue Haken erscheinen neben der Nachricht.

Wir sind in zwanzig Minuten da.

Ich atme auf. Für meine Abiturfeierlichkeiten ist sie auf Fehmarn, bei unserer Familie. Jeden Ozean würde sie für mich überqueren, sofort kommen, wenn ich sie brauche. Zwanzig Minuten sind dennoch erträglicher als die zweieinhalb Stunden nach Hamburg.

Bevor meine große Schwester mir Licht spendet, brauche ich einen Funken. Ich öffne Spotify. Taylor Swift Songs zum Weinen, heißt unsere gemeinsame Playlist. Der Druck auf Play leitet eine Akustikversion von All You Had To Do Was Stay (Taylor’s Version) in meine Adern. Ich stelle den Song auf Repeat.Für jeden Augenblick im Leben gibt es einen Taylor-Swift-Song. Das hat Lucie mir beigebracht. Ich bin diejenige, die nicht hat bleiben wollen … Nein, wir haben uns gemeinsam in den Graben gefahren. Oder die Straße hat immer dort geendet, wo der Ozean zwischen uns anfängt. Nun füllt er sich mit meinen Tränen. An diesem Ufer lauert eine Realität, in der ich geblieben bin. Hinüber auf die andere Seite, wo der Grund auf mich wartet, aus dem ich gegangen bin, schaffe ich es nicht.

Meereswind trägt ein Bellen zu mir. Ich drücke auf Pause.

Cleos Pfoten wirbeln Sand auf. So schnell ihre alten Knochen die Border-Collie-Hündin tragen, läuft sie an meine Seite. Prüfend betrachtet sie mich aus ihren glasigen Augen. Wohl begreifend, was ich brauche, rollt sie sich neben mir zusammen.

Ich vergrabe die Finger in dem ergrauten weiß-braunen Fell. Kraft schöpfend aus der Nähe meiner Hündin.

»Ich hatte das Gefühl, dass du Cleo brauchst«, wispert eine sanfte Stimme.

Ich schaue auf, in bernsteinfarbene Augen, in denen sich das Abendlicht spiegelt. Sein Schimmer verwandelt die Locken meiner großen Schwester in flüssiges Gold. Sie ist das Licht in meiner dunkelsten Stunde. Obschon es eine Zeit gegeben hat, in der wir zwei Sportarten mit unterschiedlichen Regeln auf demselben Spielfeld gespielt haben. Lucie hätte erwidert, dass wir ein Lied in zwei Tonarten sind.

Früher sind wir ein Team mit drei Spieler*innen gewesen. Oliver ist seit neun Jahren nicht mehr hier. Manchmal klingt der Meereswind wie sein Lachen, die Sterne an Nachthimmel formen sich zu seinen Grübchen. Auf der Abiturzeugnisvergabe habe ich nach den bernsteinfarbenen Augen Ausschau gehalten, die er mit seiner Zwillingsschwester geteilt hat. Lucie ist nach seinem Tod zweieinhalb Jahre lang nicht zu Hause gewesen. In einer Rehaklinik und in der Psychiatrie. Nachdem sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen, habe ich mich davor gefürchtet, ihr mein Herz zu öffnen. Unsere Eltern haben die Erwartungen an drei Kinder auf meinen Schultern abgeladen. Lucie und Oliver bin ich nicht gerecht geworden. Regelkonform. Musikalisch. Einser-Schülerin. Worte ohne Bedeutung, wenn es um mich geht.

Neun Jahre nach dem Unfall haben unsere Eltern das lange begriffen. Über mein Abitur mit 2,9 haben sie sich genauso gefreut wie über Lucies mit 1,2.

Meine große Schwester hat mir geholfen, im Ozean der Trauer schwimmen zu lernen. Wir haben neue Regeln gefunden oder eine andere Melodie, je nachdem, wer gefragt wird.

»Ich weiß. Du hast wir geschrieben.«

Die Andeutung eines Lächelns zupft an Lucies Mundwinkeln. Sie stützt sich auf dem Gehstock ab. Mühsam sinkt sie neben mir in den Sand. Die Beine von sich weggestreckt, umspielt von dem fliederfarbenen Stoff ihres Kleides. »Möchtest du mir sagen, wie er es aufgenommen hat?«

»Er hat dieselben Gedanken gehabt. Dass es leichter ist, ohneeinander diesen Lebensabschnitt zu beginnen. Ich sollte erleichtert sein … aber i-ich …« Ich zerfalle in mein Schluchzen.

Sofort sind Arme da, die mich an sich ziehen. Und ein Hundekörper, der sich an mich kuschelt. Ich vergrabe das Gesicht an Lucies Schulter. Sie streicht mir über das Haar. Verhindert, dass ich mit den Tränen davongespült werde.

»Lass den Schmerz zu. Für eine Weile wird es wehtun und sich furchtbar anfühlen. In ein paar Wochen siehst du, dass es richtig so ist«, murmelt sie in meine Locken. »Ihr könnt eure Wege gehen, ohne ein Seil, das euch zurückhält.«

»Das klingt vernünftig«, bringe ich mit brüchiger Stimme heraus und hebe den Kopf. »Dadurch tut es nicht weniger weh. Obwohl ich diesmal Schluss gemacht habe.« Ich schnaube. »Es fühlt sich an wie bei Dania. Damals habe ich nicht verstanden, wieso sie sich von mir trennt, weil sie wegzieht und keine Fernbeziehung möchte.«

Cleo sieht mich mit schiefgelegtem Kopf an. Behutsam streichle ich sie zwischen den Ohren.

»Wieso habe ich aus meinen Trennungen nichts gelernt? Zum Beispiel, mich nie wieder zu verlieben.«

Zweimal habe ich mein Glück in die Hände einer anderen Person gelegt. Wohlwissend, dass Menschen dazu neigen, Dinge fallenzulassen. Bei jedem Sturz ist es zerbrochen.

Lucie streicht mir die Tränen aus den Augenwinkeln. »Das kannst du nicht beeinflussen. Deinen Weg gehst du aus eigener Kraft. Wenn es so sein soll, findest du eine Person, die ihm an deiner Seite folgt und alle Steine mit dir gemeinsam wegräumt.«

»Du hast leicht reden.« Meine Aufmerksamkeit huscht zu dem filigranen roségoldenen Ring an ihrem linken Ringfinger. »Du heiratest deine erste Freundin.«

Ein Schmunzeln umspielt ihren Mund. »Punkt für dich.«

»Und eure Beziehung ist ein kitschiger Taylor-Swift-Song.«

»Manchmal stimmt das, aber Chiara und ich sind nicht perfekt und das gehört zu einer Beziehung dazu. Ich liebe sie, wenn es regnet und wenn die Sonne scheint.« Mit den Fingerspitzen berührt sie ihren Ring. »Am Ende des Tages überstehen wir jeden Sturm – das zählt.«

»Kitschig seid ihr trotzdem. Du hast ihr den Heiratsantrag auf einem Taylor-Swift-Konzert gemacht.«

Sie wirft ihrem Armband einen Seitenblick zu. ›Anti-Hero‹steht zwischen mitternachtsblauen Perlen. Fünfeinhalb Jahre haben sie ohne einen Kratzer überdauert. »Taylor wird es nie erfahren, aber sie hat geholfen, uns zusammenzubringen.«

»Ihr habt zwei Kinder.«

Sie zieht die Nase kraus. »Sie sind Katzen.«

»Weiß Chiara das? Ich habe die Liste gesehen, die sie Simon dafür geschrieben hat, dass er während unserem Italien-Urlaub auf sie aufpasst.«

Sie lacht leise. »Es ist mehr die Tatsache, dass Francesca nächste Woche sechzehn wird.«

»Ich sehe darin nur Vorteile. Chiara kann nichts mehr dagegen sagen, wenn Mattéo und ich ihr Horrorfilme zeigen.«

»Vorausgesetzt, sie sind ab sechzehn.«

Ich schürze die Lippen. »Was denkst du von uns?«

Die Liste in unserer WhatsApp-Gruppe sollten Lucie und Chiara besser nicht sehen … oder erfahren, dass wir eine Gruppe ohne sie haben.

Zwei Wochen, nachdem Lucie und Chiara offiziell zusammengekommen sind, habe ich Chiaras Geschwister kennengelernt. Sie und Lucie haben sich gewünscht, dass wir einander mögen. Das habe ich gespürt, ohne dass sie es gesagt haben. Ein Knoten in meinem Magen, der sich zugezogen hat, nachdem das Erste, was Francesca zu mir gesagt hat, ›Hättest du kein gebrochenes Sprunggelenk, könnten wir zusammen Fußball spielen‹ gewesen ist. Danach hat sie mich gefragt, ob ich Percy Jackson mag, und sie und Mattéo haben mir die Bücher und die Serie gezeigt. Der Knoten in meiner Brust hat sich gelöst und sie sind meine Familie geworden. Chiara ist meine zweite große Schwester. Mattéo mein gleichaltriger Bruder. Francesca meine jüngere Schwester, die manchmal mich fragt, wenn sie einen Rat von einer Erwachsenen braucht.

Ein Schmunzeln spielt um Lucies Mund. »Was euch angeht, habe ich eine gute Menschenkenntnis. Ich sage es nicht Chiara. Wenn sie euch erwischt, bin ich unparteiisch, und bitte weckt mich nie wieder um fünf Uhr nachts, weil euch ein Film zu gruselig ist, wie nach Terrifier 3. Das erledigt Taylor jeden Tag; ich möchte im Urlaub ausschlafen.« Sie betrachtet die Wellen. »Francesca erwachsen werden zu sehen, fällt ihr schwer. Taylor und Betty haben weder eine Klasse übersprungen noch machen sie in zwei Jahren Abitur oder tun manchmal so, als würden sie Chiara nicht brauchen, obwohl das nicht der Fall ist. Dadurch mangelt es ihnen nicht an Aufmerksamkeit.«

Lucie hat die British-Kurzhaar-Kitten aus dem Tierschutz geholt und sie Chiara dieses Jahr zum Geburtstag geschenkt. Die Namen hat sie ausgesucht, Chiara hätte sie genauso genannt. Die beiden teilen sich nicht nur einen Kleiderschrank, sie sind in jeder Hinsicht Melodie und Gegenmelodie.

»Eure wichtigste Verbindung habe ich vergessen. Ihr teilt dieselbe Leidenschaft und habt das Glück, jeden Abend zusammen auf der Bühne zu stehen.« Sehnsucht färbt meine Stimme, verschafft ihr einen rauen Klang.

»Zusammenzuarbeiten ist Fluch und Segen zugleich. Dennoch würde ich es mir nicht anders wünschen.« Sie stupst mich mit der Schulter an. »An der Academy wirst du zahlreiche Menschen kennenlernen, die deineLeidenschaft teilen.«

Ich wende mich von ihr ab. Ein Sternenband schmückt den Himmel. Überreste der Abendröte versinken in den Wellen. In den Schaumkronen spiegelt sich die Zukunft, welche Lucie andeutet. Wünsche ich mir eine Person, die neben mir auf dem Hockeyfeld steht? Würde mich das im Spiel aus dem Gleichgewicht bringen oder mir Halt geben?

Die Welle bricht, der Gedanke versickert am Grund der Ostsee und macht Platz für eine Erkenntnis. Es gibt eine dritte Person, in deren Hände ich mein Glück gelegt habe. Auch sie hat es fallenlassen. Jedes Mal hat sie die Scherben zusammengeklebt und aus den Fragmenten ein Mosaik geschaffen. Ich selbst.

»Ich möchte mich auf mich konzentrieren.« Es auszusprechen, gleicht einem Aufatmen, wie nach einem Sieg im Penalty-Schießen. »Herausfinden, ob ich für das Feldhockey am meisten brenne oder ob es eine Zukunft für mich gibt, die nicht mit einem Trikot der Nationalmannschaft endet.«

Lucie schluckt. »Ein Leben ohne Feldhockey wäre für dich wie ein Leben ohne Musik für mich.« Kummer ermattet ihre Stimme. Nach Olivers Tod hat sie der Bühne den Rücken gekehrt. Bis sie sich aus dem Brunnenschacht aus Schuld und Trauer gekämpft hat. Oben hat ihr Traum von der Bühne gewartet.

»Wahrscheinlich.« Ich betrachte die schäumenden Wellen. Vertraut klingt ihr Rauschen in mir nach. »Am wenigsten kann ich mir ein Leben ohne das Meer vorstellen.«

»Das Meer fehlt mir in Hamburg immer am meisten.«

Ich wirble herum. »Hey!«

Cleo verleiht ihrer Empörung mit einem Bellen Ausdruck.

Lucie schmunzelt. Abwesend krault sie Cleos Hals. »Da könnt ihr nicht mithalten.« Ein Funkeln, heller als die Sterne, stiehlt sich in ihre Augen. »Du lächelst, Charlie.«

Ich taste nach meinen Lippen. Das Gespenst eines Lächelns hat sich dort niedergelassen. Ein dunkler Fleck prangt auf meinem Herzen. Seine Schläge schmerzen mal mehr, mal weniger. Das Gespräch mit Lucie und Cleos Nähe haben die Finsternis mit ersten Sonnenstrahlen durchbrochen.

Kapitel 3

Taylor Swift – The Prophecy

Maxine

September

Hinter dem Fenster des Taxis verblassen die Umrisse des Bungalows. Sydney zieht wie ein Film, bei dem jemand auf die Taste zum Vorspulen gedrückt hat, an mir vorbei. Ein Meer aus Monochromie, überzogen von Farbflecken der Morgenröte.

Ich linse zu Jeanne, die auf ihrem iPhone herumtippt.

Der Reißverschluss des fliederfarbenen Rucksacks entgleitet mir, so sehr bin ich darauf bedacht, sie nicht auf mich aufmerksam zu machen. Beim vierten Versuch ziehe ich mein iPhone hervor.

Ich setze die geräuschreduzierenden Kopfhörer auf, welche mein Vater mir eineinhalb Monate zu spät zum Highschool Abschluss geschenkt hat. Denkt er nächsten Monat an meinen Geburtstag? Wieso sollte er, wenn er eine neue, bessere Familie hat? Mit zwei Söhnen, die ihn weder an seine Ex-Frau erinnern, noch eine Enttäuschung auf zwei Beinen sind. Jeanne sagt, er hätte sie abserviert, nicht uns. Dabei fühle ich mich weggeworfen, wie eins meiner Kleidungsstücke, die Jeanne ohne mein Wissen in die Altkleidersammlung gegeben hat.

Ein Biss auf die Innenseite meiner Wange vertreibt meinen Vater aus meinem Gedächtnis.

Der Druck auf Play offenbart mir eine Symphonie aus zerrinnender Hoffnung und Melancholie – The Prophecy von Taylor Swift. Der Daily Mix auf Spotifyhatgespürt, was ich brauche. Die Academy bedeutet einen Neuanfang. Ich wünsche mir ein Team, keine jungen Frauen, welche dasselbe Trikot tragen, und meins ist eine Nuance zu dunkel, um in ihr Bild zu passen.

Seufzend lehne ich die Wange gegen die Fensterscheibe. Wieso sollte es diesmal anders sein?

Wolkenkratzer lösen die Bungalows ab. Der Verkehr bewegt sich schleppend, die Straßen münden in einem Highway. Dahinter schimmert das türkisblaue Pazifikband, durchdrungen von goldschimmernden Mustern.

Ich atme freier, die Stadt sperrt mich nicht länger in einen Käfig aus Lärm und Beton. Zwanzig Minuten müssen wir vom Highway aus noch fahren, die New South Wales Academy of Athletes liegt direkt am Pazifik. Vielleicht erlaubt mir Jeanne, täglich am Strand joggen zu gehen. Sie hätte eine Tochter, die Kondition und Ausdauer trainiert, ich hätte die Illusion von Freiheit.

The Prophecy begleitet mich fast eine Stunde lang auf Repeat, ein Mantra, dass sich entgegen aller Chancen etwas ändern könnte.

Wir folgen einer Landstraße, biegen in einen Kiesweg ein.

Kribbelnde Aufregung lässt mein Herz im Rhythmus der Erschütterung schlagen. Gleich sehe ich zum ersten Mal den Ort, an dem ich auf unbestimmte Zeit leben werde. Eine Chance zum Luftholen oder ein neues, größeres Gefängnis.

Der Druck der Kopfhörer verschwindet. Geräusche prasseln auf mich nieder. Das Brummen des Motors, knisternder Kies, Meeresrauschen, Möwenkreischen, Jeannes Atem. Ich widerstehe dem Impuls, mir die Ohren zuzuhalten.

»Zeit, diesen Krach auszumachen.«

Jeannes Gesicht ist eine Haaresbreite von meinem entfernt. Mit spitzen Fingern hält sie die Kopfhörer fest, als seien sie ein lästiges Insekt.

Ich verstaue meine Sachen.

»Auf dem Campus versteckst du dich nicht hinter deiner Musik.«

Obschon das mein Plan gewesen ist, nicke ich. In der High School war sie eine Barriere zwischen der Realität und mir. Meine Mitschüler*innen haben sie mehr als einmal niedergerissen. Geschichten von heruntergefallenen, kaputtgegangenen Kopfhörern zu glauben, ist für Jeanne leichter gewesen, als herauszufinden, dass mir in der Schule mit zweierlei Klinge wehgetan worden ist: Taten und Worte. Meine Schuld wäre es in ihrer Vorstellung geblieben. Bis sie mir neue Kopfhörer gekauft hat, habe ich das Tuscheln auf den Gängen ertragen müssen. Worte, die mehr wehgetan haben als blaue Flecken und aufgeschlagene Knie von Stürzen die Treppe herunter – meine Schuld. Ich habe nicht in ihr Puzzle gepasst, egal, wie oft ich meine Kanten abgeschliffen habe.

»Beim Treffen mit Ms Perez machst du einen guten Eindruck.« Sie gräbt die Gelnägel in meinen Oberarm, ich beiße mir auf die Zunge, rege keinen Muskel. »Kein Stammeln, kein Vermeiden von Blickkontakt. Sprich, wenn du gefragt wirst, und wähle deine Antworten mit Bedacht. Verstehen wir uns?«

In ihren Augen spiegelt sich mein bleiches Gesicht. »Ja.«

Das Taxi stoppt. Jeanne sieht mich durchdringend an, ich fröstle. Dann lässt sie mich los.

Ich reibe mir den Arm, blutrote Halbmonde prangen auf der milchweißen Haut, ehe ich den Rucksack schultere und Jeanne aus dem Taxi folge.

Ein golden lackiertes Tor mit ornamentverzierten Streben steht offen. Dahinter säumen Palmen einen Weg, welcher zu dem Hauptgebäude aus weißem Sandstein mit einigen verglasten Wänden führt. Eine Flagge weht im Wind, darauf prangt das Wappen der Academy: die goldene Silhouette eines Wüstenfuchses vor zwei gekreuzten Hockeyschlägern auf cremeweißem Hintergrund. Ornamente in der Fassade reflektieren das Morgenlicht. Das U-förmige Hauptgebäude erstreckt sich nahezu bis zu einem privaten Strandstück. Dahinter erheben sich Bungalows, Sporthallen und Sportplätze. Neugierde, jeden Winkel zu erkunden, wallt in mir auf, vermischt mit dem Bewusstsein, dass es schwierig für Jeanne wird, jeden meiner Schritte zu überwachen, sobald ich mich zurechtfinde.

Sie weist den Taxifahrer an, sich um unser Gepäck zu kümmern. Wir folgen der Allee zum Hauptgebäude, aus dessen Schatten sich eine Frau in Jeannes Alter löst, die einen Kopf kleiner ist als sie. Mit der rötlich-braunen Haut, dem schwarzbraunen Haar mit mahagonifarbenen Reflexen und den goldbraunen Augen in einem herzförmigen Gesicht wirkt sie neben Jeanne wie ein ruhiger, lichtüberzogener Tageshimmel neben einem Hurrikan.

Mit der Miene einer Eisskulptur bietet Jeanne ihr die Hand an. »Ms Perez, es freut mich, Sie wiederzusehen.«

Das Lächeln der Angesprochenen verrutscht nicht. »Sie dürfen Cristina sagen. Es ist mir eine Ehre, Sie hier als Trainerin zu begrüßen.«

»An diesem Ort habe ich mir einen Namen gemacht.« Sonnenfunken blitzen durch den Sturm in ihren Augen. »Es ist meine Pflicht, mein Wissen weiterzugeben. Ich bin gespannt auf die Nachwuchstalente. Vielleicht ist eine zukünftige Olympiasiegerin dabei.«

Ich spanne mich an, vergrabe die Nägel im Stoff meines himmelblauen Hemdkleides.

Grübchen zeichnen sich um Ms Perez’ Mund ab. »Müsste ich wählen, würde ich sagen, dass ihr Name Ellie Johansson ist, die Kapitänin der Black Eagles.«

Jeanne rümpft die Nase. »Wieso spielt sie dann nicht bei den Golden Foxes?«

»Die Geschichte muss Ellie Ihnen erzählen«, erwidert Ms Perez mit einer Endgültigkeit, welche Jeannes Miene die Farbe entzieht. »Letizia Rosales, die Kapitänin der Golden Foxes, ist nach Ellie unsere zweitbeste Stürmerin.«

Die Golden Foxessind die elitäre Mannschaft der Academy, welche Dutzende Siege in der NSW Premier League verzeichnet und zahlreiche Spielerinnen für globale Wettkämpfe und das Olympische Team hervorgebracht hat.

»Mal sehen, ob die Zweitbeste meinen Ansprüchen genügt.« Etwas blitzt in Jeannes Augen auf – Schnee, welcher alle Pflanzen unter sich begräbt. »Abgestiegen sind sie nicht und sie spielen nach wie vor in der NSW Premier League. Das wäre nach dem Sieg beim Winter Cup ein wichtiger Schritt auf Maxines Weg.«

Der verbale Fausthieb bringt die Welt aus dem Gleichgewicht und mich einem Abgrund näher, von dem ich mir wünsche, dass er mich verschlingt.

Ms Perez’ pastellrot geschminkte Lippen öffnen sich zu einem O. »Wie unhöflich von mir.« Sie reicht mir die Hand. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Maxine. Deine Mutter hat mir viel von dir erzählt.«

Ich presse den Kiefer zusammen. Das kann ich mir vorstellen …

»Ihr habt den Oceania Winter Cup gewonnen.«

Jeannes Blick brennt auf meiner Haut – die heißesten Feuer lodern blau wie der Ring um ihre sturmgrauen Iriden.

»Dank dem Training und den wachsamen Augen meiner Mutter.« Ich recke das Kinn, verwandle mich in eine Kopie von Jeanne. »Ich bin froh, dass sie mir als Trainerin erhalten bleibt, und nehme jede Herausforderung an.«

Schwer wiegt Jeannes Hand auf meiner Schulter, meine aufrechte Haltung bröckelt; hinter der Fassade der Kopie kommt das gebrochene Mädchen zum Vorschein. »Ich kann von Glück reden, dass sie dieselbe Leidenschaft teilt wie ich.«

Mein Magen verkrampft sich. Wie oft hat sie mir gesagt, dass sie von ebendieser nichts spürt? Wie oft ist mir der Schrei, dass ich keine Möglichkeit habe, eine Leidenschaft zu entwickeln, im Hals steckengeblieben? Meine Zukunft ist in Stein gemeißelt, seit auf meiner Geburtsurkunde Maxine Jeanne Martin eingetragen worden ist.

»Für Maxine ist sicher Platz bei den Golden Foxes.«

»Auf welcher Position spielst du?«, erkundigt sich Ms Perez.

Jeannes Kieferpartie spannt sich an. »Sie ist Stürmerin.«

»Erst im nächsten Semester wird ein Platz als Stürmerin frei«, erwidert sie. »Maxine wird ihn sich erspielen müssen. Dasselbe hat für Teresa gegolten, die am Ende ihres ersten Ausbildungsjahres Teil des Elitekaders geworden ist. Ich würde ihr nie eine Sonderbehandlung geben, weil sie meine Tochter ist.«

»Das würde mir auch nie in den Sinn kommen.« Ein samtiger Schleier, durchwoben mit Dornen, liegt auf jedem Wort. »Ich bin zuversichtlich, dass Maxine es schafft. Im Oktober wird sie neunzehn. Demnach wäre sie die jüngste Frau im Elitekader, die es nach mir gegeben hat.«

Ms Perez räuspert sich. »Wir sollten mit der Führung beginnen, bevor die ersten Studierenden eintreffen.« Auf ein Nicken von Jeanne hin dreht sie sich um, ihre hohen Absätze hallen über den Marmorfußboden des Flures.

Jeanne packt mein Handgelenk. »Du wirst dir den Platz in dieser Mannschaft erkämpfen.« Alle feinen Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. »Um jeden Preis.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stößt sie mich von sich und schließt zu Ms Perez auf.

Zu Stein erstarrt sehe ich ihnen nach. Hektisch pocht mein Herz gegen den Käfig meiner Rippen.

Der Marmorboden wirkt auf den ersten Blick weiß. Auf den zweiten hat er ein Muster aus cremeweißen und perlmuttfarbenen Steinen, angeordnet wie auf einem Spielbrett.

»Maxine, kommst du?«

Ich reiße die Aufmerksamkeit von dem Spielbrett los, auf dem ich mich von heute an bewege. Als folgsamer Spielstein schließe ich zu Jeanne auf.

Sie mahlt mit dem Kiefer. »Was fällt dir ein?«

»I-ich«, ich ringe um Atem, »musste m-meine«, ich trete von einem Fuß auf den anderen, »Schuhe binden.«

Abfällig bedenkt sie die abgetretenen Converse. »Beim nächsten Mal ziehst du angemessene Schuhe an.« Sie zieht mich mit sich, ich stolpere hinter ihr her.

Seit achtzehn Jahren befiehlt sie über jeden meiner Schritte. Ich bin der Spielstein. Sie schreibt in blutroter Tinte die Regeln, welche mir verborgen bleiben. Mit einer Niederlage muss ich allein leben.

***

Die Führung lenkt Jeanne von mir ab. Ohne die geräuschreduzierenden Kopfhörer überschwemmen mich Eindrücke.

Das Hauptgebäude bildet ein vierstöckiges U, auf den oberen Etagen sind die Zimmer der Studierenden sowie Aufenthaltsräume. Im Ost- und Westflügel des Erdgeschosses befinden sich Seminar- und Veranstaltungsräume. Angrenzend an den Speisesaal, im Zentrum des Hauptgebäudes, ist ein Wintergarten, zu dem alle Wege führen wie Blut zu einem Herzen. Flüchtig erhasche ich einen Blick auf die Palmen, regenbogenbunten Blüten sowie den Teich, in welchem sich golden geschuppte Fische tummeln.

Unsere Räumlichkeiten befinden sich in einem Bungalow mit goldenem Dach. Sein Herzstück ist ein in Creme und Azur gehaltener Wohnbereich mit offener Kücheninsel. Flügeln gleich gehen davon zwei Zimmer ab, welche je über ein eigenes Bad verfügen. Eingerichtet in denselben Farben wie das Wohnzimmer, bis jetzt ohne Seele. Dennoch fühlt sich das Boxspringbett mit einer Vielzahl von Kissen in Blau-Nuancen wie mein persönlicher Ozean an. Zum ersten Mal in meinem Leben verfügt mein Zimmer über eine Tür, obschon Jeanne deren Schlüssel in die Innenseite ihrer Jacke geschoben hat. Wenigstens existiert die Illusion von Privatsphäre.

Draußen verschafft uns Ms Perez einen Überblick über die Sportanlagen. Neben Feldhockey wird eine Ausbildung in Schwimmen, Surfen, Leichtathletik und Tennis angeboten.

In der Nähe des privaten Strandes befinden sich Cafés, Läden, ein Wellnesscenter und ein Fitnessstudio. Über den Strand verteilt sind ein Steg, an dem Tret- und Ruderboote ausgeliehen werden können, sowie ein Schuppen mit Surfbrettern.

Meine Füße schmerzen, dennoch kommt mir der Campus von der Dachterrasse aus, welche zu Ms Perez’ persönlichen Räumlichkeiten gehört, klein vor.

Sie breitet die Arme aus. »Das ist mein größter Vorteil als Direktorin.«

Künstliche Palmen säumen die verglaste Brüstung, eine gemusterte Hollywoodschaukel schwingt in der Brise. Cremeweiß gepolsterte Stühle sowie ein Campingtisch bilden die Mitte der Dachterrasse. Der Duft von Blätterteig und Kaffee weht mir entgegen, mein Magen rumort. Ich wende den Blick ab und verglühe in zwei warmen Augenpaaren in herzförmigen Gesichtern mit rötlich-brauner Haut und Haar wie Ebenholz.

Ms Perez lässt sich am Tisch nieder und bedenkt die Fremden mit einem Blick wie Sonnenlicht. »Meine Kinder nutzen dieses Privileg gerne. Das sind Léon und Teresa.«

Léon schiebt sich eine Gabel Rührei in den Mund. »Du hast gesagt, dass wir mit euch frühstücken dürfen.«

Jeanne schnaubt.

Teresa linst aus dem Augenwinkel zu ihr. »Außerdem wolltest du uns Jeanne Martin vorstellen.«

»Du wirst sie in nächster Zeit oft genug sehen. Sie unterstützt Mathilde als Trainerin.«

»Das eine schließt das andere nicht aus.«

Worte sachte wie die Nuancen der Morgenröte. Mienen, weichgezeichnet von dem Sonnenschimmern um uns herum.

Jeannes Anwesenheit neben mir bin ich mir allzu bewusst, dennoch fließen unsere Farben nicht ineinander. Ms Perez und ihre Kinder sprechen dieselbe Sprache und kreieren daraus eine Farbe, welche allein sie sehen. Meine Farben sieht Jeanne nicht, und nachdem sie diese achtzehn Jahre lang mit ihren übermalt hat, bin ich nicht mehr in der Lage, sie voneinander zu unterscheiden.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?« Jeanne zieht mich in Richtung des Tisches und auf den gepolsterten Stuhl neben ihrem.

»Die neuen Eindrücke sind überwältigend für sie.« Ms Perez zwinkert mir zu. »Genauso ging es mir an meinem ersten Tag.«

Teresa stützt die Ellbogen auf der Tischplatte ab. »Mir auch. Obwohl Mamá die Academy leitet und wir oft hier gewesen sind. Vor einem Jahr haben Léon und ich unser Studium begonnen. Ich spiele Feldhockey, er ist Schwimmer.«

Mühsam schlucke ich. Buchstaben stoßen in meinem Kopf aneinander. Kanten, die nicht zusammenpassen, ohne Inhalt.

Sie wendet sich ab, lässt mich mit einem Zwicken im Magen zurück. Was ist falsch mit mir? Warum bin ich nicht in der Lage, mit Menschen in meinem Alter zu sprechen?

Sie sieht Jeanne an, als sei diese ihre Sonne und sie eine vertrocknende Pflanze. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Teresa Perez. Ich bin die Torwartin der Golden Foxes.«

Jeanne schenkt sich Kaffee ein. »Wie lange spielst du auf dieser Position?« Sie schöpft Rührei auf eine Serviette und drückt das Fett aus. Die goldgelben Stückchen verteilt sie auf einem Croissant. Mit zusammengekniffenen Augen sieht sie zwischen mir und meinem leeren Teller hin und her.

Mein Hemdkleid engt mich ein, als würden sich die Nähte zusammenziehen. Den Atem anzuhalten oder den Bauch einzuziehen, führt zu nichts, der Stoff verformt sich mit mir. Eine Faust schließt sich um mein Herz und drückt zu.

Fingernägel graben sich in mein Bein. Ein Keuchen unterdrückend strecke ich eine Hand nach dem Brotkorb aus. Jeanne lässt mich los, der Druck in meiner Brust bleibt.

Gebäck, eines fettiger als das andere. Bitterer Geschmack legt sich auf meine Zunge. Mit spitzen Fingern nehme ich mir ein Croissant. 400. Mit Aufstrich weniger als Schokocroissants, Berliner und Apfeltaschen. Blätterteig zerbröselt unter meinen Fingern, Fettrückstände versickern in meiner Haut. Mir dreht sich der Magen um. Meine Hände zu waschen, ist keine Option. Dumpf fällt das Gebäckstück auf den Teller, verkrampft schneide ich es auf und bedecke mit einer Messerspitze Erdbeermarmelade beide Seiten. Die Hände wische ich an einer Serviette ab, schenke mir Kaffee ein und umklammere die Tasse.

Am Rande meines Bewusstseins plätschert Teresas Stimme. »Als ich fünfzehn war, habe ich beim Winter Cup der U16 in letzter Minute …«

Niemand beachtet mich. Mein Magen knurrt, schreit mich an, bloß keinen Bissen zu nehmen. Zittrig breche ich ein Stück Croissant ab, ein zweites, und schiebe sie nach und nach in die Serviette neben dem Teller. Das Gefühl von Kontrolle erdet mich, das Rumoren schwillt zu einem Crescendo an. Ich warte auf vertraute Leere, in der es verhallt, und auf die Nebel folgt, der einen Wall zwischen Jeannes Erwartungen, diesem Gespräch und mir bildet.

Léon isst den letzten Bissen Rührei, sieht an sich herab und stoppt Teresas Redefluss mit einer Hand auf ihrem Oberarm. »Ich muss mich umziehen. Hol mich in zehn Minuten ab.« Ohne Abschiedsworte verschwindet er.

Ms Perez legt den Kopf schief. »Lass mich raten, es geht um Viona.«

Teresa schmunzelt. »Der Flieger von Ellie und ihr landet in einer Stunde. Wir holen sie ab.«

Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Sind Léon und Viona endlich zusammen?«

»Gib ihnen dieses Semester. Sonst überlegen wir uns einen Plan.« Sie erhebt sich, automatisch folge ich dem Verlauf der durchtrainierten Beine in ihren Jeansshorts mit meinem Blick. Wie ihr bordeauxrotes Top schmiegen sie sich an ihren Körper, und das Sonnenlicht verwandelt ihr Haar in Herbstlaub.

Ich widerstehe dem Drang, meine erdbeerblonden Strähnen anzufassen; so viele Körperstellen wie möglich sollen von den Fettrückständen an meinen Fingern verschont bleiben. Hat Jeanne recht? Sollte ich mir die Haare blond färben?

»Letizia kommt um drei Uhr am Nachmittag an, sie wird uns bei den Vorbereitungen für die Willkommensfeier helfen. Ellie hat dasselbe versprochen.« Teresa verschwindet, und mit ihr die Möglichkeit, ein Gespräch mit einer Person in meinem Alter anzufangen.

Mein Seufzen ersticke ich mit einem Schluck Kaffee.

»Ich bin gespannt, ob sie auf dem Hockeyfeld hält, was sie verspricht.« Ein Sturm zieht über Jeannes Miene auf, sie fixiert mich. In der Bewegung halte ich inne, das halbe Croissant umklammernd, Erdbeermarmelade verklebt meine Finger. »Und ob meine Tochter sich hier ihren Platz erkämpft.«

»Du musst dir keine Sorgen machen.« Es dauert einen Herzschlag, bis ich begreife, dass Ms Perez mich meint. »Wir sind eine Familie, ihr werdet euch schnell einfinden.«

Dasselbe Versprechen habe ich an meinem ersten Tag an der High School gehört. Am selben Nachmittag habe ich den ersten blauen Fleck gehabt. Mein Schicksal ist in Stein gemeißelt – ich bin das negativ geladene Teilchen, das abgestoßen wird.

Jeanne sieht von mir zu dem Gebäckstück. Essen, das in ihrem Ernährungsplan für mich nicht vorgesehen ist. Ms Perez das zu sagen und es abzulehnen, wäre unhöflich.

Hölzern führe ich das Croissant zum Mund, meine Schneidezähne schaben über den Blätterteig. Zuckrige Erdbeermarmelade hinterlässt schalen Geschmack in meinem Mund, Blätterteig zerbröselt zwischen meinen Fingern, an denen Fettrückstände zurückbleiben. Tropfen, welche die Leere in mir füllen und den Nebel über meinem Verstand zu neutralisieren drohen. Still flehe ich, dass Jeanne für heute eine Trainingseinheit geplant oder Termine hat, die mir ein Home Workout ermöglichen, das meine Kalorienbilanz unter null bringt.

»Bis ich mich in dieser Familie eingefunden habe, halte ich mich an J-«, ich stocke, »meine Mum.«

Das Gespenst eines Lächelns erhellt Jeannes Züge, in jedem anderen Augenblick hätte es eine Kerze des Stolzes in mir entzündet.

Die Klauen, welche sich seit meiner Ankunft um mein Herz geschlossen haben, reißen den Docht aus dem Wachs. Spiele ich nach ihrem Spielplan, bleibt alles beim Alten. Ich bin nicht in der Lage, ihn neu zu schreiben, die Tinte in meinem Tintenschreiber ist vertrocknet. Das ist kein Neuanfang, das Spiel findet bloß auf einem anderen Hockeyfeld statt. Die anderen werden mich in der Luft zerreißen, sobald sie erkennen, welchen Platz Jeanne in ihrer Aufstellung für mich vorgesehen hat.

Kapitel 4

Taylor Swift – A Place In This World

Charlie

Nach einem dreißigstündigen Flug stehe ich vor dem Abbild meines Traumes. Vor vierzehn Jahren hat ein kleines Mädchen diese Tür in ihren Träumen zum ersten Mal durchschritten.

A Place In This World fließt aus den AirPods durch meine Adern. Ein Cover von Lucie. Charlie’s Version heißt das Album, welches sie mir zum fünfzehnten Geburtstag aufgenommen hat. Mit einer Tracklist aus Lieblingsliedern von uns sowie mutmachenden Songs, die ich nach dem Wechsel in eine neue Klasse gebraucht habe. Über fünfeinhalb Jahre alte Aufnahmen, die Lucie nicht mehr hören kann. Genauso würde es mir mit Videos von vergangenen Matches gehen. Für mich fühlt sich das Album an, als hielte sie über die Weltmeere hinweg meine Hand. Am meisten liebe ich ihr Cover von Who’s Afraid of Little Old Me?, ohne das sie nie ihre tiefere, düstere Stimmfarbe entdeckt hätte.

Heute ist A Place In This World mein Soundtrack. Allein auf dem Weg ins Ungewisse. Wie damals, als ich freiwillig zurück in die achte Klasse gegangen bin. Mit zwanzig ist es nicht leichter, über die Schwelle zu treten, hinter der meine Träume sich als wahr oder als Nachtmahre entpuppen.

Lucie flüstert mir Mut ein. Mit weichen Knien durchschreite ich die Eingangstür, in ein lichtdurchflutetes Foyer mit verglaster Decke. Hitze legt sich über meine Haut. Der australische Spätwinter steht dem deutschen Spätsommer in nichts nach. Studierende stehen in Gruppen zusammen oder sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Einige tragen azurblaue Kleidung mit dem Wappen der Academy.

Sehnsucht nach Sophie drückt auf meine Brust. Jeden Sturm haben wir seit unserem Kennenlernen an meinem ersten Tag im Kindergarten überstanden. Unser erstes Probetraining. Unsere Einschulung. Den Wechsel auf die Inselschule. Mein Sitzenbleiben hat mich allein auf das offene Meer hinausgetrieben. In den Pausen ist Sophie mein sicherer Hafen geblieben. Seit zwei Semestern studiert sie Deutsch und Sport auf Lehramt. Ich muss allein schwimmen. Hoffen, dass an diesem Hafen ein Anlegeplatz für mich frei ist.

An der hinteren Wand führen links und rechts Treppen mit vergoldeter Brüstung in das nächste Stockwerk. Darunter erstreckt sich ein weißer Marmortresen. Männer und Frauen in blauer Uniform beugen sich dahinter über Computerbildschirme.

Ich reihe mich in die Schlange ein. Sekunden werden zu Stunden, bis ich an der Reihe bin.

Ein Mann mittleren Alters mit grau-meliertem dunkelbraunem Haar und einer runden Brille schaut von dem Computerbildschirm auf. Spencer Dunham, wie ein Namensschild verrät. »Willkommen an der New South Wales Academy of Athletes …«

»Charlie.« Mein Innerstes zieht sich zusammen. »Ich meine«, stammle ich in gebrochenem Englisch. »Ich werde Charlie genannt.« In der Schule haben die Lehrkräfte den Namen auf der Klassenliste durchgestrichen. »Carla Marie Chevalier.«

Carla Marie Chevalier ist die Skizze der perfekten Tochter. Lange habe ich gedacht, dass ich mich in die Umrisse zwängen muss. Charlie bin ich. Die unerschrockene Version, die für ihre Träume kämpft. Ein Kunstwerk. Unscharf. Mit abblätternder Farbe. Unperfekt und echt.

Mr Dunham tippt etwas in den Computer. Erhebt sich, kramt in einer Schublade. Zurück am Tresen reicht er mir eine goldene Mappe mit dem Wappen der Academy. »Darin befinden sich alle Informationen zu deinem Studium, die Hausordnung, ein Lageplan und deine Schlüsselkarte. Dein Zimmer ist im ersten Stock, im linken Flügel, Nummer 113. Die Willkommensfeier beginnt um sieben Uhr.« Er rückt seine Brille zurecht. »Hast du Fragen?«

»Nein. Vielen Dank für die Einweisung.«

Ich klemme mir die Mappe unter den Arm. Umständlich navigiere ich mich mit dem Koffer durch die Menge, die Treppe hinauf. Den Flur mit goldenen Sandsteinwänden zieren Fotografien berühmter Sportlerinnen und Sportler. Neben der weißen Tür mit der ›113‹ halte ich inne. Jeanne Martin schaut auf einen Punkt in weiter Ferne, einen Hockeyschläger lässig in der Hand. Das sonnengelbe Tanktop mit olivgrünen Shorts hebt sich von der mondlichtweißen Haut ab – die Uniform der australischen olympischen Mannschaft. Das Foto muss kurz vor ihrem Unfall entstanden sein. Ehrfurcht wallt in mir auf; ich trete in große Fußstapfen.

In dem Bewusstsein öffne ich die Tür mit der Schlüsselkarte. Das Herzstück des Zimmers bildet ein Boxspringbett mit himmelblauer Bettwäsche und einer Vielzahl von Kissen in Schattierungen der Farben des Ozeans. Daneben steht ein cremeweißer Schrank mit einer Kommode und einem Regal. Der Schreibtisch unter dem Fenster hat dieselbe Farbe. An der gegenüberliegenden Wand steht ein Zweisitzer-Sofa aus azurblauem Stoff mit einem viereckigen Glastisch. Eine Tür an der hinteren linken Wand führt ins Badezimmer.

Jeweils eine Handvoll Fotos schicke ich in unsere Familiengruppe, an Sophie und in die Gruppe mit Mattéo und Francesca. Papa antwortet mit einem nach oben gereckten Daumen, einem Foto von Cleo am Strand und der Nachricht, dass sie bei ihrer Morgenrunde die Ostsee von mir grüßen. Wärme rieselt durch meine Adern. Ich verspreche ihm Fotos vom Pazifik, dessen saphirblaues Band mich hinter dem Fenster lockt.

Bis zur Willkommensfeier sind es eineinhalb Stunden.

Schluckend betrachte ich meine zerknitterten schwarzen Jeansshorts. Lange habe ich mich für das hässliche Entlein der Familie gehalten. Neben Lucie, dem Schwan im Gefieder in den Farben von Perfektion, Kontrolle und Unschuld. Ich habe mich in Kleider gezwängt, die mir nicht passen. In der Hoffnung, dass unsere Eltern sie sehen, wenn sie mich anschauen. Genauso wie meine Mitschüler*innen. Bis mir egal geworden ist, was andere von mir denken. Dank Lucie, deren Gefieder sich verfärbt hat. Sie hat mir gezeigt, dass diese andersfarbigen Federn sie echter machen.

Vergangene Angst legt mich in Ketten. Wer möchte ich sein, wenn ich an der Schwelle zwischen Pazifik und Strand stehe, wo aus Fremden hoffentlich Freund*innen werden? Jede Faser meines Seins ist von dem Wunsch beherrscht, dass die anderen mich mögen. Ich möchte nicht in Ufernähe schwimmen, sondern der Strömung in tiefe Gewässer folgen. Anders als Lucie, die sich das Ufer zu eigen macht. In einem Etuikleid würde sie auf die Feier gehen. Den Kopf erhoben. Niemand würde verurteilen, dass sie der Strömung fernbleibt.

Mein Herzschlag beruhigt sich. Lucie ist alles, was ich nicht mehr sein möchte, und meine Modeberaterin für Notfälle.

In Deutschland ist es halb acht. Mit einer Nachricht bitte ich Chiara, Lucie in einer Viertelstunde zu wecken. Bis ich geduscht habe, hat sie ihren schwarzen Kaffee getrunken. So ist sie aufnahmefähig und ich bin nicht diejenige, die sie aus dem Schlaf gerissen hat.

***

Eine Dreiviertelstunde später habe ich die Dusche mit zehn verschiedenen Einstellungen bezwungen. Aus dem Spiegel sieht mich nicht länger eine Schlafwandlerin an. Mein iPhone lehne ich gegen das Glas. Es vergehen wenige Herzschläge, bis Lucie den Anruf annimmt. Violette Ringe zieren ihre Augen. Bissspuren ihre Unterlippe.

»Bist du die ganze Nacht wach gewesen?«

Sie nippt an ihrem Kaffee. »Ich habe mich hingelegt, nachdem du geschrieben hast, dass du gelandet bist. Ich schlafe gleich weiter.«

Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange. »Sicher?«

Ihre Züge erweichen. »Ich würde in den nächsten Flieger steigen, wenn du mich brauchst.«

Worte wie ihre vertraute Umarmung. »Danke.«

»Außerdem habe ich Übung darin, lange wach zu bleiben. Immerhin habe ich fast alle Eras-Tour-Livestreams geschaut, nachdem Chiara mich zum Swiftie gemacht hat.« Sie spielt mit ihrem mitternachtsblauen Armband – Midnight Rain. »Sonst hätte ich Chiaras Anrufe verpasst, als Taylor ein neues Kleid für Enchanted getragen hat. Oder den schwarz-goldenen reputation-Bodysuit.«

»Obwohl reputation meine liebste Era ist, verstehe ich nicht …«

Sie stützt die Ellbogen auf dem Tisch ab, ihre Nasenflügel zucken. »Nach 131 Shows war das ein historisches Ereignis und ich habe eine Konstante in meinem Leben verloren.« Sie hebt eine Augenbraue. »Schauen Sophie und du nicht alle Livestreams von der Mannschaft, die Jeanne Martin trainiert?«

»Sonst hätten wir ihren Sieg beim Oceania Winter Cup verpasst.«

»Und wir Taylors Outfits und die Surprise-Songs.« Sie zwirbelt eine Locke um den Zeigefinger. »Du hast mich nicht angerufen, um mir das zu sagen. Was ist los?«

Das Jetzt prasselt in eiskalten Tropfen auf mich nieder. »In fünfundvierzig Minuten beginnt die Willkommensfeier. Ich möchte nicht underdressed sein und einen guten Eindruck machen. Damit die anderen mich mögen …«

»Charlie«, unterbricht sie meinen Redefluss. »Die Willkommensfeier ist kein Musical. Du betrittst keine Bühne, um eine Rolle zu spielen. Die anderen wollen dich kennenlernen.« Ihre Stimme schlägt einen dunklen Ton an. »Keine Maske, die früher oder später durchscheinend wird.«

Der Aufprall von Pfoten auf Parkett unterbricht sie. Türkisfarbene Katzenaugen verdecken meine Sicht auf Lucie. Taylors Schnurrhaare zucken, sie stupst das Display mit der Nasenspitze an. Als versuche sie zu verstehen, wieso sie mich nicht mit allen fünf Sinnen wahrnimmt.

Lucie hebt die British-Kurzhaar-Katze hoch und setzt sie sich auf den Schoß. »Taylor sieht das genauso. Es geht nicht darum, woher ihr kommt oder wie ihr ausseht. Eure Liebe zum Sport verbindet euch.« Ihre Augen schmälern sich. »Wenn du dort eine Rolle spielst, ist das für mich ein Grund, in den nächsten Flieger zu steigen.«

»Du hast recht.« Ich zupfe an dem Stoff meines grauen Sport-BHs. »Und was ziehe ich an?«

»Wir waren gerade nicht umsonst bei reputation.« Sie streichelt Taylors goldschimmerndes Fell. Diese streckt eine Pfote nach mir aus, meine Regungen verfolgend. »Taylors Namensschwester wird dir Glück bringen. Dazu könntest du die Shorts aus Lederimitat anziehen, die wir vor zwei Wochen in Hamburg gekauft haben.«

»Warte.« In Windeseile verlasse ich das Bad, kühle Luft schlägt mir aus dem Schlafzimmer entgegen. Die Shorts sowie ein T-Shirt mit einer Schlange, auf dem ›reputation‹ steht, liegen oben im Koffer. Mit der Kleidung ausgestattet, kehre ich ins Bad zurück und ziehe sie an.

Lucie nickt anerkennend. »Fast perfekt. Mach einen Knoten in das T-Shirt, dann ist es cropped und der Übergang von den zwei Schwarztönen beißt sich nicht.«

Sie hat mir vor sechs Jahren gezeigt, wie ich ein T-Shirt mit einem Haargummi in ein Crop-Top verwandle. Mit zusammengezogenen Brauen betrachte ich mein Spiegelbild. Die Kleidung betont meinen Körper, ohne mich einzuengen. Knapp über meinen Schultern enden die ausgestellten Ärmel. Mein erstes Tattoo, eine filigrane Welle am linken Oberarm, hebt sich von meiner gebräunten Haut ab. Lucie hat dasselbe Motiv tätowiert, ihr Geschenk an uns zu meinem achtzehnten Geburtstag. Eine Verbindung, welche jeden Ozean überbrückt. Der Streifen nackte Haut zwischen dem zusammengeknoteten Saum des Tops und den Shorts offenbart mein zweites Tattoo – den Kopf einer brüllenden Löwin, die in Ketten gelegt ist, welche den Satz ›Don’t you worry, folks, we took out all her teeth‹ bilden.

Die Frau im Spiegel bin ich. So möchte ich an der Academy gesehen und gemocht werden.

In Lucies Augen glüht Stolz. »Perfekt.«

Ich zwinkere ihr zu. »Dank der besten Modeberaterin.«

»Immer wieder gerne, und da in Deutschland Abend ist, wenn du aufstehst, stehe ich dir jeden Tag zur Verfügung.«

Ich lache. »An den meisten Tagen trage ich Sportkleidung. Aber ich komme darauf zurück.«

Ein ernster Zug spielt um ihren Mund. »Sei du selbst. Wir wissen, was passiert, wenn du eine Maske trägst. Entweder sie verwächst so sehr mit dir, dass du dich nicht wiedererkennst, oder du schneidest dich an den Scherben, wenn sie zerbricht.«

Taylor miaut zustimmend.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Versprochen.«

»Jetzt starte in dein Abenteuer. Und nimm eine Jacke mit.«

Ich schnaube. »Ja, Mama.«

Sie lacht, ich stimme mit ein.

»Erzähl mir alles von der Feier und mach Fotos.«

»Versprochen, und du leg dich schlafen.«

»Vorausgesetzt, jemand«, sie drückt Taylor einen Kuss auf den Kopf, »nimmt sich ausnahmsweise ein Beispiel an ihrer Schwester und weckt mich nicht.«

Wir verabschieden uns voneinander. Ihre Präsenz bleibt. Ein goldglühendes Licht, das mir den Weg weist. Als wäre sie nicht auf der anderen Seite der Welt.

Dennoch möchte ich etwas Materielles von meiner Familie bei mir tragen. Im Koffer krame ich nach der Samt-Schatulle mit meinen Schmuckstücken. Lege mir das Goldband um den Hals, an dem der Anhänger mit meinem Sternzeichen – Stier – funkelt. An meinem Handgelenk schimmert mein Freundschaftsarmband. Who’s Afraid of Little Old Me? Ein Versprechen, dass ich an der Academy alle Ketten sprengen werde, die mich aufhalten.

Einen rauchschwarzen Hoodie mit Reißverschluss binde ich mir um. Fahre mir durch die schokoladenbraunen Locken. Der deutsche Sommer hat einzelne Strähnen in Gold verwandelt.

Ein Klopfen zerfasert meine Gedanken. Ich streiche meine Kleidung glatt. Setze mich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf das Bett. »Herein …«

Eine junge Frau taucht im Türrahmen auf. Von ihrer goldbraunen Haut hebt sich ein sonnengelbes Hemdkleid ab. Zwei hellbraune geflochtene Zöpfe umrahmen ihr kantiges Gesicht. Wachsame tannengrüne Augen suchen meinen Blick. »Dürfen wir reinkommen?« Ein Akzent schleift jede Silbe weicher.

Ich hebe eine Augenbraue. »Wer ist wir? Und du bist bereits in meinem Zimmer.«

Sie spiegelt meinen Gesichtsausdruck. »Heißt das ja?«

Ich klopfe auf die Matratze.

Sie gibt mein Sichtfeld auf eine zweite junge Frau frei. Das ebenholzschwarze Haar fällt ihr glatt und offen über die Brust. Ihre Augen erinnern an einen heißen Sommertag. Ein rosafarbenes Crop-Top mit verwaschenen Jeansshorts bildet einen Kontrast zu ihrer rötlich-braunen Haut.

Ich atme auf. Es gibt wohl keinen Dresscode.

»Verzeih uns den Überfall. Mamá hat uns deine Zimmernummer gegeben.«

»Teresa ist die Tochter der Direktorin«, fügt die andere Studentin auf meinen verdutzten Gesichtsausdruck hin hinzu.

»Ich verzeihe euch«, erwidere ich. »Das wisst ihr wahrscheinlich, aber ich bin Charlie.«

Sie setzt sich neben mich. »Ich bin Letizia.«

Ihr Name bringt etwas in mir zum Klingen. »Letizia Rosales?« Ich straffe die Schultern. Mein Herz klopft so laut wie zu Beginn eines jeden Feldhockeyspiels. »Die Kapitänin der Golden Foxes?«

Beim Grinsen entblößt sie eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. »Seit dem letzten Semester.«

Ich komme nicht umhin, sie mit offenem Mund anzustarren.

Teresa setzt sich neben sie. Ihre Nasenflügel zittern unter einem Schnauben. »Das lässt sie gerne alle wissen.« Lachend weicht sie einem halbherzigen Schlag von Letizia aus.

In mir hallt der Ton dunkel nach. Ich strecke die Hand nach links aus. Luft. Keine Sophie, deren Finger zwischen meine gleiten.

»Das ist der Grund, wieso wir hier sind«, fügt Letizia an.

Teresas Lippen kräuseln sich. »Coach Nielsen hat uns alle Akten der Erstsemester gezeigt, und Google weiß alles.«

Letizia dreht einen ihrer Goldringe mit bunten Steinen hin und her. »Im kommenden Semester wird ein Platz als Stürmerin bei den Golden Foxesfrei.«

Mein Herz gewinnt an Tempo. Im ersten Semester habe ich mir die Chance gering vorgestellt. Ist sie einen Fingerbreit entfernt?

Die beiden halten inne.

Ich balle die Hände zu Fäusten. Wage nicht, nach dem Licht zu greifen. Was, wenn es bei der Berührung erlischt oder mich verbrennt? »Stimmt etwas nicht?«

»Deine Akte ist vielversprechend.« Teresas Stimme schlägt einen beschwichtigenden Ton an. Meine Gedanken wühlt er auf wie eine Sturmböe das Meer. »Wir haben uns auf YouTube Videos deiner letzten Spiele angesehen, die das bestätigen.«

Letizia seufzt. »Wenn du im Training hältst, was der erste Eindruck verspricht, hätte ich dich gerne bei den Golden Foxes. Schenken kann ich dir den Platz nicht. Du musst um ihn spielen.«

»Da musste auch die Tochter der Direktorin durch.«

Ich atme auf. Mein Leben lang habe ich gekämpft. Früher oder später sind alle, die sich mir in den Weg gestellt haben, zur Seite gewichen. »Ich liebe Herausforderungen.«

Letizias Miene hellt sich auf. »Wir haben gehofft, dass du das sagst.«