Für immer Rabbit Hayes - Anna McPartlin - E-Book

Für immer Rabbit Hayes E-Book

Anna McPartlin

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Beschreibung

Ein lebensbejahendes Familiendrama von der Autorin des Bestsellers «Die letzten Tage von Rabbit Hayes»: Die 41jährige Mia Hayes, genannt «Rabbit», stirbt an Krebs. Sie hinterlässt eine große Lücke im Leben ihrer Eltern, ihrer Geschwister, ihrer besten Freundin - und vor allem der 12jährigen Tochter Juliet. Rabbits Mutter verliert ihren unerschütterlichen Glauben und fast auch die Liebe zu ihrem Mann. David, Rabbits Bruder, muss mit der auferlegten Vaterrolle zurechtkommen, denn Juliet lebt jetzt bei ihm. Grace, Rabbits Schwester, findet heraus, dass auch in ihr die Gefahr schlummert, zu erkranken - das lässt sie zu drastischen Maßnahmen greifen. Und Juliet könnte ihre Mutter mehr gebrauchen denn je: Sie hat sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt. Rührend, witzig, schlagfertig und liebevoll - die Familie Hayes muss man einfach lieben.

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Anna McPartlin

Für immer Rabbit Hayes

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld und Katharina Naumann

Über dieses Buch

Ein lebensbejahendes Familiendrama von der Autorin des Bestsellers «Die letzten Tage von Rabbit Hayes»: Die 41-jährige Mia Hayes, genannt «Rabbit», stirbt an Krebs. Sie hinterlässt eine große Lücke im Leben ihrer Eltern, ihrer Geschwister, ihrer besten Freundin – und vor allem der 12-jährigen Tochter Juliet. Rabbits Mutter verliert ihren unerschütterlichen Glauben und fast auch die Liebe zu ihrem Mann. David, Rabbits Bruder, muss mit der auferlegten Vaterrolle zurechtkommen, denn Juliet lebt jetzt bei ihm. Grace, Rabbits Schwester, findet heraus, dass auch in ihr die Gefahr schlummert, zu erkranken – das lässt sie zu drastischen Maßnahmen greifen. Und Juliet könnte ihre Mutter mehr gebrauchen denn je: Sie hat sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt. Rührend, witzig, schlagfertig und liebevoll – die Familie Hayes muss man einfach lieben.

Vita

Anna McPartlin wurde 1972 in Dublin geboren und verbrachte dort ihre frühe Kindheit. Wegen einer Krankheit in ihrer engsten Familie zog sie als Teenager nach Kerry, wo Onkel und Tante sie als Pflegekind aufnahmen. Nach der Schule studierte Anna ziemlich unwillig Marketing. Nebenbei stand sie auch als Comedienne auf der Bühne, doch ihre wahre Liebe galt dem Schreiben, das sie bald zum Beruf machte. Bei der künstlerischen Arbeit lernte sie ihren späteren Ehemann Donal kennen. Mit ihm lebt sie heute in Dublin. Bereits ihr Debüt «Weil du bei mir bist» war international ein Bestseller. Mit dem Roman «Die letzten Tage von Rabbit Hayes», in dem Anna McPartlin viel von ihrer eigenen Vergangenheit verarbeitet hat, rührte und begeisterte sie unzählige Leserinnen und Leser und landete einen Riesenerfolg.

Prolog

Draußen sangen die Vögel. Drinnen, in dem kleinen, überfüllten, leicht stickigen Hospizzimmer hielt Molly Hayes die Hand ihrer Tochter. Licht fiel durch das gegenüberliegende Fenster und schmerzte in ihren müden Augen. Trotz der überwältigenden Erschöpfung blieb sie wach und betrachtete mit weit geöffneten Augen ihr einst so wunderschönes Kind, das jetzt ein bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsenes, jämmerliches Wesen war und um jeden Atemzug rang. Um sie herum verteilt lag und saß der Rest von Mollys Familie. Ihr Mann Jack saß ganz aufrecht auf einem Stuhl, das Kinn auf die Brust gelegt und mit gefalteten Händen. Hin und wieder ruckte sein Kopf hoch, wie bei einem völlig erschöpften Mann, der im Zug schläft. Seine langen, rollenden Schnarcher bildeten den Soundtrack für Rabbits Abgang. Mollys Sohn Davey saß gegen die Wand gelehnt am Boden, seine Schwester Grace nutzte seine Schulter als hartes Kissen. Ihr Atem ging im Gegensatz zu dem ihrer sterbenden Schwester langsam und regelmäßig.

Rabbits beste Freundin Marjorie lag auf dem Boden. Sie hatte die Jacke zusammengerollt und sie sich unter den Kopf gelegt, um nicht auf dem kalten Fliesenboden liegen zu müssen. Sie machte kaum ein Geräusch, eigentlich gar keins.

Äußerlich wirkte Molly ganz ruhig. Sie wusste, dass der Tod kurz bevorstand. Ihr war vollkommen klar, dass Rabbit jetzt jede Sekunde gehen konnte und niemals zurückkommen würde. Ich hab dich lieb, Rabbit. Ich hab dich so lieb. Hörst du, Rabbit? Deine Mammy hat dich lieb.

Dann, wie aus dem Nichts, fand Rabbit noch einmal Kraft. Sie packte die Hand ihrer Mutter, und Molly hätte sich vor Schreck fast in die Hose gemacht.

Molly sprang auf. «So ein verdammter Scheißdreck», murmelte sie, legte sich die Hand aufs Herz und überlegte kurz, ob ihre Jüngste sie wohl mit sich nehmen wollte. Als sich ihr Herzschlag wieder halbwegs beruhigt hatte, stützte sie sich aufs Bett und beugte sich über ihre sterbende Tochter. «Rabbit?», flüsterte sie. «Bist du noch bei mir, Schätzchen?»

«Ich muss den Wagen kriegen, Ma», antwortete Rabbit. Molly spürte, wie ihr Herz in tausend Stücke barst. Das war’s.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Nase schwoll zu, in den Ohren brummte es, die Kehle brannte. «Gute Reise, Rabbit», sagte sie. Einen Moment später löste sich der Griff ihres Kindes, und sie war fort.

Molly saß ganz still da, sie weinte nicht oder schrie, sie weckte nicht einmal ihre Familie. Sie drückte nicht auf den Knopf, um die Krankenschwestern zu holen, ging nicht in den Flur, um es dem Ersten zu sagen, der vorbeikam. Stattdessen saß sie ganz still da. Draußen auf dem Fensterbrett zwitscherte ein Vogel. Drinnen, direkt unter diesem Fenster, summte die Heizung. Eine Spinne krabbelte über die Scheibe, um dann auf die Wand zu springen. Molly setzte sich ganz aufrecht hin, Kopf und Rückgrat genau in einer Linie, und streichelte den Kopf ihrer Tochter. Im zarten Alter von vierzig Jahren war Rabbit Hayes gestorben. Mollys jüngstes und mutigstes Kind war tot. Ihre Beine bewegten sich nicht mehr, kein Muskel regte sich. Molly konzentrierte sich darauf, Rabbits Hand zu halten, wartete darauf, dass sie kalt und steif wurde.

Die Uhr an der Wand hatte 5:23 Uhr morgens gezeigt, als Rabbit davon gesprochen hatte, dass sie den Wagen kriegen müsse. Molly wiederholte 5:23 Uhr immer und immer wieder in ihrem Kopf. Es war wichtig, sich an den Zeitpunkt des Todes und an das Datum zu erinnern. 28. April 2014. Oh, und das Wetter. Sie wusste, dass Rabbit das Wetter wichtig gewesen wäre. Es war warm und hell, aber trotzdem fiel ein beinahe unmerklicher diffuser Nieselregen.

Davey war der Erste, der erwachte. Er spürte sofort, dass Rabbit fort war. Er setzte sich langsam auf und sah seine erstarrte Mutter an.

Aber Molly war woanders. Er stupste Grace an, die aufschreckte.

«Ich bin wach, holt euch eure Brotdosen», rief sie, wischte sich dann abwesend den Sabber vom Kinn und blinzelte, um wieder scharf zu sehen … Erst jetzt dämmerte es ihr: Verdammt, ich bin gar nicht zu Hause. Das hier ist kein normaler Tag. Und im selben Moment sah sie Rabbits Leiche, ganz klar und deutlich. Oh nein.

«Sie ist tot», sagte Davey, und Grace sprang auf und brach sofort in Tränen aus. «Oh nein, Rabbit!» Es war merkwürdig, weil sie es weder glauben noch akzeptieren konnte, obwohl Rabbit seit langem vom Krebs zerfressen und über Tage gestorben war. Es schien ihr völlig unmöglich. Jetzt lag da ein Stein, wo ein Mensch gewesen war, nein, mehr als ein Mensch, ihre Schwester und Freundin. «Oh nein.» Sie weinte und kämpfte mit dem Rotz, der sich in ihrer Nase bildete.

Marjorie, Rabbits beste Freundin auf der ganzen Welt, setzte sich auf und lehnte sich mit schnurgeradem Rücken gegen die Wand. Heiße Tränen strömten ihr aus den aufgerissenen Augen.

Jack kam nur langsam wieder zu sich. Er hörte den Tod seiner Tochter, bevor er ihn sah. Er stand auf, strich sich die Kleider glatt und ging zu seiner Frau. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie war so still und ruhig – wahrscheinlich so still und ruhig, wie sie in den ganzen fünfzig Jahren noch niemals gewesen war, seit er sie kannte und liebte. Dann beugte er sich vor und nahm Rabbit in die Arme.

«Um Himmels willen, beweg sie nicht», quiekte Grace.

Er hielt Rabbit ganz fest und küsste sie aufs Ohr. «Keine Schmerzen mehr», sagte er, und seine Tränen flossen ungebremst. «Wenigstens für dich nicht, mein kleines Mädchen.» Er streckte die Hand nach Molly aus, und sie griff danach. «Ich kann dich nicht auch noch verlieren, Molly», sagte er, ohne Rabbit loszulassen. «Lass mich jetzt bloß nicht allein», warnte er, und Molly nickte. «Aber nur unter der Bedingung, dass du aufhörst, deinen verdammten Rotz an ihre Leiche zu schmieren, Jack», sagte sie, und er ließ Rabbit los. Molly strich die zerknautschte und zerzauste Rabbit wieder glatt.

«Du verlässt mich nicht auch noch, Molly, oder?», setzte er nach. Das hatte ihn die ganze Zeit beschäftigt, seit seine Frau vor zwei Tagen mit Herzproblemen ins Krankenhaus gemusst hatte, nachdem sie Rabbit im Hospiz besucht hatte. Der einzige Grund, dass sie nicht selbst in einem Krankenhausbett lag, war, dass sie an der Seite ihrer Tochter sein musste.

«Wie könnte ich? Du wärst doch ohne mich völlig aufgeschmissen», sagte sie, lächelte ihn an und zwinkerte ihm zu, damit er wusste, dass sie trotz eines toten Kindes und ihrer unzuverlässigen Pumpe auf keinen Fall irgendwo anders hingehen würde. Aber rückblickend war sie gedanklich und emotional schon fort.

TEIL EINSTag X

Davey

Eine Stunde nach dem Tod seiner Schwester verließ Davey völlig traumatisiert das Hospiz, stieg in sein Auto und fuhr zu ihr nach Hause, wo seine Freundin Mabel auf ihn wartete. Sie war die Tourmanagerin der amerikanischen Countrysängerin Casey und außerdem ihre Frau. Davey hatte Caseys Tournee neun Tage früher verlassen, als der Anruf gekommen war, dass Rabbit in ein Hospiz verlegt werden würde. Er hatte sofort gewusst, dass das das Ende war – anders als seine verrückten Eltern, die immer noch, bis zur letzten Sekunde, nach einem Heilmittel und/oder einem Wunder gesucht hatten.

Casey hatte ihn in seinem Entschluss unterstützt, die Tour abzubrechen. Davey war mehr als nur ihr Schlagzeuger, er war ihr engster Freund, und das schon seit vielen Jahren. Casey kannte seine ganze Familie. Sie litt mit ihm, der Verlust von Rabbit war niederschmetternd. Aber sie befand sich nun mal auf Tournee. Sie hatte Verpflichtungen. Ganze Stadien voller Menschen wollten unterhalten werden. Sie konnte nicht an der Seite ihres besten Freundes sein, also hatte sie ihm das Zweitbeste geschickt, was sie hatte: die Mutter ihrer Kinder. Bevor Mabel zu Davey nach Irland kam, hatte sie ihm einen Flug organisiert. Casey hatte ihm versichert, dass sie auch ohne ihn irgendwie zurechtkommen würde und dass sein Drum-Techniker sich blind mit seinem Schlagzeug auskannte.

«Gewöhn dich bloß nicht zu sehr an ihn», hatte er gesagt.

«Auf keinen Fall», hatte sie erwidert. Das war tröstlich, denn vor neun Tagen war sein Job als Caseys Drummer noch alles gewesen, was er hatte. Mabel hatte ihre Kinder in einem Tourbus zurückgelassen, damit sie während Caseys Abwesenheit bei Davey sein konnte.

Davey hatte gute Freunde, er besaß ein starkes Netzwerk in Nashville, was einer der Gründe war, weshalb er gegen seine Familie angekämpft und seine Schwester bekniet hatte, ihm die Chance zu geben, deren zwölfjährige Tochter aufzuziehen. Es war weder sein Plan noch seine Absicht gewesen, sich als Vormund vorzuschlagen, aber im Laufe der acht langen Tage und Nächte, in denen er seiner Schwester beim Sterben zugesehen und den Diskussionen zugehört hatte, wer in der Lage wäre, für Juliet zu sorgen, hatte er plötzlich gedacht: Warum eigentlich nicht ich? Seine Eltern waren zu alt, und seine Schwester hatte bereits vier Jungs, mit denen sie in einem winzigen Haus lebte. Warum also nicht er, der Typ mit mehr Geld als Verstand, ohne Frau, ohne Kinder und mit einem riesigen Loch in seinem Leben, das es zu füllen galt?

Jedenfalls hatte Juliet ihn ausgewählt. Sie hatten schon immer eine ganz besonders enge Beziehung zueinander gehabt, obwohl sie so weit voneinander entfernt gelebt hatten. Sie wusste, dass er genügend Platz in seinem Haus und in seinem Herzen für sie hatte. Was sie allerdings nicht wusste, war, wie impulsiv, selbstsüchtig, verkorkst und planlos er war. In ihren letzten Tagen hatte Rabbit zugestimmt, ihre Tochter an Davey zu übergeben. Der Rest der Familie hatte sich ziemlich darüber aufgeregt, aber sie war unerschütterlich gewesen. «Liebe sie einfach, Davey, mehr braucht der Mensch nicht.» Aber natürlich hatte der Krebs da schon auf ihr Gehirn übergegriffen. Was hab ich mir nur dabei gedacht? Was hat sie sich dabei gedacht? Selbst mit Krebs im Gehirn war unsere Rabbit doch zu klug, um sich auf so was einzulassen. Oh Gott, die anderen haben total recht, ich bin ein Großmaul! Was hab ich bloß getan?

Er ging durch die Tür, unrasiert, hungrig, aber ihm war schlecht, und er war zu traurig, um etwas herunterzubringen. Mabel reichte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee. Der Geruch reichte schon, um ihm Kopfschmerzen zu bereiten. Er musste unbedingt duschen und die Kleider ausziehen, die nach Desinfektionsmittel und Tod rochen. Also stellte sie ihm die Dusche an und legte ihm Handtücher hin, dann führte sie ihn ins Badezimmer, weil er aus Versehen gegen eine Wand gelaufen war, als ob sein GPS nicht mehr richtig funktionierte. Sie sagte, dass alles wieder gut werden würde, und strich ihm übers Haar, als wäre er ein Kind und sie seine Mutter. Sie schob ihn durch die Badezimmertür und ließ ihn vollständig angezogen vor einer donnernden Dusche stehen, die das Zimmer mit heißem Wasserdampf füllte. Eine Weile stand er nur da und sah zu, wie das Wasser auf die Fliesen prasselte, und noch länger stand er unter der Dusche, ertrank dabei, körperlich und emotional.

Als er völlig durchweicht und eher noch elender als erfrischt darunter hervortrat, hörte er, wie Mabel am Telefon mit Casey sprach. «Es ist schlimm», sagte sie. «Echt schlimm.»

Sie hatte recht. Genau das war es. Er schaute in den Spiegel. Man sah ihm den Schmerz an, er war in neun Tagen um zehn Jahre gealtert. Er war vierundvierzig und sah immer noch gut aus, wie man es von einem verwöhnten Musiker erwarten konnte, aber jetzt war er völlig erschöpft.

Er fürchtete sich davor, Juliet vom Tod ihrer Mutter erzählen zu müssen. Er wollte sie nicht aufwecken. Solange sie schlief, war ihre Mutter für sie noch am Leben. Also saß er schweigend neben Mabel und wartete darauf, dass das Kind aufwachte, dass er ihre Schritte im Stockwerk über ihnen hörte, das Trappeln, wenn sie eilig zum Badezimmer lief, das Schließen der Tür und das Öffnen, Juliets Füße auf der Treppe, das Knarren der letzten Stufe. Er spürte, wie Mabel ganz steif wurde. Von seinem Stuhl aus hatte er die Küchentür im Blick.

Juliet kam herein. Sie trug einen Pyjama mit roten Sternchen darauf; ihr langes braunes Haar war frisch gebürstet und fiel ihr über den Rücken. Sie sah exakt so aus wie ihre Mutter in dem Alter, abgesehen von der Hornbrille und dem abgeklebten Auge, die Rabbit so viele Jahre lang hatte tragen müssen. Sie starrte ihren geduschten, aber völlig derangierten Onkel an, der neben seiner Tourneemanagerin saß, der hochgewachsenen, kakaobraunen, glatzköpfigen, imposanten Rock-and-Roll-Mabel. Beide standen ganz offensichtlich völlig neben sich und gaben sich alle Mühe, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen.

«Oh», flüsterte sie.

«Es tut mir so leid, Bunny», sagte er. Er stand auf, aber sie wich automatisch einen Schritt zurück.

«Okay», sagte sie und verschränkte die Arme, fast, als wollte sie sich selbst umarmen. «Ist okay», sagte sie. Er kam auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen, aber sie wich immer weiter zurück. Sie wollte nicht berührt werden. Er verstand sofort.

«Ich bin da», sagte er und meinte es genau so, obwohl er gleichzeitig den Drang verspürte zu fliehen.

Sie setzte sich ganz still an den Tisch, weinte nicht. Sie fieselte an dem Ei herum, das Mabel für sie gekocht hatte, und bat nach ein paar Minuten, wieder gehen zu dürfen.

«Natürlich, Bunny», sagte er. «Natürlich.»

Sie schob ihren Stuhl zurück. «Nenn mich nicht Bunny», sagte sie. «Rabbit ist tot. Ich bin nicht mehr ihr Häschen.»

Mabel wandte sich ab und konzentrierte sich auf den Herd, wobei sie sich über den rasierten Kopf strich, was sie nur tat, wenn sie Angst hatte, unter Stress stand oder völlig überwältigt war. Davey bemerkte, dass Juliet Mabels Glatze anstarrte, wenn auch nur ein, zwei Sekunden lang. Anders als Rabbits war Mabels Kahlheit ihre freie Entscheidung. Sie war eine gesunde, fitte Frau in der Blüte ihrer Jahre. Trotz ihrer Beklommenheit sah sie stark und wild aus und strotzte nur so vor Lebendigkeit. Davey fragte sich, ob das Kind wohl gerade an den grauen, weichen, schorfigen, wunden Schädel ihrer sterbenden Mutter dachte. Er legte sich die Hände auf die Schläfen. Eine Migräne kündigte sich an.

Juliet lief die Treppe hoch, sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, ging direkt ins Zimmer ihrer Mutter, wickelte sich in deren Bettdecke ein und schlief mit Rabbits Kissen in den Armen bis zum späten Nachmittag. Und Davey? Er saß die ganze Zeit nur auf dem Stuhl in der Küche seiner toten Schwester und fragte sich, was zum Teufel er jetzt tun sollte.

Du wirst eine Menge Fehler machen, und das macht überhaupt nichts, solange sie sich geliebt fühlt. Mehr braucht man nicht, sagte Rabbit in seinem Kopf.

«Ich hab dich lieb», brüllte Davey die Treppe hinauf.

Ach, Rabbit, was zum Teufel haben wir nur getan?

Grace

Grace steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Ihr Mann Lenny und ihre fünf Jungs saßen allesamt auf der Treppe und warteten schon auf sie. Sie hatte aus dem Auto angerufen.

«Sie ist tot.» Mehr brachte sie nicht hervor.

Lenny kam auf sie zu und nahm sie in die Arme. «Es tut mir so leid, Gracie», sagte er.

«Danke», erwiderte sie.

«Tut mir leid, Ma», sagte ihr Ältester Stephen. Der Achtzehnjährige ging schon aufs College und würde dort vermutlich scheitern. Lenny trat zur Seite, damit Stephen seine Mutter umarmen konnte.

Als Nächster kam der sechzehnjährige Bernard. «Ich hab dich lieb, Ma», sagte er. Bernard war sportverrückt. Er lebte praktisch auf dem Spielfeld, liebte seine Mammy über alles und stand dazu. Wenn andere Kinder deswegen über ihn lachten, dann war ihm das egal. Bernard war, was seine Granny Molly einen Schatz nannte.

«Ich weiß, mein Sohn. Ich hab dich auch lieb», sagte sie.

Der vierzehnjährige Ryan, der hinter seinem Bruder stand, umarmte seine Mutter nicht, sondern musterte sie nur. «Du siehst scheiße aus, Ma», stellte er fest. Das war nicht grausam, sondern nur ehrlich. Ryan war Graces Problemkind, er neigte dazu, Grenzen zu übertreten. Er hatte seinen Mitschülern schon Handys gestohlen, sie an einen chinesischen Handyshop verkauft, an der Börse gezockt – und sich dabei als finanzielles Genie erwiesen. Als er schließlich erwischt wurde, konnte er allen geprellten Kindern genug Geld zurückgeben, dass sie sich neue Handys kaufen konnten. Dann drehte er eine Entschuldigungsrunde durch die Schule, wobei er den Krebs seiner Tante Rabbit als Grund für sein Fehlverhalten anführte. Der kleine Scheißer. Er kam damit durch, aber Grace beobachtete ihn seitdem mit Argusaugen. «Ich könnte dir ein Bad einlassen?», bot er an, aber sie schüttelte nur den Kopf.

«Nein, danke, Sohn. Ich bin so müde, dass ich vermutlich dabei ertrinken würde.» Lenny verschwand in der Küche, und sie hörte, wie er den Kessel aufsetzte und anfing zu kochen.

«Hatte sie Angst, Ma?», fragte Bernard.

«Nein, mein Schatz.»

«Woher weißt du das?», fragte Ryan.

«Ich weiß es eben.»

Der neunjährige Jeffrey, Graces jüngster Sohn, saß auf den Stufen und trug einen viel zu engen Trainingsanzug. Grace setzte sich neben ihn.

«Alles okay mit dir?», fragte sie.

«Ich hätte auf Wiedersehen sagen sollen», sagte er.

«Du warst dort, und das ist genug.»

«Ich bin ein Baby», erwiderte er.

«Nein, bist du nicht.»

«Ryan sagt das auch.»

«Ryan, nenn deinen Bruder nicht Baby.»

«Fürs Protokoll: Ich habe ihn ein speckiges, heulendes Buddha-Baby genannt», sagte Ryan, und Grace war zu erschöpft, um ihn zurechtzuweisen.

«Hör nicht auf ihn, Jeff, du machst das alles prima.»

«Ich habe vier Pfund abgenommen, Ma», sagte Jeffrey.

«Ich bin auch sehr stolz auf dich.»

Als der Arzt Übergewicht bei ihrem jüngsten Sohn diagnostiziert und die Befürchtung geäußert hatte, er könne Diabetes entwickeln, war sie völlig schockiert gewesen. Wie hatte sie das zulassen können? Diabetes? Das Kind war noch nicht einmal zehn Jahre alt. Sie hatte sich selbst dafür gehasst. Ich werde das rückgängig machen. Jeffreys Leben hatte sich an diesem Tag von Grund auf geändert. Seitdem musste er regelmäßig Sport machen, durfte nur noch Wasser trinken und Gemüse essen – er hasste jede einzelne Sekunde seines neuen Lebens. Dennoch gab er sein Bestes, hauptsächlich deshalb, weil er aus irgendeinem Grund Angst hatte, seine Beine zu verlieren. Grace war eben keine sehr feinfühlige Person.

«Willst du so krank werden wie deine Tante Rabbit?», fragte sie, wenn er seinen Salat nicht essen wollte.

«Sie hat Krebs, Ma.»

«Diabetes ist noch viel schlimmer.»

«Was? Auf keinen Fall. Nichts ist schlimmer als Krebs.»

«Wir können ja noch mal darüber reden, wenn du auf zwei Beinstümpfen durch die Gegend humpelst.»

Also jammerte Jeffrey zwar über seine neue Diät, war aber auch sehr entschlossen. Vier Pfund abgenommen, Rabbit.

Grace war schon immer und immer noch eine wilde Schönheit, üppig und bildhübsch, aber sie hatte, seit sie denken konnte, die Neigung, schnell zuzunehmen, und musste auf ihr Gewicht achten. Rabbit dagegen war hochgewachsen und schlank gewesen. Sie konnte immer alles essen, ohne zuzunehmen. Grace hatte immer gesagt, Rabbit hätte eben das ganze Glück abbekommen, aber das war vor dem Krebs gewesen. Jetzt saß Grace auf der Treppe und umarmte ihren Jüngsten. Ryan versuchte, sich an ihnen vorbeizudrängen.

«Aus dem Weg, Fetti.»

Grace stand auf, um ihn durchzulassen. «Hör auf damit, Ryan, bitte.»

Sobald sie sich umdrehte, zeigte Ryan Jeffrey den Mittelfinger.

«Zeig deinem Bruder nicht den Stinkefinger», sagte Lenny, der in diesem Moment aus der Küche trat.

Grace half Jeff auf. «Hast du noch was auf dem Herzen, mein Kleiner?», fragte sie.

«Ja.»

«Was?»

«Ich bin am Verhungern.»

«Eier zum Frühstück», sagte Lenny.

«Ich muss mich hinlegen», sagte sie.

«Ja, geh du nur ins Bett, Liebling. Ich wecke dich in ein paar Stunden wieder», sagte Lenny und küsste sie auf die Wange. Sie schaute in seine freundlichen Augen und strich eine Strähne aus seinem schönen Gesicht. Er flüsterte: «Ich liebe dich» und folgte seinem hungrigen Sohn.

«Eier sind eklig», rief Jeffrey aus der Küche.

«Eier sind proteinreich», entgegnete sie.

Sie bemerkte einen Stapel ungeöffneter Briefe, die sich im Laufe der letzten Woche angesammelt hatten. Sie stieg die Treppe hoch und sah sie dabei zerstreut durch: hauptsächlich Rechnungen, ein Katalog von einem Reiseunternehmen, mit dem sie vor zehn Jahren einmal in die Ferien gefahren waren, und noch alles Mögliche andere. Als sie die Tür zur ihrem Schlafzimmer öffnete, fiel ein kleiner weißer Umschlag zu Boden. Die Adresse war mit Hand daraufgekritzelt, und er trug keinen Firmenstempel. Sie öffnete den Umschlag in der Erwartung, irgendeine Einladung oder vielleicht eine Beileidskarte von einem Nachbarn zu finden, der gehört hatte, dass Rabbit im Sterben lag. Tot. Jetzt ist sie tot. Sie schloss die Tür ihres Schlafzimmers und merkte erst dann, dass die Karte vom St.-James-Krankenhaus war, wo sie vor ein paar Wochen hatte testen lassen, ob sie eine erbliche Vorbelastung für Brustkrebs hatte. Ihr Herz begann zu rasen, der Puls trommelte in ihrer Halsschlagader und an ihren Handgelenken. Ihre Hände waren schweißnass, die Knie weich, und sie sah plötzlich nur noch verschwommen, die Worte schienen vom Papier zu gleiten. Sie war positiv getestet worden, sie besaß das BRCA-2-Gen. Das Gen hatte eine lange Seriennummer. Hat diese Nummer Rabbit getötet? Im Brief stand außerdem, dass sie jetzt ins Hochrisiko-Register aufgenommen worden sei. Man riet ihr, einen Beratungstermin zu vereinbaren. Ihre Knie gaben langsam nach, und sie ließ sich auf den Fußboden sinken, wo sie sich zu einem Ball zusammenrollte und sich die Augen ausweinte.

Grace hatte lange geschwankt, den Test zu machen, seit ihre Schwester vor vier Jahren die Diagnose bekommen hatte. Sie hatte mit ihrer Mutter darüber gesprochen. Aber natürlich hatte Molly nicht darüber reden wollen und es für eine furchtbare Idee gehalten: «Wenn man nach Problemen sucht, findet man auch welche.»

«Aber Rabbit hat Krebs, Ma.»

«Ich habe keinen Krebs und bin schon in den Siebzigern. Rabbit hatte einfach Pech.»

«Rabbit hat das Gen.»

«Weil sie verdammt noch mal Pech hatte.»

«Ja, aber woher kommt das Pech?», fragte Grace. «Glaubst du, dass der Krebs Nanna Mulveys Herzstillstand verursacht hat?»

«Mach dich nicht lächerlich, von Krebs bekommt man doch keinen Herzinfarkt.»

«Was, wenn sie Krebs hatte und es nur nicht wusste?»

«Krebs ist kaum zu übersehen, Liebes.»

«Woran ist denn ihre Schwester gestorben?», fragte Grace. Molly konnte sich nicht daran erinnern. Sie war vor Mollys Geburt gestorben, und Mollys Mutter sprach nicht gern über sie.

«Wie alt war sie, als sie starb?»

«Ich weiß nicht, zwanzig oder so», antwortete Molly.

«Mist. Vielleicht war es Krebs.»

«Ich glaube, es war Polio.»

«Ist das das mit der Eisernen Lunge?»

«Nein, das ist Tuberkulose, die hatte dein Großonkel Maurice, wobei es sein kann, dass Nanna auch ein bisschen TB hatte, das grassierte damals ziemlich.»

«Also haben Kinderlähmung und ein bisschen Tuberkulose sie getötet?»

«Wer weiß, mein Liebling. Wenn sie auch nur ein bisschen so war wie meine Mutter, dann war es vermutlich der Kummer, der sie schließlich umgebracht hat.»

«Gut», sagte Grace. «Also kein Krebs von deiner Seite?»

«Kein Krebs», bekräftigte Molly.

«Was ist mit Dads Mutter?»

Molly wandte sich ab und ging zum Ausguss, um dort geräuschvoll mit den Pfannen zu klappern und mit Wasser herumzuspritzen. Aber Grace ließ sich nicht abschrecken.

«Ma?», sagte sie, nahm sich ein Küchenhandtuch und machte sich bereit, eine saubere Pfanne in Empfang zu nehmen.

«Damals hat man das nicht so genannt. Man hat überhaupt nicht viel geredet, schon gar nicht über Krankheit und Tod, und dein Dad war damals noch ein Kind», sagte Molly.

«Krebs?», fragte Grace.

«Sein Vater wollte nichts sagen, daher konnten wir es nur vermuten.»

Grace wurde es ganz schwer ums Herz.

«Wie alt war sie?», fragte sie.

«Anfang dreißig, glaube ich», antwortete Molly.

«Also liegt der Krebs in der Familie.»

«Da können wir nicht sicher sein, außerdem bist du schon älter als die beiden, als sie die Diagnose erhalten haben.»

«Aber so funktioniert das nicht, Ma!», wandte Grace ein.

«Na, dein Dad hat doch auch keinen Krebs, oder?»

«Nein, Ma, hat er nicht, aber darum geht es auch nicht.»

«Du hast das Gen nicht, Grace, und jetzt will ich nichts mehr davon hören.» Damit war das Gespräch beendet gewesen.

Grace hatte diesen Gedanken ins hinterste Kämmerchen ihres Bewusstseins geschoben, wo er geblieben war und immer weiter an ihr genagt hatte, genau wie der Krebs an ihrer Schwester fraß. Aber als klar war, dass Rabbit nicht mehr geheilt werden würde, hatte Grace beschlossen, die Sache dennoch anzugehen. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen – es war besser, die Sache für sich zu behalten. Wenn das Ergebnis negativ wäre, gäbe es ohnehin keinen Grund mehr. Die Warteliste war lang gewesen, und es hatte über ein Jahr gedauert, bis sie den Beratungstermin bekommen hatte, und als sie endlich einen hatte, hatte sie ernsthaft überlegt, ob sie hingehen sollte. Aber nach sechs Wochen innerer Quälerei war Grace zu dem Schluss gekommen, dass sie keine andere Wahl hatte, als den Test machen zu lassen. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen und war durch jene Tür gegangen, während sie sich selbst zu beruhigen versucht hatte: Vermutlich ist alles gut.

Nur dass nicht alles gut war. Rabbit war tot, und sie trug das Gen in sich. Sie steckte in den Wechseljahren und hatte das Gen. Sie hatte vier Jungs, der Jüngste war erst knapp zehn, und sie hatte das Gen. Sie hatte nichts von all den Dingen getan, die sie hatte tun wollen, zum Beispiel ein Flugzeug zu fliegen oder auf einen Berg zu klettern oder sich einen Job zu suchen, der sie mit Leidenschaft erfüllte, und dann hatte sie noch dieses beschissene, verdammte Kack-Gen. Zwei geschlagene Stunden lang lag sie auf dem Fußboden des Schlafzimmers, völlig verstört. Als sie hörte, wie Lenny die Stufen hinaufkam, rappelte sie sich auf und versteckte sich im Badezimmer. Sie ließ das Wasser laufen und wusch sich das tränenverschmierte Gesicht.

Lenny steckte den Kopf durch die Tür.

«Hast du etwas geschlafen, Schatz?», fragte er.

«Ja», log sie. Er drehte sie an der Schulter zu sich herum, um sie anzusehen. Dann legte er ihr die Hand auf die Stirn.

«Ryan hat recht, du siehst scheiße aus.»

Ich habe das Gen.

«Hoffentlich brütest du nichts aus.»

Ich habe das Gen.

«Meine Schwester ist gerade gestorben.»

Ich habe das Gen.

«Ich weiß, Schatz», sagte er, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich.

Ich habe das Gen.

«Soll ich dir was zu essen machen?»

Ich habe das Gen.

«Danke, Lenny.»

«Du bist doch bestimmt kurz vorm Verhungern.»

«Nein, mir geht es prima.»

Ich habe das Gen.

Er küsste sie auf die Wange.

«Ich weiß, dass das ein abgenutzter Spruch ist, aber alles wird gut», sagte er.

«Ich weiß», log sie.

Nur dass ich das Gen habe.

Marjorie

Marjorie schlang die Arme um sich, weil sie so sehr zitterte. Sie saß auf dem kalten Betonboden. Sie war ganz betäubt, ihr war übel, und ihr tat von Kopf bis Fuß alles weh. Sie fragte sich, ob ihre Schmerzen wohl im Entferntesten Ähnlichkeit mit dem Leid hatten, das ihre beste Freundin während ihres vier Jahre andauernden Kampfes gegen den Krebs hatte ertragen müssen. Wie hat sie das nur geschafft? Wie konnte sie weitermachen? Ich kann ja kaum noch atmen. Sie bekam kein Essen herunter, sogar bei Wasser musste sie würgen. Es brannte regelrecht im Hals. Eine Frau ging an ihr vorbei, sah sie an und blieb stehen.

«Alles in Ordnung mit Ihnen? Hatten Sie einen Unfall?»

«Nein.»

«Sicher? Sie sehen aus, als hätte man Sie verprügelt.»

«Nein.»

Die Frau ging weiter, und Marjorie zog einen kleinen Taschenspiegel hervor. JESUS, MARIA UND JOSEPH! Das Haar der normalerweise hübschen, entzückenden, adretten, anmutigen, blonden, lockenköpfigen Marjorie Shaw klebte platt an einer Seite, weil sie auf ihrer Jacke auf dem Boden geschlafen hatte. Ihre Mascara war auf der Wange verschmiert, obwohl sie angeblich wasserfest war. Vielleicht hingen genau deshalb schwarze Krümelchen davon in ihrem Gesicht. Der Lidschatten war verwischt, die Lider ganz rot und geschwollen vom ständigen Reiben. Sie hatte sich auf die Lippe gebissen, sodass auch die geschwollen und komisch lila aussah. Die für gewöhnlich gepflegte Kleidung, in der sie geschlafen hatte, war völlig zerknittert. Auf ihrem weißen Kragen prangte ein Kaffeefleck; sie roch nach kaltem Schweiß und hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Sie wusste nicht mehr, warum sie hierhergekommen war, sie war einfach aus dem Hospiz gerannt und hatte einen Bus mit einer vertrauten Nummer darauf gesehen. Sie war eingestiegen und bis zum Haus ihrer Mutter gefahren. Eine vollkommen sinnlose Aktion – Vera Shaw war der letzte Mensch auf Erden, der irgendjemandem Trost spendete, aber da war sie nun mal, starrte den perfekt gepflegten Garten ihrer Mutter und das beeindruckende Backsteinhaus im viktorianischen Stil an. Es war dunkel, aber dieses Haus wirkte immer dunkel. Das Auto ihrer Mutter parkte davor. Sie war also da. Vielleicht hatte sie sogar bemerkt, dass Marjorie eine halbe Stunde lang auf dem kalten Beton gegenüber gesessen hatte. Ihrer Mutter würde es gar nicht gefallen, sie in diesem Zustand zu sehen. Sie würde irgendeinen grausamen Kommentar abgeben. Was zum Teufel tue ich hier? Beim letzten Mal hatte das Gespräch im Streit geendet. Marjorie hatte einen schwierigen Höflichkeitsanruf gemacht, um ihre Mutter wissen zu lassen, dass ihr Exmann Neil ein Baby mit einer Frau namens Debbie bekam.

«Tja, das kommt davon, wenn man mit einem Trottel wie Davey Hayes schläft – dann bekommt dein Ehemann dein Baby eben mit einer anderen Frau.»

«Es ist nicht mein Baby, Mutter.»

«Jetzt wird es das auch niemals sein.»

Marjorie hatte mit dem Bruder ihrer besten Freundin geschlafen, als sie noch verheiratet gewesen war. Sie waren miteinander in ihrem Ehebett gelandet, als Davey vor zwei Jahren während der Ferien nach Irland heimgekommen war. Davey und sie teilten eine lange und schwierige Geschichte. Sie hatte ihre Jungfräulichkeit an Davey Hayes verloren, sie hatte ihn geliebt, seit sie Kinder waren, aber es hatte einfach keine Zukunft gehabt. Wenn sie nicht so unglücklich mit ihrem Mann gewesen wäre, hätte sie ihre Ehe niemals aufs Spiel gesetzt, aber so hatte sie es getan, und er hatte sie dabei erwischt, sie hinausgeworfen, und jetzt wohnte sie allein in einer Mietwohnung. Davey hatte sich dafür entschuldigt, ihr Leben zerstört zu haben, um dann einfach wieder nach Amerika abzuhauen und dort sein lächerliches Rock-and-Roll-Leben im Tourbus weiterzuleben. Sie hatte ihm vergeben, nicht nur, weil er Rabbits Bruder war, sondern auch, weil er eben Davey war. Die Hayes waren ihre Familie, und Molly Hayes war die Mutter, die sie nie gehabt hatte. Sie würde Davey immer vergeben.

«Und dieser verdammte Idiot will dich nicht mal, verdorbene Ware», hatte Vera gesagt, um dann fromm hinzuzusetzen: «Man erntet, was man sät.»

«Wer bist du, dass du mich verurteilst?», hatte Marjorie gefragt.

«Ich bin deine Mutter.»

«Du bist ein kaltherziges Miststück, aus dessen Vagina ich das Pech hatte zu gleiten.» Nach den jahrelangen Beleidigungen durch ihre Mutter war Marjorie der Geduldsfaden gerissen, und sie hatte sie zurückbeleidigt. Es war das erste Mal gewesen, dass sie auch nur annähernd etwas in dieser Art zu ihr gesagt hatte, aber Rabbit hatte im Sterben gelegen, und sie war wütend und verletzt gewesen.

«Wenn du nur herausgeglitten wärst, Marjorie, sähe mein Leben ganz, ganz anders aus», hatte Vera versetzt und aufgelegt. Marjories Geburt war schwierig gewesen, und Veras mühsame Wehen hatten in einer Symphysiotomie geendet, bei der das Bindegewebe zwischen beiden Schambeinästen durchtrennt worden war, eine barbarische Methode, ein Kind aus einer Frau herauszuschneiden, die Vera Shaw lebenslanges Leid und Schmerzen beschert hatte.

Wenn das ihren Mann nicht fortgejagt hatte, so hatte es sicherlich dazu beigetragen, dass er sie verlassen hatte. Nachdem er jahrelang eine Lüge gelebt, fünf Tage auswärts gearbeitet und die Wochenenden verbarrikadiert in seinem Schlafzimmer verbracht hatte, hatte Marjories Vater endlich zugegeben, dass er eine Zweitfamilie in England unterhielt, zwei Jungen und ein Mädchen. Er hatte Vera noch in derselben Nacht verlassen, und sie hatte nie zu ihm oder seinem Nachwuchs Kontakt aufgenommen. Marjorie war damals sechzehn gewesen. Ihre Beziehung zu ihrer kalten, bitteren und zornigen Mutter war von Anfang an schwierig gewesen.

Ich muss verrückt geworden sein. Sie stand auf, klopfte sich die Kleider ab, und als sie ein Taxi heranwinkte, hätte sie schwören können, dass sich der Spitzenvorhang hinter den Fenstern im Haus ihrer Mutter bewegte.

In ihrer Wohnung ließ sie sich in ein Vollbad sinken und dachte eine Weile an gar nichts, lag nur ganz still im warmen Wasser. Dann hielt sie die Luft an und ließ sich unter Wasser gleiten.

Rabbit, bist du da?

Ich bin hier.

Ich vermisse dich jetzt schon.

Na ja, wenn du die nächsten paar Sekunden nicht wieder anfängst zu atmen, wirst du mich nicht mehr lange vermissen.

Sie hielt es zwei Minuten aus, bis sie Luft holen musste, dann kam sie prustend hoch, rang gurgelnd nach Luft, und die kalte Luft im Badezimmer verursachte ihr eine Gänsehaut. Der Schmerz in ihrem Herzen war so scharf, als hätte man sie aufgespießt. Ich will dich sehen, ich will dich anfassen! Rabbit? Als sie sich die Zähne geputzt hatte und ihr Haar wieder weich und glänzend war, blieb der Schmerz dennoch. Selbst als sie sich die abgestandene Luft und die Spuren des Todes aus jeder Pore geschrubbt hatte, selbst als sie Feuchtigkeitscreme um die Augen und schützenden Balsam auf die aufgesprungenen Lippen aufgetragen hatte, selbst da hielt der Schmerz an. Sie wusste, was es war; sie wusste, das war die Qual des Verlustes, und so fand sie ein wenig Trost in ihrem Elend. Der Schmerz brachte ihr Rabbit irgendwie näher. Sie wischte den beschlagenen Spiegel sauber und sah eine Frau, die wie jemand anderes aussah. Und genau so fühlte sie sich auch – wie jemand anderes. Marjorie ohne Rabbit war jemand anderes.

«Wer bist du jetzt, Marjorie Shaw?», fragte sie.

Ihr Spiegelbild wusste darauf keine Antwort.

Jack

Jack war zum Zeitpunkt des Todes seiner jüngsten Tochter siebenundsiebzig Jahre alt. Er hatte bis dahin ein langes und glückliches Leben geführt. Es war voller Verluste und Sorgen und hin und wieder sogar Angst, aber seine Entscheidungen waren immer gut genug gewesen, sodass er heiter und mit Stolz zurückblicken konnte. Direkt nach Rabbits Tod war Jack hinaus in den Flur geschlüpft, vor allen anderen. Sie war tot, und er hielt es keine weitere Sekunde mehr in diesem Zimmer aus. Er saß im Garten auf einer feuchten Bank, derselben, auf der er gestern schon gesessen hatte, als sie noch am Leben gewesen war. Wie seltsam, dachte er.

Er erinnerte sich genau an Rabbits Geburt auf dem Vorplatz einer Autowerkstatt, an seine schreiende Frau und an den Autohändler, der beinahe sein Mittagessen wieder von sich gegeben hätte. Jack dagegen war genau dort, wo die Musik spielte, sozusagen, und redete die ganze Zeit voller Panik davon, dass alle sich beruhigen müssten. Dem kleinen Köpfchen, das sich in den unteren Regionen seiner Frau zeigte, rief er zu: «Na komm schon, Kleines, die Welt wartet auf dich.» Einen Moment lang war das Köpfchen wieder fort, und im nächsten, so plötzlich und unglaublich, lag Rabbit in seinen Armen, brüllte mit zusammengekniffenen Augen und geballten Fäustchen wie am Spieß, bereit zum Angriff. Und sie griff an. Bei Gott, sie griff wahrhaftig an. Dann, an jenem Morgen, an dem sie ihren letzten Kampf focht, war sie im einen Moment noch da und im nächsten fort. Ihre Geburt war so voller Freude, ihr Tod so voller Traurigkeit gewesen, und doch war beides ganz natürlich gewesen.

Daddy hat dich lieb, Rabbit. Daddy wird dich jeden einzelnen Tag vermissen, bis er dich irgendwo wiedersieht, oder, wenn du recht hast und es kein Leben nach dem Tod gibt, dann sieht Daddy dich im Abgrund wieder. Meine Rabbit.

Wenn Jack traurig war, blieb er am liebsten allein. Es ging dabei gar nicht darum, sich zu verstecken, zumal jeder ohnehin immer wusste, wo er war – er war dann einfach nicht verfügbar. Ein unsichtbares Zeichen erschien, auf dem stand «Bin kurz Mittagessen». Zumindest drückte Molly das gern so aus.

«Wo ist mein Dad?», fragte eins der Kinder.

«Kurz mittagessen», antwortete sie dann.

«Was ist denn mit ihm los?»

«Ach, wer weiß, lassen wir den alten Kerl einfach in Ruhe.»

Er fand immer eine Aufgabe, mit der er sich die Leute vom Hals halten konnte, wenn er «mittagessen» war. Er las dann ein Buch oder ordnete seine alten Alben, oder er riss eine Wand ein oder baute einen Schuppen. In Letzterem baute er dann Modellschiffe in Glasflaschen oder malte Tonfiguren an, ganz egal, Hauptsache allein.

Als Molly und er wieder nach Hause kamen, zog sie ihre Schuhe aus und setzte sich an den Küchentisch, um den riesigen Stapel mit Mappen durchzusehen, den sie mit Versuchsreihen gefüllt hatten, die Rabbit vielleicht als Testperson akzeptieren würden. Es war idiotisch. Rabbits Onkologe hatte sie ordentlich zurechtgestutzt: «Die werden Ihr Geld nehmen und ihr die letzten schönen Tage. Sie stirbt», hatte er gesagt. Jetzt war sie tot, und die Mappen stapelten sich noch immer auf dem Küchentisch der Hayes.

Jack konnte es nicht mehr ertragen, seine Frau so dasitzen und ins Leere starren zu sehen. Er benutzte Rabbits Kinderfotos als Entschuldigung, hinauf in den Dachboden zu schleichen. Er zog die Leiter herunter, schaltete das Dachbodenlicht ein, kramte in den Kisten herum und fand etwas Überraschendes: seine eigenen Tagebücher von den 40ern bis Mitte der 90er Jahre, als er einfach mit dem Schreiben aufgehört hatte. Warum, wusste er nicht mehr. Da waren sie alle, und dort auf diesen Seiten würde er auch Rabbit finden, Jahr um Jahr. In seinen Tagebüchern lebte Rabbit weiter. Er nahm eine der Kisten und setzte sich in den Sitzsack, öffnete eins der Bücher und las. Da bist du ja, mein Liebling.

Hi, Dad.

Ich lese gerade von der Zeit, in der du vier Jahre alt warst und wie ein Hund gebellt hast, wenn der Postbote an der Tür geklingelt hat. Erinnerst du dich?

Er hat mir die Briefe immer in den Mund gesteckt, meinen Kopf getätschelt und mich Rover genannt, hörte er sie sagen.

Genau, Liebling. Er kicherte leise in sich hinein.

Bis halb vier an diesem Morgen war Jack Hayes offiziell mittagessen.

Juliet

Juliet stand um drei Uhr nachmittags aus dem Bett ihrer Mutter auf. Davey war inzwischen vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie hörte, dass Mabel in der Küche auf ihrem Computer tippte. Sie zog sich an und schlich hinaus. Sie wollte die Erwachsenen nicht darauf aufmerksam machen, dass sie wieder wach war. Sie würden ihr nur Essen machen wollen, sie streicheln, umarmen oder mit ihr reden wollen. Aber sie wollte weder Essen noch Trost, sie wollte sich nur kurz die Beine vertreten. Sie ging auf die Straße. Ihr Nachbar Kyle musste sie von seinem Fenster aus beobachtet haben, denn er war sofort mit seinem Fahrrad neben ihr.

«Ich hab’s gehört», sagte er.

Juliet ging weiter.

«Tut mir leid», sagte er.

«Was tut dir leid? Du hast sie ja nicht umgebracht.»

«Nein, aber es ist scheiße, deshalb tut’s mir leid», sagte er.

«Danke.»

«Und was jetzt?»

«Ich ziehe mit Davey nach Amerika.»

Er blieb ruckartig stehen. «Was?», rief er aus.

«Ich werde bei Davey wohnen.»

«Äh, nein», sagte er.

«Doch, genau so wird es sein, Kyle.»

«Aber …»

«Aber was? Hast du geglaubt, dass ich weiter im Haus gegenüber von dir wohnen werde und alles beim Alten bleibt?»

«Nein, aber …»

«Nein. Nichts bleibt beim Alten. Meine Ma ist tot. Mein Leben hier ist vorbei.»

«Das is ja heftig», sagte er.

«Ja, das ist es», sagte sie, und eine Träne rann ihr die Wange hinab. Es war real, ihre Mutter war tot, und sie würde mit einem Onkel nach Amerika ziehen, den sie anhimmelte, aber nicht besonders gut kannte. Sie hatte sich in den letzten Lebenstagen ihrer Mutter an ihm festgehalten. Er war da für sie. Er half ihr. Er war freundlich und widmete ihr Zeit, während ihre Großeltern damit beschäftigt waren, Wunderheilern hinterherzujagen. Grace wiederum teilte ihre Zeit zwischen Rabbit und ihren vier Jungs auf. Sie wollte ihr nicht zur Last fallen.

Ihre Großmutter hatte vor zwei Tagen einen leichten Herzanfall erlitten. Grace war auch so schon gestresst, und Rabbit brauchte Seelenfrieden. Daher ergab es Sinn, sich an Davey zu halten. Er wollte sie bei sich haben. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Sie wollte überhaupt niemanden enttäuschen. Aber das war gewesen, als ihre Mutter noch beruhigt werden musste. Jetzt, nach Rabbits Tod und bei Tageslicht besehen, machte es ihr Angst, mit einem mehr oder weniger Fremden in ein fremdes Land zu ziehen.

Sie setzte sich auf die Mauer zum Nachbargrundstück. Kyle setzte sich vor ihr auf sein Fahrrad.

«Ich werd dich echt vermissen, Juliet.»

«Ich dich auch», sagte sie.

«Ich glaub, dass ich dich vielleicht liebe», sagte er und lief tomatenrot an.

«Du bist zwölf, Kyle», sagte sie mit der Geringschätzung, die ihre Großmutter immer so perfekt zum Ausdruck bringen konnte.

«Ich weiß.»

«Damit kann ich mich nicht auch noch beschäftigen», sagte sie, stand auf und ging wieder in Richtung nach Hause.

«Sorry», sagte er. «Meine Schuld.»

Sie ging zurück ins Haus, schleppte sich die Stufen hinauf und verkroch sich wieder im Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie schaute aus dem Fenster. Kyle saß immer noch draußen vor dem Haus auf seinem Fahrrad.

Spinner, dachte sie, aber obwohl ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt war, trotz ihrer Verwirrung und ihres Schmerzes, ihrer Angst und ihrer Wut schlich sich ein winziges Lächeln auf ihre Lippen, als sie in den weiten blauen Himmel hinaufschaute. Sie stellte sich vor, wie ihre Ma im Gras lag, eine Sonnenbrille auf der Nase, und ebenfalls in den Himmel hinaufschaute. In ihrem Kopf stand sie neben ihr.

Was machst du da, Ma?

Ich genieße die Aussicht.

Juliet sah sich in dem kleinen Garten um. Das Gras wuchs ungleichmäßig und hatte moosige Stellen, der Zaun war schief und ihr Spielhaus kaputt. Welche Aussicht?

Manche Leute wohnen in tollen Häusern am Meer, aber wir alle sehen den Himmel, Bunny. Ist er nicht wunderschön?

Juliet legte sich neben ihre Ma und schaute in das Blau hinauf … Sie atmete tief durch, und ihr wurde ganz warm ums Herz.

Ja, Ma, sagte sie. Dann verblasste das Bild, sie stand wieder allein da, und ihr wurde kalt. Sie ging ins Bett und schlüpfte unter die Decke ihrer Mutter, umschlang das Kissen ihrer Mutter und atmete ihren Duft ein.

Du bist immer noch hier, du bist im Hospiz, und ich besuche dich heute Abend. Ich werde dir die Nägel lackieren und den Kopf eincremen, und ich werde dir erzählen, was Kyle gesagt hat, und du wirst antworten: ‹Hab ich dir doch gesagt. Wie könnte er dich nicht lieben? Alle lieben dich.› Vielleicht kommen später Francie oder Jay Byrne vorbei und bringen uns alle zum Lachen, oder Granny sagt mal wieder was Unpassendes. Dann liegen wir zusammen im Bett und teilen uns ein Sandwich; du wirst so tun, als würdest du es essen, und ich tue so, als würde ich es dir glauben, und dann kuscheln wir. Ich werde dir sagen, dass ich dich liebhabe, und du wirst deine Nase in mein Haar stecken. Jetzt bin ich nur ein bisschen müde. Ich mach jetzt ein Nickerchen, und dann sehen wir uns später, okay, Ma? Bis bald.

Als Juliet endlich einschlief, war das Kissen ihrer Mutter völlig durchnässt.

Molly

An diesem Abend kamen die Erwachsenen im Bestattungsinstitut zusammen und lernten den Bestattungsunternehmer kennen, Derek Farren, einen korpulenten Mann in seinen Sechzigern, der eine schwarze Perücke im Elvis-Stil trug und ein rosiges, dickliches Gesicht mit blutroten Lippen hatte. Neben Derek stand ein ebenfalls korpulenter Jüngling mit ähnlich dicklichem Gesicht und dunklen Haaren, aber, im Gegensatz zu dem älteren Mann, mit dünnen Lippen, über denen Flaum spross. Beide trugen identische Anzüge mit Seidenwesten. Molly war selbst ein wenig rundlich, aber sie trug ihr kurzes Haar immer anständig in einem kühlen Blond gefärbt und Kleidung, die zu ihrem Alter und ihrem Umfang passten. Sie hielt sich gut, nicht so wie diese beiden Witzbolde. Es fiel ihr schwer, den Blick von ihnen zu wenden. Die gehören doch in den Zirkus.

Sie hatte das Bestattungsunternehmen ausgewählt, weil es so nah an ihrem Zuhause lag. Kurz überlegte sie, ob sie sich lieber noch andere hätte ansehen sollten.

«Unser tiefstes Mitgefühl», sagte Derek.

Schwachsinn, dachte Molly. Das ist dir doch scheißegal. Euch geht es doch bloß ums Geld. Stimmt doch, Rabbit?

Aber Rabbit antwortete nicht. Rabbit war tot.

«Danke», sagte sie.

«Bitte setzen Sie sich doch», sagte er und führte Molly, Jack, Davey und Grace zu Stühlen mit roten Samtpolstern. Einen von ihnen zog er heran, stellte ihn direkt vor seine Kundschaft und setzte sich.

«Tee, Kaffee, Wasser?», fragte Derek. Alle schüttelten den Kopf.

«Sind Sie sicher? Edmund kann Ihnen alles besorgen, was Sie möchten – sofern es sich im Rahmen hält natürlich, die Yakmilch ist gerade ausgegangen.» Er lachte ein wenig und nickte vor sich hin, offenbar war das seine Art, die Stimmung zu heben. Mein Kind ist tot, und du bist ungefähr so lustig wie ein Furz im Auto.

Niemand sonst lachte. Derek räusperte sich.

«Also gut, dann lassen Sie uns über Rabbits Wünsche sprechen», sagte Derek. Der Jüngling mit dem Flaumbärtchen stand hinter Derek und schien ihn wie ein Geheimdienstmitarbeiter zu bewachen. Molly schaute von Derek zum Jüngling und wieder zurück zu Derek.

«Damit hier eins klar ist, Derek, hier geht es darum, was ich möchte, und wissen Sie, warum?» Und sie sprach nicht nur mit Derek, sondern mit ihrer ganzen Familie. «Ich bin Rabbits Mutter, und Mütter wissen es immer am besten.»

«Ma, Rabbit …», setzte Grace an.

«Fang gar nicht erst damit an, Grace.» Sie stellte ein für alle Mal klar, dass sie alle Entscheidungen treffen würde, und in einigen Fällen (wo es wichtig war) würden sie im Gegensatz zu dem stehen, was Rabbit gewollt hätte. Grace murmelte etwas, was so klang wie Drecksnazitante. Davey blieb ganz still.

«So nett dieser Raum auch ist, ich will nicht, dass sie hier geparkt wird», sagte sie.

«‹Aufgebahrt› ist der Ausdruck, den wir bevorzugen, Mrs. Hayes», verbesserte sie Derek.

«Ganz egal, wir wollen sie zu Hause haben.»

«Das lässt sich arrangieren.»

«Und ich will einen offenen Sarg. Wir machen ihr ein bisschen Platz im Esszimmer.»

Jack wandte nichts dagegen ein, Molly wusste, dass er seine Jüngste gern noch einmal unter seinem Dach haben würde. Er nickte zum Plan seiner Frau und trocknete seine rot geränderten Augen.

«Ein offener Sarg im Esszimmer!», sagte Grace fassungslos.

«Na ja, ich werd sie ja wohl nicht in den verdammten Schuppen legen, oder?», sagte Molly.

«Das würde sie sicher ganz schrecklich finden, und passt sie da überhaupt hinein?», unterbrach Davey, aber Molly redete schon weiter. Sie hatte alles längst geplant.

«Wir schieben den Esstisch ans Fenster. Dann stellen wir Rabbit an die Wand.»

«Aber dann glotzen alle neugierigen alten Nachbarn durchs Fenster», sagte Grace.

«Dafür hat man Vorhänge», erwiderte Molly.

Grace wandte sich an Davey. «Sag doch was.»

«Oder wir könnten einfach den Deckel auf den Sarg legen, wie normale Menschen, Ma», sagte Davey.

«Sei nicht so frech, Davey», versetzte Molly.

«Ich bin ein erwachsener Mann», murmelte er, hatte aber nicht den Mut, sich mit ihr zu streiten. Dennoch äußerte er noch einmal seine Bedenken, dass es vielleicht verstörend für Juliet sein würde, ihre Mutter kalt wie Marmor im Esszimmer aufgebahrt zu sehen.

«Mal ganz zu schweigen von Jeffrey!», rief Grace. «Er hat schon Albträume, dass seine Tante dieser verfluchte Marshmallow-Mann aus Ghostbusters ist.» Sie wandte sich an Derek. «Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Derek, aber meine Schwester war am Ende ziemlich aufgedunsen.»

«Entschuldigt und verstanden», sagte der und nickte mitfühlend. Der Stille Ed stand da und rieb sich den nicht vorhandenen Schnurrbart.

«Das wird schon. Es ist gut für Juliet, wenn sie ihre Mammy ein letztes Mal sehen kann», sagte Molly zu Davey.

«Und was ist mit Jeff?», fragte Grace.

«Grace, Jeff hat keine Angst vor Rabbit, er ist nur versessen auf riesige Marshmallows.»

«Treib mich nicht so weit, dass ich dich umbringen muss, alte Frau», sagte Grace in einem Ton, der deutlich machte, dass sie es genau so meinte.

«Also, Grace, jetzt hör auf, deiner Mutter zu drohen», sagte Jack.

Derek beschloss, dass es Zeit war, das Thema zu wechseln. «Wollen Sie Rabbit sehen?», fragte er.

«Oh ja», sagte Molly, aber der Rest der Hayes-Sippe schwieg. Er führte sie in einen Nebenraum und schloss die Tür. In der Mitte lag Rabbit in einem Übergangssarg. Derek und der Stille Ed bewegten sich synchron, hoben den Deckel langsam an und enthüllten Rabbits Gesicht, das aus blauem Satinstoff herauslugte.

«Was zum Henker!», schrie Grace beinahe. «Sie sieht ja aus wie die Jungfrau Maria!»

«Aber nur, wenn die Jungfrau Maria eine Nutte war», sagte Molly und wandte sich an Derek: «Herrgott noch mal, Derek, machen Sie mal halblang mit dem Make-up, geht das?»

«Natürlich. Wir warten noch auf ihre Kleider», antwortete Derek entschuldigend.

«Aber abgesehen vom dicken Make-up ist sie wunderschön, nicht wahr, Grace? Ist sie nicht wunderschön?»

«Sie hat eigentlich nie Make-up getragen, Ma», sagte Grace.

«Tja, weil sie makellose Haut und perfekt geschwungene Wangenknochen hatte. Jetzt ist ihre Haut ruiniert, und ihre Knochen sind nur noch eine ferne Erinnerung, deshalb braucht sie eben Make-up, wenn auch nicht den vollen Alice Cooper», erklärte Molly.

Derek nickte. «Natürlich. Eine guter Hinweis.»

Der Stille Ed unterdrückte etwas, das entfernt wie ein Kichern klang. Derek warf ihm einen bösen Blick zu. Er hätte gern gehabt, dass sie sich jetzt sofort für einen Sarg entschieden, aber Molly war erschöpft, Jack den Tränen nahe und Grace und Davey in düsterer Stimmung. Kein guter Zeitpunkt, um weitere Entscheidungen zu treffen.

«Wir melden uns dann morgen früh dazu, Derek», sagte Molly.

«Natürlich. Es war ein langer Tag. Die Totenwache ist dann für morgen Abend angesetzt?», fragte Derek.

«Genau.»

«Soll ich mich um einen Priester kümmern, oder haben sie jemanden vor Ort?»

«Wir haben jemanden – Pater Frank», sagte Molly.

«Das ist aber kein Gottesdienst, Ma», sagte Grace durch zusammengebissene Zähne.

«Hab ich auch nicht behauptet, Grace. Ich habe nur gesagt, dass wir jemanden vor Ort haben.»

«Nichts Religiöses, Ma», warnte Davey. Rabbit war schon als Kind Atheistin gewesen, trotz aller Versuche seitens ihrer Mutter, ihr die Kirche näherzubringen. «Tut mir leid, Ma, das ist absoluter Schwachsinn. Wenn dir das gefällt, dann ist das deine Sache», hatte sie öfter gesagt, als Molly zählen konnte. Aber jetzt hatte Molly das letzte Wort in dieser Angelegenheit.

«Klappe, Kinder», sagte Molly, um sich dann an Derek und den Stillen Ed zu wenden. «Das wär’s dann also, bis morgen.»

Molly und Jack kehrten in ein stilles, kaltes Haus zurück. Molly drehte die Heizung auf und hörte die Schritte ihres Mannes auf der Treppe. Sie wandte sich gerade noch rechtzeitig um, um ihn auf dem Dachboden verschwinden zu sehen. Mittagessen. Na klar, was solltest du auch sonst tun, Jack?

Molly ging allein zu Bett und starrte eine Weile an die Decke, bis ihr die Augen brannten. Bist du da, Rabbit? Gib mir ein Zeichen, bitte, mein Liebling, es muss nur ein kleines sein, wie die, die deine Gran immer gesendet hat, weißt du noch? Irgendetwas …

Aber es kam kein Zeichen, und endlich fielen Molly die brennenden Augen zu.

TEIL ZWEIDie Totenwache

Molly

Am Tag der Totenwache erwachte Molly um sechs Uhr morgens. Draußen zog sich der Kondensstreifen eines Transatlantikfliegers über den blauen Himmel, kräuselte sich und wurde schließlich von den Höhenwinden davongetragen. Sie dachte an ihre Tochter. Schick mir ein Zeichen. Es war der dreißigste Tag im April, und der Himmel war heiter, aber zornig. Unter ihm flatterten die Blätter im Wind, und die Narzissen lehnten sich unter seinem Ansturm weit nach links, waren aber noch nicht geknickt. Einer von Mollys Blumentöpfen rollte auf der Terrasse herum, er war zerbrochen. Ist das ein Zeichen? Mein verdammter Lieblingstopf. Jack tat, als schliefe er. Sie wusste, dass er nicht wollte, dass der Tag begann, noch nicht, er war noch nicht bereit. Sie ließ ihn liegen.

Sie aß eine halbe Scheibe Toast und trank zwei Tassen Tee. Sie zog ihren Mantel an und hob auf dem Weg hinaus den zerbrochenen Topf auf und warf ihn in den Mülleimer. Um sieben Uhr hielt sie vor Graces Haus, ging aber nicht hinein. Sie konnte Lenny und den Kindern nicht gegenübertreten. Also hupte sie. Grace tauchte nach ein, zwei Minuten auf und winkte. Dann verschwand sie wieder, und während Grace beendete, was auch immer sie gerade tat, hörte Molly Radio. Eine Frau weinte, weil sie ihr Haus an die Bank verlor. Molly schaltete um. Ein Mann weinte, weil er seine gesamte Pension und seine Ersparnisse im Börsencrash verloren hatte. Molly schaltete um. Madonna sang «Like A Virgin» – Molly gab auf und schaltete das Radio aus. Grace kam kurze Zeit später zum Auto.

«Wird auch Zeit», bemerkte Molly.

«Entschuldige, Ma, ich kriege mich irgendwie gar nicht in den Griff.»

Molly nickte und legte ihre Hand auf die ihrer ältesten Tochter. «Es ist schwer.»

«Ja», sagte Grace und heulte los. Es war besser für beide, wenn sie Graces Gefühle ignorierten. Grace bemühte sich, sie wieder in sich zurückzustopfen, indem sie einen kleinen Schokoriegel aus ihrer Tasche zog und ihn aufaß. Molly fuhr weiter.

Als Molly und Grace an Rabbits Haustür klingelten, saßen Davey und Mabel gerade in der Küche und aßen Eier. Juliet lag noch im Bett ihrer Mutter.

«Sie liegt da seit gestern», sagte Davey.

«Hat sie was gegessen?», fragte Grace.

«Ein bisschen, gestern», antwortete Mabel.

«Also gut», sagte Molly. «Ich kümmere mich darum.» Sie ging die Treppe hinauf und in das Zimmer. Juliet tat ebenso wie ihr Großvater, als schliefe sie.

«Ich weiß, dass du wach bist, junge Dame», sagte Molly. «Mich kannst du nicht täuschen.»

Juliet öffnete die Augen. Molly zog sich die Schuhe aus und legte sich zu ihr, und Juliet kuschelte sich sofort an ihre Großmutter.

«Das heute ist das Schlimmste», sagte Molly.

«Ist nicht alles schlimm von jetzt an?», fragte Juliet.

«Ja, aber immerhin musst du danach keinen Smalltalk mehr machen und Sandwiches servieren», sagte Molly.

«Granny?»

«Ja, Bunny.»

«Ich bin so traurig, dass ich am liebsten sterben würde», sagte Juliet mit einer ganz kleinen, zerbrechlichen Stimme.

«Sag das nicht, Liebes», sagte Molly. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und flossen über. Sie küsste ihre Enkelin auf den Scheitel. «Bitte, bitte sag das nie wieder. Trotzdem, ich weiß genau, wie du dich fühlst.»

Juliet stand schließlich auf, duschte sich und zog sich an. Molly beschloss, dass es am besten wäre, wenn sie in dieser Nacht bei ihr blieb. Sie fragte Grace, ob sie ihr Ryan und Bernard ausleihen würde. «Sie muss mit Kindern in ihrem Alter zusammen sein», sagte Molly, und Davey und Grace fanden, dass das immerhin besser war, als sie im Bett ihrer Mutter liegen und über das Sterben nachdenken zu lassen.

Molly und Grace standen vor Rabbits Kleiderschrank und begutachteten jedes einzelne Stück. Hauptsächlich lagen da Jeans in allen Farben und Schnitten, außerdem T-Shirts mit V-Ausschnitten und aufgedruckten Band-Namen, dazwischen hingen hie und da ein Rock oder eine Jacke, außerdem ein dunkelblaues Trauzeuginnen-Kleid und ein Strickkleid mit Rollkragen, das bis übers Knie reichte.

«Wie wär’s denn mit dem Trauzeuginnen-Kleid?», fragte Grace.

«Sie geht ja nicht auf eine Hochzeit, und außerdem hat sie dieses Kleid gehasst», sagte Molly und setzte sich aufs Bett, den Kopf in die Hände gestützt.

«Erstaunlich, dass sie es überhaupt getragen hat», sagte Grace, setzte sich neben ihre Mutter und legte den Arm um Mollys Schultern.

«Sie hätte auch eine braune Papiertüte getragen, wenn Marjorie sie darum gebeten hätte», sagte Molly und hob den Blick, um in den Schrank zu starren, dessen Inhalt eher dem einer sechzehnjährigen Rockerin glich als dem einer Mutter in den Vierzigern.

«Der Rollkragen unterstreicht nur ihr aufgedunsenes Gesicht», sagte Molly.

«Wir könnten was kaufen?», schlug Grace vor.

«Was denn?»

«Weiß nicht, vielleicht ein Kleid mit V-Ausschnitt oder eine nette Bluse und eine Hose.»

«Das würde sie schrecklich finden», sagte Molly. «Sie war immer sehr wählerisch bei ihrer Kleidung, schon als sie noch ganz klein war. Als sie zwei Jahre alt war, habe ich sie einmal dabei erwischt, wie sie die Hand in ihre Windel steckte und Scheiße auf ein rosafarbenes Top mit einer Prinzessin schmierte. ‹Die Botschaft ist angekommen›, hab ich gesagt, und das war auch das letzte Mal, dass sie irgendwas mit Rosa oder Prinzessinnen zu tun hatte. Erinnerst du dich daran?»

«Tue ich, Ma», sagte Grace.

«Sie war so eigensinnig», klagte Molly.

«Von wem sie das wohl hatte», versetzte Grace sarkastisch, und Molly kicherte ein wenig.

«Na ja, sie hat den Eigensinn ja wohl nicht völlig von selbst entwickelt, oder?», sagte Molly.

«Nein, Ma, hat sie nicht.»

«Hat sie dir ein Zeichen geschickt, Gracie?»

«Nein, Ma.»

«Oh …»

«Aber sie spricht mit mir», sagte sie.

Molly biss sich heftig auf die Unterlippe und presste so stark die Zähne zusammen, dass sie weh taten. Sprich doch bitte mit mir, mein Liebling, bitte sprich mit deiner Mammy. Aber die tote Rabbit hatte keine Zeit für ihre Ma.

Sie starrten noch ein paar Sekunden auf Rabbits dürftige Garderobe.

«Wie wär’s mit dem wunderschönen Seidennachthemd, das Marjorie ihr aus Rom mitgebracht hat?», schlug Grace vor.

«Du kannst sie doch nicht in Nachtwäsche beerdigen!», protestierte Molly.

«Warum nicht, sie schläft doch, oder nicht?», sagte Grace. «Außerdem war es sehr teuer und sieht aus wie ein Kleid.»

«Komm wieder zur Vernunft», sagte Molly.

«Keiner wird es merken, nur wir beide wissen es. Wahrscheinlich ist es das beste Stück, das Rabbit je besessen hat», beharrte Grace. Sie wurde plötzlich ganz traurig, weil ihr dämmerte, dass Rabbit kein einziges Mal die Chance gehabt hatte, es zu tragen.

«Komm zur Vernunft», wiederholte Molly. «Wir müssen vielleicht doch etwas kaufen.»

Grace begann wieder zu weinen. «Das fände sie furchtbar.»

Molly wusste, dass ihre Tochter recht hatte. Das war alles zu viel, und es war ja auch noch Zeit.

«Wir müssen die Entscheidung nicht jetzt treffen. Lass sie uns einfach nach Hause holen. Ich will sie endlich zu Hause haben», sagte Molly jetzt leiser. Sie tätschelte ihrer Tochter den Rücken. Grace wischte sich die Augen und die Nase ab und nickte zustimmend.

Wenig später rannte Grace buchstäblich aus Rabbits Haus, sie blieb nicht stehen, um sich in den Zimmern umzusehen, die Rabbits Gegenwart praktisch schrien. Aber Molly tat es. Sie trödelte noch ein wenig im Flur herum und legte die Hand auf das alte Familienfoto der Hayes, das in den Achtzigern aufgenommen worden war, als der ganzen Welt der gute Geschmack abhandenkam und die Iren nur flüchtigen Kontakt zu Haarpflegemitteln hatten. Die zwölf Jahre alte Rabbit sah sie aus dem Foto an, mit zwei langen Zöpfen, einem abgeklebten Auge und einer dicken Brille. Wo bist du jetzt, Rabbit Hayes?

Grace wartete im Wagen auf dem Beifahrersitz, während Molly den Tagesablauf mit Davey besprach. Als Molly schließlich einstieg, drückte sie sofort das Gaspedal voll durch und wendete mit Lichtgeschwindigkeit, um aus Rabbits Auffahrt herauszukommen, wobei sie beinahe Kyle umgefahren hätte, der von seinem Fahrrad sprang, um sich vor Mollys eiligem-bis-waghalsigem Fahrstil in Sicherheit zu bringen. Grace kreischte. Molly trat auf die Bremsen. Kyle verschwand hinter dem Auto.

«Oh Gott, was hab ich getan?», sagte Molly leise.

«Oh Gott, was hast du getan?», schrie Grace, starrte in den Rückspiegel und wagte nicht, sich zu rühren.