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Ein Herz auf vier Pfoten Emma und Daniel leben die große Liebe. Im kommenden Sommer wollen sie endlich heiraten. Dann aber erhält Daniel eine schlimme Diagnose – und anstatt sich in die Hochzeitsvorbereitungen zu stürzen, beginnt Emma das neue Jahr mit Daniels Beerdigung. Der Verlust ist unerträglich, sie zieht sich komplett zurück. Doch damit Emma nicht zu sehr in ihrer Trauer versinkt, hat Daniel vorgesorgt. Zu ihrem Geburtstag erhält sie posthum von ihm ein Geschenk: Terrier-Mischling Sam. Anfangs ist Emma von dem neuen Mitbewohner wenig begeistert, aber Sam lässt nicht zu, dass sie sich aufgibt. Die gemeinsamen Spaziergänge werden immer länger, die Besuche in der Hundeschule ausgedehnter. Sam findet außerdem Gefallen an Tierarzt Benjamin. Der ist charmant, einfühlsam und würde gut zu Sam und Emma passen. Aber ist Emma wirklich bereit, ihn trotz ihrer Trauer um Daniel in ihr Leben zu lassen? Die größten Liebesgeschichten sind die, bei denen Lachen und Weinen ganz nah beieinanderliegen: ein mitreißender Roman vor schottischer Kulisse.
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sarah Martens
Roman
Ein Herz auf vier Pfoten
Emma und Daniel leben die große Liebe. Im kommenden Sommer wollen sie endlich heiraten. Dann aber erhält Daniel eine schlimme Diagnose – und anstatt sich in die Hochzeitsvorbereitungen zu stürzen, beginnt Emma das neue Jahr mit Daniels Beerdigung. Der Verlust ist unerträglich, sie zieht sich komplett zurück. Doch damit Emma nicht zu sehr in ihrer Trauer versinkt, hat Daniel vorgesorgt. Zu ihrem Geburtstag erhält sie posthum von ihm ein Geschenk: Terrier-Mischling Sam. Anfangs ist Emma von dem neuen Mitbewohner wenig begeistert, aber Sam lässt nicht zu, dass sie sich aufgibt. Die gemeinsamen Spaziergänge werden immer länger, die Besuche in der Hundeschule ausgedehnter. Sam findet außerdem Gefallen an Tierarzt Benjamin. Der ist charmant, einfühlsam und würde gut zu Sam und Emma passen. Aber ist Emma wirklich bereit, ihn trotz ihrer Trauer um Daniel in ihr Leben zu lassen?
Die größten Liebesgeschichten sind die, bei denen Lachen und Weinen ganz nah beieinanderliegen: ein mitreißender Roman vor schottischer Kulisse.
Sarah Martens, Jahrgang 1978, ist Redakteurin und Übersetzerin für Italienisch. Über mehrere Jahre gehörte sie zum Recherche-Team des «Stern» in Düsseldorf. Heute berichtet sie als freie Journalistin für verschiedene Medien vorrangig aus und über Italien. Von dort träumt sie sich insbesondere im heißen Sommer gerne in kühlere Länder. Schottland ist ihr absolutes Sehnsuchtsziel.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Adobe Stock; Shutterstock
ISBN 978-3-644-02145-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Dich
Mit wehenden Ohren rannte Sam über die Wiese. Seine Pfoten stoben durch das hohe Gras und drückten die nassen Halme zu Boden. Er bellte freudig. Auslauf war das Allerbeste! Jedes Mal, wenn er das Klimpern des Schlüsselbundes hörte, horchte er in seinem Zwinger auf. Er wusste, dass es dann entweder etwas zu fressen gab oder er nach draußen durfte. Sonst döste er den Großteil des Tages auf seiner halb zerfetzten Lieblingsdecke, die er schon in seinem alten Zuhause genutzt hatte – so lange, bis sein Herrchen mit einem Krankenwagen weggebracht worden war. Sam hatte den Mann seitdem nicht mehr gesehen. Das Heulen von Sirenen machte ihn immer noch nervös.
Hier aber, wo alle von den Schottischen Highlands sprachen, waren nicht die Geräusche der Stadt, sondern das Rauschen des Windes, das Gebell anderer Hunde und das Zwitschern von Vögeln die Töne, an die er sich gewöhnen musste. Sam liebte es immer noch, viel und schnell zu laufen und sich den Wind kühl um die Nase wehen zu lassen. Und er liebte es, wenn er etwas Neues entdeckte.
Mit seiner Schnauze wühlte er jetzt im schlammigen Boden unter einer der hohen Espen, die die Auslaufwiese des Tierheims säumten. Er zog an einem Stock und legte sich mit seiner Beute auf die Wiese. Konzentriert nagte er mit seinen spitzen Beißern an dem nass-morschen Holz und würgte, als zu viel Rinde absplitterte und er sie fast verschluckte.
«Sam, komm her», rief die Frau, die er fast täglich sah und an der er so gerne schnupperte. Sie roch ständig nach anderen Hunden und nach Leckerli. «Sam, los, komm!»
Er rannte zu der geteerten Fläche am Anfang der Wiese. Dort, vor dem kleinen Holzhaus, an dem es immer einen Napf mit frischem Wasser gab, standen zwei Bänke. Auf der einen saß ein Mann und neben ihm die Frau, die jeden Tag so lustig mit dem großen Klimperding klapperte und die alle Kendra nannten. Sie hatte immer etwas Leckeres in der Hosentasche.
Sam winselte. Das hatte schon immer gut funktioniert, um noch einen Keks zu bekommen. Er schnupperte. Seine Nase roch den Duft von nassem Gras und den betörenden Geruch von Pansen.
Nur kurz war er abgelenkt, als eine Möwe laut aufschrie, dann konzentrierte er sich auf das Leckerli, das Kendra ihm hinhielt. Begeistert wedelte er mit dem Schwanz, schleckte sich mit der Zunge übers Maul und legte sich ihr vor die Füße. Er blinzelte gegen die Sonne. Kendra sprach so schön melodisch, dass Sam sich geborgen fühlte.
Der Mann, der mit leicht hängenden Schultern neben Kendra saß, hatte schon einmal vor seinem Zwinger gestanden. Sam erkannte seinen Geruch und seine Stimme gleich wieder. Er mochte ihren ausgeglichenen Klang und die Art, wie der Mann «Sam» sagte.
Die beiden sprachen ruhig miteinander. Jedes Mal, wenn Sam dabei seinen Namen hörte, stellte er die Ohren kurz auf.
«Daniel, ich möchte einfach nicht, dass Sam noch einmal so eine traumatische Situation erlebt», sagte Kendra. «Dass sein Herrchen zunächst ins Krankenhaus und dann ins Pflegeheim gekommen ist, war nicht leicht für ihn. Hunde leiden genau wie wir Menschen unter Einsamkeit. Sam ließ sich in den ersten Tagen fast gar nicht beruhigen.»
«Ja, ich weiß. Ich möchte ihn auch nicht noch einmal so einer schlimmen Situation aussetzen. Seine Bezugsperson soll Emma sein, nicht ich.»
«Und warum bringen Sie Emma dann nicht mit?»
Sam dämmerte weg, als eine längere Gesprächspause einsetzte.
«Emma ist noch nicht bereit … Sie …» Die Stimme des Mannes, den Kendra eben Daniel genannt hatte, kippte, wurde leiser. «Emma … Emma stehen sehr schwere Zeiten bevor. Ich möchte nicht, dass sie allein ist – und ich glaube, ein Hund würde ihr helfen. Also, nicht irgendein Hund, sondern Sam!», sagte er nachdrücklich.
Sofort rutschte Sam etwas näher an Daniel heran, stupste ihn am Fuß. Daniel war ein guter Zweibeiner, er verstand sofort und begann, ihm den Kopf zu streicheln. Sam brummte genüsslich.
«Sie glauben gar nicht, wie gerne ich mich zusammen mit Emma um Sam kümmern würde», fuhr Daniel fort, «aber es wird nicht gehen. Ich weiß, wie viel ich von Ihnen verlange, aber Emma und Sam würden sich gegenseitig helfen, davon bin ich überzeugt. Emma ist ganz wundervoll, sie wird alles dafür tun, dass Sam sich bei uns wohlfühlt – und ich werde die passenden Voraussetzungen dafür schaffen. Bitte! Sie wird ja auch nicht mit ihm allein sein, sie hat Unterstützung. Ich kann Ihnen versichern, dass niemand vorhat, Sam wieder zurück ins Tierheim zu bringen. Gemeinsam werden die beiden ihr Glück wiederfinden», sagte er mit fester Stimme.
Sam spürte, wie die weiche Männerhand seinen Kopf streichelte und dabei immer wieder liebevoll über seine Ohren strich. Er setzte sich auf und legte seine Schnauze auf den warmen Oberschenkel des Mannes. Wieder schloss er die Augen und genoss die Berührung.
Er hörte, wie Kendra sich räusperte. «Daniel, ich kann Ihnen nichts versprechen. Wir geben unsere Tiere nicht ab, nur weil jemand glaubt, dass sich wer anders über einen Hund als Geschenk freut. Erst recht dann nicht, wenn unser Ansprechpartner …» Sie machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten. «… gar nicht vor Ort ist.»
Daniel holte tief Luft. «Ein Hund hat immer zu unseren Plänen gehört. Wie die Hochzeit, zwei Kinder, vielleicht auch drei. Und irgendwann eben auch ein Familienhund. Emma und ich werden keine Kinder haben. Die Hochzeit im Sommer werde ich nicht mehr erleben.» Er zögerte. «Das brauche ich weder Ihnen noch mir schönzureden. Ich habe einfach nicht mehr viel Zeit, aber Emma hat sie. Und Sam hat sie auch. Das sind alles keine optimalen Voraussetzungen, ich weiß. Ich würde mir so wünschen, dass es anders wäre, aber das, was ich noch tun kann, das möchte ich tun. Doch selbst, wenn Sie mir jetzt sagen, dass das mit Sam nicht klappt, werde ich nicht lockerlassen. Ich will nicht irgendeinen Hund für Emma, ich will Sam!»
Sam schaute erst zu Daniel und dann zu Kendra. Er versuchte zu verstehen, warum sie die ganze Zeit über ihn sprachen. Er mochte es wirklich gern, wie Daniel seinen Namen sagte, und wedelte freudig mit dem Schwanz.
«Sam mag Sie», sagte Kendra schließlich. «Ich glaube, er mag Sie sogar sehr.»
«Und ich mag Sam», antwortete Daniel. «Emma wird ihn lieben, glauben Sie mir, Kendra. So wie Sie Ihre Schützlinge kennen, so kenne ich Emma. Sie wird Sam guttun. Das verspreche ich Ihnen.» Sam hörte das Lächeln, das den Klang seiner Stimme veränderte und sie noch freundlicher erscheinen ließ. «Sie wird Sam guttun, wirklich – und er ihr. Mehr, als Sie es jetzt vielleicht für möglich halten!»
Sam ließ sich noch einmal streicheln und legte sich dann wieder auf den Boden, den Kopf dieses Mal mit geschlossenen Augen zur kaum noch wärmenden Wintersonne gedreht.
Während Kendra und Daniel sprachen, döste er ein – mit dem beruhigenden Gefühl, dass Daniel einen Plan hatte. Und dass es dabei um ihn ging.
Irgendwann würde er sie fragen. Das war ihm in dem Moment klar gewesen, als sie sich das erste Mal geküsst hatten. Emmas Lippen waren so weich und schmeckten so süßlich, dass es Daniel fast um den Verstand brachte. Jedes Mal, wenn sich ihre Lippen berührten, vergaß er alles um sich herum. Noch nie war sein Herz so aus dem Takt geraten wie bei Emma.
Dabei hätten er und Emma sich fast gar nicht kennengelernt. Als sein bester Freund Steve, den er bereits seit Kindheitstagen kannte, ihm mitteilte, dass auch eine Freundin von Carol beim Abendessen dabei sein würde, hatte Daniel nur mit den Schultern gezuckt. Er verstand gar nicht, warum Steve und Simon, den er an der Uni kennengelernt hatte, ihn unbedingt verkuppeln wollten. Deshalb hatte er schon absagen wollen, doch sein bester Kumpel war hartnäckig geblieben.
«Emma wird dir gefallen, Daniel, wirklich. Und falls nicht, haben wir trotzdem einen schönen Abend. Simon bringt seine neue Freundin Lucy mit. Sie und Carol haben sich von Anfang an gut verstanden. Du mochtest sie doch auch. Ich weiß nicht, warum das bei Emma anders sein sollte. Du musst sie ja nicht gleich heiraten.»
Also hatte Daniel – wie jedes Mal – gleichmütig genickt und sich auf einen Abend mit einer großen Portion Smalltalk eingestellt.
«Und? Was machst du so im Leben? … Oh, Fotograf! Wie spannend! … Was fotografierst du denn am liebsten? … Steve und Carol haben mir ja schon so viel von dir erzählt! … Du kommst auch aus Inverness? … Und fürs Studium bist du also nach Edinburgh gezogen?»
Dann gingen die Gespräche meist in die Phase über, in der seine Gesprächspartnerin und er versuchten, Gemeinsamkeiten zu finden.
«Komisch, dass wir uns nie über den Weg gelaufen sind. … Ich war früher meist in Bertie’s Pub. Und du? … Kennst du Rob? Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Den kennt hier doch jeder.»
Aber mit Emma war es anders gewesen. Emma hatte ihn so lange ignoriert, bis er ihr zwischen zwei Guinness zugeflüstert hatte: «Ich habe mir den Abend auch anders vorgestellt.»
«Ach ja, wie denn?», hatte sie amüsiert gefragt.
Da waren ihm zum ersten Mal ihre Grübchen aufgefallen, die sich stets in ihre pfirsichfarbenen Wangen gruben, wenn sie lächelte, und die intensiv grünen Augen, die vor Energie und Lebensfreude nur so sprühten. Er hatte sich in ihrem Blick verloren. Kurz hatte es ihm die Sprache verschlagen. Er hatte etwas Originelles erwidern wollen über das eingefädelte Abendessen mit Freunden, doch da ihm plötzlich die Worte fehlten, lächelte sie nur und wandte sich dann wieder ab, um den anderen von einem Straßenkünstler zu erzählen, der sie und Lucy bei einem Ausflug nach Glasgow erschreckt hatte.
«Wirklich, ich war mir sicher, dass es einfach nur eine Statue war», erklärte sie, «aber plötzlich schnellte seine Hand vor, und ich bin dermaßen zusammengezuckt, dass ich das Set mit den Nachtisch-Schälchen, die ich zu Hannahs Geburtstag gekauft hatte, einfach fallen ließ. Ihr glaubt gar nicht, wie schnell der Typ rennen konnte!» Sie lachte, und wieder funkelten ihre Augen. «Hannah hat dann leider nur zwei Schälchen bekommen. Aus den anderen hätte sie sich höchstens noch ein Kunstwerk aus Mosaikscherben machen können.»
«Und Emmas Schwester Hannah ist wirklich nicht der künstlerische Typ», ergänzte Lucy in Daniels Richtung. «Ganz im Gegensatz zu Emma, die sehr kreativ ist», betonte sie und sah ihn an. «Also vermutlich ähnlich wie du als Fotograf.» Emma kniff sie unter dem Tisch leicht in die Seite. Lucy räusperte sich. «Jedenfalls kennen Emma und ich uns schon seit der Grundschule.»
Dann griff Lucy nach der Schale mit dem Tomaten-Rucola-Salat, stellte ihn vor sich ab und bugsierte mit einem großen Besteck geschickt zwei Ladungen der mediterranen Köstlichkeit auf ihren Teller. Nur die Oliven pulte sie heraus und schob sie zu Simon herüber.
«Und wir sind seitdem beste Freundinnen», fügte Emma hinzu und legte ihren Arm um die Schultern der etwas kleineren Lucy.
«Du bist Künstlerin?», fragte Daniel interessiert.
«Nicht wirklich. Ich male ganz gerne und experimentiere häufig mit Acrylfarben. Aber das ist nur ein Hobby. Ich studiere Innenarchitektur.»
Nie hätte er an jenem Abend damit gerechnet, dass sie nur zwei Jahre später über Möbel und Wandfarben diskutieren würden und in ihr erstes gemeinsames Zuhause zogen. Daniel war es gewesen, der das kleine Townhouse am Rande von Inverness mit Blick auf den River Ness für sie beide entdeckt hatte. Die Immobilienagentur, mit der er häufig zusammenarbeitete, hatte ihn gebeten, ein paar Fotos von dem Objekt zu schießen, um es in die Vermietung zu geben. Aber als Daniel das kleine Törchen zwischen den Rhododendronbüschen geöffnet hatte und die halb ausgetretenen Treppenstufen hochgegangen war, hatte ihn das Haus mit der Backsteinfassade in seinen Bann gezogen. Lächelnd hatte er die weiße Holztür aufgeschlossen, die dringend einen neuen Anstrich benötigte.
Jedes Mal, wenn er Objektfotos machte, stellte er sich vor, wie das Gebäude auf eine Familie, einen Geschäftsmann oder ein älteres Paar wirken mochte. Von Emma hatte er gelernt, leere Häuser in Gedanken einzurichten. Nicht nur einmal hatte er sie mitgenommen und mit ihr über die potenziellen Mieter oder Käufer spekuliert, die zu der Immobilie passten.
Dieses Haus, es war perfekt! Nicht für irgendwen, sondern für ihn und Emma. Er rief sie an, noch bevor er die ersten Bilder vom Inneren gemacht hatte.
«Komm schnell her, das musst du sehen», hatte er am Handy gesagt und war dann voller Vorfreude von einem Raum in den nächsten gelaufen. Er stellte sich vor, wie die Dielen kurz nach dem Aufstehen unter Emmas und seinen Schritten knarzten und wie sie im Winter mit einem heißen Kakao oder einem Glühwein vor dem kleinen Kamin saßen, der in der Ecke des Wohnzimmers stand. Ihm gefiel der Gedanke, Emma auf einem davor liegenden Lammfell bis tief in die Nacht zu lieben, während der Regen an die alten Blenden des Hauses prasselte.
«Na, benötigst du wieder Einrichtungshilfe?», hatte Emma verschmitzt gefragt, als sie außer Atem die wenigen Stufen zum Townhouse hochgesprintet war.
Daniel hatte sie in seine Arme gerissen, ihr einen Kuss auf die verführerisch glänzenden Lippen gedrückt und sie wortlos ins Haus gezogen. Hand in Hand waren sie von Raum zu Raum gegangen, und er hatte Emma angesehen, dass sie das Gleiche empfand wie er.
«Könntest du dir vorstellen, hier mit mir einzuziehen?»
Emma hatte ihn angestrahlt, hatte sich in seine Arme geworfen, und gemeinsam hatten sie in der Küche des Hauses auf gekachelten Fliesen in Schachbrettoptik getanzt. Das Klackern von Emmas Absätzen und ihr Lachen füllte das Haus da schon mit Leben. Und nur wenige Tage später trugen sie die ersten Farbeimer hinein und strichen jeden Raum in einer anderen Farbe.
Bei dem schmalen Raum neben dem großen Schlafzimmer hatten sie sich für ein neutrales Türkis entschieden. Irgendwann sollte dort ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen einziehen. Daniel hoffte, dass ihr Kind Emmas Grübchen haben würde. Und auch wenn ihr gemeinsames Leben gerade erst begann, so war er schon voller Vorfreude auf die Zukunft.
Tatsächlich liebte er das Leben mit Emma in diesem Haus, und die Hochzeit war für ihn nur der nächste logische Schritt. Schon ging er an keinem Juweliergeschäft mehr vorbei, ohne die Auslage mit den Eheringen zu betrachten. Er blätterte durch Reiseprospekte und las in Internetforen von traumhaften Zielen für ihre Flitterwochen. Und er überlegte, wo er Emma die Frage aller Fragen stellen sollte. Im London Eye? Oder unterhalb des Inverness Castle – an jener Stelle, an der sie sich das erste Mal geküsst hatten? Vielleicht wartete er aber auch zu Hause auf sie, dekorierte das Wohnzimmer mit Kerzen und Rosen …?
Daniel machte sich so viele Gedanken darüber, diesen Moment so besonders wie möglich zu gestalten, dass Monate um Monate vergingen. Monate, in denen sie sehr viel Schönes erlebten: Ausflüge nach Glasgow, Aberdeen und Edinburgh, Grillfeste mit den besten Freunden, Abende auf ihrer kleinen Dachterrasse, an denen sie unter eine Decke gekuschelt in den Sternenhimmel schauten. Oder auch jener Badetag am Loch Ness, bei dem Daniel nicht nur einmal behauptete, von irgendetwas Großem am Fuß gekitzelt worden zu sein.
Dann eines Tages lagen sie beide auf einer karierten Decke auf der Wiese vor Emmas Elternhaus, und Emma klagte so lange über ein missglücktes Vorstellungsgespräch in einem Innenarchitekturbüro, dass Daniel ihr irgendwann mit einem langen Kuss den Mund verschloss.
«Das Leben ist viel zu kurz, um sich zu ärgern», sagte er schließlich. «Komm, lass uns über etwas Positives reden. Hier und jetzt.» Er griff nach ihrer Hand, verschränkte seine Finger mit ihren und forderte Emma auf, ihm etwas zu zeigen, was sie besonders schön fand. Er spielte dieses Spiel häufig. Immer wenn Emma sich zu sehr aufregte oder bedrückt schien.
«Was ich Schönes sehe? Na, dich!», sagte sie meist zuerst. Und erst dann blickte sie sich suchend um und schaute, ob sie irgendwo eine Katze entdeckte, einen Schmetterling, ein hüpfendes Kind oder eine glücklich lächelnde ältere Dame. Gemeinsam überlegten sie sich, was diese wohl Schönes erlebt haben könnten.
Emma kuschelte sich an Daniel, schaute mit ihm in den blauen Himmel, in dem Schäfchenwolken vorüberzogen, und erklärte: «Ich mag diese Picknickdecke, auf der wir liegen, weil ich darauf schon mit Hannah gespielt habe, als ich noch klein war. Hier, genau an dieser Stelle. Und ich mag den Duft von frisch gemähtem Gras. Und ohnehin gibt es nichts Schöneres, als barfuß über taunassen Rasen zu laufen.»
Dann war Daniel dran.
«Ich mag diesen Ort besonders, weil deine Eltern und auch Hannah mich mit offenen Armen aufgenommen und mir von Anfang an das Gefühl gegeben haben, hier immer willkommen zu sein.»
Emma lächelte. «Und ich freue mich darüber, dass du in mein Leben getreten bist und jetzt hier mit mir auf dieser Decke liegst und auch diesen Moment so besonders machst.»
Als Nächstes entdeckte sie eine Hummel, die schwerfällig von einer Blüte plumpste, freute sich über einen Zitronenfalter und forderte Daniel schließlich auf, mit ihr Wolkenbilder zu raten.
«Das habe ich auch als Kind schon so gerne gemacht», erklärte sie. «Los, schau einfach nach oben und sag mir, was du siehst!»
«Ich sehe nur Wolken, wirklich.» Aber dann sah er es auch: eine Wolkenformation, die mit etwas Fantasie einem Elefanten ähnelte. Und eine, in der er die Umrisse Italiens erkannte. Es waren sehr viele Schäfchenwolken, die so fluffig waren, dass sie ihrem Namen alle Ehre machten.
Mit dem Daumen streichelte er immer wieder über Emmas Handrücken, drückte ihr ab und an einen Kuss auf die Stupsnase und zwirbelte mit seiner anderen Hand neben der Picknickdecke an den Grashalmen herum, die der Rasenmäher nicht erwischt hatte.
Plötzlich schrie Emma mehr als verzückt auf, als sie in einer Wolkenformation ein großes Herz entdeckte.
«Daniel! Ein Herz! Schau, das ist ein Zeichen!» Sie lachte, sodass ihre Grübchen sich weiter vertieften und ihr Gesicht mit einer so schönen Röte überzogen wurde, dass Daniel sich noch mehr in sie verliebte.
Das war er, der richtige Moment. Schnell drehte Daniel aus dem Grashalm, den er in den Fingern hielt, einen Ring, setzte sich auf und fragte Emma, ob sie seine Frau werden wollte.
Sie sagte sofort Ja. Und in ihren Augen entdeckte er dabei so viel Liebe, dass er jedes Mal, wenn er später an diesen Moment dachte, Gänsehaut verspürte.
An dem Tag, an dem Emma und Daniel in Bertie’s Pub die Verlobung feierten, regnete es zum Bedauern von Emma in Strömen.
«Wir hätten lieber einen Föhn statt einer Torte mitbringen sollen», sagte Daniel, als sie aus dem Taxi stiegen und in ihre Lieblingskneipe gingen. Die wenigen Schritte vom Bürgersteig bis zum Eingang reichten, um Emmas Wimperntusche verlaufen zu lassen.
Ihre Freunde und Familien waren bereits vor Ort und warteten zwischen bunten Lichterketten und kitschigen Herzluftballons, um sie hochleben zu lassen. Sie riefen ihnen Glückwünsche zu, wollten wissen, wann es an die Familienplanung ging, und stießen mit Sektgläsern auf sie an.
Emma warf ihre mehr als schulterlangen, kastanienbraunen Haare nach hinten und lachte befreit. Sie war in ihrem Leben angekommen, hatte die tollsten Freunde der Welt und das Glück, die Liebe ihres Lebens heiraten zu dürfen.
Lucy, die einen eleganten schwarzen Overall trug, drückte Emma an sich. «Zur Hochzeit würde ich wasserfeste Mascara empfehlen», sagte sie lachend. «Schwarze Wimperntusche auf einem weißen Kleid macht sich nicht so gut.»
«Habe ich hier etwas von einem Brautkleid gehört?» Daniel legte seine Arme von hinten um Emmas Taille und küsste sie in den Nacken.
«Untersteh dich, weiter nachzufragen», schimpfte Emma. «Da wirst du dich noch ein paar Monate gedulden müssen. Ich verrate dir nichts, aber auch gar nichts.» Sie schob ihn von sich, und Daniel ging zu Steve, dem er freundschaftlich auf die Schultern klopfte. Steve sollte sein Trauzeuge werden. Emma hatte Lucy gefragt. Sie erinnerte sich noch genau an das Gespräch.
«Lucy, ich wusste zwar in der Grundschule nicht, wen ich irgendwann mal heiraten würde, aber ich wusste schon immer, dass ich dich als meine Trauzeugin haben möchte.»
Lucy hatte vor Freude gequiekt.
«Oh, das wirst du nicht bereuen, das verspreche ich dir. Ich werde die beste Trauzeugin aller Zeiten sein. Hochheiliges Ehrenwort.» Sie hatte eine feierliche Miene aufgesetzt, ihre Finger zum Schwur gehoben und Emma so stürmisch in die Arme genommen, dass beinahe beide das Gleichgewicht verloren hatten.
«Hey, ich will mir nicht den Knöchel brechen», hatte Emma gerufen, «und womöglich auf Krücken zum Altar schreiten müssen.»
«Was? Wie schnell ist die Hochzeit denn? Du bist doch nicht etwa schwanger?»
Emma hatte abgewinkt. «Nein, nein, wir heiraten im Sommer. Ich möchte unbedingt eine Sommerhochzeit.» Sie strahlte. «Wir haben uns schon ein schönes Restaurant ausgeguckt mit einem traumhaften Außenbereich. Da möchte ich mit Daniel um Mitternacht barfuß auf dem Rasen tanzen.»
«Du hoffnungslose Romantikerin!»
Lucy hatte recht. Dabei war sie nicht immer so gewesen. Erst mit Daniel war diese Art Liebe in ihr Leben gekommen. Eine Liebe, die sie alles um sie herum vergessen ließ, die die Welt plötzlich so klein machte, weil Daniel in ihr so groß wirkte.
Ihre Augen suchten den Pub nach ihrem Verlobten ab, und Emma lächelte, als sie Daniel entdeckte und er ihren Blick erwiderte. Sie hatten sich entschlossen, ihre besten Freunde, ihre Familien und ihre Nachbarn zur Verlobungsfeier einzuladen.
Daniel war der Ansicht, dass man im Leben jede Gelegenheit nutzen sollte, um zu feiern und Zeit mit Freunden zu verbringen. «Noch sind wir jung», pflegte er stets zu sagen. «Noch sind wir alle zusammen. Das sollten wir ausnutzen.» Daniel war ein absoluter Optimist, er liebte das Leben und gab Emma das Gefühl, dass auch hier in diesem Pub die Sonne schien, obwohl es draußen weiterhin regnete und der Regen unaufhörlich auf die Straße prasselte.
Emma tanzte. Sie hatte die Arme in die Höhe gereckt und wippte zum Klang der Musik, die sie und Daniel in den letzten Jahren begleitet hatte: Coldplay, Robbie Williams, Ed Sheeran, Pink und Westlife. Emma hatte sich «I Wanna Grow Old With You» als eines der Lieder ausgesucht, die ein Sänger in der Kirche zum Besten geben sollte. Jetzt aber tanzte sie zum Klang der Bässe von Oasis, sang aus voller Kehle mit, obwohl Daniel ihr schon damit gedroht hatte, die Dusche in ihrem Townhouse zusätzlich schallisolieren zu lassen.
Sie sah, wie Daniel sie beobachtete und wie er dann seinen Fotoapparat herausholte, um sie wie so häufig zu fotografieren.
«Ein besseres Motiv als dich gibt es für mich nicht», sagte er immer, wenn sie behauptete, nicht fotogen zu sein. Und Daniel gelang es tatsächlich, sie genau so abzubilden, wie sie sich fühlte.
Emma freute sich schon auf die Bilder von der Feier, die er an die Wohnzimmerwand heften würde. Der Ort war für Fotos von Familienmitgliedern und Freunden, ganz besonders aber für Schnappschüsse von sich und Emma vorgesehen. Es gab dort unter anderem die Aufnahme von ihr auf der Wiese vor ihrem Elternhaus, kurz nachdem Daniel ihr den Antrag gemacht hatte. Voller Stolz hielt sie den aus einem Grashalm gedrehten Ring in die Kamera.
Ein anderes Foto zeigte Lucy, die mit Emma in einem Café in Edinburgh saß und an einem Cappuccino nippte, der ihr bereits einen ordentlichen Milchbart beschert hatte. Eine Aufnahme war von Simon, der in seinem Garten am Grill stand und mit konzentrierter Miene Bratwürste wendete. Auch ein Bild von Carol und Steve hing an der Wand, wie sie mit verträumten Blicken ins Lagerfeuer schauten und sich dabei so eng umarmt hielten, dass Daniel sie an jenem Abend nie allein vor die Kamera bekommen hatte. Selbst Daniels Eltern, Michael und Claire, die meist sehr distanziert wirkten, bekamen auf seinen Fotos eine ganz andere Aura. Dann wirkten sie endlich so, wie er sie immer beschrieben hatte: wie liebende Eltern, für die der einzige Sohn immer an erster Stelle stand. Beide schauten mit so liebevollem Blick in Richtung des Fotografen, dass Emma keinerlei Zweifel daran hatte, dass sie alles für Daniel tun würden.
An der Fotowand hingen auch Bilder von ihrer Nachbarin, Mrs. Campbell, die am Gartenzaun stand und Emma die Post herüberreichte. Auf Mrs. Campbell war immer Verlass. Sie schaute nach dem Haus, wenn Emma und Daniel nicht da waren, kümmerte sich um die Pflanzen im Garten, nahm Briefe und Pakete entgegen und behielt auch Emma und Daniel selbst stets genau im Blick – ebenso wie die Freunde, die sie besuchten.
Emma war überzeugt davon, dass Mrs. Campbell jeden ihrer Gäste schon in scheinbar belanglose Gespräche verwickelt hatte, um allen auf den Zahn zu fühlen.
Es gab auch Fotos von Lindsay und Clark, von Kelly, Mabel und vielen anderen Freunden und Kollegen. Besonders gern fotografierte Daniel auch Emmas Neffen, die immer, wenn sie Daniel beim Fotografieren entdeckten, der Kamera Grimassen schnitten. Meist waren Liam und Lucas aber so sehr in ihr Spiel vertieft, dass sie nichts bemerkten. Es gab Bilder von Lucas beim Legospielen und von Liam, der gerade das Radfahren lernte. Und Fotos von beiden zusammen, wenn sie sich den neuesten Comic von Lucky Luke anschauten. Emma hatte Daniel von Anfang an erklärt, dass die beiden schlimmer seien als die Dalton Brothers.
Auf den Fotos, auf denen neben den Jungs auch Hannah oder ihr Mann Grant abgelichtet waren, sah man vor allem Emmas Schwester an, dass die beiden Frechdachse sie komplett in ihren Bann gezogen hatten. Immer wieder kritisierte Emmas Mum die ältere Tochter und versuchte sie davon zu überzeugen, dass beide Söhne eine strengere Erziehung bräuchten. Aber Hannah hob dann immer machtlos die Hände und lächelte warm.
Gerade tanzte Hannah mit Grant und hielt erst inne, als sie die Eltern entdeckte, die gemeinsam an der Bar standen und Tequila tranken. Die Überraschung war ihr ins Gesicht geschrieben.
Emma war genauso fassungslos wie sie.
«Mrs. Emma Elliott, bitte einmal in die Kamera lächeln», forderte Daniel sie auf. «Ich kann Sie zwar auch mit einer entsetzten Miene wie dieser fotografieren, aber dann wirken Sie wirklich nicht sonderlich fotogen.»
Emma schnaubte. «Moment mal! Ich bin schließlich immer noch eine Wilson», tat sie empört. Als sie aber wieder zu ihren Eltern schaute, die mit verzerrten Gesichtern in Zitronenscheiben bissen, lachte sie. «Na gut, vielleicht ist es doch nicht so schlimm, eine Elliott zu sein.»
«Definitiv nicht. Dafür werde ich schon sorgen. Nur noch ein paar Monate, Emma. Dann sind wir endlich verheiratet.» Er nahm sie liebevoll in die Arme, und sie grub ihre Nase in die Kuhle zwischen seiner Schulter und seinem Hals und küsste ihn.
Daniel machte ein Selfie von ihnen. Wange an Wange in ihrem Lieblingspub, verliebt lächelnd und mit Freunden und Familie im Hintergrund.
Emma war überzeugt, dass er auch dieses Bild an die Fotowand heften würde. Spätestens im Sommer kämen dann neue Fotos dazu, Emma in ihrem Boho-Brautkleid mit feinster Stickerei und kleinen Perlen, die auf das Korsett gestickt waren. Sie hatte das Kleid erst im vergangenen Monat zusammen mit Lucy, Hannah, Carol und ihrer Mum ausgesucht. Passend dazu hatte sie sich für eine weiße Stola und einen kurzen Schleier entschieden. Sie konnte es nicht abwarten, ihr Kleid endlich anzuziehen und mit einem Brautstrauß aus ihren Lieblingsblumen am Arm ihres Vaters durch das Kirchenschiff auf Daniel zuzuschreiten. Es gab vermutlich wenige Momente im Leben, die so bedeutungsvoll und emotionsgeladen waren wie der Gang zum Altar.
Januar, ein halbes Jahr später
Rosafarbene Rosen und weiße Callas hatte sich Emma für ihren Brautstrauß gewünscht. Sie hatte so darauf hingefiebert, in ihrem Brautkleid zum Altar zu schreiten, das Rosenbouquet fest in den Händen haltend, ihren Blick voller Liebe auf Daniel gerichtet. Sie beide waren füreinander bestimmt. Daniel war die Liebe ihres Lebens. Der Mann, mit dem sie alt werden wollte. Mit dem sie eine Familie gründen und noch mit weit über 80 Jahren im Gras liegen und in die Sterne schauen wollte. Noch nie in ihrem Leben war sie sich einer Sache so sicher gewesen. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie einen derartigen Schmerz verspürt.
Emma konzentrierte sich auf den Regentropfen, der an der Speiche ihres schwarzen Regenschirms hing und sich lange nicht lösen wollte. Wie durch Watte hörte sie die Stimme des Pfarrers, der in einem Meer aus rosafarbenen Rosen ein paar Meter vor ihr stand und von Daniel sprach.
Sie hatte so viele Monate davon geträumt, Daniel in der kleinen Kirche mit Panoramablick auf den Beauly Firth das Ja-Wort zu geben, inmitten von rosafarbenen Rosen und weißen Callas und umringt von ihren Freunden und ihren Familien. Sie wusste, dass Daniel ihr immer Halt und Kraft gegeben hätte – in jeder schwierigen Situation ihres Lebens. Doch ausgerechnet jetzt, da sie ihn am meisten brauchte, war er nicht da.
Emma schluchzte auf und spürte unmittelbar den festen Griff ihres Dads um ihre Schultern und die Hand ihrer Mum an ihrem Rücken. Daniel würde sie nie wieder umarmen. Er würde ihr nie wieder die Tränen wegküssen und ihr sagen, dass sie gemeinsam alles schaffen konnten. Emma und Daniel. Daniel und Emma.
Es war nicht fair, dass sie nun ohne ihn weitermachen musste. Warum nur? Warum?
Emma schaute zu den regenschweren Wolken, die sich über ihnen gesammelt hatten. Es gab Zeiten, in denen sie Regen geliebt hatte. Dann, wenn sie und Daniel es sich zusammen unter Decken gemütlich gemacht hatten. Wenn sie sich beim Prasseln der Regentropfen auf das Dachfenster geliebt hatten. Daniel hatte ihr stets das Gefühl gegeben, vollkommen zu sein, die glücklichste Frau der Welt zu sein. Sie wusste nicht, warum sie ohne ihn weitermachen sollte. Er war ihre Zukunft gewesen. Aber jetzt waren die gemeinsam gelebte Vergangenheit und die Zukunftsträume, die sie geteilt hatten, so schmerzhaft, dass Emma sich darauf konzentrieren musste, überhaupt zu atmen.
«Irgendwann werde ich nicht mehr da sein», hatte Daniel vor ein paar Wochen zu ihr gesagt, als sie abends aneinandergekuschelt auf ihrem Sofa gesessen hatten.
«Das will ich gar nicht hören», hatte Emma erwidert.
«Doch, Emma, du musst. Weil es unausweichlich ist.»
«Ich will aber nicht.» Sie hatte geschluchzt, woraufhin Daniel ihr wie so häufig seit der Diagnose das tränennasse Gesicht geküsst und sie fest in den Arm genommen hatte. Nur hatte er dieses Mal nicht gesagt, dass alles wieder gut werden und er für immer an ihrer Seite sein würde. Nein, Daniel war austherapiert – so hatten es die Ärzte genannt. Es gab keine Chance mehr für ihn. Keine Chance mehr für sie als Paar. Nicht in diesem Leben.
Emma ließ ihren leeren Blick über die Menge schweifen, die sich am Grab versammelt hatte. All die Freunde und Familienmitglieder waren da, die im Sommer zusammen mit ihnen ihre Traumhochzeit hätten feiern sollen. Einige mit Tränen in den Augen, andere mit versteinerten, leeren Gesichtsausdrücken. Und wieder andere, die voller Mitleid zu ihr schauten. Ja, es war nicht nur Daniel gestorben, auch ein Teil von Emma war für immer fort.
Sie versuchte, sich an den Klang von Daniels Stimme zu erinnern, und bekam sofort Panik bei dem Gedanken, seine Stimme nie wieder zu hören. Sie wollte ihn nicht loslassen. Sie wollte ihn umarmen, ihn küssen, sich an ihn schmiegen. Ihre Nase in die Kuhle zwischen seinem Hals und seinem Schlüsselbein drücken und seinen Duft einatmen. Sie wollte, dass seine Bartstoppeln sie beim Küssen kitzelten. Wie oft hatte sie sich darüber beschwert – und wie glücklich wäre sie jetzt, wenn ihr wenigstens das geblieben wäre. Was war schon die vergessene Schmutzwäsche im Bad oder das benutzte Glas auf dem Esszimmertisch? Chaos bedeutete Leben.
Doch nun lag er in einem schlichten Holzsarg unter einem Trauerbouquet aus Rosen und Callas.
«Ich liebe Dich für immer, Deine Emma» hatte sie auf die Schleife sticken lassen. Ich liebe Dich für immer.
Es waren Daniels letzte Worte an sie gewesen. Er hatte ihr versprochen, für immer bei ihr zu sein. Aber gab es wirklich ein Leben nach dem Tod? War er jetzt bei ihr? Schaute er aus dem Himmel auf sie herab? Emma hoffte auf ein Zeichen, aber stattdessen öffnete der Himmel seine Schleusen, und der Regen schwemmte ihre Hoffnungen davon.
Ihr war so schrecklich kalt, dass sie zitterte. Sie wollte sich aus der Umarmung ihres Dads lösen, hatte aber keine Kraft dazu. Wenn ihre Eltern und Lucy ihr heute Morgen nicht geholfen hätten, wäre sie nicht einmal aus dem Bett gekommen.
«Emma, du musst aufstehen.» Ihre Mum hatte an ihrem Bett gesessen und ihr sanft eine von Tränen nasse Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen. «Schatz, du musst aufstehen. Wir müssen gleich los.»
Wie in Trance hatte sich Emma aufgesetzt und an dem Tee genippt, den ihre Mum mitgebracht hatte. Dabei hatte sie fassungslos auf die leere Bettseite neben sich geschaut, wo Daniels Lockenkopf auf dem Kissen hätte liegen müssen. Wie oft hatte sie sich am Morgen noch für einen Augenblick an seinen warmen Körper geschmiegt? Und wie oft waren sie dann beide viel zu spät aus dem Haus gehastet, weil sie nie genug davon bekamen, einander nah zu sein? Aber irgendwann in den letzten Wochen war Daniel gar nicht mehr aus dem Haus gegangen. Er war immer schwächer geworden.
Es hatte Emma an diesem Morgen unendlich viel Kraft gekostet, sich anzuziehen. Lucy hatte ihr eine schwarze Hose und eine dazu passende Seidenbluse rausgelegt. Und nun stand sie statt in Weiß und hübsch geschminkt mit verweintem Gesicht und dunklen Augenringen vor dem Pfarrer, der sie im Sommer hätte trauen sollen. Und zwar vor all ihren Freunden und Verwandten, die diesen besonderen Moment mit ihnen feiern wollten.
Immer wenn sie im Kreis ihrer Liebsten zusammen gewesen waren, war es für Emma und Daniel ein Fest gewesen. Emma konnte sich an so viele glückliche Momente erinnern, an Familientreffen zu Weihnachten und Ostern, Geburtstagsfeiern und Sommerfeste und viele Ausflüge. Sie dachte an das Grillfest bei Lucy, bei dem sie bis zur Morgendämmerung Stockbrot gebacken hatten. An die Wanderung in den Schottischen Highlands, bei der Daniel steif und fest behauptet hatte, er hätte Nessie gesehen. Und an so viele weitere schöne Erlebnisse, bei denen Daniel am Ende fast immer ein Gruppenfoto von allen gemacht hatte. Von verschwitzten und glücklichen Gesichtern, die lächelnd und erschöpft in die Kamera blickten.
Emma wurde noch schwerer ums Herz, als sie daran dachte, dass er nie wieder dabei wäre, wenn sie Ausflüge machten oder Feste feierten. Obgleich der Platz in ihrem Herzen für immer Daniel gehören würde. Er war so präsent, dass sie kaum Luft bekam.
Sie schaute in die teils verweinten, teils versteinerten Gesichter der Anwesenden. Daniels Mum schluchzte laut, sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, und wurde von ihrem Mann gestützt. Daniels Dad starrte auf den schnörkellosen Sarg, in dem sein Sohn lag.
Lucy hingegen fixierte ihre Schuhspitzen. Sie zeigte keinerlei Gefühlsregung, bewegte sich nicht. Nur ab und an warf sie einen verstohlenen Blick zu Emma hinüber, die direkt vor der Grube stand, die für Daniel ausgehoben worden war. An den Seiten war die Grabstelle abgedeckt mit künstlichem Rasen und gefestigt durch Planken, die das vorzeitige Abrutschen des seitlichen Erdreichs verhindern sollten.
Daniels Trauzeuge Steve, sein guter Freund Simon, zwei seiner Onkel, Hannahs Mann und ein Kommilitone aus Studienzeiten standen mit Seilen in den behandschuhten Händen an den Planken. Jederzeit bereit, Daniel sanft in die Erde hinabzulassen.
Steve wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, schaute fassungslos auf den Sarg und das darauf liegende Blumenbouquet. Der Regen prasselte erbarmungslos. Die zuvor noch strahlend schönen Rosen waren bereits lädiert, einzelne Blätter lagen verstreut auf dem Holzdeckel.
AusgerechnetRosenblätter! Eigentlich hätten die Blumenmädchen sie in der Kirche verstreuen sollen. Emily und Summer, die Kinder ihrer Cousine Leanne, hätten sicher ganz entzückend in ihren weißen Kleidchen ausgesehen. Wie Leanne ihnen wohl erklärt hatte, dass die Hochzeit nicht stattfinden würde? Lebten alle wie zuvor weiter? So, als ob nichts geschehen war? Würden sie nach der Beerdigung ihre schwarzen Klamotten abstreifen – und alles wäre gut?
Emma schaute in den wolkenverhangenen Himmel, der erdrückend wirkte. Sie konzentrierte sich auf die Geräusche um sie herum, hörte das monotone Platschen des Regens auf ihrem Schirm, das Schnäuzen in Taschentücher, das Hüsteln und immer wieder das Weinen und Schluchzen der anderen.
Verdammt, das hier war nicht richtig! Sie alle hätten sich im Sommer zur Hochzeit sehen sollen. Nicht hier, nicht in einem solchen Rahmen – und schon gar nicht mit Daniel als einzigem Protagonisten.
Wenn sie wenigstens beide gestorben wären, dachte Emma. Doch so schlecht und verzweifelt sie sich auch fühlte, so schlecht sie auch atmen konnte: Ihr Körper lebte weiter. Ließ sie jeden Morgen aufwachen, um sie dann nur Sekunden später schmerzhaft daran zu erinnern, dass ein Teil von ihr für immer fehlte.
Da drangen die Worte des Pfarrers an ihr Ohr. «Wir alle wissen, wie gerne Daniel gelebt hat und wie sehr er bis zum Schluss am Leben festgehalten hat.»
Emma hatte Pfarrer Francis bereits als Kind gekannt. Er hatte sie getauft und sie bei ihrem Schulabschluss gesegnet. Mit ihm hatten sie und Daniel das Traugespräch geführt, denn er sollte die Zeremonie durchführen. Jetzt war Emma froh, dass er Daniel kennengelernt hatte und nicht über einen Fremden redete. Eigentlich hätte Emma eine Rede halten sollen, aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Es fiel ihr schwer zu sprechen, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Wie oft lag sie weinend wach und rief nach ihm? «Daniel, bitte komm zurück zu mir!» Oder auch: «Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann mach, dass ich aus diesem Albtraum erwache!» Aber nichts passierte. Von Schluchzern geschüttelt drückte sie stets Daniels Kissen an sich und fiel irgendwann in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Doch die Realität, die sie jetzt durchlebte, war schlimmer als jeder Albtraum.
Als der Pfarrer Daniels Sarg mit Weihwasser segnete und Steve und die anderen Sargträger ihn in die Erde hinabließen, begann Emma zu schreien. Sie schrie so verzweifelt wie noch nie in ihrem Leben: «Daniel! Daniel!» Und immer wieder: «Daniel!»
Niemand tat etwas. Alle schauten sie nur mitleidig an, stimmten in ihr Weinen mit ein oder warfen ihr verstohlene Blicke zu.
Ihr Dad umfasste ihre Schultern noch fester, ihre Mum streichelte ihr weiter beruhigend über den Rücken. Aber auch sie konnten Emma nicht helfen. Sie konnten nicht verhindern, dass schon bald die erste Schaufel Erde mit einem lauten Platschen auf Daniels Sarg geworfen wurde. Emma und Daniel gab es nicht mehr. Emma war jetzt für immer allein.
In den ersten Tagen nach der Beerdigung fühlte sich Emma wie in Watte gehüllt. Sie war vollkommen übermüdet und erschöpft. Sie fand keine Ruhe, konnte mit dem Verlust Daniels keinen Frieden schließen und brach immer wieder in Tränen aus. Und wenn sie doch einmal für ein paar Stunden schlief, war das Erwachen so schrecklich, dass sie sich wünschte, nie wieder einzuschlafen. Nur ein paar Sekunden lang schien die Welt normal. Doch spätestens, wenn sie sich im Bett zur Seite drehte und auf Daniels unberührtes Kissen blickte, kam alles mit voller Wucht zurück und nahm ihr für einen Moment die Luft zum Atmen. Emma bekam dann jedes Mal Panik, hatte das Gefühl zu ersticken und war überzeugt davon, dass ihre Lungen tatsächlich versagten. Denn ihre Brust schmerzte ganz so, als ob jemand mit aller Kraft zudrücken würde und verhindern wollte, dass sie weiterlebte.
An diesem Morgen blieb ihr Blick an einem Bild hängen, das in einem einfachen Holzrahmen auf der Kommode stand. Das Foto zeigte sie und Daniel bei einem Ausflug nach Edinburgh. Das war gerade einmal ein Jahr her. Sie waren durch die Pubs gezogen und dann halb beschwipst zum Edinburgh Castle gelaufen. Dort, unterhalb der Burg, war das Foto entstanden, bei dem sie beide angeheitert in die Kamera grinsten. Ob Daniel da schon krank gewesen war? Womöglich hätten die Ärzte ihn da noch retten können? Aber als er erste Symptome verspürte, war die Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass er keine Chance mehr gehabt hatte.
«Unheilbar.»
Emma verstand das Ausmaß dieser Diagnose erst jetzt, da Daniel für immer fort war.
«Möchtest du zu seinem Grab gehen?», hatte ihre Mum sie in den Tagen nach der Beerdigung schon mehrfach gefragt. Doch Emma konnte nicht. Sie fühlte sich nicht gewappnet für das Leben da draußen, jenseits der Tür. Sie wollte weder mit jemandem sprechen, noch wollte sie sehen, wie die Blumen auf Daniels Grab verwelkten. Jeder Tag, der verging, war ein Tag mehr, der sie von Daniel trennte.
Jetzt waren es schon elf Tage. Die schlimmsten elf Tage ihres Lebens. Das hätte Emma vor ihrer Familie und ihren Freunden jedoch nicht zugegeben. Sie bemühte sich, auf Mails und Nachrichten zu reagieren, alle zu beruhigen und so zu tun, als ob sie die Sache im Griff hätte. Sie bestand lediglich darauf, allein im Haus zu bleiben. Hier fühlte sie sich sicher.
Die Wahrheit aber war, dass sie niemanden in ihr Häuschen lassen wollte. Emma ertrug den Gedanken nicht, dass sich jemand in Daniels Sessel setzte oder aus dem Glas trank, aus dem er zuletzt getrunken hatte.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Emma stutzte, dann rappelte sie sich mühsam hoch und schlich zur Videosprechanlage.
Hannah stand vor der Tür, in der Hand einen Gugelhupf, den sicher ihre Mum gebacken hatte. Sie blickte besorgt in die Kamera.
«Hallo?», fragte Emma. Sie bemühte sich, mit entspannter Tonlage zu antworten. Nur so konnte sie sichergehen, dass Hannah, ihre Eltern und alle anderen sie noch länger in Ruhe ließen.
«Emma, ich bin es. Lässt du mich heute rein?»
«Äh … Hier sieht es ganz chaotisch aus. Ich … ich bin in letzter Zeit nicht zum Aufräumen gekommen.»
«Wenn du magst, dann helfe ich dir!» Nahezu flehentlich blickte Hannah, die ihre langen Haare heute offen trug, mit ihren großen blauen Augen in die Kamera.
«Oh, das ist nicht nötig, das schaffe ich schon allein.»
Allein – nie zuvor hatte Emma darüber nachgedacht, wie schlimm es sich anfühlte, wirklich allein zu sein.
Hannah zog die Augenbrauen hoch, und Emma ahnte, dass die große Schwester ihr nicht abnahm, dass sie zurechtkam. Aber Hannah spielte das Spiel mit.
«Na gut, aber versprich mir, wenigstens etwas zu essen. Ich stelle dir einen Gugelhupf hierhin, ja? Holst du ihn bitte rein?»
«Okay», antwortete Emma, obwohl sie nach wie vor keinen Hunger verspürte. Auch nicht auf ihren Lieblingskuchen.
Hannah wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. «Emma, brauchst du noch was?», fragte sie.
Ja, Daniel, dachte Emma. Ich brauche Daniel. Aber das wird niemand von euch verstehen.
«Nein, ich habe alles. Alles okay. Mach dir keine Sorgen, ich komme zurecht.»
Emma wartete und atmete dann erleichtert aus, als Hannah zögernd die Stufen hinunterging und aus dem Aufnahmebereich der Videokamera verschwand.
Langsam ließ sie sich an der Wand hinunterrutschen. Für heute hatte sie es geschafft. Sie wollte nicht, dass ihr jemand beim Aufräumen half oder sie unter die Dusche zwang. Sie wollte ihr Zuhause nicht verlassen, denn hier hatte sie das Gefühl, die Zeit mit Daniel noch etwas länger festhalten zu können. Bei halb geschlossenen Rollläden, eingemummelt in seinen Schlafanzug und mit seinem Kissen fest vor der Brust. Dabei roch es kaum noch nach ihm.
Emma war noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Und als sie zurück nach oben gehen wollte, fiel ihr Blick auf ein Foto, das Lucy von ihnen auf der Isle of Skye gemacht hatte. Daniel hatte auf dem Bild seine Arme um sie geschlungen. Und für einen klitzekleinen Moment glaubte Emma, seine tröstende Umarmung auch jetzt zu spüren.
Oktober, vier Monate zuvor
Die Freunde waren eng zusammengerückt: Lucy und Simon, Carol und Steve, Emma und Daniel. In ihren bunten Windjacken boten sie einen farbenfrohen Kontrast zu der in graue Wolken getunkten schroffen Felsenlandschaft. Daniel hatte seinen linken Arm fest um Emma gelegt und schmiegte sich an sie. In der rechten Hand hielt er seine Kamera und versuchte damit, die Freunde ebenso einzufangen wie die dramatisch-schöne Landschaft hinter ihnen.
Die Gesichter, gerötet von der Anstrengung der Wanderung, wirkten erschöpft, aber alle schauten glücklich in die Kamera.
Mit aller Macht kämpften die letzten Sonnenstrahlen gegen das aufkommende Unwetter an. Sie bohrten sich durch die Wolken und setzten Lichtpunkte auf Felsen und Grasflächen, deren Halme sich im Wind wie Skispringer zu neigen schienen.
Emmas offenes Haar wehte wild umher, legte sich ihr immer wieder vor die Augen. Mit der linken Hand versuchte sie, es zu bändigen und sich die Strähnen aus dem Gesicht zu halten. Sie lächelte zu Lucy hinüber, die sich ebenso wie Carol in weiser Voraussicht einen Zopf gebunden hatte.
«Nun mach schon», lachte Carol. «Mir wird langsam echt kalt, und ich würde gerne noch vor dem nächsten Regenguss wieder im Warmen sein.»
«Dann schaut doch einfach mal alle nett», antwortete Daniel und setzte genau das Lächeln auf, das Emma schon bei ihrem ersten Treffen umgehauen hatte.
«Los, näher zusammen!», rief sie.
«Steve, zieh nicht so eine Grimasse», stöhnte Daniel. «Wir wollen doch wenigstens ein Foto haben, auf dem wir alle gut aussehen!»
Dann riefen sie im Chor: «Cheeeese!»
Als Daniel sich die Aufnahme anschließend ansah und zufrieden nickte, schaute Emma ihm über die Schulter. Tatsächlich lachten sie alle in die Kamera. Es war ein Bild voll praller Lebensfreude. Und die bunten Windjacken, aufgebläht vom Wind, sorgten für genau die intensiven Farbtupfer, die jede Gewitterwolke verblassen ließen.
Seit Wochen hatte Daniel versucht, sie zu einem Ausflug auf die Isle of Skye zu überreden. Er hatte nicht zu viel versprochen, die knapp dreistündige Anreise mit dem Auto hatte sich gelohnt. Der sensationelle Ausblick auf die wilden, geologischen Formationen des Quiraing verschlug ihr den Atem. Sie trat ein paar Schritte vor, kaum dass Daniel eine weitere Serie an Fotos geschossen hatte.
«Kommt, lasst uns noch ein paar Meter höher steigen», sagte Steve, der die Gegend sehr gut kannte, und trieb die anderen an. «Dort, von der höchsten Stelle des Steilhangs, haben wir einen noch besseren Blick auf die Bucht von Staffin und die Berge von Torridon.»
Lucy seufzte, folgte Steve dann aber ebenso wie die anderen.
Der Wind pfiff immer stärker, und sie mussten sich gegen ihn anlehnen und viel Kraft aufbringen, um die letzten Meter zu bewältigen. Daniel reichte Emma die Hand und zog sie hinter sich her. Schritt für Schritt, bis sie schließlich an der Stelle standen, die den spektakulärsten Ausblick überhaupt bot.
«Wow!», hauchte Emma und bemerkte gar nicht, dass Daniel nur Augen für sie hatte. Er schaute sie mit so viel Liebe und Funkeln im Blick an, dass kein Gewitter der Welt dieses spezielle Leuchten in seinem Gesicht hätte vertreiben können.
«Daniel, das ist so wunderschön hier!», rief Emma. «Danke, dass du mich hierhergebracht hast.» Er war schon immer derjenige in ihrer Beziehung gewesen, der sie zu Unternehmungen antrieb und für so viele schöne Momente in ihrem Leben gesorgt hatte. Manchmal konnte sie ihr Glück noch immer nicht fassen – und in ein paar Monaten wäre genau dieser unglaubliche Mann ihr Ehemann.
Sie steckten bereits mitten in den Planungen für die Hochzeitsreise, hatten sich für ein kleines, romantisches Cottage in Cornwall entschieden. Denn dorthin, nach St. Ives, hatten sie ihre erste gemeinsame Reise gemacht. Und dort, am langen Sandstrand, hatte Daniel ihr erstmals seine Liebe gestanden, und Emma fand nichts romantischer, als genau dorthin zurückzukehren. Dieses Mal mit Ring am Finger und der Gewissheit, dass sie nicht nur ein schönes Wochenende mit einem besonderen Mann verbringen würde, sondern er das ganze Leben lang an ihrer Seite wäre.
Lucy, Simon, Steve und Carol waren vorausgegangen, hatten sich mit ein paar schnellen Handyfotos begnügt und befanden sich bereits auf dem Rückweg zum Parkplatz. Emma aber wollte diesen Moment noch etwas genießen, in der Umarmung von Daniel, der von hinten seine starken Arme um ihre Taille geschlungen hatte. Sie lehnte sich an, schloss die Augen und genoss das Rütteln und Pusten des Windes an ihren Haaren und ihrer Jacke.
Spielerisch biss Daniel ihr ins Ohrläppchen und brachte sie dazu, ihre Augen wieder aufzureißen und ebenso spielerisch nach ihm zu schlagen.
«Jetzt lass mir doch diesen einen Moment», lachte sie. «Diesen Aufstieg hier mache ich so schnell nicht noch einmal. Ich bin immer noch außer Puste.» Nahezu empört schaute sie auf ein frei laufendes Schaf, das blökend eine Ebene unter ihnen mit scheinbarer Leichtigkeit am Hang entlanglief.
Sie war sicher, dass Daniel sie halten würde, und lehnte sich etwas vor, breitete dann ihre Arme aus und ließ zu, dass der Wind so heftig nach ihr griff, dass sie das Gefühl hatte, abheben zu können.
«Ich fliege!», schrie sie. «Ich fliege.»
Emma wurde übermütig, lehnte sich noch weiter vor, hörte das Zerren des Windes an ihrer Jacke und spürt nach wie vor die feste Umarmung ihrer großen Liebe. «Ich bin die Königin der Welt!», brüllte sie gegen den Wind an.
«Meine Königin bist du!», rief Daniel, wirbelte sie zu sich herum und riss sie an sich. Innig küsste er sie, ignorierte das Gejohle der Freunde, die sie aus der Ferne beobachteten.
Er lachte. Und wie immer, wenn er lachte, hatte Emma das Gefühl, dass seine Sommersprossen über sein Gesicht tanzten. Sie legte ihre Arme um seine Taille, und er tat es ihr gleich. Ihr Herz zerplatzte beinahe vor Glück.
Emma winkte den anderen zu, küsste Daniel noch einmal und seufzte, weil der Tag viel zu schnell vorbei war. Sie hatte noch auf ein kleines Picknick mit dieser grandiosen Aussicht gehofft, doch die Regenwolken wurden träge und schickten sich an, hier ihre nasse Fracht gen Erde zu werfen.
Daniel griff nach Emmas Hand, streichelte mit seinem Daumen über ihren Handrücken. Er küsste sie auf die Wange.
«Emma, ich bin zwar nicht der Old Man of Storr, aber ich möchte mit dir alt werden. Du und ich für immer!», sagte er und wirkte dabei nahezu melancholisch.
«Wenn du irgendwann ein alter Mann bist, dann suche ich mir einen jungen», neckte Emma ihn und war erstaunt, dass er ihr Lachen nicht erwiderte. Doch der Wind trug ihre Irritation ebenso schnell fort wie den traurigen Gesichtsausdruck, den sie bei Daniel hatte aufblitzen sehen.
Lucy rief ihnen etwas entgegen, das Emma nicht verstand, und deutete auf den wolkenverhangenen Himmel über ihnen. Emma drückte Daniels Hand, und gemeinsam beeilten sie sich, zu ihren Freunden aufzuschließen.
In dem Moment, als die ersten Regentropfen auf sie herunterfielen, hatten sie die anderen eingeholt und bereits einen Großteil des Rückwegs zurückgelegt. Emma war es egal, dass sie bis auf die Knochen durchweichte. Sie würde sich nachher mit Daniel unter die warme Dusche in ihrem kleinen Hotelzimmer stellen. Seit sie ihn kannte, konnte sie auch den ärgerlichsten Momenten etwas abgewinnen – vielmehr freute sie sich sogar schon darauf, ihm schon bald seine nassen Klamotten abstreifen zu können und seine warmen Hände auf ihrer kalten Haut zu spüren.
Auf den letzten Metern zum Auto blieb Daniel plötzlich abrupt stehen und schnappte nach Luft. Er ließ Emma jedoch nicht genügend Zeit, um sich zu sorgen. Denn noch bevor sie ihn fragen konnte, ob alles in Ordnung sei, beugte er sich hinunter und pflückte einen der wilden Herbstkrokusse, die den Wegesrand säumten. Er drehte die violette Blume in seiner Hand, verneigte sich etwas ungelenk, aber mit einem spitzbübischen Lächeln, und reichte sie an Emma.
«Eine Blume für meine Blume», sagte er. «Die erste von ganz vielen.» Er gab Emma einen Kuss auf ihr Haar und zog sie erneut an sich. Und obwohl bereits dicke Tropfen auf sie herabfielen, blieben sie einen Moment so stehen. Mit Blick auf den wilden Atlantik, dessen Wellen bedrohlich gegen die Küstenklippen rauschten.
Emma lächelte matt, als der Bote ihr einen großen Strauß Blumen in die Hand drückte. Sie fragte sich, wer ihrer Freunde oder wer aus ihrer Familie sie dieses Mal aufmuntern wollte. Hannah vielleicht? Oder Lucy? Vielleicht auch ihre Mum, die ihr seit Daniels Tod so häufig wie noch nie sagte, dass sie von allen geliebt wurde.
Als Emma den Empfang quittierte, sagte der Mann: «Das ist einer der größten Sträuße, die ich heute ausliefere. Da hat Sie jemand ziemlich gerne.»
«Danke», sagte Emma leise und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Es war ihr erster Valentinstag ohne Daniel.
Vermutlich erwartete der Bote jetzt, dass sie sich überschwänglich freute, aber es war ihr egal, was andere über sie dachten. Früher wäre sie so ungeschminkt nie vor die Tür getreten, sie hätte wenigstens noch kurz Lippenstift aufgetragen. Den Lippenstift, den Daniel so liebte und den sie bisweilen besonders dick auftrug, um sein Gesicht dann über und über mit Küssen zu benetzen. «Damit jede Frau sieht, dass du vergeben bist», hatte sie dann lachend gesagt. Dabei hatte Emma an seiner Treue nie Zweifel gehabt. Für sie beide war die Suche beendet. Tatsächlich hatte Emma schon an dem Tag, an dem sie Daniel das erste Mal gegenüberstand, gewusst: Dieser Mann war für sie bestimmt. Diesen Mann würde sie eines Tages heiraten. Und sie hatte fest daran geglaubt, dass er für immer an ihrer Seite war – so lange, bis das Schicksal ihnen einen brutalen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
«Tja, ich muss dann auch wieder los», sagte der Bote. «Schönen Valentinstag noch.»
«Danke, Ihnen auch», antwortete Emma pflichtbewusst und trat zurück in den Flur.
«Ach, eine Karte steckt auch noch im Strauß!», rief der Bote, bevor er wieder in seinen hellblauen und mit übergroßen Blumenstickern beklebten Lieferwagen stieg.
Erst nachdem sie eine große Vase aus der Vintage-Vitrine im Wohnzimmer geholt hatte, löste Emma das braune Papier, in das der Strauß eingeschlagen war. Zum Vorschein kamen ihre Lieblingsblumen, Rosen und Callas. Emma hatte ein kleines Kärtchen mit einem «Wir denken an Dich» erwartet, aber zwischen den Blumen steckte ein Briefumschlag, auf dem groß und mit ungelenken Buchstaben ihr Name stand.
Emma stockte der Atem, und sie zitterte, als sie Daniels vertraute Handschrift sah. Er hatte gewusst, dass er den Valentinstag nicht mehr erleben würde – und offensichtlich vorgesorgt.
Eine dicke Träne lief Emma die Wange hinunter und tropfte auf die Blüte einer weißen Calla. Mit immer noch zitternden Fingern öffnete sie den schlichten Umschlag und zog einen Brief hervor, den Daniel heimlich geschrieben haben musste.
Emma, mein Liebling,
ich wollte nicht, dass Du rosafarbene Rosen und weiße Callas für immer mit meiner Beerdigung verbindest. Gib es zu, Du hast mich vermutlich in ein Meer aus Rosen und Callas getaucht …
Die Buchstaben verschwammen vor Emmas Augen, und sie musste sich mehrfach die Tränen wegwischen, bevor sie weiterlesen konnte. Daniel war nicht einfach so gegangen. Nein, er hatte auch an die Zeit danach gedacht – an die Zeit ohne ihn.
Ich ahne, wie traurig Du bist. Ich bin es auch. Wir hätten noch viele gemeinsame Jahre haben müssen, und ich hätte Dir diesen Strauß am heutigen Valentinstag so gerne persönlich überreicht. Um Dein Lächeln zu sehen und Deine Nase zu beobachten, die Du immer so tief zum Schnuppern in die Rosen tauchst, dass ich mir Sorgen mache, dass Du Dich an den Dornen pikst.
Der Bote hat Dich direkt zu Hause angetroffen, oder? Emma, das passt nicht zu Dir! Du darfst Dich nicht verkriechen. Die Natur, die Du so liebst, ist nicht weniger schön, weil ich nicht mehr da bin. Du warst doch immer so gerne unterwegs und mit unseren Freunden zusammen. Die sind Dir geblieben, und ich weiß, dass Dich keiner von ihnen im Stich lassen wird. (Vorsichtshalber habe ich auch noch einmal mit einigen von ihnen gesprochen.)
Lass es zu, dass sie Dir helfen!
Ja, ich habe Dir immer gesagt, dass Du auch schön bist, wenn Du weinst, aber noch lieber habe ich Dich lächeln sehen. Lass es nicht zu, dass mein Tod Dir Dein wunderschönes Lächeln raubt! Geh unter Leute, hab Spaß, und sei offen für Neues. Es ist okay, Emma. Es ist okay, wenn Du lachst und neue Erinnerungen sammelst. Du weißt, wie gerne ich Teil davon gewesen wäre. Vielleicht bin ich es auch noch. Vielleicht bin ich Dir viel näher, als Du denkst. Meine Liebe zu Dir wird jedenfalls immer bleiben. Zweifle nie daran!
Auch unsere gemeinsame Zeit kann uns niemand nehmen, aber bitte, versuche, wieder glücklich zu werden! Es war immer mein größter Wunsch, Dich glücklich zu machen. Und glaube mir: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Dir dabei zu helfen. Fühl Dich gedrückt und geküsst, mein Schatz! Ich liebe Dich für immer!
Dein Daniel
PS: Geh heute Abend bitte zu Deinen Eltern. Ich habe Pizza bestellt. Für Dich mit extra Zwiebeln.
Emma ließ den Brief sinken und weinte nun hemmungslos. Es kamen mehr Tränen als je zuvor in den vergangenen Tagen. Sie musste Daniel nicht krampfhaft festhalten. Er war immer noch bei ihr! Fast war es, als ob er sie tatsächlich kurz in den Arm genommen hätte. Wenn sie die Augen schloss, dann glaubte sie sogar, seine Anwesenheit zu spüren.
Als sie sich etwas beruhigt hatte, schnupperte sie an den Rosen. Der Duft war so intensiv, dass sie das erste Mal das Gefühl hatte, den Geruch nach Desinfektionsmitteln, der im Krankenhaus ihr täglicher Begleiter gewesen war, irgendwann wieder vergessen zu können.