Für Seka - Mina Hava - E-Book

Für Seka E-Book

Mina Hava

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Beschreibung

Übrig geblieben sind ihr nur ein Briefumschlag mit einer Handvoll Fotografien und die Angst vor dem Vater, die Sorge um ihre Mutter und ihren Bruder, die Knoten in ihrer Brust. Seka sucht mit Anfang zwanzig nach den Spuren ihrer zerbrochenen Familie und ihres bisherigen Lebens. Sie rekonstruiert den Weg ihrer Eltern aus Bosnien in die Schweiz und fragt nach den Verbindungen, den Fäden zu ihr. Dabei stößt sie auf das Gefangenenlager in Omarska in den neunziger Jahren und einen Brief, der sie weiter nach Den Haag und Genf führt, später ins Berner Oberland. Und sie stellt fest, dass in Omarska heute Erz in den Minen abgebaut wird, als hätte es die Geschichte nicht gegeben, die eines fast schon vergessenen Krieges in Europa. Dabei wirken die Versehrungen der Vergangenheit bis in die Gegenwart fort.
Mina Hava verknüpft in ihrem Debütroman historisches Material, Recherche- und Rekonstruktionsarbeit mit persönlichen Erfahrungen, Verlusten und Ängsten – und beleuchtet, was Geschichte bedeutet für Landschaften und Körper. Sensibel erzählt Für Seka ein junges Leben, in dem das Politische und das Persönliche untrennbar verbunden sind, eine Geschichte vom Verlassen und Verlassenwerden und von der Frage, was war.

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Seitenzahl: 280

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Cover

Titel

Mina Hava

Für Seka

Roman

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

eISBN 978-3-518-77542-4

www.suhrkamp.de

ALS DIE Gräber rund um Omarska ausgehoben wurden und die ersten Prozessberichte in den Zeitungen zu lesen waren, lernte Seka südlich der Jurakette in einer Schwimmhalle mit großer Rutsche, die in weitem Bogen nach draußen in die Kälte und wieder zurück ins warme Innere führte, zu schwimmen, wobei sie mit lautem Geschrei ins Wasser sprang und so lange nicht mehr auftauchte, bis hinter ihr jemand in ihren Rücken zu springen drohte. Sie lernte, die Augen im Wasser zu öffnen und die Luft anzuhalten, und merkte bald, während sie ihre Beine unter Wasser beobachtete, wie sie ihr linkes Bein etwas falsch ausschlug, sodass sie in Folge erhebliche Mühe aufwand, diese Gewohnheit, die Art, wie sie zu schwimmen gelernt hatte, zu überwinden. Sie fürchtete, man würde ihr den Fehler ansehen, und schwamm deswegen langsam, konzentriert und war schnell außer Atem. In Mund und Nase drang das mit Chlor angereicherte Wasser, das sie in großen Mengen schluckte, sodass ihr im Anschluss der Magen schmerzte, und die geröteten Augen kamen erst zur Ruhe, wenn sie unter Ausschluss anderer Blicke in der Kabine im Umkleideraum für einen Moment die Lider schloss.

Es war gleichgültig geworden, was man trug und wer man war. Eingebunden in den Körper, in die Haare, deren Enden, die Spitzen, in die nächste Generation und ihre Gebärden war dasjenige, was mit den Jahren in ihm gehütet und mit den Bewegungen, die den Körper beschäftigten, still gestellt worden war: wohl eine Art Schmerz. Seka sah ihn ihrer Familie an. Die Frauen hatten sich der Kleidung im Laufe der Jahre und Moden nicht entledigt. Sie hatten sie weitergetragen oder in Kisten aufbewahrt und wieder hervorgeholt, die Haarfarbe gewechselt, den Ansatz nicht mehr nachgefärbt und an Eitelkeit verloren. Sie nannten es nicht Befreiung, sagten stattdessen, es sei nun mal, wie es sei, sagten, man habe im Leben gelernt, Schmerzen zu erdulden, habe aushalten müssen, was nicht auszuhalten sei, sagten, man habe sich abends in der Garage versteckt, beim Schuppen gestanden und geweint.

Gab man im Internet »Omarska« als Suchanfrage ein, kamen Einträge vom Gefangenenlager, schließlich der Link von Tripadvisor für die besten Hotels in der Nähe des Bahnhofes.

Im Internet wurden Zimmer für den Sommer ausgeschrieben, für die Rückkehrer.

Für diejenigen, die in der Schweiz, in Australien, in den USA, in Österreich lebten und nach dem Krieg mit ihren Löhnen selbst noch Häuser bauten für die Sommer, die Familie, die Kinder, damit sie wissen, so sagten ihre Eltern, woher sie kommen, ihre Herkunft kennen, ihren Platz in der Welt.

Die Welt: der Pool in Kozarac, das Chlor im Haar, die erste Louis Vuitton vom Fälscher auf dem Schwarzmarkt und die Schlange am Schalter von Western Union.

Omarska verschwand, als ob es das Lager nie gegeben hätte. Aus dem Gedächtnis und der Geschichte ausgeschlossen, zerfiel es in etliche Tabs, die Seka in ihrem Browser öffnete. Lediglich ein paar lose Erinnerungen an die Sommer im Hof, die zahlreichen Käfer an der Fassade bildeten heute die Grundlage, aus der sie den Gegenstand, der ihr Leben war, herausarbeitete.

Als habe er sie zum Verschwinden gebracht, jede Einzelne von ihnen, Mutter wie Tochter, versenkt hinter den Vorhängen, den Sonnenbrillen und abgedunkelten Fenstern. Es war, dachte Seka, während sie ihrer Mutter beim Sprechen zusah, als bliebe nach all den Jahren nur noch das Bild der Bettdecke, die der Vater zurückgeworfen hatte, um sie wach zu rütteln, bevor die Sanitäter ihre Mutter aus der Wohnung trugen. Als bliebe nur noch das Versprechen, das Seka dem Vater damals gab, niemandem davon zu erzählen. So auch die Erinnerung an die Blumen, die sie noch als Kind ihrer Mutter in die Notaufnahme brachte.

Nach wie vor zurückhaltend, als sie am Lausanner Bahnhof sagte, man habe sie damals, als man ihr ein weiteres Mal den Magen ausgepumpt habe, niemals zurückschicken dürfen, nicht zu den Kindern, nicht zu ihrem Ehemann, Sekas Vater.

Bestenfalls: die Häuslichkeit der Lügen, der Bedrohung, dieses Handtuch in den Händen, eine mit Dartpfeilen zerschossene Wand.

Es folgten zwei weitere Versuche, Ereignisse dieser Art, von denen niemand wusste. Schließlich der vierte und letzte Weckruf, Amirs Tod.

Erst dann ging die Mutter.

Dem Boden gleichgemacht.

Und nahm die Kinder mit.

Da waren die im Dreck liegenden Kieferknochen, die Frage, wer wann umgekommen sei, das schon müde Tragen der Wasserflaschen.

Der für den Trans-Amazonian Highway gerodete Wald auf einer brasilianischen Briefmarke aus den 1970er Jahren.

Das Gemälde des Berges Cerro Rico bei Potosí in Bolivien aus dem frühen 16. Jahrhundert, die Silbererze, die Casa de la Moneda mit den Schmelzöfen und den Schmelztiegeln.

Die Stifte, Tragetaschen und die Aufgabe, den Gegenständen ihre Namen zu geben, sie zu ordnen nach Gestalt, Größe und Gewicht, die Wardian cases, mithilfe derer man die aus Übersee nach Europa geschifften Pflanzen durch die Nachbildung der vorherigen Umgebung (Temperatur, Luftfeuchtigkeit) vor dem Eingehen schützte und eine erste koloniale Umwelt nachbildete, sie in Form von Terrarien ins bürgerliche Wohnzimmer des 19. Jahrhunderts holte.

Die wiederholte Bewegung oder Nutzung natürlicher, ökonomischer oder sozialer Ressourcen (frei nach Jochen Oltmer).

Die Frage, welches Überleben den heutigen Erkundigungen vorausging.

Die mit Anmerkungen versehene Druckfahne von Orlando der Autorin Virginia Woolf aus dem Jahr 1928, mit mehrfach durchgestrichener Widmung und korrigierten Kommas. Ihr in den Kolonialdienst beförderter Freund und späterer Ehemann Leonard, von dem sie in ihren Tagebüchern schrieb, er könne ihr zwar Kameradschaft, Kinder und ein geschäftiges Leben geben, von dem sie noch sagte, sie liebe ihn zwar, fühle sich zu ihm körperlich aber nicht hingezogen.

Die für den schweizerischen Nationalstaat irreversible Artikulation eines »Systems« der Gastarbeiterschaft.

Die japanischen picture brides.

Die mit Kreide an die Wandtafel geschriebenen Worte, erst die Globalisierung schaffe Heimat, erst das Fremde das Eigene.

Die Verheiratung japanischer Frauen in Hawaii, die Auswahl der jungen Frauen anhand von Fotografien, den auf Plantagen arbeitenden Tagelöhnern (coolies) zur Heirat angeboten. Eine Herausbildung frühster transnationaler Gemeinschaften, einer mit Kameras festgehaltenen und heute in Archiven katalogisierten ersten Hoffnung auf ein anderes, zukünftiges Leben.

Die Bilder der Liebe als Stirn, als Hosenbein, als Art zu gehen oder als Sprühwolke eines Deodorants.

Die mit dreihundert Kommentaren versehene Todesanzeige des Großvaters auf Facebook.

Die Aufnahmen eines von amerikanischen Wissenschaftlern umstellten Massengrabes, datiert auf das Jahr 1927 in Liberia, mit den Unterschriften forest clearing sowie road constructionbeim Ausbau der bis dahin größten Kautschukplantage der Welt.

Der Biss in das mit Puderzucker bestäubte Zuckergebäck und die stichfeste Schokolade.

Der Umschlagplatz für die aus dem Balkan versklavten Frauen und Männer, im Venedig des 13. bis 15. Jahrhunderts, wobei die Frauen aus dem Kaukasus, die über den Balkan in die Hafenstädte gebracht wurden, die höchsten Preise erzielten.

Die kroatische Bucht, in der jemand erschiene, den sie beobachten und der ihr gefallen würde.

Herbeigerufen im Lärm der Zikaden, schon von der Hitze träge. Der Junge, der die Strände auf und ab ging und »Krofne« rief.

Ob blond oder braunhaarig. Irgendwelche Wangen vor dem inneren Auge, wahllos, behaart oder noch glatt. Die Träumereien und Gedanken daran, wie man wohl in ein Gespräch kommen würde, noch jugendlich, eigentlich ein Kind.

Die bei Mailand aus dem Fenster gestreckte Hand während der Autofahrt.

Der vom Wetter ausgebleichte Strick am Baum kurz vor der Ankunft, an dem jemand, so die Vermutung, mal hing.

Der zerplatzte Putz des Klosters in Dajla, inmitten der vom Eisen rot gefärbten Erde, mit der Brandung, die den roten Sand wieder von den Füßen wusch.

Da waren die Küchen der Restaurants, die Reben der Weinberge, der Tunnel- und Straßenbau, die Gewächshäuser, die Uhrenfabriken, die Angestellten mit den Namen Vesna und Meho, die Vergrößerungsgläser vors Auge geklemmt beim Einsetzen der Edelsteine in die Uhren.

Ihr Sohn Haris, der ihr an seinem Geburtstag in La Chaux-de-Fonds in hüfthohem Gras mit ausgestreckten Armen hinterherlief, sodass sie schrie.

Das zeitgleiche Verliebtsein in einen Lehrer, der Vertretung gab, dessen Beine beim Gehen leicht voneinander abstanden, ein kaum merkliches »O« formten, der teure Kleidung trug und beim Reden seine Hand manchmal auf die Brust legte als Zeichen für einen zu Ende gesprochenen Satz.

Und dieser Rasenmäher im Garten wohlhabender Eltern, ein automatischer, der zu aller Erstaunen nicht in den Pool stürzte.

Weitere Skizzen wie: Industrieanlagen in den Voralpen, die Mensen der Schweizer Universitäten als Orte der spätindustriellen Transformation der Schweiz.

Die Einträge waren im Grunde genommen dürftig.

Das »Čuvaj se« an einem Sonntagmorgen beim Bäcker auf dem Helvetiaplatz, als Antwort auf die von ihm geschenkten Brötchen, »Pass auf dich auf«. Der spätere Spaziergang auf den Uetliberg.

Das Befragen der Dinge auf mögliche oder erfundene Verbindungen.

Übrig geblieben war ein Brief des Vaters an seine Tochter, mit einer Handvoll Fotografien darin, im Grunde schäbig und ohne weitere Bedeutung. Auf dem Umschlag standen die Worte »Za Seku«, Für Seka, und waren bestimmt für das Mädchen, die Tochter, die in ihrem eigentlichen Namen nur noch variabel und durch die Jahre des Kontaktabbruchs eine Gestalt ohne besondere Anzeichen geworden war.

Auf den Fotografien zu sehen war Seka als Kind, ein Mädchen mit braunen Haaren.

Wie sie ihren jüngeren Bruder in der Badewanne auf dem Schoß hält.

Wie sie als Kind auf der Grossen Schanze in Bern darauf wartet, ihrer Mutter nach der Vorlesung in die Arme zu springen.

Die mit schwarzer Schminke angedeuteten Schnurrhaare auf ihren Wangen, für die Fasnacht als Katze verkleidet.

Dieses sich nach zwanzig Jahren umkehrende Verhältnis, wonach die Mutter nun auf die Tochter wartete und sie nach deren Vorlesung auf der Grossen Schanze zum Mittagessen traf.

Manche Männer waren gestorben, wurden inhaftiert, wieder andere hatten überlebt, um ein Haar, nach Monaten der Folter, und wurden befreit an einem warmen Sommertag im August. Manche hatten Zuflucht gefunden und sich niedergelassen in der französischen Schweiz, in Genf, hatten Omarska und Trnopolje überlebt, sich im Witz geübt, den Scharfsinn nicht verloren und den Blick für »unten« bewahrt.

Andere waren verloren.

Man weinte hinter dem Tresen eines Bergrestaurants, in der Waschküche eines Gasthofes, zuhause in den eigenen vier Wänden, auf der Autobahn mit der Ausfahrt Airolo vor Augen, im Gotthardtunnel im Stau, inmitten der Nachrichtensendungen, die aus dem Radio kamen, als man hörte, Flugzeuge seien in New York in zwei Türme geflogen, die Ursache sei noch unbekannt, die Zahl der Todesopfer groß. Man weinte oft, still, kaum vernehmbar, nahm Anteil an der Welt, so gegenstandslos, und gehe, so sagte man, an ihr zu Grunde.

Das finale Urteil über Omarska wurde gesprochen, nachdem Seka den Weg zur Schule gegangen war, als sie den Stift fest umschlossen in der Hand hielt und unter dem Tisch die Beine bewegte. In der Zeit des Prozesses, der mehrere Jahre in Anspruch nahm, wurden im Gebiet rund um Omarska ungefähr sechzig Massengräber entdeckt. Unterdessen hatte Seka längst zu gehen und zu sprechen gelernt und ihre Großmutter in der Nähe der ausgehobenen Gräber wieder einen Garten angelegt. Ob man zurückkehren oder bleiben würde, ob man woanders hingehen würde, wurde nicht in Erwägung gezogen.

Was ihr heute die Richtung wies, lag wie eine Fährte vor ihr, ein frischer Luftzug mit dem fernen Panorama der Alpen im Blick.

Genf wurde ein Zuhause, zwei Zimmer groß, mit Küche, Lift, Schlafzimmer, Ehe- und Kinderbett, ein Hof der Vereinten Nationen. Man übte sich im Rascheln mit den Einkäufen, wenn man diese auspackte und auf den Tisch legte, und war zufrieden, als die Kinder zur Schule gingen, sagte, man sei froh, würden die eigenen Kinder das Gespräch mit den Lehrpersonen übersetzen, sie würden die Sprache schnell aufnehmen, beliebig, was man ihnen vorsetzte, ob Deutsch oder Französisch. Sagte, man sei froh, habe man nach dem negativen Entscheid in Deutschland nun eine vorübergehende, eine befristete Bleibe in der Schweiz.

Die Bilder der Lager waren bewegt, sie waren in Farbe, das Filmmaterial eines britischen Journalistenteams, das seinen Besuch in Omarska und Trnopolje dokumentierte und Häftlinge nach ihrem Zustand befragte, war im Internet zugänglich. Es war da, nicht weiter zu leugnen. Das Dokument, ein Film mit einer Länge von vierundzwanzig Minuten, zeigte eine Vielzahl Menschen, überwiegend Männer, im Wartezustand, ungewiss, was ihnen bevorstehen würde. Zu sehen war, wie der Reporter die Inhaftierten über den Zaun hinweg in Gespräche verwickelte und auch mit den bewaffneten Aufsehern sprach und dabei die Frage stellte, ob es sich hier um ein Konzentrationslager handle, die sie verneinten.

Die Inhaftierten saßen in Gruppen auf dem Rasen, sie führten Gespräche, ihre Gesichter waren mager, so auch ihre Körper, sie antworteten auf die Frage der Journalisten, ob sie alle aus Prijedor kämen und Kämpfer seien, in englischer oder russischer Sprache, sie seien alle aus der Umgebung, aus den Dörfern, Zivilbevölkerung, zusammengetrieben, wie man später in den Zeitungen lesen würde, sie seien keine Kämpfer:

»I have never fought.«

»Can you tell me anything about the conditions in which you are being kept in – or is it difficult?«

»I am not sure that I am allowed to talk about that, you know.«

Sie seien erst heute aus einem anderen Lager nach Omarska gebracht worden.

Dieses »heute« gehörte dem Jahr 1992 an, ein warmer Tag im August.

Auf die Frage, ob sie geschlagen würden, sagten sie, hier nicht, aber sie würden lieber nicht darüber sprechen, und gaben mit Blicken zu verstehen, das Thema zu wechseln. Der Reporter dankte und sagte, er sei vom britischen Fernsehen, es sei das erste Mal, dass es ihnen möglich sei, in die Lager zu kommen und zu filmen. Als er über den Zaun einen Geldschein reichte, brach unter den Inhaftierten Unruhe aus.

Wie sie nicht wussten, dass sie nur diejenigen in bester Verfassung zu Gesicht bekommen würden.

Die Journalisten begleitete ein Übersetzer, welcher der bosnischen, englischen und russischen Sprache mächtig war.

Sekas Vater sagte, so ihre Erinnerung, er habe sich in der Schule für Russisch und gegen Deutsch entschieden. Er war es, der ihr südlich der Jurakette das Schwimmen beibrachte und ihr half, die Beine richtig auszuschlagen, die Arme von sich zu strecken und in weitem Bogen zurückzuziehen. Man habe ihm in der Schule das Schreiben mit der linken Hand ausgetrieben. Er habe gelernt, mit der rechten zu schreiben.

An bestimmten Tagen schwamm sie wie gegen schweres Öl an.

Unter großer Anstrengung lernte Seka, schneller zu schwimmen, einen strengeren Atemzug.

War das Becken zu voll, lag sie halbnackt mit einem Buch in der Hand, dessen Blätter nass geworden und wieder getrocknet waren, am Seitenrand. Sie schloss die Augen und hörte, wie sich die zum abendlichen Training eingefundenen Menschen im Wasser bewegten.

Was hieß es zu graben?

Den Namen desjenigen zu tragen, den man gemeinhin als »Babo« und später als Monster in Erinnerung behalten hatte.

Schwamm sie, glaubte sie, die Rufe ihres Vaters zu hören, der sie vom Beckenrand aus beobachtete und jede ihrer Bewegungen prüfte.

Manchmal schien ihr, als würde man sich abends in der Spiegelung der Fenster mit dem ganzen Arsenal, das man sich über die Jahre zugelegt hatte, mit Stift, Papier, Zeit und Laptop, Suchauftrag um Suchauftrag verfangen.

Es war, als habe man lediglich nach Aufzeichnungen zu suchen, um zu verstehen, dass die eigene Geschichte über keine Archive verfügte. Die Bibliotheken waren im Zuge des Krieges verbrannt. Diese Einsicht kam schnell, hatte man doch die Videos gesehen von Mostar, von Sarajevo, den einsamen Cellospieler in den Trümmern der Nationalbibliothek, der für jedes Todesopfer, das für Brot angestanden hatte und bei einem Mörseranschlag ums Leben gekommen war, zweiundzwanzig Tage in Folge spielen würde. Sich heute in Räumen der Hochkultur, wie jemand auf dem Weg zum Kolloquium borniert sagte, zu bewegen, Geschichte zu studieren, sich mit Relikten und Deutungen jener vertraut zu machen, die einen nie im Blick hatten, nur auf das eigene Gutdünken achtgaben, sich daran störten, wenn man sagte, man wolle sich nicht mit ihrer Forschung vertraut machen, sondern sich um die eigene bemühen, war, als würde man im deutschen Lesesaal verloren gehen.

Dubravka Ugrešić, eine kroatische und ins Exil gegangene Schriftstellerin, schrieb im Jahr 1994: »Nur die Toten lügen nicht, aber keiner glaubt ihnen.« Ähnliches schrieb auch Primo Levi, Überlebender der Buna-Werke in Auschwitz: Die Ermordeten seien eigentlich die wahren Zeugen. Die Überlebenden seien nicht geeignet, Auskunft über eine systematisch erfolgte Massenvernichtung zu geben. Wo der Tod die Regel ist, seien dies nur die Toten.

Im Laufe der Jahre war man seine eigene Archivarin geworden.

Was Auschwitz mit Omarska verband, waren die Gräben, die Stoffe und ihr so drängender, kapitaler Wert. Eine Vielzahl von Geschichten der Extraktion (der transpazifische Transfer von coolies, die Rodung der Wälder, der Bau von Straßen, später Tunneln, Schächten, Wasserdampf).

Notwendige Werkzeuge zur Erschließung von Stoffen begehrenswerter Art.

Zumal die deutschen Automobile ihre Reifen, die Operationssäle ihre Handschuhe brauchten, musste ein Ersatz gefunden werden. Es brauchte ein chemisches Äquivalent zum natürlichen Kautschuk, der von den Briten in Malaysia und den Amerikanern in Liberia auf Plantagen (rubber trees) erwirtschaftet wurde. Da den Deutschen die Lieferwege durch die Amerikaner gekappt worden waren, wurde auf dem Fabrikgelände Auschwitz-Monowitz für I. ‌G. Farben synthetischer Kautschuk hergestellt. Es brauchte Chemiker, die in deutschen Laboren einen Stoff nach den Bestandteilen Butadien und Natrium »Bu-na« benennen würden, solche wie Primo Levi, ein italienischer Chemiker und späterer Schriftsteller, der im Lager und den Buna-Werken Zwangsarbeit leistete und überlebte.

In der Zwischenzeit: Ford, Reagan, die Amerikaner und die Firestone Natural Rubber Company in Liberia, mit ihren rubber trees. Forschende aus Harvard, als Wissenschaftler stets zuvorderst dabei, als es hieß, neues Gebiet zu erschließen.

Diese Tropenhüte bei der kartografischen Erschließung des Landesinneren im Jahr 1926 auf der Harvard Medical African Expedition.

Sciences of exploration: die Produktion unzähliger Enzyklopädien, der Bau botanischer Gärten sowie die Erfindung der Tropen samt ihrer Medizin als Antwort auf die Krankheiten derjenigen, die vom Meer kommend an Land traten.

So auch: die Anfertigung zahlloser Missionsmemoiren wie etwa The Congo for Christ: The Story of the Congo Mission von John Brown Myers aus dem Jahr 1895 und ihr Einzug in bürgerliche Bibliotheken, Reiseliteratur.

Als rückten die Stoffe und Güter die heutigen Verkehrsnetze, die Antennen, selbst den fahlen Geruch des Benzins auf Raststätten in anderes Licht, das Glas Orangensaft in der Kühltheke, den Kaffee und Tee in den Tassen wie auch das Graphit in ihrem Stift, mit dem Seka zu schreiben lernte.

Das tiefe Graben der Spaten in der Erde, das Rütteln der Klumpen durch Siebe, das Schürfen nach Silber, Eisen und Erz und der Transport von Gütern mündeten 1916 im Bau eines Eisenbahnnetzes. Der Abbau von Mineralen tief in der Erde, die Suche nach glänzenden, phosphoreszierenden Steinen mithilfe von Wasser, Lampen und Spaten, der Gestank und Ruß an den Händen bei der Einfahrt in das Bergwerk in Ljubija und Omarska bedeuteten für diejenigen, die in der Umgebung von Omarska geboren wurden, eine Standardisierung der Zeit, eine Angleichung der Ziffern an die in Berlin und eine langsame Anbindung der Dörfer an die eine Welt.

Was Seka im Laufe der Arbeit zu Rate ziehen würde: den blauen Ordner bei ihrer Mutter mit den Markierungen, Streichungen im Text sowie eigene, unzählige Kommentare und Notizen dieser Art:

Was im Altgriechischen dia (diá-, Vorsilbe, die eine Bewegung quer oder in alle Richtungen anzeigt) und spora (speírō, »säen«) heißt, würde im Deutschen, auf ihre Situation übertragen, ein Ausdruck für dasjenige werden, das ohne festen Grund ist und sich stets in Bewegung hält, wäre ebendieser offene Tagebau, eine Senke, ein geologischer Boden, der nicht vernarbt ist, und trüge den Namen »Omarska«.

Als bräuchte es einen Moment kurzer Andacht, in dem man sich seiner eigenen Hände und seiner Verrichtungen gewahr würde, die ein Philosoph einmal als »entfremdete Arbeit« deutete.

Es blieben Fragen.

Als sähe man, wie es war, sich mit dem Erdboden vertraut zu machen, einen Garten anzulegen, Tomatensetzlinge in die Furchen zu drücken und sie mit Erde zu bedecken.

Als sähe man den Pickel und die Feuerlaterne in der Silbermine von Potosí, einem Berg, von dem man im 16. Jahrhundert aufgrund der vielen Toten sagte, dass er Menschen fresse.

Was bedeutete es, das Wasser zu hören, wie es am Rand des großen Beckens im Abflussschacht verschwand, oder auch das Husten, sobald jemand Wasser geschluckt hatte? Im Erdboden zu graben, nach Erz oder Knochen zu suchen?

Einen Brief zu finden?

»My dear Minka, I am writing you this letter even though I am not at all sure whether you will get it.«

Unter der jugoslawischen Regierung wurde in der Mine in Omarska Erz abgebaut, wurden dem Boden Wertstoffe entwendet, wurde sein Sediment Stück für Stück abgetragen.

In einer Sprachaufnahme, aufgenommen im Auto zwischen Prijedor und Kozarac, schließlich die Stimme ihrer Mutter: Die Anstellungen in den Fabriken und auch der Mine seien in diesem Gebiet nicht an alle gleichermaßen vergeben worden. Aus der Nachbarschaft habe sie lediglich zwei gekannt, die eine Anstellung hatten. Der Rest habe anderswo gearbeitet, in Slowenien, dem Ausland. Während sie sprach, hörte man den Verkehr, den Lärm, das Schalten der Kupplung wie auch die Stimme von Seka, die, als das Öffnen der Tür zu hören war, sagte, sie wolle Kukuruz zu Mittag essen, einen Maiskolben.

Als Tito starb, Jugoslawien in seine Kriege zerfiel, wurde das Gelände der Mine ein Folter- und Todeslager. Aus diesem Lager schrieb der Gefangene Muhamed Čehajić seiner Frau Minka:

»If you are able, please get me some cigarettes, soap, toothpaste, two or three pairs of underwear and undershirts, a tracksuit, an electric razor and shaving cream. Do not send me food because I cannot eat anyway. Send me some ground coffee, if you have any.«

Die Zeugin sagte im Prozess vor Gericht aus, sie habe im Radio gehört, wie derjenige, gegen den sie in Den Haag aussagte, davon sprach, das Lager in Omarska habe es nie gegeben. Sie sagte, sie habe nicht glauben können, was er behauptete, zumal jeder zu diesem Zeitpunkt von der Existenz des Lagers wusste. Es war Minka, die Adressatin des Briefes, die sprach. Eine Frau, die bei ihrer Anhörung im Jahr 2002 ein graues Jackett trug und ihre zittrigen Hände, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, unablässig vor dem Mikrofon bewegte. Sie gab Auskunft über den Tod ihres Mannes, über seine Inhaftierung, sein Ausbleiben nach der Befreiung der Lager. Hätte es dieses Lager in Omarska nicht gegeben, sagte sie, so wären ihr Mann, ihr Neffe und viele mehr noch am Leben.

»I feel so empty. I feel as if I had never been alive. I'm trying to fight it. I'm trying to resist it by remembering everything that was beautiful with you and the children and all those that I love.«

Die Zielgruppe war die örtliche Elite: Schuldirektorinnen, Lehrer, Ärztinnen, aber auch all jene, die man unterwegs aufgesammelt hatte, Arbeiter, Bauern, einfache Angestellte mit den Namen Muhamed oder Sadeta.

»Give my love to all who ask about me. And to you and the children, I love you very, very much.«

Aus den Berichten des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien ging hervor, dass diejenigen, die das »Weiße Haus« betraten, nie wieder lebend gesehen wurden. Lastwagen, die zuvor Lebensmittel für die Soldaten abgeladen hatten, wurden mit toten Körpern beladen und in die Umgebung ausgefahren, um die Leichen in zuvor ausgehobenen Gruben zu versenken.

Am 31. Mai 1992 wurde die nicht serbische Bevölkerung über Radio aufgerufen, ihre Häuser mit weißen Fahnen zu versehen und weiße Armbinden zu tragen.

Um die Häuser kurze Zeit später in Brand zu setzen.

Seka betrachtete ihre Beine unter Wasser.

Sie war weder eine besonders schnelle noch gute Schwimmerin, doch machte sie heute, wenn sie sich mutig fühlte, in einer Vorwärtsrolle unter Wasser kehrt und tat, als es ihr gelang, so, als ob dies nichts weiter bedeutete, obwohl sie sich jedes Mal aufs Neue freute, wenn es klappte. Ihr linkes Bein schlug immer dann falsch aus, die alte Gewohnheit kam wieder zum Zug, wenn sie sich für einen Moment vergaß. Bahn für Bahn nahm sie sich aufs Neue vor, etwas länger zu warten, bevor sie zur Rolle ansetzte, etwas näher an den Rand zu schwimmen, so weit, als könnte sie sich dabei jeden Moment den Kopf stoßen, um sich mit den Beinen noch stärker vom Rand abzudrücken.

In Trnopolje sah man die Männer vor einer Grube knien und nach den Schüssen, die auf ihre Köpfe und Rücken zielten, ins Loch fallen. Man sah vor ihnen welche, die bereits erschossen worden waren, und hinter ihnen diejenigen in einer Schlange stehen, die ihnen folgen würden. Die Frauen wurden vergewaltigt und hofften laut eigener Aussage, mit einer Kugel zu sterben.

»Dear Minka, I am very worried about /?Sejdo/, /?Nasa/, /?Bika/ and the others. I have heard very ugly things, so please try to let me know somehow what has happened with them. Safet/?a/'s Mustafa brought me cigarettes, underwear and the most essential things.I am grateful to him forever.«

Die Kinder wurden lebendig in brennende Öfen geworfen und die Überlebenden gefoltert. Ihnen wurden die Augen ausgestochen, Finger, Nasen und Ohren abgetrennt und die Geschlechtsorgane abgeschlagen.

»Letter from Muhamed Čehajić to Minka Čehajić EXHIBIT #S 50a – Translation 03 ‌05 ‌34 ‌12, /handwritten document/«

Seka lag der Brief in englischer Übersetzung und in bosnischem Original vor.

Man würde sich in der Presse darauf einigen, wie man die Kriege auslegte, und von ethnischer Zugehörigkeit sprechen. So erklärte man sich das, was geschah, glaubte zu verstehen, wer wen umbrachte und warum. Vor diesem Hintergrund wurde die Notwendigkeit, den weiblichen Körper zu regulieren und zu kontrollieren, eine Frage des Staates, dessen Grenzen neu gezogen wurden, er verlagerte sich in den Schoß der Frau, in dasjenige, was sie zu gebären fähig war.

Im Lager befanden sich Frauen, von denen viele später freigelassen wurden. Fünf von ihnen wurden getötet. Es starben: Mugbila Besirević, eine Ökonomin, Edna Dautović, eine Studentin, Hajra Hodić, ebenfalls eine Studentin, Velida Mahmuljin, eine Lehrerin, und Sadeta Medunjanin, eine Professorin.

Die Mine in Omarska lag zwölf Jahre brach, bevor sie 2004 vom weltweit größten Unternehmen für Stahlproduktion, von Mittal Steel, aufgekauft wurde. Auf dem Gelände der Mine lagen Tote, deren Ausgrabung durch die Bewirtschaftung des Bodens und die Wiederinbetriebnahme der Mine verhindert wurde. Hierzu fehle, so las Seka in einem der mageren Berichte über das Lager, der öffentliche Druck. Die Mine war wieder in den Kapitalmarkt eingebunden worden.

Zur selben Zeit schlugen Hände mit Pickel und Beil in eine Masse aus Stein und Staub, man fand zwischen den Knochen Haare. Beim Bau einer neuen Wasserleitung war man auf Gräber gestoßen. Infolgedessen wurden forensische Experten aus Den Haag entsandt. Mit behandschuhten Händen entwendeten sie den Knochen Kleidung, Bluejeans und Jacken der Marke Adidas, sie entnahmen sie den Überresten jener Körper, deren Herzen nacheinander auf Befehl hin mit Schüssen zum Stillstand gebracht worden waren.

»Minka Čehajić testified on 14, 15 and 16 May 2002 in the case against Milomir Stakić. […] In its judgement of 31 July 2003, the Trial Chamber stated that it had no evidence at hand to establish beyond reasonable doubt the reason for Muhamed Čehajić's death. It however said that, ›even if Čehajić was not directly killed, the conditions imposed on a person whose health was fragile, alone would inevitably cause his death.His ultimate fate was clearly foreseeable.‹«

Der erste Prozesstag wurde 1998 aufgerufen, knapp acht Monate nach Sekas Geburt. Im Fall »IT-98-30/1« würden fünf Männer der Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges beschuldigt und später verurteilt werden. Selbst glaubte sie nicht, jemanden persönlich zu kennen, der das Lager überlebt hatte, wurde aber von ihrer Mutter darauf hingewiesen, dass sie das sehr wohl tat.

Zwei, drei Onkel, den Stiefvater einer Cousine, einen Schuldirektor, allerlei Komšiluk, die Nachbarschaft.

Diejenigen aus Genf.

»Auch der mit dem fehlenden Daumen?«

Ein Unfall mit der Säge, wie man meinte.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag markierte die Verbrechen auf einer interaktiven Karte mit roten Stecknadeln. Die Landesfläche war, so sah Seka, als sie mit dem Cursor über die animierte Grafik wischte, beinahe vollständig rot. Zum Zwecke der hegemonialen Expansion und des Traumes von »Großserbien« wurde neues Territorium gewaltsam auf Kosten der Zivilbevölkerung erkämpft.

Sie saß am Tisch an ihrem Laptop und blickte hinaus. Ein Bauer lief zu seinen Hühnern und verschwand hinter seinem Stall.

Oder in den Worten ihrer Großmutter: Man solle, bevor man die Veranda neu streiche, die Wahlen abwarten.

Die Nebeldecke lichtete sich. Aus dem Fenster sah sie ins Berner Oberland. Seka saß in einer Hütte, hob einen Bleistift an und ließ diesen fallen, sah ihm zu, wie er bis an den Rand des Tisches rollte.

Als würde man beim Anblick dieser dutzenden Files, Tabs und Stapel von Papier auch nur annähernd schlau werden.

Der Bauer ging in seinen Stall, rückte Sekunden später wieder in ihr Sichtfeld und schwenkte den Eimer in seiner Hand hin und her. Er versenkte die andere Hand in das Futter und warf die Körner gekonnt in weitem Bogen auf den Boden aus. Der Nebel zog wieder zu.

Seit Stunden sah sie sich die Videos der Verhandlungen in Den Haag an. Versprecher, falsche Anreden, Habitus und Missverständnisse wurden in den Transkripten festgehalten. Wobei das Bosnisch, das die Zeugen und Überlebenden sprachen, etwa dasjenige von Minka, in ihr eine sentimentale Regung weckte. Die dialektale Färbung war ihr vertraut. Die Betonung der Silben glich derjenigen ihrer Großeltern. Aus dem weiteren Material ging hervor, was alles nicht Einzug fand in die verschriftlichte Wiedergabe des Falls: so etwa das Räuspern, wenn die Stimme der Zeugen versagte, als sie über die Kinder sprachen, die ermordet wurden, der Blick zur Decke oder auch die Reihung der Stühle, die Krawatten und Jacketts, die die Beschuldigten trugen, wie auch das Schimmern des Lichts im Saal.

Das Wetter war launisch.

Sie hörte, die Schmerzen hätten einen umgebracht.

Wieder sah sie auf die Bergkette des Berner Oberlandes, sah die Kulisse, die vor vierzig Jahren die ersten ihrer Art gesehen hatten, jugoslawische »Buffettöchter«, Bauarbeiter, »Fremdarbeiter«, »Menschen wie Du und Ich«, wie der Blick im Jahr 1975 titelte.

Aus einer Sprachaufnahme mit ihrer Großmutter: Sie seien damals im Gasthof gefilmt worden, vom Fernsehen, um zu zeigen, wie gut es funktionierte im Betrieb.

Endloses Sichten des SRF-Archives ohne Ergebnis.

Schon nur die Schwierigkeit der Schlagworte: »Fremdarbeit«, »Saisonnierstatut«, »Saisonnier«, »Schwarzarbeit«, »Berner Oberland« etc. Dieses nicht weiter ablassende Gefühl, man suche mit den falschen Begriffen.

Das Aufrufen jedes einzelnen Videos, schließlich der lange Verbleib bei der Ankunft der jugoslawischen Saisonniers im Grenzbahnhof Buchs in St. Gallen im Jahr 1981, bei der Einfahrt eines Extrazuges aus Belgrad um fünf Uhr morgens.

Die Stimme aus dem Off: Der Zug würde bei abgeschlossenen Türen zum Auffanglager geführt, wo die Saisonniers die »Grenzsanitarische Kontrolle« absolvierten. Hunderttausende Saisonniers würden in der Schweiz »irgendwo« arbeiten, nach neun oder elf Monaten wieder ausreisen und jedes Jahr aufs Neue auf einen weiteren Arbeitsvertrag hoffen.

In einem anderen Mitschnitt des SRF die von einem Arzt aufgezählten Sexualkrankheiten des »Fremdarbeiters«, der zeitgleiche, in den Zeitungen festgehaltene Gebrauch des Wortes »Überfremdung«, ein seit den 60ern etabliertes Vokabular, teilweise noch anhaltend bis heute.

Stundenlanges Sichten von im Grunde rechtlosen Menschen.

Für manche bereits die neunte Saison.

Beim Anblick der Kinder irgendwoher plötzlich dieses Weinen.

Weiter in den Notizen: In der Schweiz war die Unterbringung von mehr als einer Person in einer Zelle nicht die Regel. Im Normalfall fristeten die Insassen, Frau oder Mann, ihren Strafvollzug einzeln und verfügten über ein Bett, einen Fernseher, eine Nasszelle mit Waschbecken und Toilette, ein Fenster mit Vorhängen, einen Tisch und Regale für Bücher oder trockene Lebensmittel wie Kaffee.

Die Maße einer Gefängniszelle betrugen bei Neubauten zwölf Quadratmeter, sonst häufig weniger. Da die Suizidrate der Inhaftierten nach dreiundzwanzig Stunden in Isolation anstieg, baute man heute Zellen, in denen mindestens zwei Personen waren, mit achtzehn Quadratmetern. Für Amir kam das zu spät. Er nahm sich das Leben mit einem Bettlaken. Anschließend wurde er nach Bosnien überführt und unter die Erde gebracht.

Mit zehn Jahren war er seinen Eltern aus Bosnien ins Berner Oberland gefolgt. Dort ging er sprühen, schrieb Gedichte, baute Beats und rauchte, wusste sich zu verlieben und Drogen zu nehmen. Knapp fünfzehn Jahre nach seiner Ankunft in der Schweiz überführte man Amir aus einer Berner Gefängniszelle nach Kozarac, schüttete Erde über sein Grab und verschwieg, wie er starb.

Zehn Jahre später folgte ihm sein Großonkel Ramiz.

Dieser starb im Ramazan. Nur wenigen sei es vorbehalten, im heiligen Monat zu gehen, sagte seine Frau, Sekas Großmutter, als ihr Mann verstarb. Von ihren Enkelkindern wurde sie Majka genannt. Auf »Eid Mubarak« oder »Bajram šerif mubarek olsun« antwortete sie mit »Allah razi olsun«, und für den 8. März, den Tag der Frau, wünschte sie sich Blumen. Jede zweite Woche ging Majka zum Frisör, färbte sich die Haare oder erneuerte die Dauerwelle, hatte ihre Ohrringe mit großer Andacht getragen, bis sie ihr in der Dusche im Abfluss entwischten, und war vierundsiebzig Jahre alt, als Ramiz starb.

Rief Majka in der Schweiz an, hörte man am anderen Ende der Leitung lange Zeit nichts, bis man merkte, dass sie den Anruf aus Versehen getätigt hatte. Man hörte es rauschen, ihre Schritte und das Rascheln ihrer Hosenbeine.

Ob sie ausreichend Strom habe, der Wasserdruck in der Dusche wieder in Ordnung sei und so weiter und so fort.

Bei gemeinsamen Mittagessen erzählte sie, wie sie im Lotto mehrfach kleinere Beträge gewonnen hatte und mit dem Geld im Haus in Kozarac fünf Zimmer mit Laminat auslegen oder den Hühnerstall reparieren ließ. Sie hatte Witz,