Fürstenkinder 38 – Adelsroman - Bettina Clausen - E-Book

Fürstenkinder 38 – Adelsroman E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Sie sind in aller Munde – geliebt, bestaunt, verehrt. Eine Aura umgibt sie, der Reiz des Besonderen, des Unerreichbaren lässt die Augen von uns allen auf sie richten. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. In der völlig neuen Romanreihe Fürstenkinder kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Fürstenkinder steht für einen idealen neuen Romantypus, der zugleich das klassische Erfolgsmodell verwirklicht. Große Schriftstellerinnen, die den Liebesroman seit langem prägen, konnten wir für diese neue Heftreihe gewinnen. "Du, Harry, da kommt jemand!" Das kleine Mädchen kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zu­sammen und spähte vorsichtig durch das dichte Laubwerk des Kirschbaums. "Quatsch doch nicht, hier wohnt ja keiner." Harry ließ sich nicht stören. Er steckte weiter die herrlich saftigen Kirschen in den Mund und spukte die Kerne in hohem Bogen aus. "Ich hab's aber deutlich gehört. Auf dem Kiesweg knirschte es." "Dann spring doch runter und renn weg!" meinte die helle Jungenstimme aus dem Baum. Mädchen waren eben für so was doch nicht zu brauchen. Nicht mal Charlotte! Er hatte nämlich am Mittag auf einer Erkundungsfahrt im Garten der einsam gelegenen Villa den Kirschbaum entdeckt, über und über voll mit dicken roten, saftigen Kirschen. Und das direkt an der Mauer! Wär' ja dumm, wenn man die nicht runterholte, hatte er gedacht. Denn in der Villa wohnte niemand. Er jedenfalls hatte noch nie jemanden dort gesehen. Und im Dorf hieß es, die gehört irgendeinem Ausländer. "Mir wird das unheimlich!" flüsterte das kleine Mädchen. "Ich mach' mich aus dem Staub!"

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Fürstenkinder – 38 –

Ein Kind sehnt sich nach Liebe

Harry findet seinen Vater - doch noch fehlt die Mutter!

Bettina Clausen

»Du, Harry, da kommt jemand!«

Das kleine Mädchen kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zu­sammen und spähte vorsichtig durch das dichte Laubwerk des Kirschbaums.

»Quatsch doch nicht, hier wohnt ja keiner.«

Harry ließ sich nicht stören.

Er steckte weiter die herrlich saftigen Kirschen in den Mund und spukte die Kerne in hohem Bogen aus.

»Ich hab’s aber deutlich gehört. Auf dem Kiesweg knirschte es.«

»Dann spring doch runter und renn weg!« meinte die helle Jungenstimme aus dem Baum.

Mädchen waren eben für so was doch nicht zu brauchen. Nicht mal Charlotte!

Er hatte nämlich am Mittag auf einer Erkundungsfahrt im Garten der einsam gelegenen Villa den Kirschbaum entdeckt, über und über voll mit dicken roten, saftigen Kirschen. Und das direkt an der Mauer!

Wär’ ja dumm, wenn man die nicht runterholte, hatte er gedacht.

Denn in der Villa wohnte niemand. Er jedenfalls hatte noch nie jemanden dort gesehen.

Und im Dorf hieß es, die gehört irgendeinem Ausländer.

»Mir wird das unheimlich!« flüsterte das kleine Mädchen. »Ich mach’ mich aus dem Staub!«

Geschickt kletterte es von Ast zu Ast.

Dann ein leiser Aufprall, und der blonde Lockenkopf war hinter der Mauer verschwunden.

»Feigling!« murmelte der hochaufgeschossene, schmale Junge und spuckte einen Kirschstein aus.

»Komm, du brauchst mir den Stein ja nun nicht direkt ins Gesicht zu spucken!« bemerkte eine tiefe, wohlklingende Männerstimme ärgerlich.

Harry schaute erstaunt hinunter.

Durch das Blättergewirr erkannte er deutlich die Gestalt eines Mannes.

Verflixt! Wo kam der denn plötzlich her?

Pech! Nun war es zur Flucht zu spät!

»He, junger Freund! Komm mal runter!« forderte der Mann ihn auf.

Was blieb ihm anderes übrig?

Behende ließ er sich an dem glatten Stamm des Baumes hinabgleiten und stand nun als kleiner, erbärmlicher Kirschendieb vor dem Fremden.

»Ich… ich… ich dachte, hier wohnt keiner.«

Ihm fiel nichts anderes ein, und es war ja auch wahr.

»Nun, da hast du eben falsch gedacht! – Seit drei Tagen wohnt hier jemand. Und dieser Jemand bin ich!«

Die dunklen Augen des Mannes ruhten freundlich auf der Gestalt des Jungen, der verlegen vor ihm stand. Dann griff er über sich in den Kirschbaum und holte eine Handvoll dunkler, saftiger Kirschen herab.

»Da hast du was als Wegzehrung! Und das nächste Mal fragst du erst, nicht wahr?«

»Bestimmt!«

Erleichtert schaute Harald, der eigentlich immer nur Harry gerufen wurde, den Fremden an und ließ die Kirschen in der Tasche verschwinden.

»Danke schön!«

Mit einem Satz war er auf der Mauer.

»He, kleiner Kerl!« rief der Mann ihm nach. »Wo gehörst du denn übrigens hin?«

»Dort drüben ins Schloß!«

Und er wies in die Richtung, wo, versteckt hinter Büschen und hohen Bäumen, das alte, schöne Wasserschloß Wartberg lag.

»Aber bitte nichts sagen!« bettelte der Junge.

»Ist doch klar! Das ist eine Sache unter Männern.«

»Oh, danke!« rief Harry und war im selben Augenblick verschwunden.

Lächelnd wandte sich der Fremde ab.

Doch dann wurde sein Gesicht ganz ernst.

Schloß Wartberg!

Zum ersten Mal seit vielen Jahren hörte er wieder diesen Namen!

Schloß Wartberg!

Wie oft habe ich in der Fremde an dich gedacht, sann er. Bis es mich nicht mehr hielt. Bis ich hierher zurück mußte. Und nun bin ich wieder da!

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Fünfzehn Jahre war es jetzt her, da er von hier fortgegangen war, voller Hoffnungen, voller Ideen und glücklich, so glücklich, weil er die Komteß Adelheid von Wartberg als seine Frau heimgeführt hatte.

Fünfzehn Jahre war es her!

Die dunklen Augen des Mannes verschatteten sich.

Er war inzwischen reich geworden. Er hatte gearbeitet, schwer gearbeitet, und er hatte Erfolg gehabt. Er besaß Konzerne von Weltruf in Amerika und Japan.

Aber heute war er allein!

Hoffnungen! Er lachte hart auf. Hoffnungen! Worauf sollte er noch hoffen?

Und der kleine, aufgeweckte Junge? fuhr es ihm durch den Kopf. Er also war ein Wartberg!

Seltsam, er hatte nie mehr etwas von ihnen gehört, diesen stolzen, unnachgiebigen Wartbergs! Nur den Tod seiner Frau hatten sie ihm mitteilen lassen.

Nicht einmal geschrieben hatten sie, ob sie das Kind zur Welt gebracht hatte und ob es lebte.

Wie alt mochte wohl der Junge gewesen sein? Acht ungefähr.

Acht Jahre wäre auch sein Kind gewesen, wenn es lebte!

»Haben Sie Harry wohl gesehen?«

Das kleine Mädchen zupfte den Mann schüchtern am Ärmel.

Der Fremde schrak zusammen.

Er war so in Träumen versunken, daß er nichts gehört hatte.

Geistesabwesend fragte er: »Wer ist Harry?«

»Das ist doch mein Freund, der im Kirschbaum saß!« antwortete Charlotte prompt.

Lächelnd schaute jetzt der Mann auf das zierliche kleine Geschöpf hinab, das in zerrissenen Shorts vor ihm stand und ihn mit großen blauen Augen fragend ansah.

»Ach so, das ist Harry! Das wußte ich nicht, kleines Fräulein. Und wie heißt du?«

»Sie wissen nicht, wo Harry ist?«

Charlotte hatte die Frage überhört.

Sie suchte nun schon eine Viertelstunde ängstlich nach ihrem Spielgefährten. Den hatte man sicher erwischt. Der Mann strich ihr über den Lockenkopf.

»Harry ist zum Schloß gelaufen. Wenn du dich beeilst, kannst du ihn noch einholen.«

»Danke, dann ist es ja gut!«

Erleichtert atmete die Kleine auf und war gleich darauf wie ein Blitz verschwunden.

*

»Du solltest doch einmal nach Fallada sehen, Joachim!«

In einem eleganten braunen Nachmittagskleid trat Birgitt auf den Mann zu, der sinnend im Garten stand und dem kleinen Mädchen nachschaute.

»Wenn du sie morgen reiten willst, wäre ein Training für sie nicht schlecht!«

Zärtlich legte sie ihren Arm in den seinen.

Richtig! Morgen war ja das große Turnier!

Es war das Ereignis des Jahres für die ganze Gegend.

Aus allen Teilen Norddeutschlands strömte der Adel zusammen, um sich an diesem Tag auf den Wiesen von Wartberg in der Reitkunst zu messen.

Auch Graf Joachim von Rückert wollte dabeisein.

Allerdings hatte er sich unter dem Namen Joachim Rathen in die Liste eingetragen. Er wollte in dieser Gegend unerkannt leben.

Warum alte, böse Erinnerungen wachrufen!

Hier hielt man ihn für tot. Keiner würde ihn erkennen.

Graf Joachim nahm die Hände aus den Taschen der weißen Leinenhose, ging aber stumm neben seiner Begleiterin auf die Luxusvilla zu.

Umgeben von fremdländischen Pflanzen und Büschen, wirkte sie mit ihren vielen Balkonen und Aufbauten wie ein Märchenschloß.

Seit drei Tagen wohnte er nun hier auf eigenem Grund und Boden.

Er hatte alles von Amerika aus durch einen Anwalt regeln lassen, den Kauf des Grundstücks und den Bau der Villa.

Ehe er sich entschlossen hatte, sein neues Haus zu beziehen, waren zwei Jahre vergangen.

Würde er hier leben können?

Er wußte selbst keine Antwort.

»Freust du dich eigentlich gar nicht, daß ich gekommen bin?«

Gekränkt blickte die elegante junge Frau ihren stummen Begleiter an.

»Du hast mit mir kaum zehn Sätze bisher gesprochen.«

Der Mann blieb stehen und legte den Arm um sie.

»Sicher freu’ ich mich, Birgitt. Aber weißt du, hier ist alles noch so neu. Ich muß mich erst einmal zurechtfinden.«

Der warme Klang der geliebten Stimme versöhnte die schöne Frau wieder.

Die Falten des Unmuts verflogen aus ihrem ebenmäßigen gebräunten Gesicht.

»Dann ist es gut! Ich dachte schon, ich hätte dich im unpassenden Augenblick überrascht. Aber weißt du, mich reizte einmal natürlich der Ball morgen, und… ich mußte dich wieder mal reiten sehen!«

Sie schmiegte sich sanft in seinen Arm.

»Ich weiß gar nicht, ob ich es noch kann. Vier Wochen habe ich Fallada bestimmt nicht geritten.«

»Dann wird es ja höchste Zeit, daß du es ausprobierst«, sagte Birgitt lächelnd. »Ich erwarte dich im Haus.«

»Wie, du willst nicht mitkommen? Du könntest doch Pfeil reiten!«

»Danke, Joachim! Das ist sehr nett. Aber weißt du, ich habe heute einen schrecklich anstrengenden Tag hinter mir. Heute morgen eine Pressekonferenz, dann die Fahrt. Unterwegs noch ein Interview mit einer Frauenzeitschrift… Jetzt bin ich einfach müde. Ein anderes Mal komme ich bestimmt mit. Wenn es dir paßt, würde ich nämlich hier gern ein paar geruhsame Tage verbringen!«

»Sicher paßt mir das. Ich freu’ mich sogar, daß du mir beim Einleben in dieser Gegend Gesellschaft leisten willst.«

Die junge Frau blieb stehen und legte ihre schmalen, gepflegten Hände auf die breiten Schultern des Freundes.

»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte«, flüsterte sie, und ihre mandelförmigen Augen blickten voll Zärtlichkeit zu ihm auf.

Graf Joachim von Rückert drückte einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn.

»Fein, Birgitt! Dann bist du auch nicht böse, wenn ich jetzt Fallada ein bißchen bewege. Du weißt, ich blamiere mich ungern!«

»Als wenn du dich schon jemals blamiert hättest! Für dich wäre es doch bestimmt ein ganz neues Gefühl, mal nicht den ersten Preis zu machen. Aber nun wird es Zeit! Es dämmert schon.«

Sie stieg grüßend die Stufen zur Terrasse hinauf.

»Dann bis nachher! In einer Stunde bin ich spätestens zurück.«

Mit einer winkenden Geste ging der Mann auf den Reitstall zu.

*

Schloß Wartberg leuchtete in der einbrechenden Dämmerung, umgeben von einem breiten Wassergraben.

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die kunstvoll verzierten Gliebel in ein rötlich-goldenes Licht.

Sie grüßten noch ein letztes Mal den kupfernen Wetterhahn auf der Spitze der Schloßkapelle, deren Glocke nun mit tiefen, wohlklingenden Schlägen den Abend einläutete.

Graf Joachim von Rückert brachte sein Pferd zum Stehen. Ganz versunken betrachtete er das prachtvolle Schauspiel.

Wie von magischer Hand geführt, hatte es ihn hierher gezogen.

Wie oft bin ich über diese Zugbrücke gegangen, fuhr es dem einsamen Reiter durch den Kopf.

Er blickte versonnen auf die ausgetretenen hölzernen Bohlen, auf die großen, rostigen Winden, die niemand mehr betätigte.

Dahinter lag der Schloßhof mit seinem groben Kopfsteinpflaster und dem herrlichen Barockbrunnen, der klar war wie ein Bergsee.

An diesem Brunnen hatte er Adelheid das erste Mal geküßt, als sie sich ewige Treue schworen, was auch immer kommen würde.

Es war eine Frühlingsnacht gewesen, warm und hell vom Schein des vollen Mondes. Sie waren von einem Fest zurückgekommen. Und er hatte Adelheid nach Hause begleitet.

Er liebte es schon lange, dieses zarte, stille Geschöpf mit dem herrlichen blonden Haar.

Als er sich am Brunnen von ihr verabschiedete, sahen ihn ihre blauen Augen so zärtlich an, daß auch er die Gewißheit hatte, er wurde geliebt.

»Du darfst dich nicht fürchten, Geliebter. Ich stehe zu dir«, hatte sie damals in seinen Armen geflüstert.

Denn man hatte ihn nicht gern empfangen in diesem Schloß, weil er arm war, ein Flüchtling. Seine Güter lagen fern im Osten und gehörten heute anderen.

»Meine Tochter, Herr von Rückert, wird standesgemäß heiraten«, hatte der hochmütige alte Graf damals gesagt. »Wir können nicht noch einen armen Schlucker mit durchziehen.«

Armer Schlucker!

Diese Worte hatten den jungen Mann zutiefst getroffen.

Stand er etwa als Bettler vor dem Grafen?

War er nicht jung und begabt und voller Tatkraft?

Armer Schlucker!

Damals war er aufgebraust.

»Ich habe zwar kein Erbe anzubieten, Graf«, hatte er dem Vater Adelheids entgegengehalten. »Das hat man mir genommen! Aber ich bin jung. Und… ich werde es im Leben zu etwas bringen.«

Der Graf hatte ironisch lächelnd abgewinkt.

»Das steht in den Sternen, mein Lieber. Bis jetzt sind Sie noch ein völlig unbeschriebenes Blatt.«

Der einsame Reiter lachte hart.

Dem armen Schlucker war die Komteß Adelheid dennoch gefolgt.

Sie hatte ihn gegen den Willen der uneinsichtigen Eltern geheiratet.

Aber sie hatte ihre Kraft überschätzt! Sie, die verwöhnte, zarte Komteß, hatte nicht durchgehalten in der Fremde, in all den Jahren der Arbeit und Entbehrung.

Er hatte ihr nicht ein Schloß bieten können, damals nicht, sondern nur ein einfaches, sauberes Hotelzimmer. Und er war oft auch die Nacht über fort gewesen, weil er Erfolg haben wollte.

Erfolg aber will erkämpft sein.

Wenn er dann zurückkam, hatte sie ihn mit verweinten Augen empfangen.

Unter Tränen lächelnd, hatte sie ihm versichert: »Es ist nichts, Liebster, ich sehn’ mich nur ein bißchen nach Wartberg!«

Und eines Tages war sie fort gewesen. Sie hatte ihn allein gelassen! Allein, ohne Hoffnung auf Wiederkehr!

Der Mann wendete sein Pferd und trabte langsam die Schloßstraße hinunter.

*

»Hast du das gesehen?«

Harry stieß seine Nachbarin mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Au! Sei doch nicht so grob! Klar, hab’ ich es gesehen!« erwiderte die kleine Komteß Charlotte von Wartberg und rieb sich die Stelle. Schnell warf sie dem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu.

Aus Harry würde nie ein Herr werden, fand sie. Nicht einmal hier benahm er sich würdevoll, so wie Papa.

Inmitten einer großen Zuschauermenge standen die beiden Kinder auf der mit bunten Wimpeln geschmückten Ehrentribüne und verfolgten gespannt das Reitturnier.

Harry, das mußte man ihm lassen, hatte einen prima Platz besorgt.

Schließlich kannten ihn die Platzwärter als den Kleinen aus dem Schloß und hatten großzügig ein Auge zugedrückt, als er sich zwei gute Plätze ziemlich nahe am Turnierfeld reservierte, einen für Charlotte und einen für sich.

Die acht Hindernisse, die jeder Reiter nehmen mußte, waren ziemlich dicht hintereinander aufgestellt.

Voller Bewunderung ruhten die Augen des achtjährigen Jungen auf der schlanken, grazilen Gestalt der Reiterin, deren Pferd mit Leichtigkeit und Eleganz die Hindernisse nahm.

Christine von Wartberg, die ältere Schwester von Charlotte, gehörte zu dem begabtesten Nachwuchs im Münsterland. In jedem Wettbewerb war sie unter den ersten.

Auch diesmal wieder zeigte sie sich von der besten Seite.

»Verflixt!« Harry biß sich auf die Lippen.

»Diese alte Diana. Das kostet Christine Zeit.«

Die Zuschauer hielten den Atem an. Doch dann folgte ein befreites Aufatmen.

Diana hatte plötzlich vor dem Wassergraben, dem letzten Hindernis, gescheut.

Ein leichter Schenkeldruck, ein geflüstertes Wort. Dann war sie gesprungen, und zwar gut gesprungen!

Die Tafel zu Häupten der Tribüne zeigte das Ergebnis: Null Fehler; Zeit: zwei Minuten und drei Sekunden.

Die zierliche Reiterin mit den dunklen Locken und den bernsteinfarbenen Augen warf einen kurzen Blick auf die Tafel.

Dann verließ sie unter brausendem Beifall den Turnierplatz.

»Du, bis jetzt liegt Christine vorn«, meinte Harry begeistert.

Er bewunderte seine große Kusine rückhaltlos.

So müßte man reiten können, dachte er ein bißchen traurig; denn er bekam keine Reitstunden.

»Du mußt dich auf ein bescheidenes Leben vorbereiten«, hatte ihm Okel Theodor einmal gesagt. »Reiten ist das Hobby der Reichen.«

Harry hatte das nicht verstanden.

Warum war er denn weniger reich als Charlotte? Im Gegenteil, fand er!

»Christine wird Siegerin«, bemerkte Charlotte stolz. »Es kommt jetzt nur noch die Nummer zweiundzwanzig. Und Papa hat gesagt, der Mann sei ihm nicht bekannt.«

»Mensch, das ist ja der Mann vom Kirschbaum!«

Harry traute seinen Augen kaum.

»Wie kommt der denn hierher?«

»Auf einem Pferd natürlich!« lachte Charlotte. »Hier oben entdeckt er uns sicher nicht!«

»Als wenn ich davor Angst hätte!« trumpfte der Junge auf und warf den schmalen Kopf zurück.

Dann schwiegen beide.

Atemlos verfolgten sie nun den Ritt des Mannes.

Sicher nahm Fallada jedes Hindernis. Sicher geführt von der Hand des Reiters.

In einer Zeit von einer Minute und 56 Sekunden gingen sie fehlerlos durchs Ziel.

Brausender Beifall!

Der Lautsprecher gab das Ergebnis des Turniers bekannt:

1. Platz: Joachim Rathen

2. Platz: Christine von Wartberg

»Was für ein Pech! Christine sollte doch Siegerin werden.«

Die helle Jungenstimme klang ganz enttäuscht.

»Was stiehlt dieser Mann meiner Schwester den Ehrenpreis«, maulte auch Charlotte. »Und nun muß ich noch runter und ihn überreichen!«

Sie zwängte sich geschickt durch die Menge.

*

Christine saß kerzengerade im Sattel. Wer sie kannte, merkte, daß sie sich zur Haltung zwang. Sie fühlte sich plötzlich müde, müde und ein bißchen enttäuscht. Daher wirkte auch ihr Lächeln fast rührend.

Seltsam, durchfuhr es sie. Sonst kann ich doch verlieren. Ja, ich bin sogar recht glücklich, wenn ich den zweiten Platz kriege. Diesmal aber könnte ich mich schwarz ärgern. Und das nur wegen dieses Mannes, den ich nicht einmal kenne.

Die beiden Reiter stellten sich vor der Tribüne auf, Seite an Seite.

Verstohlen sah das Mädchen den Mann neben sich an, der ihr den Sieg streitig gemacht hatte. Der konnte reiten! Sie hatte es selbst gesehen, wie sicher und konzentriert er jede Hürde nahm.

Er hatte Hände, schmale und doch kraftvolle Hände, denen man ansah, daß das, was sie anpackten, gelingen mußte.

Christine wandte rasch ihren Blick ab und schaute starr zur Ehrentribüne hinüber.

Joachim Rathen!

Richtig, so hieß er! Und eben nannte ihn die Stimme im Lautsprecher als Gewinner des Silbernen Lorbeerkranzes.

Tosender Applaus und begeisterte Bravorufe aus der Menge waren die Antwort.

Dann wurde sie genannt. Wie von weit her glaubte sie ihren Namen zu hören: Christine von Wartberg, zweiter Platz.

Wieder klatschten die Zuschauer Beifall.

Joachim Rathen wandte sich ihr zu und reichte ihr die Hand.