Furia - Raymond Khoury - E-Book

Furia E-Book

Raymond Khoury

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Beschreibung

Ein Angestellter des russischen Konsulats wird in New York aus einem Fenster gestoßen und stirbt. Was wollte er in der Wohnung des pensionierten Physiklehrers? Dieser scheint wie vom Erdboden verschluckt. Gemeinsam mit einer russischen Geheimdienstmitarbeiterin macht sich FBI-Agent Sean Reilly auf die Suche nach Leo Sokolov. Bald findet er heraus: Der Wissenschaftler ist ein anderer, als er jahrelang vorgab. Die mysteriöse Waffe in seinem Besitz ist unsichtbar und tödlich. In den falschen Händen wäre ihr Schaden unaufhaltbar. Doch Reilly ist nicht der Einzige auf Sokolovs Spur …

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Rasputin’s Shadow« bei Penguin Books, New York  

Für meine wunderbare Mia. Ich vermisse dich sehr und wünsche dir eine großartige Zeit bei deinem neuen Abenteuer.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sigrun Zühlke

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2015

ISBN 978-3-492-96969-7

© 2013 Raymond Khoury Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2015 Covergestaltung: Favoritbüro, München Covermotiv: Mark Owen/Trevillion Images (Person), MaxyM/shutterstock (Gebäude) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

»Die größte transzendentale Errungenschaft wäre die Eroberung des eigenen Gehirns.« Santiago Ramón y Cajal (1852–1934), Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger

PrologUral, Russisches Reich 1916

Als der schrille Schrei von den Wänden der Kupfermine widerhallte, spürte Maxim Nikolajew ein seltsames Kneifen im Kopf.

Der große Mann stellte seine Spitzhacke ab und wischte sich die Stirn. Langsam ließ der Schmerz wieder nach. Er holte tief Luft und füllte dabei seine bereits geschädigten Lungen mit noch mehr giftigem Staub. Doch das merkte er längst nicht mehr, es kümmerte ihn auch nicht. Im Moment dachte er nur an die Mittagspause, denn sein Arbeitstag hatte bereits um fünf begonnen.

Als die letzten Echos der Pfeife nicht mehr zu hören und die Schar der Spitzhacken zur Ruhe gekommen waren, vernahm Maxim in der Ferne das Rauschen des Flusses Miass, draußen vor dem Eingang der offenen Mine. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als er noch ein kleiner Junge war und sein Onkel ihn zum Schwimmen an jenen abgeschiedenen Platz draußen vor Osiorsk mitnahm, weit weg vom dicken, fauligen Rauch, der Tag und Nacht aus den Schornsteinen der Schmelzhütte quoll.

Er dachte an den Duft der Kiefern, die so hoch waren, dass es aussah, als berührten sie den Himmel. Er vermisste die Ruhe dieses Ortes.

Den offenen Himmel und die reine Luft vermisste er noch mehr.

Eine Stimme hallte von etwas weiter weg durch den Tunnel: »Hey, Mamo, schaff deinen Hintern hier rüber. Wir spielen um einen Fick mit Pjotrs Tochter.«

Maxim hätte gern die Augen über Wassily verdreht, über den Spitznamen, den er hasste, und die allgemeine Dummheit des Mannes, aber der drahtige Kerl fühlte sich schon bei der leichtesten Provokation angegriffen, also lächelte Maxim stattdessen die Männer in der Gruppe an, legte sich die Spitzhacke über die breite, muskulöse Schulter und schlenderte zum Sitzplatz, an dem schon die drei anderen mudaks ihre gewohnten Plätze eingenommen hatten.

Er setzte sich neben den unglückseligen Pjotr und lehnte sein Werkzeug neben sich an die Wand. Maxim hatte die Tochter des Mannes nur einmal gesehen und fand sie in der Tat beeindruckend schön, aber er zweifelte nicht daran, dass sie jederzeit etwas Besseres bekommen könnte als jeden dieser armseligen Verlierer um ihn herum, die sich hier für einen mehr als mageren Lohn in den Tiefen der Erde abrackerten.

Maxim fischte einen Flachmann aus der Tasche– bei Strafe verboten– und nahm einen langen Schluck, dann wischte er sich den Mund mit einem schmierigen Ärmel ab. »Also los dann«, sagte er zu Wassily. Wenn es sowieso nicht zu ändern war, konnte er genauso gut versuchen, dem anzüglich grinsenden Idioten ein bisschen Geld abzuluchsen.

Stanislaw, der Erbärmlichste des Quartetts, fing an, gefolgt von Pjotr, dann Maxim. Dann kam Wassily an die Reihe. Er knallte die Faust auf eine eben umgedrehte Herzdame, erschütterte den wackeligen Holztisch, an dem die vier Männer saßen, und lehnte sich dann mit einem durchtriebenen Grinsen zurück.

Maxim zuckte nicht zusammen. Seine Gedanken schweiften bereits ab. Er spürte wieder ein seltsames Kribbeln im Kopf, wie ein leichtes Kitzeln ganz tief im Gehirn. Aus irgendeinem Grund dachte er, dass er Ochko nicht leiden konnte. Alle taten so, als ginge es dabei ums Können, wo man doch in Wirklichkeit bloß Glück brauchte. Durak spielte er viel lieber, ein Spiel, bei dem man scheinbar Glück brauchte, bei dem es aber in Wirklichkeit ums Können ging. In den siebenundzwanzig Jahren, die er dieses Spiel spielte, war er noch nie derjenige gewesen, der am Ende mit Karten in der Hand dagesessen hatte. Wahrscheinlich weigerte sich dieser Blutsauger Wassily deshalb, dieses Spiel mit ihm zu spielen.

Wassilys krächzende Stimme drang durch seine wirren Gedanken. »Komm schon, Mamo, zieh eine Karte, bevor wir hier alle verschimmeln.«

Maxim schaute nach unten und merkte, dass er seine ersten beiden Karten aufgedeckt hatte, ohne auch nur daraufzusehen.

Stanislaw deckte eine Kreuzsieben auf, die ihn wenig überraschend schon nach drei Karten aus dem Spiel warf, Pjotr hatte eine Pikzwei, was ihm neunzehn Punkte einbrachte. Nervös sah er zu Wassily, dessen Miene unverändert blieb. Der Mistkerl hatte mit achtzehn Punkten geführt. Dazu war er ein sehr schlechter Verlierer. Wassily bedeutete Maxim, er solle sich beeilen und ausspielen, wahrscheinlich, damit er dann eine Drei umdrehen und den kleinen Stapel Münzen in der Mitte des Tisches einstreichen konnte.

Maxim hatte wirklich keine Lust, ihn gewinnen zu lassen. Nicht heute. Nicht hier, und sonst auch nicht. Und als er gerade seine Karte aufdecken wollte, spürte er, wie sich ein stechendes Gefühl durch den hinteren Teil seines Schädels bohrte. Es dauerte kaum einen Atemzug an. Er schüttelte den Kopf, schloss kurz die Augen und schlug sie gleich wieder auf. Was immer es gewesen war, es war weg.

Er lugte auf seine Karte, dann blickte er Wassily an. Das sehnige Ekelpaket grinste schon wieder, und in dem Augenblick wusste Maxim, dass der Mann ein Betrüger war. Er wusste nicht, warum, aber er war todsicher.

Und nicht nur das, er sah ihn auch an, als hasste er ihn. Es war mehr als Hass. Abscheu. Verachtung.

Als wollte er ihn am liebsten umbringen.

Und da wurde Maxim klar, dass er Wassily sogar noch mehr verabscheute. Das Blut in seinen Adern hämmerte gegen seinen Schädel, aber er schaffte es noch, die Karte umzudrehen. Er beobachtete, wie Wassily den Blick senkte, um zu sehen, was es war. Eine Karofünf. Maxim war auch aus dem Spiel. Wassily grinste ihn spöttisch an und deckte seine eigene Karte auf. Herzvier. Zu viel. Er hatte gewonnen.

»Wie wir, moi ljubimyi«, sagte Wassily fies grinsend und streckte die Hand aus, um seinen Gewinn einzustreichen. »Vier Herzen, die wie eines schlagen.«

Maxims Hand schoss vor, um Wassily aufzuhalten, aber im selben Augenblick drehte sich Stanislaw würgend vom Tisch weg und übergab sich auf die Stiefel des Betrügers.

»Baaah! Stanislaw, du Hurensohn!« Wassily sprang auf und machte einen Satz nach hinten, weg von dem würgenden Mann, dann zog ein gepeinigter Ausdruck über sein Gesicht. Er stolperte über die Kiste, auf der er gesessen hatte, und ging zu Boden, wobei er sich den Kopf anschlug, den Tisch umwarf und die Karten durch die Luft wirbeln ließ.

Pjotr schoss ebenfalls hoch, kochend vor Wut. »Vier? Welche Vier? Ich seh hier keine Vier. Du dreckiger Betrüger.«

Maxim sah wieder zu Stanislaw hinüber, dessen Augen inzwischen blutunterlaufen waren, als hätte das Würgen alle Blutgefäße in seinem Gesicht zum Platzen gebracht, und Maxim wusste, wusste ganz sicher, dass Stanislaw genauso falschgespielt hatte. Hatten sie alle, die Schweine. Sie wollten ihn abzocken– und dann wollten sie ihm wehtun.

Wie zur Bestätigung brach Wassily in Lachen aus. Nicht einfach nur ein Lachen, nein, es war ein dämonisches, aus der Tiefe aufsteigendes Lachen voll Verachtung und Spott und– da war sich Maxim sicher– Hass.

Maxim starrte ihn an, ohne sich vom Fleck rühren zu können, spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, wusste nicht, was er tun sollte …

Er sah, wie Wassily einen Schritt auf ihn zu machte– er sah wirklich ganz und gar nicht gut aus–, dann verdrehten sich die Augen des Mannes, und er blieb wie angewurzelt stehen.

Pjotr hatte Maxims Spitzhacke in Wassilys Hinterkopf versenkt.

Maxim taumelte zurück, während Wassily ihm vor die Füße kippte und sich ein Schwall Blut aus seinem Schädel ergoss. Der Schmerz in seinem Hinterkopf kehrte zurück, schärfer als zuvor. Eine durchdringende Angst ergriff ihn. Er würde der Nächste sein. Das wusste er ganz bestimmt.

Sie würden ihn umbringen, wenn er sie nicht zuvor umbrachte.

Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er etwas so sicher gewusst.

Während auch in den anderen Abschnitten der Mine wütende Schreie ausbrachen, stürzte er sich auf Pjotr, wehrte seinen Arm ab, griff nach der Spitzhacke und fing an, mit dem mörderischen Betrüger darum zu ringen. Im schummerigen Licht der einzelnen, schmuddeligen Laterne sah er aus dem Augenwinkel Stanislaw, der wieder auf den Beinen war und ebenfalls nach seiner Hacke griff. Alles verschwamm in einem Wirbel aus Klauen und Hieben und Schreien und Schlägen, bis Maxim etwas Warmes zwischen seinen Händen spürte, etwas, das er unter allen Umständen zerquetschen musste, bis sie sich in der Mitte trafen, und als sein Blick sich klärte, sah er, wie das augenlose, blutige Gesicht des armen Pjotr sich tief violett verfärbte, bevor er dem Kerl das Genick brach.

Um ihn herum war die Luft plötzlich erfüllt mit Schreien und dem Geräusch von Stahl, der in Fleisch und Knochen hackte.

Maxim lächelte und schöpfte ganz tief Atem. Noch nie hatte er etwas so Schönes gehört– da blitzte am Rand seines Gesichtsfeldes etwas auf.

Er wich nach hinten aus, während die Axt auf seinen Hals zuschwang, und fühlte den Luftzug auf dem Gesicht. Dann rammte er seinem Angreifer eine Faust in die Rippen und gleich danach die nächste. Etwas zerbrach. Er trat hinter den stöhnenden Mann und legte ihm den Arm um die Kehle– es war Popow, der Schichtleiter, der die ganze Zeit, in der Maxim hier arbeitete, nicht ein Mal die Stimme erhoben hatte– und begann, ihm die Luft abzudrücken.

Popow fiel zu Boden wie ein Sack Rote Bete.

Maxim schnappte sich die Axt aus der Hand des Toten und grub sie ohne Zögern in Stanislaws Gesicht, der jedoch bereits die Hacke, die er in Händen hielt, halb erhoben hatte, um sie gegen Maxims Brust zu schwingen. Maxim versuchte noch, ihr auszuweichen, doch die Hacke traf ihn und riss ihm ein großes Stück Fleisch aus der Seite.

Stanislaw taumelte rückwärts und stürzte, die Axt ins Gesicht gegraben.

Maxim sackte auf die Knie und fiel dann vornüber, griff mit beiden Händen in sein zerfetztes Fleisch und versuchte, die klaffenden Ränder der Wunde zusammenzudrücken.

Da lag er, wand sich auf dem Boden, während der Schmerz durch ihn hindurchschoss, die Hände in seinem eigenen Blut gebadet, und erhaschte einen flüchtigen Blick in den Schacht. In dem trüben Licht konnte er kaum die Umrisse der anderen mudaks überall in den Tunneln ausmachen, die wild aufeinander einhackten.

Er sah auf die Wunde in seiner Seite herunter. Sein Blut rann ihm durch die Finger und ergoss sich pulsierend auf den Dreck des Minenbodens. Während um ihn herum die Todesschreie hallten und die Minuten verstrichen, starrte er weiter darauf, wie betäubt, seine Gedanken wirbelten in einem Mahlstrom der Verwirrung davon– da durchbrach eine mächtige Explosion die Luft hinter ihm.

Die Wände erbebten, und Staub und Felsbrocken regneten auf ihn hinab.

Drei weitere Explosionen folgten, schleuderten alle Laternen aus ihren Halterungen und tauchten die sowieso schon düsteren Tunnel in absolute Schwärze.

Ganz kurz herrschte tödliche Stille– dann folgten ein kalter Luftzug und ein drängendes Rauschen.

Ein Rauschen, das zu einem Brüllen wurde.

Maxim starrte in die Dunkelheit. Er sah die Wasserwand nicht mehr, die mit ungeheurer Gewalt auf ihn traf und ihn mit sich riss. Doch in jenen letzten Sekunden des Bewusstseins, jenen letzten Momenten, bevor das Wasser in seine Lungen drang und die Wucht der Flut ihn gegen die Tunnelwand schleuderte, dachte Maxim Nikolajew an seine Kindheit und wie friedlich es sein würde, wenn er an den Fluss seiner Jugend zurückkehrte.

Am Sprengkasten neben dem Eingang des Schachtes stand der Forscher und lauschte, bis die Stille in den Berg zurückgekehrt war. Er zitterte sichtlich, wenn auch nicht vor Kälte. Sein Begleiter hingegen war unnatürlich ruhig und heiter, was den Wissenschaftler noch stärker schaudern ließ.

Sie hatten diese lange Reise zusammen unternommen, aus der fernen Abgeschiedenheit eines sibirischen Klosters an diesen ebenso verlassenen Ort. Eine Reise, die vor vielen Jahren mit großartigen Versprechungen begonnen hatte, die sie seither jedoch auf wildes, verbrecherisches Territorium geführt hatte. Der Gelehrte konnte es nicht genau sagen, wie sie an diesen Punkt ohne Wiederkehr geraten waren, wie es letztendlich zu diesem Massenmord gekommen war. Und während er seinen Begleiter anstarrte, überkam ihn die Furcht, dass dies hier erst der Anfang war.

»Was haben wir getan?«, murmelte er, und er verspürte Angst, während die Worte sich über seine Lippen stahlen.

Sein Begleiter wandte sich ihm zu. Für einen Mann von so viel Macht und Einfluss, einen Mann, der ein intimer Freund und Vertrauter des Zaren und der Zarin war, war er ungewöhnlich gekleidet. Eine alte, speckige Jacke mit abgewetzten Aufschlägen. Weite Hose mit tief hängendem Schritt, wie bei den Pluderhosen der Türken. Die geölten Stiefel eines Bauern. Dann waren da der ungepflegte, verfilzte Bart und das fettige Haar, mit einem Mittelscheitel wie bei einem Kneipenkellner. Der Wissenschaftler wusste, dass all dies nicht echt war, sondern zu einem wohlkalkulierten Erscheinungsbild gehörte. Einem Erscheinungsbild, das listig entworfen war, um einem größeren Plan zu dienen, einem Plan, den der Forscher möglich gemacht hatte und dessen Komplize er geworden war. Ein Kostüm, das die Demut und Bescheidenheit eines wahren Gottesmannes vermitteln sollte. Eine so schlichte Tracht, dass sie unmöglich in irgendeiner Weise von dem hypnotischen graublauen Blick ihres Trägers ablenken konnte.

Dem Blick eines Dämonen.

»Was wir getan haben?«, echote sein Begleiter in seiner seltsam schlichten, beinahe urtümlichen Art zu sprechen. »Ich werde dir sagen, was wir getan haben, mein Freund. Du und ich … wir haben gerade die Rettung unseres Volkes gesichert.«

Wie immer in Gesellschaft des anderen spürte der Wissenschaftler, wie ihn eine dumpfe Schwäche überkam. Er konnte nur noch dastehen und nicken. Doch als er anfing zu begreifen, was er eben getan hatte, senkte sich erstickende Düsternis auf ihn herab, und er fragte sich, was für entsetzliche Dinge noch vor ihm liegen mochten, Schrecken, die er sich damals in jenem abgeschiedenen Kloster im Traum nicht hätte ausmalen können, wo er zum ersten Mal dem rätselhaften Landmann begegnet war. Wo der Mann ihn vom Äußersten zurückgeholt hatte, ihm die Wunder seiner Gabe gezeigt und ihm von seinen Wanderungen zu tief in den Wäldern verborgenen Klostern erzählt und von den Überzeugungen berichtet hatte, zu denen er dort gekommen war. Wo der Mystiker mit dem stechenden Blick ihm zum ersten Mal von der Ankunft des »wahren Zaren« erzählt hatte, eines gerechten Regenten, eines Erlösers des einfachen Volkes. Eines Retters des Heiligen Russland.

Einen Wimpernschlag lang fragte sich der Forscher, ob er wohl jemals in der Lage sein würde, sich dem Griff seines Mentors zu entziehen und den Irrsinn zu verhindern, der mit Sicherheit bevorstand. Doch so schnell, wie der Gedanke an die Oberfläche seines Bewusstseins gedrungen war, so schnell war er auch wieder fort, erstickt, bevor er auch nur Gestalt annehmen konnte.

Er hatte noch nie erlebt, dass irgendjemand Grigori Rasputin irgendetwas verweigert hätte.

Queens, New York CityGegenwart

Der Wodka schmeckte nicht besonders, nicht mehr, und dieser letzte Schluck hatte in seiner Kehle wie Säure gebrannt, was ihn allerdings nicht daran hinderte, nach mehr zu verlangen.

Es war ein schlechter Tag für Leo Sokolow.

Ein schlechter Tag in einer ganzen Reihe schlechter Tage.

Er riss den Blick von dem an der Wand montierten Fernseher los und gab dem Barmann ein Zeichen zum Nachschenken, dann schaute er wieder zu der Livesendung aus Moskau hin. Bitterkeit wühlte ihn auf, als die Kamera auf den Sarg zoomte, der in die Erde hinabgelassen wurde.

Der Letzte von uns, klagte er in zornigem Schweigen. Der Letzte … und der Beste.

Der Letzte aus der Familie, die ich ausgelöscht habe.

Das Bild teilte sich, um noch eine weitere Übertragung zu zeigen, vom Manegenplatz, wo Tausende von Demonstranten vor den Mauern und Türmchen des Kremls wütend protestierten. Direkt unter den Nasen derjenigen, die diesen mutigen, anständigen … diesen großartigen Mann ermordet hatten.

Ihr könnt so viel schreien und brüllen, wie ihr wollt, dachte er wütend. Was kümmert die das? Was sie ihm angetan haben, würden sie jederzeit wieder tun, und sie werden es auch jedes Mal wieder tun, wenn jemand es wagt, das Wort gegen sie zu erheben. Denen ist es doch egal, wie viele sie töten. Für die sind wir doch allenur … Er erinnerte sich an die mitreißenden Worte des Mannes.

Wir sind alle nur Vieh.

Eine tiefe Traurigkeit durchflutete ihn, als die Kamera zu einer Nahaufnahme einer trauernden Mutter schwenkte, ganz in Schwarz, die mit aller Kraft versuchte, sich würdig und stolz zu zeigen, obwohl sie genau wusste, da war sich Sokolow sicher, dass ihr jeder Anflug von Protest erbarmungslos ausgetrieben werden würde.

Seine Finger klammerten sich fester um das Glas.

Im Unterschied zu anderen Oppositionsführern war der Mann, der da begraben wurde, weder ein machtgieriger Egomane gewesen noch ein gelangweilter Oligarch, der seinem noch prunkvollen Leben eine weitere Trophäe hinzufügen wollte. Ilja Schislenko war kein nostalgischer Kommunist, kein sendungsbewusster Umweltschützer oder wilder Linksradikaler gewesen. Er war einfach ein ganz normaler, besorgter Bürger, ein Anwalt, der fest entschlossen versucht hatte, die Dinge in Ordnung zu bringen. Und wenn schon nicht, ganz in Ordnung zu bringen, so doch, sie zumindest besser zu machen. Der gegen die Mächtigen kämpfte, die, die er öffentlich als die Partei der Lügner und Diebe gebrandmarkt hatte– ein Etikett, das sich mittlerweile fest in den Geist derjenigen eingebrannt hatte, die gegen die Regierung arbeiteten. Der gegen die ungezügelte Korruption und Veruntreuung kämpfte, um diejenigen loszuwerden, die jene entmachtet hatten, die das Land über Jahrzehnte versklavt hatten, jene, die jetzt mit einer vergoldeten Klinge statt mit eiserner Faust regierten, jene, die den unermesslichen Reichtum des Landes geplündert und ihre Milliarden in London und Zürich gebunkert hatten. Der sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um seinen Mitbürgern etwas von der Würde und der Freiheit zu schenken, die viele ihrer Nachbarn in Europa und überall auf der Welt genossen.

Wie stolz Sokolow gewesen war, als er zum ersten Mal von ihm gelesen hatte. Es hatte seiner matten, dreiundsechzig Jahre alten Lunge frisches Leben eingehaucht, diesen charismatischen jungen Mann in den Nachrichten zu sehen, die begeisterten Reportagen über ihn in der New York Times zu lesen, seine mitreißenden Reden auf YouTube zu hören, zuzusehen, wie die Protestbewegung, die er anführte, wuchs und wuchs, bis das Unerhörte geschah und Zehntausende zorniger Russen aller Altersgruppen und Schichten es wagten, sich bei eisigen Temperaturen und der Miliz zum Trotz auf dem Bolotnajaplatz und überall in der Stadt zu versammeln, um seine Worte zu hören und ihre Zustimmung herauszuschreien und zu zeigen, dass sie genug davon hatten, wie hirnlose Leibeigene behandelt zu werden.

Und als wäre es noch nicht begeisternd genug gewesen, seine Worte zu hören, als hätte, diese Menschenmengen zu sehen, sein Herz nicht schon höher schlagen lassen, so machte die Tatsache, dass dieser inspirierende Anführer, dieser außergewöhnliche und mutige Mann, dieser Retter der Retter, niemand anderes als der Sohn von Leos eigenem Bruder war, das alles noch atemberaubender. Sein Neffe, und abgesehen davon das letzte überlebende Mitglied seiner Familie.

Der Familie, die er selbst ausgelöscht hatte.

Die Fernsehbilder zeigten jetzt eine Rückschau auf die letzte Rede seines Neffen, ein Bericht, den Sokolow plötzlich kaum noch mitansehen konnte. Wenn er die selbstsicheren Züge des jungen Mannes und die unwiderstehliche Energie, die er ausstrahlte, sah, konnte Sokolow nicht anders, als sich vorzustellen, wie sich das geändert haben musste, nachdem er festgenommen worden war. Er konnte die Schrecken nicht ausblenden, die über den Mann gekommen sein mussten. Wie so oft, seit die Nachricht von seinem Tod über ihn hereingebrochen war, konnte er nicht aufhören, sich seinen Neffen vorzustellen– dieses wunderschöne, strahlende Leuchtfeuer von einem Mann–, wie er in irgendein dunkles Loch im Lefortowo-Gefängnis geworfen worden war, jenem nichtssagenden, senfgelben Block unweit des Moskauer Zentrums, in dem seit den Tagen des Zaren Staatsfeinde eingekerkert wurden. Er wusste alles über die schmutzige Vergangenheit des Gebäudes, darüber, wie Dissidenten hier durch Nasensonden zwangsernährt worden waren, um sie gefügiger zu machen. Er wusste von seinen Folterkellern und den »psychologischen Zellen« mit ihren schwarzen Wänden, der einzelnen 25-Watt-Birne, die rund um die Uhr eingeschaltet von der Decke hing, und den ständigen, irremachenden Erschütterungen, die vom benachbarten Institut für Hydrodynamik herüberdrangen, sodass man kaum einen Becher auf dem Tisch abstellen konnte, ohne dass er früher oder später herunterrutschte. Er wusste auch von dem überdimensionierten Fleischwolf, in dem die Leichen seiner Opfer zerkleinert wurden, bevor man sie in die städtischen Abwasserkanäle spülte. Alexander Solschenizyn war hier eingekerkert gewesen, ebenso wie der ehemalige KGB-Agent Litwinenko, dem man einen kettenrauchenden Informanten als Zellengenossen zugewiesen hatte– eine kleine Aufmerksamkeit seines früheren Arbeitgebers, der wusste, wie sehr er Zigarettenrauch verabscheute–, bevor man ihn durch mit Polonium verseuchten Tee ermordete, nachdem er nach seiner Entlassung in London Zuflucht gefunden hatte.

Die Ermordung seines Neffen war nicht annähernd so ausgeklügelt gewesen. Dennoch, das wusste Sokolow, zweifellos wesentlich schmerzhafter.

Zweifellos.

Vergeblich versuchte er, die qualvollen Bilder von dem, was sie ihm da drin angetan hatten, auszublenden. Er schloss die Augen, aber die Bilder kamen trotzdem. Er wusste, wozu diese Leute fähig waren, er wusste es nur allzu gut, in allen blutrünstigen, unmenschlichen Einzelheiten, und er wusste, dass sie seinem Neffen nichts davon erspart hatten, nicht, wenn die Entscheidung von ganz oben gekommen war, nicht, wenn sie einen der größten Stachel in ihrem Fleisch loswerden wollten, nicht, wenn sie ein Exempel statuieren wollten.

Das Fernsehbild wechselte, die Aufnahmen jetzt stammten von einem Ort, der wesentlich näher an der heruntergekommenen Astoria-Bar lag, in der Sokolow am Tresen hing. Es zeigte eine Protestdemonstration, die gerade in Manhattan stattfand, vor dem russischen Konsulat. Hunderte von Demonstranten, die Schilder schwenkten, Fäuste schüttelten, Blumengestecke und andere Trauergaben vor den Toren der anliegenden Gebäude niederlegten– alles unter den Augen von New Yorks Polizei und einer kleinen Schar Reporter.

Es wurde zu einem anderen Schauplatz geschnitten, zu ähnlichen Demonstrationen, die vor anderen russischen Botschaften und Konsulaten überall auf der Welt stattfanden, bevor die Berichterstattung wieder zu der in Manhattan zurückkehrte.

Sokolow starrte mit erloschenem Blick auf den Bildschirm. Innerhalb von Augenblicken hatte er seinen Deckel bezahlt und taumelte aus der Bar hinaus. Er war sich nur ungefähr bewusst, wo er war, aber er war sich mehr als bewusst, wo er hinmusste.

Irgendwie schaffte er es von Queens nach Manhattan bis zur East Ninety-First Street und der großen, lärmenden Menge, die gegen die Absperrgitter der Polizei drängte. Wut tobte in seiner Brust, befeuert durch die erbitterte Leidenschaft, die ihn umfing, und so warf er sich ins Getümmel, schüttelte die Fäuste und stimmte in die vertraut klingenden Chöre, die »lschezy, ubijzy«– »Lügner, Mörder«– und »pozor«– »Schande«– riefen.

Kurz darauf war er ganz vorne in der Menge, direkt an der Absperrung, die die Tore des Konsulates schützte. Die Sprechchöre waren noch lauter geworden, die Fäuste wurden wilder in der Luft geschwenkt. Verstärkt durch den in seinen Adern kreisenden Alkohol, wirkte das Ganze beinahe psychedelisch. Seine Gedanken wanderten in alle möglichen Richtungen, bis sie an einer sehr befriedigenden Vorstellung hängen blieben, einer Rachephantasie, die wie ein Buschfeuer durch ihn hindurchraste. Sie wärmte ihn von innen, und er ertappte sich dabei, wie er sie nährte und ihr erlaubte zu wachsen, bis sie ihn wie ein wütendes Inferno verschlang.

Mit müdem, vernebeltem Blick registrierte er ein paar Männer am Eingang des Konsulates. Sie beobachteten die Menge und berieten sich kurz, bevor sie sich wieder hinter geschlossene Türen zurückzogen.

Sokolow konnte sich nicht beherrschen.

»Ganz recht so! Lauft nur und versteckt euch, ihr gottlosen Schweine«, grölte er ihnen nach. »Eure Zeit ist abgelaufen, hört ihr mich? Eure Zeit ist abgelaufen, und zwar für euch alle, und ihr werdet bezahlen. Ihr werdet teuer bezahlen!« Tränen strömten über seine Wangen, während er immer wieder mit den Fäusten gegen die Barrikade hieb. »Glaubt ihr, ihr hättet uns erledigt? Glaubt ihr, ihr hättet die Schislenkos erledigt? Denkt gut darüber nach, ihr Scheißkerle. Wir werden euch erledigen. Wir werden euch auslöschen, jeden Einzelnen von euch.«

Noch die ganze nächste Stunde schrie er sich die müden Lungen aus dem Leib, schüttelte die schwachen Fäuste. Irgendwann hatte er keine Kraft mehr und stahl sich mit hängendem Kopf davon. Er schaffte es zurück zur U-Bahn und dann zu seiner Wohnung in Astoria, wo ihn seine Frau Daphne in ihre liebenden Arme nahm.

Was ihm natürlich nicht klar war, woran er nicht einmal dachte, auch wenn er es hätte besser wissen müssen und auch besser gewusst hätte, wären da nicht diese letzten vier Gläser Wodka gewesen, war, dass sie ihn beobachteten. Sie observierten und sie lauschten, wie sie es immer taten, besonders zu Zeiten wie diesen, bei Versammlungen wie diesen, wo die Unerwünschten massenweise registriert und analysiert und katalogisiert und auf allen möglichen unheilvollen Listen verzeichnet werden konnten. Überwachungskameras an den Wänden und auf dem Dach des Konsulates sowie leistungsstarke Richtmikrofone waren installiert worden, und, noch schlimmer, Undercoveragenten der Föderation hatten sich unter die Menge gemischt, hatten die Demonstranten und ihre wütenden Rufe und Fäuste nachgeahmt, während sie die Gesichter um sich herum eifrig studierten und diejenigen herauspickten, die es wert waren, genauer betrachtet zu werden.

Sokolow dachte nicht daran, aber er hätte es wissen müssen.

Drei Tage später kamen sie ihn holen.

  Federal Plaza, Manhattan

Ich weiß, man nennt sie spooks, aber bei diesem Typen hier hatte ich allmählich wirklich das Gefühl, dass es sich um einen Spuk handelte.

Ich war schon seit ein paar Monaten hinter ihm her, seit jenem Tag im Sequoia National Park in Hank Corliss' Hütte. Seit dem Tag, an dem sich Corliss das Hirn weggeblasen hatte, nachdem er mir gesagt hatte, wen er kontaktiert hatte, um meinem Sohn Alex eine Gehirnwäsche zu verpassen.

Meinem vier Jahre alten Sohn.

Nur ein ganz besonders niederträchtiges Exemplar der menschlichen Rasse ist zu so etwas fähig. Corliss hatte einen Knacks, das gesteh ich ihm zu. Er war ein lebendes, atmendes Wrack. Er hatte einen tragischen, vernichtenden Albtraum durchlebt, als er vor ungefähr fünf Jahren eine Operation der DEA in Südkalifornien und Mexiko leitete. Ich war damals dabei, als Teil eines gemeinsamen Einsatzkommandos von DEA und FBI. Wir hatten Raoul Navarro gejagt, einen barbarischen mexikanischen Drogenboss, der »el brujo« genannt wurde, der Hexer, und es war alles schiefgegangen. Auch an mir ist das nicht spurlos vorübergegangen, aber was sie damals in der Nacht Corliss angetan haben– das war mehr als nur barbarisch.

Meinen Sohn zu benutzen, so abscheulich das war, entsprang Corliss' krankhafter Rachsucht. Sie hatten ihn zusehen lassen, wie seine Tochter starb, bevor sie ihn mit Kugeln durchlöchert hatten. Es war ein Wunder, dass er überlebt hatte. Vielleicht hatte ihn der Gedanke, seine Tochter zu rächen, am Leben gehalten. Und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann frage ich mich, ob ich nicht dasselbe getan hätte. Wenn es mir passiert wäre, wäre ich vielleicht genauso besessen gewesen wie er. Ich hoffe nicht, aber wer weiß das schon mit Sicherheit? Vernunft und jegliche Art von Moral können in solchen Zeiten leicht über Bord gehen.

Wie dem auch sei, Corliss hat den ultimativen Preis für seine Missetaten bezahlt, aber der Perverse, der für ihn die Drecksarbeit erledigt und im Verstand meines Sohnes herumgepfuscht hat– ein CIA-Agent namens Reed Corrigan–, der lief immer noch da draußen herum. Corrigan war sogar nach geheimdienstlichen Maßstäben besonders verkommen. Und als FBI-Agent hatte ich einen Eid darauf geleistet, dafür zu sorgen, dass seine Verkommenheit niemals wieder einen Schatten auf irgendjemandes Leben warf. Vorzugsweise, indem ich mit bloßen Händen das Leben aus ihm herauswürgte. Langsam.

Was übrigens nicht den FBI-Standards entspricht.

Das Problem war nur, dass ich den Scheißkerl nicht finden konnte. Und die Tatsache, dass mein früherer Boss, Tom Janssen, nicht der Typ war, der in seinem ehemaligen Büro im sechsundzwanzigsten Stock des Federal Plaza vor mir saß und mich hinter diesem riesigen Tisch hervor anschaute, half auch nicht gerade.

Auf Janssen hatte ich zähle können.

Dieser Typ hier– der neue stellvertretende Direktor für das New Yorker Field Office des FBI, Ron Gallo– war, na ja, ein Arschloch, um's mal direkt zu sagen.

»Sie müssen darüber hinwegkommen, Reilly«, sagte mein Boss zum wiederholten Mal. »Lassen Sie los. Schauen Sie nach vorn.«

»Nach vorn schauen?«, feuerte ich zurück. »Nach allem, was die getan haben?« Ich schaffte es gerade so, nicht auszuspucken, was ich eigentlich sagen wollte, und brachte stattdessen zustande: »Könnten Sie das?«

Gallo holte angestrengt Luft und sah mich noch etwas entnervter an, während er langsam wieder ausatmete. »Lassen Sie los. Sie haben Navarro. Corliss ist tot. Fall abgeschlossen. Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit– und unsere auch. Wenn die CIA nicht will, dass einer der ihren gefunden wird, dann werden Sie ihn auch nicht finden. Abgesehen davon, was würden Sie denn machen, wenn Sie ihn finden? Ohne Corliss als Zeugen, wie wollen Sie denn beweisen, dass er etwas damit zu tun hatte?«

Er bedachte mich mit jenem ausdruckslosen, herablassenden Blick, der sein Markenzeichen war, und sosehr ich es hasste, das zuzugeben– der Scheißkerl hatte doch nicht ganz unrecht. Ich hatte nicht mehr viel in der Hand. Sicher, Corliss hatte mir gesagt, er hätte Corrigan angeheuert, um die Sache durchzuziehen. Aber Corliss war in der Tat tot. Was bedeutete, dass, selbst wenn ich es jemals schaffen würde, die undurchdringliche Omertà der CIA zu durchbrechen und tatsächlich den geisterhaften Mr Corrigan in die Finger zu kriegen, vor Gericht mein Wort gegen seines stünde.

»Machen Sie sich wieder an die Arbeit«, wies er mich an. »Die, für die wir Sie bezahlen. Ist ja nicht so, als hätten Sie nicht genug zu tun, oder?«

Ich trommelte mit zwei Fingern fest auf seinen Tisch. »Ich lass das nicht fallen.«

Er zuckte die Schultern. »Wie Sie wollen– solange Sie's auf Ihre Kosten machen.«

Wie ich schon sagte, der Spitzname passte perfekt.

Deprimiert verließ ich sein Büro, und da es schon fast elf war und ich noch nicht gefrühstückt hatte, beschloss ich, dass es ein guter Zeitpunkt war, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und meine Frustration mit einem Sandwich und einem Kaffee von meinem mobilen Lieblingsrestaurant zu ersticken. Es war ein kühler Oktobermorgen in Lower Manhattan, mit einem klaren Himmel und einer frischen Brise, die durch die Betonschluchten um mich herum pfiff. Zehn Minuten später saß ich auf einer Bank vor der City Hall, in der einen Hand einen Schinken-Käse-Wrap, in der anderen Hand einen dampfenden Becher und im Kopf eine Menge unbeantworteter Fragen.

Um die Wahrheit zu sagen, machte ich mir nicht allzu große Sorgen um die rechtlichen Rahmenbedingungen. Erst einmal musste ich ihn finden und den oder die Hirnklempner, die in Alex' Hirn herumgepfuscht hatten. Nicht nur, weil ich Gerechtigkeit wollte, und, ja, auch Rache. Sondern auch um Alex' willen.

Genau wie an diesem Morgen waren Tess und ich einmal die Woche mit Alex zu einem Kinderpsychiater gegangen, seit wir aus Kalifornien zurückgekehrt waren. Die Psychiaterin, Stacey Ross, war gut. Sie hatte Tess mit Kim geholfen, ihrer Tochter, die vor ein paar Jahren, als sie ungefähr zehn war, eine traumatische Zeit durchgemacht hatte. Sie waren in eine blutige Schießerei im Metropolitan Museum geraten. Vor dem Museum war einem Polizisten der Kopf mit einem Schwert abgehauen worden. Das war der Tag gewesen, als ich Tess kennenlernte, genau an jenem Abend, kurz nach dem Gemetzel. Stacey hatte bei Kim Wunder bewirkt. Wir brauchten jetzt mehr von diesen Wundern, aber Stacey musste erst wissen, was die Kerle Alex angetan hatten, um darauf kommen zu können, wie sie es wieder ganz rückgängig machen konnte. Sie wusste alles, was wir wussten– ich hatte nichts vor ihr geheim gehalten–, aber das war nicht viel. Durch ihre Behandlung ging es Alex besser, was ermutigend war. Aber die Albträume und die Schreckhaftigkeit waren immer noch da. Schlimmer noch, ich spürte, dass ein Teil von dem grässlichen Zeug über mich, das sie ihm ins Hirn gepflanzt hatten– wie zum Beispiel, dass sein Dad ein kaltblütiger Killer sei, und das war nicht mal das Schlimmste davon–, immer noch irgendwo in ihm lauerte. Manchmal konnte ich es in seinen Augen sehen, wenn er mich anschaute. Ein Zögern, ein Unwohlsein. Angst. Mein eigenes Kind, der Sohn, von dem ich nie wusste, dass ich ihn hatte, der Sohn, den zu finden mich noch vor ein paar kurzen Monaten überglücklich gemacht hatte, sah mich so an, und wenn es auch nur für eine Sekunde war, während ich liebend gern für ihn gestorben wäre.

Es machte mich fix und fertig, jedes Mal.

Ich musste diese Typen finden und sie dazu bringen, mir zu sagen, was genau sie ihm angetan hatten und wie man es am besten wieder aus ihm herauskriegte. Aber das würde nicht leicht werden, nicht ohne die Unterstützung eines hohen Tiers aus dem Büro mit einem großen, schweren Schläger. Keine der riesigen Datenbanken, die ich mit Corrigans Namen gefüttert hatte– die öffentlichen, die wirtschaftlichen, die kriminellen und die der Regierung–, hatte irgendetwas ausgespuckt, das zu dem Profil der Art von Widerling passte, hinter dem ich her war. Nicht, dass es da draußen so viele Reed Corrigans gegeben hätte, das nicht, aber die paar, die das System ausgespuckt hatte, waren relativ leicht zu überprüfen und auszuschließen. Das heißt, alle bis auf einen. Ein gewisser Reed Corrigan war einer der drei Geschäftsführer einer Firmengruppe namens Devon Holdings. Die Firma hatte eine Postadresse in Middletown, Delaware, und sonst nicht viel. Sie hatte wohl Anfang der Neunzigerjahre mal ein paar Beechcraft King Air Turboprops geleast sowie einen kleinen Learjet. Als ich Devon etwas genauer unter die Lupe nahm, wurde schnell klar, dass die beiden anderen mit Corrigan aufgelisteten Geschäftsführer ebenfalls Geister waren, und zwar äußerst schlampig heraufbeschworene– ihre Sozialversicherungsnummern stammten von 1989, ziemlich spät für Typen, die zwei Jahre später schon Geschäftsführer einer Firma waren. Devon war eine Briefkastenfirma, die mich nach weiteren Nachforschungen– Überraschung, Überraschung– zurück zur CIA führte.

Es war nicht allzu kompliziert, solche Tarnfirmen zu entlarven. Wir nutzten sie auch viel, genau wie alle anderen, darunter auch die CIA. Sie waren praktisch, wenn man Agenten mit einer Legende ausstatten wollte, und darüber hinaus auch für alle anderen Arten von verdeckten Aktivitäten, wie Flugzeuge zu chartern oder zu leasen, um Terrorverdächtige zu überführen oder Agenten in aller Stille über Grenzen zu bringen, was meiner Vermutung nach hier passiert war. Reed Corrigan war die falsche Identität, die mein geisterhafter Agent genutzt hatte, während er an irgendeiner Sache gearbeitet hat, die mit Devon getarnt wurde, und es war eine Identität, die er offensichtlich schon vor langer Zeit abgelegt hatte, was üblich war, wenn ein Auftrag erledigt oder beendet wurde.

Kein Name. Kein Gesicht.

Ein Geist.

Das war keine große Überraschung. Corliss hatte den Namen nur widerwillig gemurmelt, und mir war plötzlich klar, dass er bis zum bitteren Ende ein Profi gewesen war und den wirklichen Namen seines Kumpels nicht preisgegeben hatte. Er hatte keinen Grund, ihn auffliegen zu lassen, nicht, wenn der Kerl für ihn gearbeitet hatte. Und während der falsche Name für mich wie ein Knochen war, an dem ich mir die Zähne ausbeißen sollte, lieferte er meinem Gespenst etwas wesentlich Saftigeres: eine Warnung, dass ich hinter ihm her war. Irgendwo auf irgendeinem Server in irgendeinem Keller in Langley war unweigerlich ein Fähnchen hochgegangen, sobald ich angefangen hatte, in der Corrigan-Identität herumzustochern, und er war gewarnt worden. Was bedeutete, dass ich mit ziemlicher Sicherheit annehmen konnte, dass er wusste, dass ich hinter ihm her war, während ich von ihm nicht das Geringste wusste.

Hut ab, Hank Corliss, für diesen posthumen Stinkefinger.

Das alles hatte mich auf die Frage gebracht, woher Hank Corliss Corrigans falschen Namen kannte und wie er es geschafft hatte, ihn unter Druck aus dem Gedächtnis zu graben, als ich ihn in seiner Hütte gestellt hatte. Er musste ihn wirklich gut kennen. Dann fragte ich mich, ob das wohl der einzige Name war, unter dem er ihn kannte. Zwei Szenarien waren vorstellbar: Entweder kannte er ihn nur als Reed Corrigan, was bedeutete, dass er ihn unter zweifelhaften Umständen kennengelernt hatte, während mein Gespenst seine Tarnidentität nutzte und keine Notwendigkeit sah, Corliss einzuweihen. Oder– und das schien mir wesentlich wahrscheinlicher angesichts der Tatsache, dass Corliss sich an Corrigan gewendet hatte, damit der ihm bei seiner niederträchtigen Tat half– er kannte seinen echten Namen, aber sie waren beide zusammen in einer Operation gewesen, hatten sich in irgendeinem Einsatzkommando angefreundet, in dem mein Gespenst den Namen Corrigan benutzt hatte.

Wie auch immer, ich brauchte Hilfe, um an die Aufzeichnungen der CIA über ihre Operationen zu kommen, und auf die hatten Außenstehende in der Regel keinen Zugriff, außer es gab eine Anhörung im Kongress dazu, und selbst dann würde ich nicht darauf wetten. Ich musste irgendeinen Weg in ihre Archive finden, und ich hatte nicht viel, was ich als Ansatzpunkt nehmen konnte, außer der Devon-Verbindung und dieser anderen Sache, die Corliss erwähnt hatte: dass Corrigan »in früheren Jahren«, wie er es ausdrückte, etwas mit MK-ULTRA zu tun gehabt hätte. Von diesem Programm hatte ich natürlich schon gehört, das hatten wir alle. Allerdings wusste ich nach Mexiko eine ganze Menge mehr darüber, und was ich darüber erfahren hatte, hatte mich noch wütender gemacht.

MK-ULTRA war der Deckname für ein geheimes und hoch-illegales CIA-Programm, das in den frühen Fünfzigerjahren begonnen worden war. Es ging um Gehirnwäsche. Man argumentierte, dass, wenn die Kommunisten das mit unseren Kriegsgefangenen machten– im Stil von Der Manchurian Kandidat–, dann sollten wir das auch tun. Die Sache war nur, wir hatten nicht so viele sowjetische oder chinesische Kriegsgefangene irgendwo in der Nähe von Langley sitzen, wie sie brauchten, also beschlossen die feinen, aufrechten Wissenschaftler des Office of Scientific Intelligence, für ihre Experimente einfach auf das zurückzugreifen, was bei der Hand war: amerikanische und kanadische Freiwillige. Nur dass diese Leute gar keine Freiwilligen waren. Sie waren Zivilisten und Soldaten, ein paar vertrauensselige Regierungsangestellte, ein paar Geisteskranke und Unglücksraben– dazu ein paar Huren und Freier–, die keine Ahnung davon hatten, was da wirklich mit ihnen angestellt wurde.

In einigen Fällen wussten selbst die Ärzte und Schwestern, die die Behandlungen durchführten, nicht, für wen sie wirklich arbeiteten. Die wenigen, von denen wir wissen, behaupten, man hätte ihnen gesagt, die Schlafmanipulationen, der Reizentzug, die Drogen, Elektroschocks, Lobotomien, Hirnimplantate und andere experimentelle Therapien, die in Räumen mit so anheimelnden Namen wie »Gitterbox« oder »Zombieraum« stattfanden, würden ihren Testpersonen helfen, gesund zu werden.

Einige dieser unfreiwilligen Patienten begingen am Ende Selbstmord.

Ich schätze mal, dass die werten Ärzte an dem Tag, an dem sie den hippokratischen Eid hätten leisten sollen, gefehlt haben. Vielleicht waren sie aber auch nur vom Ruhm der Naziwissenschaftler geblendet, die nach dem Krieg angeheuert wurden, um das Programm ins Leben zu rufen, dass sie vergessen hatten, die richtigen Fragen zu stellen.

Der Feind meines Feindes– vielleicht haben sie es auf diese Weise vor sich selbst gerechtfertigt. Wie dem auch sei, das ist alles Geschichte. Zumindest dachte ich das. Bis mir klar wurde, dass es eine ganze Menge von den Typen immer noch gab, aus dem einfachen Grund, dass niemand sie jemals für das, was sie getan haben, zur Verantwortung gezogen hat.

Nicht einen.

Und es waren viele.

MK-ULTRA beinhaltete mehr als hundertfünzig verdeckte Programme, die an Dutzenden von Universitäten und anderen Institutionen im ganzen Land durchgeführt wurden. Und als wäre dieser finstere Sumpf noch nicht tief genug, verkomplizierte sich die Sache dadurch, dass alle Akten über MK-ULTRA bereits vor langer Zeit vernichtet worden waren, lange bevor digitale Spuren und WikiLeaks es ziemlich schwergemacht hatten, irgendetwas ein für alle Mal zu löschen. Damals 1973, als der CIA-Funktionär Richard Helms anordnete, alle Aufzeichnungen zu vernichten, war so etwas tatsächlich noch möglich. Doch ein Stapel Akten schaffte es, zu überleben, aus dem banalen Grund, dass sie am falschen Ort abgelegt worden waren. Sie waren vor Kurzem freigegeben worden, und ich hatte viel Zeit damit verbracht, sie durchzuarbeiten. In keiner von ihnen wurde allerdings mein schwer fassbarer Drecksack auch nur erwähnt.

Und wo wir gerade von Drecksäcken sprechen: Es sah alles mehr und mehr danach aus, als würde es nicht allzu schwer werden, Gallos Anweisung, die Sache ruhen zu lassen, nachzukommen, weil ich nicht mehr wusste, wo ich noch ansetzen konnte. Abgesehen davon, in den Serverraum der CIA einzubrechen und mich in ihre Datenbanken einzuhacken, während ich in einem eng anliegenden schwarzen Anzug Tom-Cruise-mäßig von der Decke hing, gab es nur noch einen einzigen Weg, der mir einfiel, aber den einzuschlagen wäre ganz und gar nicht klug gewesen, unter keinen Umständen. Genau genommen, aber es wäre kleinlich, darauf hinzuweisen, wäre dieser Weg auch absolut illegal. Es war eine Idee, die mir vor ein paar Wochen gekommen war, spätnachts, nachdem ich ein paar Bier getankt und mich eine Wut gepackt hatte, die ich nicht so leicht abschütteln konnte, diese Wut, die mich immer packt, wenn ich darüber nachdenke, was sie getan haben.

Während ich so in den Park starrte und den stetigen Strom der Zivilisten beobachtete, die da so arglos durch ihren Alltag wanderten, ertappte ich mich plötzlich dabei, wie ich wieder darüber nachdachte und mich fragte, ob ich wirklich eine Wahl hatte, ob ich nicht längst wusste, dass ich es tun würde, und perverserweise auch noch anfing, mich an der Vorstellung zu weiden, wie ich es anfangen würde und was ich dabei gewinnen könnte. Und das war der Augenblick, als mein Telefon summte und mich aus meinen komplexen, listigen und wenig ratsamen Verschwörungsplänen riss.

Mein Schutzengel entpuppte sich als mein Partner Nick Aparo, der sich gefragt hatte, wo ich steckte, und mir mitteilte, dass wir einen Einsatzbefehl erhalten hatten. Wir sollten nach Queens rausfahren, und zwar pronto. In Astoria hatte jemand einen Bungee-Jump aus einem Fenster im sechsten Stock versucht. Ohne sich die Mühe mit dem Gummiseil zu machen.

Ich warf das Einwickelpapier in einen Mülleimer und machte mich auf den Weg zurück ins Büro.

Ich konnte die Ablenkung brauchen.

»Und, wie lief's mit Gallo?«

Aparo saß am Steuer. Wir fuhren in seinem weißen Dodge Charger mit Blaulicht und heulender Sirene und rasten den Franklin D. Roosevelt East River Drive Richtung Midway-Tunnel entlang.

»Er ist ein Schatz«, sagte ich, den Blick geradeaus gerichtet.

Aparo zuckte die Schultern. »Im Ernst, Sean … wie lange willst du das noch weitertreiben?«

»Echt jetzt?«, fuhr ich ihn an. »Du auch noch?«

»Hey, Kumpel, komm schon«, protestierte er. »Du weißt, dass ich auf deiner Seite steh. Voll und ganz. Aber du musst zugeben, dass wir allmählich mit unserem Latein am Ende sind.«

»Es gibt immer einen Weg.«

»Klar. Wie bei mir und der Körbchengröße Doppel-D beim Spinning.«

»Nicht wirklich, du gehst wieder zum Spinning?«

Er tätschelte seinen Bauch. »Hab schon neun Pfund in zwei Wochen runter, Amigo. Die Damen mögen kein Geschwabbel.«

Geht doch nichts über eine frische Scheidung, damit ein Kerl sich wieder in Form bringt. »Und das ist dir jetzt erst aufgefallen?«

»Was ich sagen wollte«, fuhr er fort, »ich bin mir sicher, dieser scharfe Feger würde sich lieber kidnappen und in den Sudan in die Sklaverei verkaufen lassen, als eine Nacht mit mir zu verbringen. Aber heißt das, dass ich aufgebe? Natürlich nicht. Es gibt immer einen Weg. Andererseits wissen wir beide, was ich alles auf mich nehmen würde, wie weit ich mich erniedrigen würde in meiner hoffnungslosen Suche nach einem Fick. Die Frage bei dir, mein Freund, ist, wie weit würdest du gehen?«

Genau das fragte ich mich auch.

Bald kamen wir in Astoria an, und an unserem Einsatzort ging es zu wie im Zoo, was vorauszusehen gewesen war. Unabhängig davon, für wie blasiert man die New Yorker halten mag, die an sich ja schon alles gesehen haben, gelang es einem Tod wie diesem immer noch, eine beachtliche Menge Gaffer anzulocken.

Der Tatort war ein sechsstöckiges Vorkriegsgebäude aus rotem Backstein an einer dreispurigen Querstraße der Thirty-First. Die Gegend war abgeriegelt worden, was dazu führte, dass Autofahrer im Verkehrschaos wütend hupten und sich gegenseitig mit enttäuschend phantasielosen Schmähungen überzogen. Aparo manövrierte den Wagen geschickt und indem er immer wieder kurz die Sirene aufheulen ließ durch das Durcheinander, dann parkten wir im selben Block etwas weiter unten. Wir bahnten uns unseren Weg durch die kreuz und quer geparkten Übertragungswagen der Medien und Polizeiautos, zeigten unsere Marken vor, um unter dem Absperrband hindurchzukommen und gleich darauf die erste Sehenswürdigkeit zu erreichen, den Ort, an dem unser Opfer den Tod gefunden hatte. Es war auf dem Bürgersteig direkt vor dem Gebäude, dessen detailreich verzierte Fassade durch im Zickzack davor verlaufende Feuertreppen und die wahllos an einigen Fenstern montierten Klimaanlagen verschandelt wurde.

Die Leute von der Kriminaltechnik hatten ein großes Zelt über dem Leichnam errichtet, um Spuren vor Kontaminierung zu schützen, vor Wettereinflüssen, und, natürlich, um die Privatsphäre zu wahren. Nach den Unmengen von Leuten, die aus ihren Fenstern nach unten schauten, konnte ich mir vorstellen, dass da noch viel Laufarbeit zu tun blieb und reichlich Handyfotos und Filmchen als Beweise einzusammeln waren. Von Tür zu Tür gehen und einsammeln, weil die Vorabinformationen, die wir bekommen hatten, bereits besagten, dass die Cops, die als Erste am Tatort eingetroffen waren, schnell festgestellt hatten, dass der Tote durch ein geschlossenes Fenster geflogen war, bevor er nach unten auf den Bürgersteig gestürzt war.

Selbstmörder pflegten vorher das Fenster zu öffnen.

Meine andere Frage– warum wir zu einem möglichen Mordfall in Queens gerufen wurden, wenn das doch ziemlich genau in die Jobbeschreibung der örtlichen Mordkommission passte– war ebenso leicht zu beantworten. Das Opfer war ein Diplomat.

Ein russischer Diplomat.

Während wir näher herangingen, sah ich nach oben und erblickte ein paar Typen, die aus einem Fenster im obersten Stockwerk lehnten, direkt über dem Zelt. Wahrscheinlich waren das die örtlichen Ermittler. Sie würden unter Garantie nicht sonderlich erfreut sein, uns zu sehen. Außerdem sah es auch danach aus, dass unser Opfer auf seinem Weg nach unten die Bäume verpasst hatte, was mit Blick auf den Zustand seines Körpers nichts Gutes verhieß.

Aparo und ich blieben am Zelteingang stehen. Eine Handvoll Kriminaltechniker standen herum und waren damit beschäftigt, Bilder zu diskutieren und Proben zu nehmen und all die abgefahrenen Sachen zu machen, die sie so machen. Ich fragte nach dem Coroner. Er war noch da, wartete auf grünes Licht, um den Leichnam in sein fensterloses Reich zu entführen, und löste sich aus der Fachidiotentruppe. Da wir uns bisher noch nicht begegnet waren, stellten wir einander vor. Er hieß Lucas Harding und legte dasselbe entnervend lässige Gehabe an den Tag, das allen Rechtsmedizinern eigen zu sein schien.

Harding lud uns in seinen Herrschaftsbereich ein. Wir streiften Einwegüberzieher über unsere Schuhe, zogen die unvermeidlichen Gummihandschuhe an und folgten ihm hinein.

Es war kein schöner Anblick.

Kein Körper, der sechs Stockwerke tief auf einen Asphaltbürgersteig geflogen ist, bot das.

Ich hatte erst ein Mal eine ähnliche Leiche gesehen, die so einen Sturz hinter sich hatte, und auch wenn ich schon reichlich Blut gesehen habe, frisch und geronnen, war das ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Die Zerbrechlichkeit unseres Körpers, die die meisten von uns zu ignorieren geneigt sind, wird einem durch nichts so verdeutlicht, wie jemanden so auf einem Bürgersteig verteilt zu sehen.

Obwohl der Schädel so pulverisiert war, dass er aussah, als sei er von einem Riesenbaby aus Knete geformt und dann zerquetscht worden, war dennoch klar, dass wir auf einen weißen, männlichen Erwachsenen blickten mit dunklem, kurzem Haar, etwa Mitte dreißig und gut in Form, zumindest vor dem Sturz. Er trug einen dunkelblauen Anzug, der an einigen Stellen– unter dem linken Ellbogen und an der rechten Schulter– durch zerschmetterte Knochen, die hindurchgespießt waren, perforiert war. Um den Kopf herum war eine Lache aus geronnenem Blut und eine weitere links von seinem Körper, die beide der leichten Neigung des Bürgersteigs folgten, bevor sie sich in einem großen Riss im Beton zu einem kleinen Teich sammelten. Am grausigsten war auf jeden Fall der Unterkiefer. Er schien direkt aufgekommen zu sein, war herausgerissen worden und hing jetzt an einer Seite herunter wie der übergroße Kinnriemen eines Helms, der abgestreift worden war.

Rund um die Leiche herum waren überall Glassplitter. Wir versuchten, nicht daraufzutreten.

Harding bemerkte, dass ich nach unten schielte.

»Ja, das Glas passt zu der Geschichte, die uns die Leiche erzählt«, kam der Coroner mir entgegen. »So, wie die Arme daliegen, hat er sie ausgestreckt in dem Versuch, den Aufprall abzufangen. Sinnlos natürlich, aber instinktiv. Aber es bestätigt, dass er am Leben und bei Bewusstsein war, als er gestürzt ist. Der Aufschlagpunkt im Verhältnis zur Gebäudekante passt ebenfalls zur Geschichte. Selbstmörder neigen dazu, sich einfach nach unten plumpsen zu lassen. Die machen das nicht mit Schwung, nicht wie jemand, der von einem Sprungbrett ins Wasser springt. Normalerweise treten die einfach über die Kante, und wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich erwartet, dass er deutlich näher am Haus gelandet wäre. Dieser Kerl hier hat das Haus mit einem gewissen Schwung verlassen. Wenn der Bürgersteig nicht so breit wäre, wäre er auf irgendjemandes Auto gelandet.«

»Ist er schon identifiziert?«, fragte ich.

Harding nickte. »Die Ersthelfer haben es aus seiner Brieftasche. Warten Sie, ich hab's hier.« Er blätterte in seinem Notizbuch eine Seite zurück und fand, was er suchte. »Fjodor Jakowlew. Wurde von der Repräsentantin der russischen Botschaft bestätigt, sie muss hier noch irgendwo rumlaufen.«

»Er war also bekannt? Was war der Todeszeitpunkt?«, fragte Aparo.

»Acht Uhr zwanzig, plus/minus eine Minute«, antwortete Harding. »Beinahe hätte er ein Pärchen Fußgänger getroffen. Die haben ihn dann als Erste gemeldet.«

Ich sah auf die Uhr und wusste, worauf Aparo hinauswollte. Es war fast elf. Unser Opfer war vor etwa zweieinhalb Stunden gestorben. Was hieß, dass, wenn das ein Mordfall war– was im Augenblick irgendwie offensichtlich schien–, wir zu spät zur Party gekommen waren. Kein idealer Start also.

Ich sah mich um und stellte dann die Frage, die in solchen Situation inzwischen zur Schlüsselfrage geworden war: »Haben Sie ein Handy bei ihm gefunden? Oder irgendwo in der Nähe?«

Das Gesicht des Coroners verzog sich neugierig. »Nein, jedenfalls nicht bei ihm. Und es hat keiner eins eingereicht.«

Nicht toll. Aber es gab Möglichkeiten und Wege zu rekonstruieren, was er auf seinem Telefon gehabt hatte, wenn wir die Nummer bekamen. Vorausgesetzt, die Russen gaben sie uns, was unwahrscheinlich war in Anbetracht dessen, dass er Diplomat war. »Wir müssen sicherstellen, dass das Gelände gründlich abgesucht wurde, falls es ihm auf dem Weg nach unten aus der Tasche geflogen ist.«

»Ich lass die Jungs noch mal alles durchkämmen.«

Wir beendeten das Gespräch mit dem Coroner, verließen das Zelt und machten uns auf den Weg ins Haus.

Als wir in die Lobby gingen, fiel mir auf, dass es zwar eine Gegensprechanlage gab, aber keine Überwachungskamera. Die Eingangshalle war abgenutzt, aber sauber. Soweit ich sehen konnte, gab es auch hier keine Überwachungskameras, ich hätte in diesem Haus aber auch keine erwartet. An der Wand zu unserer Rechten hing eine Reihe abschließbarer Briefkästen, einige mit Namen darauf, andere nur mit der Nummer der Wohnung. Wir mussten zu 6E hinauf. Es war einer von denen, die keinen Namen trugen.

Wir fuhren mit einem rumpeligen Aufzug bis ganz nach oben und wurden von einem Uniformierten begrüßt, als wir hinaustraten. Es gab drei Wohnungen auf der Etage, wobei 6E am weitesten weg zur Linken lag. Die direkten Nachbarn waren wahrscheinlich längst befragt worden, auch wenn einige von ihnen um diese Tageszeit bestimmt schon bei der Arbeit waren.

Wir betraten die Wohnung. Es war dunkel und hatte etwas von verblichener Pracht an sich. Wie in vielen der besseren Vorkriegshäuser gab es ein paar bezaubernde Charakteristika der alten Welt: dicke Hartholzböden, hohe Decken, geschwungene Türdurchgänge und aufwendige Stuckaturen … Zeugs, was man in neueren Häusern einfach nicht bekommt. Die Einrichtung– alles in dunklem Holz mit Blümchendruck und Spitze und vollgestellt mit Nippes–, sogar der Geruch war geschichtsträchtig. Die Bewohner hatten offensichtlich schon viele Jahre hier gewohnt. Ein gerahmtes Foto auf einem Beistelltischchen im Eingangsbereich passte perfekt zur Atmosphäre. Es zeigte ein lächelndes Paar Mitte sechzig vor einem der großen, natürlichen Steinbögen, wie man sie in den Nationalparks im Mittleren Westen findet. Der Mann auf dem Bild, klein und mit rundlichem Gesicht und einem dünnen Kranz aus weißem Haar um eine Glatze, war eindeutig nicht der Tote, der unten lag. An der Wand darüber hing ein Trio antiker, religiöser Ikonen, klassische Darstellungen von Maria mit dem Jesuskind, die auf kleine, rissige Holztäfelchen gemalt waren.

Auf dem Beistelltisch lag auch ein Frauenmagazin, da wo man normalerweise die Post ablegen würde. Ich notierte mir den Namen auf dem Postaufkleber: Daphne Sokolow.

Der Vorraum führte in ein Wohnzimmer, in dem drei Männer– zwei in Anzügen, einer in Uniform– und eine Frau an einem zerbrochenen, zur Straße hinausgehenden Fenster standen und miteinander sprachen. Auf den ersten Blick war klar, dass in dem Raum ein Kampf stattgefunden haben musste, davon zeugten der zerschmetterte Couchtisch, eine zerbrochene Vase und die auf dem Teppich am Fenster verstreuten Blumen.

Wir stellten uns vor. Die beiden Anzugtypen waren tatsächlich Detectives vom 114. Revier, Neal Giordano und Dick Adams. Der Uniformierte war ein Officer namens Andy Zombanakis, ebenfalls vom 114. Alle drei sahen verärgert aus, was wahrscheinlich auch so war, wenn man ihnen befohlen hatte, hier auf uns zu warten, um uns dann das zu übergeben, was sie für ihren Fall hielten. Sie schienen auch genervt zu sein, als hätten Aparo und ich irgendwie ihren kleinen Plausch gestört. Was sogar noch verständlicher und wahrscheinlicher war, wenn man sich die Dame ansah, mit der sie sich unterhielten. Sie wirkte fehlplatziert, bis sie sich als Larissa Tschumitschewa vorstellte, hier im Auftrag des russischen Konsulates.

Sie war atemberaubend. Fast so groß wie ich, auf acht Zentimeter hohen Absätzen, schlank, aber dennoch so kurvig, dass das maßgeschneiderte blaue Kostüm mit der weißen Bluse, in dem sie steckte, sichtlich gefordert wurde, und zeigte die sündhafteste Kombination von Lippen und blauen Augen, die ich je gesehen habe, das Ganze getoppt von perfekt geschnittenem hellbraunem Haar, das passenderweise eher zu Rottönen neigte als zu ehrwürdigem Braun. Ich warf meinem frisch geschiedenen Partner einen Blick zu und konnte mir direkt die heißen Szenen vorstellen, die er sich in seiner lüsternen Phantasie ausmalte. In diesem Fall konnte man ihm kaum einen Vorwurf daraus machen. Jeder Mann hätte es schwer, sie im Zaum zu halten.

Ganz der perfekte Gentleman, sagte ich zu ihr: »Mein aufrichtiges Beileid. Kannten Sie ihn?«

»Nicht wirklich«, antwortete sie. »Ich habe ihn einmal kurz bei einem offiziellen Anlass getroffen, aber unsere Aufgabenbereiche haben sich nicht wirklich überschnitten.«

Sie sprach mit kaum wahrnehmbarem slawischem Akzent. Und auch wenn sie es nicht nötig gehabt hätte, machte ihre Stimme sie nur noch attraktiver.

Konzentrier dich.

»Wer war er?«

»Fjodor Jakowlew. Er war Dritter Sekretär für Maritime Angelegenheiten hier im Konsulat.«

Maritime Angelegenheiten. Das war mir bisher noch nicht untergekommen.

»Und Sie? Sie sagten, Ihre Aufgabenbereiche hätten sich nicht überschnitten?«

Sie fischte eine Visitenkarte aus der Innentasche ihres Blazers und reichte sie mir. Ich las die kleinen Buchstaben unter ihrem Namen laut vor: »Beirat für Öffentlichkeitsarbeit.«

Na ja, immerhin stand da nicht Attaché.

Ich ließ die Worte in der Luft hängen und sah von der Karte auf. Unsere Blicke trafen sich, und ich deutete ein kleines, wissendes Grinsen an. Offensichtlich verstand sie, was ich vermutete, aber es schien sie nicht im Geringsten zu beunruhigen. Das war ein Tanz, den ich schon mit vielen getanzt hatte, darunter chinesischen, französischen und israelischen »Diplomaten«. Aber vor allem die Russen hörten nicht auf, immer wieder in diesen besonderen Tanzsaal zu drängen.

Obwohl die Berliner Mauer gefallen und das Reich des Bösen Vergangenheit war, spielten wir immer noch dieselben alten Spiele.

Russland war nicht mehr die Sowjetunion, die Oberbosse des KGB und ihre Stützen aus dem organisierten Verbrechen verfügten jetzt ganz direkt über das Land, statt nur seine Bevölkerung zu kontrollieren, und der Kommunismus lag in irgendeinem flachen Grab, während die wild pervertierte Version des Kapitalismus darauf Kalinka tanzte. Aber das hieß nicht, dass wir Freunde waren. Auch wenn wir keine ideologischen Differenzen mehr hatten, hassten wir uns doch weiter bis aufs Blut und verwendeten eine Menge Zeit und Energie darauf, uns gegenseitig auszuschnüffeln.

Wir hatten Spione drüben, sie hatten Spione hier. Meist waren die, die die Russen zu uns schickten, eher der klassische Typ: Ein paar waren »offiziell« hier, hatten also irgendwelche respektablen Jobs bei ihrer Botschaft oder einem Konsulat, typischerweise waren sie Attaché, Sekretär oder Beirat. Die Abenteuerlustigeren waren dann eher inoffiziell da, was hieß, sie hatten keinen Regierungsjob zur Tarnung und genossen demzufolge auch nicht die damit verbundene diplomatische Immunität, wenn sie geschnappt wurden. Und angesichts der harschen Sanktionen, die manchmal wegen Spionage verhängt wurden– Exekution zum Beispiel–, war die inoffizielle Variante die wesentlich riskantere.

Dazu kam eine neue Sorte von Infiltrationsagenten wie Anna Chapman und ihre tollpatschige Truppe von Partyhäschen, die wir vor ein paar Jahren geschnappt und rausgeworfen hatten. Die Medien hatten sich lustig darüber gemacht, wie ein rothaariges Glamourgirl und ihre facebooksüchtige Clique irgendeine Bedrohung unserer Nation darstellen sollten. Die Wahrheit war, dass heutzutage ein russischer Spion in unserer Mitte wesentlich wahrscheinlicher einen Abschluss der New York University vorzuweisen hat, um dann irgendwo als Praktikant anzufangen und eine Affäre mit jemandem zu beginnen, der auf irgendeinem Gebiet, das den Kreml interessiert, eine hohe Position hat– Finanzen, Industrie, Politik, Medien–, und am Ende arbeitet er in irgendeiner Zielorganisation und schickt Insiderinformationen über diesen Sektor nach Hause zurück.

Es ging schon lange nicht mehr darum, einander militärisch zu zerstören. Jetzt ging es nur noch darum, Geld zu machen und wirtschaftlich die Oberhand zu bekommen. Und wenn dabei ein Terroranschlag oder ein Krieg in einem anderen Land als Ablenkung dienen, uns schwächen oder finanziell ruinieren konnte, während man unsere Gesellschaft von innen aushöhlte– umso besser.

Wir hatten da unten einen toten Dritten Sekretär liegen und hier einen Beirat, der uns in unseren Ermittlungen unterstützen sollte.

Eher altmodisch-klassisch. Aber potenziell unangenehmer.

Ich drehte mich um und sah mir den Rest des Raumes an. Da stand ein Sofa, etwas abgenutzt und mit geblümtem Stoff bezogen, sowie zwei breite Sessel auf jeder Seite. Es gab einen großen alten Fernseher, eine Seitenwand war vollständig von einem massiven Bücherregal ausgefüllt. Die Regalfächer waren mit Büchern vollgestopft, unten stand eine ziemlich ausgefeilt aussehende Stereoanlage mit zwei fetten Lautsprechern, die jeweils an den äußeren Enden oben im Regal standen. Dazu der zerbrochene Couchtisch, den ich beim Hereinkommen gesehen hatte. Und dann war da noch das große Fenster, das auf die Straße hinausging. Die Scheibe war größtenteils herausgebrochen und der Holzrahmen gerissen und zersplittert.

»Also, was haben wir hier?«, fragte ich die drei und zeigte auf die Schäden. »Was wissen wir? Das war nicht Jakowlews Wohnung, stimmt's?«

»Nein«, antwortete Giordano. Er reichte mir ein weiteres gerahmtes Foto. Darauf war dasselbe Paar zu sehen wie auf dem Bild im Flur, nur dass sie dieses Mal irgendwo an einem sonnigen Ort im Urlaub waren. »Das sind Leonid Sokolow und seine Frau Daphne. Sie wohnen hier.«

»Und wo sind sie?«

»Na, hier jedenfalls nicht, oder?«, meinte Adams.

Er klang nicht besonders freundlich. Nicht, dass mir das was ausgemacht hätte. Aber ich hatte jetzt nicht die Geduld für pubertäres Schmollen oder ein Wettpinkeln unter Gesetzesvertretern. Das hatte ich schon in viel zu vielen schlechten Filmen gesehen, um es jetzt auch noch im echten Leben durchleiden zu wollen.

Giordano ergriff wieder das Wort: »Sokolow unterrichtet Naturwissenschaften an der Flushing High. Er ist heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen.«

»Und seine Frau?«

»Ist Krankenschwester am Mount Sinai. Sie hatte gestern Nachtschicht und um sieben Feierabend.«

»Und von ihr auch keine Spur?«, fragte Aparo.

Giordano schüttelte den Kopf. »Nichts. Wir haben uns hier schon mal umgesehen. Zahnbürsten im Bad, Bett wurde benutzt, Lesebrille noch auf dem Nachttisch. Es gibt ein paar leere Koffer im Schrank im Flur, wo man sie auch erwarten würde. Sieht nicht aus, als wären sie verreist. Und im Toaster stecken noch ein paar Scheiben Brot.«