Gabriel DiFloid - L. Francis Skar - E-Book

Gabriel DiFloid E-Book

L. Francis Skar

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Beschreibung

"Erst jetzt fielen mir die vielen Leute auf, die festlich gekleidet dasaßen und auf den Höhepunkt von Gabriels Geburtstag warteten. Sie warteten auf sein Geschenk. Sie warteten auf mich." Es ist die Geschichte des kleinen Jungen Gabriel DiFloid. Ein Kind, das in den Fängen der Sekte Bliss Liberty aufwuchs, die sich als Ziel setzte, eigenes Denken und Empathie durch Gehorsamkeit und Emotionslosigkeit auszutauschen. Schlagen oder geschlagen werden? Fügen oder Fliehen? Überleben oder Sterben? Gabriel erzählt von seinem Kampf um die Freiheit, so ungefiltert, erschreckend und grausam, dass einem nicht mehr die Möglichkeit bleibt, wegzuschauen und hinzunehmen, was in der Welt passiert. Seine Lebensgeschichte fordert nicht nur Tränen, sie verlangt gelebt zu werden.

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Gabriel DiFloid

Die Geschichte eines Jungen, der die Freiheit suchte

L. Francis Skar

INHALT

Prolog

1. TeilMein Leben in Bliss Liberty

2. TeilBelion Forest – Die Heimat des Friedens

3. TeilDrei, zwischen Leben und Tod

Epilog

Danksagung

„Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“

- Perikles

Für alle Kinder, denen die Freiheit genommen wurde.

Prolog

 

„Bliss Liberty lässt dich grüßen.“

Mit diesem Satz fing alles an. Es war der erste Satz, den ein neugeborener Junge bei seiner Geburt in Bliss Liberty gesagt bekommt. So auch bei meiner Geburt.

Ich bin Gabriel DiFloid, ein reiner Libertane ohne Vorsünden, da ich in der Sekte Bliss Liberty geboren bin. Ich bin das zweite Kind von Azrael DiFloid und Ann Azrael, doch deren erster und einziger Sohn. Ja, du hast richtig gehört. Frauen waren nicht ehrbar genug für einen Nachnamen, sodass man ihnen den Namen ihres Ehemanns an den Vornamen gehängt hat. Als wären sie Besitztümer ihrer Männer. Sie waren Besitztümer ihrer Männer. Ehemänner, die zugleich ihre Peiniger waren.

Als Sohn hatte ich gewisse Vorzüge und Rechte, denn ich war Teil des richtigen Geschlechts. Ein Geschlecht, das ohne das andere nicht existieren konnte, doch welches sich als einzig Richtiges sah. Männer bezeichneten sich als Libertane, die sich selbst die Aufgabe gaben, über die Frauen zu herrschen.

Libertane, die sich dazu berechtigt fühlten, Frauen und Mädchen als Objekte anzusehen, die nur Mittel zum Zweck waren. Ein Mittel, um ihre Macht zu demonstrieren.

Das höchste Gesetz in Bliss Liberty lautete:

Wer dir weh tut, dem tust du weh. Außer du bist eine Frau, dann wird dir wehgetan.

Keine Frau durfte sich jemals verteidigen, geschweige denn die Hand gegen den Mann erheben. Den Jungen wurde von klein auf beigebracht, wie man führt, bestraft und Frauen zum Gehorsam bringt. Mädchen lernten zu gehorchen, willig zu sein und sich zu fügen.

Keine Ausnahmen, keine eigenen Entscheidungen.

Für Leute, die damit nicht aufgewachsen sind, wird es unverständlich und naiv klingen. Aber glaube mir, ich zeige dir die Welt, in der es möglich war, alles Gute und Gerechte zu vergessen, als wäre es nie da gewesen. Für mich war es nicht da. Für mich gab es in den ersten Jahren nur Bliss Liberty, dessen Gebiet, welches in fünf Zonen geteilt war, den großen Zaun und die böse Welt hinter dem Zaun. Als Kind wusste ich noch nicht, dass das Areal von Bliss Liberty mit 10.000 Hektar in den nordischen Wäldern nur ein winziger Teil von der ganzen Welt war. Damals war Bliss Liberty meine ganze Welt. Libertane sind komplette Selbstversorger, die unabhängig von der Außenwelt ihre Freiheit gefunden haben. Eine eingezäunte Freiheit.

Jedem war eine Aufgabe zugeschrieben, die er verfolgen musste. Von Hirten bis Blocker - den Beschützern Bliss Libertys. Beschützer, die gefürchtet wurden, da sie die einzigen Libertane waren, die das Areal von Bliss Liberty verlassen durften. Sie gingen und kamen mit neuen Libertanen wieder. Menschen der Außenwelt, die psychisch und physisch manipuliert wurden, damit sie dem Ruf der Libertane folgten. Ihnen wurde ein Paradies versprochen, in dem sie ihre Freiheit opferten, um eine innere Freiheit zu erlangen.

Dieses sogenannte Paradies der Freiheit wurde von einem Mann geschaffen, der sich selbst nur als Guru vorstellte. Ganz Bliss Liberty unterlag ihm und seiner Gewalt. Er fühlte sich von Gott berufen einen Ort zu schaffen, der nach Gottes Prinzipen lebte, doch er erschuf einen Ort nach seinen Vorstellungen. Er reiste um die ganze Welt, um so viele Menschen wie möglich in seinen Bann zu ziehen, damit er immer mehr Macht erlangte. Menschen, die einen Herrscher brauchten, weil sie zu schwach waren, sich als Individuum anzusehen. Er wurde von diesen Menschen verehrt, die sich selbst nicht in der großen Welt gefunden hatten und schließlich von ihm, dem Guru, gefunden wurden.

Sie waren Schatten des Gurus, einem Menschen, der vor seiner eigenen Identität in der Welt flüchtete und eine dauerhafte, nie endende Bestätigung suchte. Und seine Suche fand ein Ende, als er zum ersten Mal im Belion Forest stand, eine mächtige Energie spürte, die vom Wald ausging, und wusste, dass das der Boden seines Lebenswerkes werden würde.

Sein Lebenswerk Bliss Liberty.

Sein Glaube verfolgt das Prinzip der Gefühlsmanipulation und der Frauenunterdrückung. Gewalt und Ungerechtigkeit stehen in Bliss Liberty auf der Tagesordnung.

Nach außen ein Ort des Friedens, doch in Wahrheit ein Ort, der so nicht existieren sollte. Niemals. Für niemanden.

Ich bin Gabriel DiFloid und dies ist meine Geschichte.

1.Teil

Mein Leben in Bliss Liberty

 

Bliss Liberty 2000

Ich war nicht stolz. Mir wurde es so beigebracht. Mein Vater sah mich an und mein Kloß im Hals wuchs zu einem zentnerschweren Ball heran. Auf jeden Fall dachte ich es. Ich schluckte, doch mein schlechtes Gefühl ließ mich nicht los. Ich blickte in die Augen meines Vaters und wusste genau, was er gerade dachte:

„Sei kein Feigling, mein Sohn. Nicht an deinem Geburtstag. Du weißt, was dir bevorsteht, wenn du es nicht schaffst!“

Ich schaute weg, um nicht in Panik zu geraten. Ich war in diesem Moment zu schwach dem Druck standzuhalten, den mein Vater ausstrahlte. Bis jetzt hatte ich sie noch keines Blickes gewürdigt.

Ich war nicht stolz darauf. So wurde es mir eben beigebracht. Plötzlich musste ich an meine Mutter denken, die eigentlich an so einem wichtigen Tag, wie diesem, neben meinem Vater stehen sollte. Je mehr ich versuchte die Gedanken an meine Mutter zu verdrängen, desto mehr Emotionen kamen in mir hoch. Als ich den Tränen nahe war, packte mich die Wut. Damals war die Wut ein weiteres Hindernis, das ich überwinden musste. Doch heutzutage bin ich mir sicher, dass die Wut ein Schutzreflex meines Körpers war. Denn Schwäche durch Tränen auszudrücken war strengstens verboten und wurde hart bestraft. Durch die Wut gelang es mir dem Mädchen scharf ins Gesicht zu schauen.

Sekunden später hatte ich bereits wieder einen klaren Kopf und bereute meinen scharfen Blick. In mir drehte sich alles und in dem Moment, als dem Mädchen eine glänzende Träne die Wange herunterlief, wurde mir schlecht - vor Angst ihr wehzutun.

Als ihre Mutter die Träne ihres eigenen Kindes sah und genau wusste, dass sie rein gar nichts gegen ihr Leid unternehmen konnte, senkte sie beschämt den Blick und ich erkannte Mitleid in ihren stumpfen Augen aufblitzen. Der Vater des Mädchens sah ebenfalls das Mitleid in den Augen der alten Frau. Minuten später trocknete bereits das Blut, welches der alten Frau aus der aufgeschlagenen Lippe lief, die durch die Bestrafung des Vaters entstanden war. Heutzutage kenne ich keine Person, deren Blut so schnell trocknet, wie das eines Libertanen. Als könnte sich der Körper anpassen.

Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden und starrte das Mädchen deshalb ohne Reaktion weiter an. Sie war so wunderschön.

Mir kam es vor, als stünde ich stundenlang in ein und derselben Position da. Wahrscheinlich waren es nicht mal zwei Minuten. Mir fiel auf, dass ich mich nicht an ihren ganzen Namen erinnern konnte. Vielleicht wusste ich ihn einst, doch in diesem Augenblick des Schweigens fiel er mir nicht ein und dafür schämte ich mich gewaltig. In meinem Kopf drehte sich jetzt alles noch viel schneller. Meine Mutter drängte sich in meinem Kopf wieder in den Vordergrund, doch sie wurde schlagartig aus meinen Gedanken gelöscht: durch ein leises, aber hörbares Schluchzen.

Alle Blicke wandten sich dem Mädchen zu, das sich bereits vor Schreck auf die Lippe gebissen hatte. Ich konnte sie nicht länger anschauen, sonst wäre ich innerlich zerrissen. Also ließ ich meinen Blick schweifen. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Raum in dem ich stand, für diesen Tag feierlich geschmückt war.

Für meinen Tag.

Auch die Leute um mich herum waren festlich gekleidet. Wut stieg wieder in mir auf und ein weiteres Gefühl, mit dem ich in diesem Moment nicht gerechnet hatte, machte sich bemerkbar. Es war Ekel. Ekel vor mir selbst, vor der Tat, die ich gleich begehen werde und vor allem vor den Menschen um mich herum, die dafür verantwortlich waren. Mein Vater, ihr Vater und unser aller Vater, der das zuließ. Der Ekel vermischte sich mit der Wut in mir zu einem unerträglichen Gefühlschaos, dem ich nicht länger standhalten konnte.

In diesem Augenblick der Verzweiflung wurde mir bewusst, dass ich jetzt nicht das tun konnte, was alle in Bliss Liberty an diesem Tag von mir erwartet hatten.

Also fasste ich einen Entschluss.

Bliss Liberty 1997

Ich war mal wieder am Zaun. Ich wusste, dass es strengstens verboten war, dorthin zu gehen. Aber je älter ich wurde, desto mehr verspürte ich ein Gefühl von Eifersucht auf die Leute der anderen Seite des Zauns. Ich wusste, dass es dort draußen Leute gab - die Sündiger dieser Welt - die sich nicht unserem Prinzip der Freiheit und Gerechtigkeit anschließen wollten. Schlichtweg alle Guten waren innerhalb des Zauns. Alles Böse dahinter.

Diese egozentrische und naive Denkweise der Libertanen wurde uns Kindern in der Schule beigebracht. Das Aufwachsen in Bliss Liberty wurde für alle Kinder vereinheitlicht. So gab es keine Stärken und keine Schwächen, alles um das eigenständige Denken zu unterbinden. Wir sollten glauben, was uns erzählt wurde. Und das taten wir. Anfangs zumindest.

Ohne Hinterfragen. Ohne Emotionen.

Die Schule wurde von den alten Libertanen geführt. Diese, die nicht rein geboren wurden, sondern erst im Laufe ihres Lebens Bliss Liberty als das einzig Wahre anzusehen gelernt hatten. So bekamen wir einen Einblick über die Welt hinter dem Zaun, der durch Erzählungen der Lehrer in uns verinnerlicht wurde. Es wirkte glaubwürdig für uns Kinder, sodass wir die Denkweise, die uns präsentiert wurde, als die Eigene angesehen haben. Vater sagte immerzu, dass ich für meine gerade mal 13 Jahre sehr weit sei. Ich war mir damals nicht sicher, ob er meine geistige oder meine körperliche Entwicklung meinte. Heute weiß ich, dass er das Letztere meinte, was mir ein paar Jahre später zum Verhängnis wurde.

Trotz der Tatsache, dass ich sein Liebling war - soweit man als Libertane Gefühle für andere Menschen empfinden konnte - durfte er nie erfahren, dass ich hier am Zaun meine freie Zeit verbrachte. Mit bereits acht Jahren sprach mein Vater zu mir, als wäre ich erwachsen. Deshalb verstand ich vieles, was er von sich gab, nicht. Zu dieser Zeit war es für mich bereits selbstverständlich täglich stundenlang zu beten und von meinem Vater die Lehre des Führens unterrichtet zu bekommen. Beten, um sich seiner Existenz würdig zu erweisen und man jedes Mal aufs Neue realisieren musste, dass man nur am Leben war, um seinem Schicksal zu folgen. Das Schicksal, welches der Guru für uns festgelegt hatte und das nicht mehr veränderbar war. So konnte er bei der Geburt eines Libertanen darüber entscheiden, ob du Hirte, Förster - oder was ihm sonst gerade einfiel - wirst.

Ohne Hinterfragen. Ohne Emotionen.

Der einzige Ausweg, dem Schicksalsspruch des Gurus zu entkommen, war, sich als Blocker ausbilden zu lassen. Die Ausbildung war anstrengend und dein Vertrauen in Bliss Liberty wurde auf das Kleinste analysiert und bewertet. Wenn man als Blocker versagte, wurde man mit der Verbannung bestraft. Man hatte sich dem Willen des Gurus widersetzt und seine Stärke nicht beweisen können.

**

Als die Sonne auf halb vier stand, wusste ich, dass ich mich schleunigst auf den Weg machen musste, um pünktlich zu dem Jugendappell zu kommen. Also stand ich auf und ging durch den Wald zurück zum Zentrum.

Bliss Liberty war in fünf einzelne Zonen eingeteilt, die kreisförmig um das Zentrum lagen. Jede Zone erfüllte einen bestimmen Zweck. So war die erste Zone das sogenannte Zentrum, wo sich das Wichtigste abspielte. Hier war unter anderem das Anwesen des Gurus, die Knabenschule, der XXs-Bereich, der Standpunkt, an dem man wöchentlich Essen und Sonstiges ausgehändigt bekam und der große Platz, an dem auch der Jugendappell stattfand. In der zweiten Zone wohnten die angesehenen Libertane, wie die Blocker mit ihren Familien und die Helfer des Gurus. Die dritte Zone diente für die restlichen Libertane als Wohnplatz. Jeder Familie wurde ein Haus zugeteilt, in dem sie wohnen durften. Nach der dritten Zone fing der Wald an. Der Wald wurde auch als vierte Zone bezeichnet und galt als unser großer Versorger, aus dem wir Bauholz für die Häuser und Brennholz bekamen. Keinem war es erlaubt - der nicht wegen seines Dienstes im Wald arbeitete - diesen zu betreten. Ich wusste, dass die fünfte Zone nicht existierte. Dieser war nur eine Geheimbezeichnung für den großen Zaun. Uns Kindern erzählte man in der Schule, dass in der fünften Zone alle Ausgestoßenen und Verbannten tagtäglich gefoltert und gequält wurden. Deswegen traute sich keiner durch den Wald zu gehen.

Mein Vater war Förster des Nordteils von Bliss Liberty. So durfte ich ihm ab und zu beim Holztragen helfen und bekam die Genehmigung die vierte Zone zu betreten. Allein hätte ich aber niemals dorthin gehen dürfen.

Auf dem Weg durch den Wald bemerkte ich etwas im Gras glitzern. Ich ging davon aus, dass es ein Stein war, der lediglich die letzten Sonnenstrahlen des Tages reflektierte. Bei näherer Betrachtung entdeckte ich aber entgegen meiner Vermutung keinen gewöhnlichen Stein, sondern einen runden Gegenstad, welcher gelb schimmerte und mit der Zahl 1 beziffert war. Ich war erstaunt, denn so etwas hatte ich bis dato noch nie gesehen. Ich war zwiegespalten zwischen der Neugier und der Angst, Ärger zu bekommen. Ich schaute rasch umher, um mich zu vergewissern, dass mich keiner beobachtete. Als ich davon überzeugt war, dass kein anderer in meiner Nähe war, schoss meine Hand blitzschnell zu Boden, griff nach dem schon bald alles verändernden Gegenstand und schob ihn, so tief es ging, in die Hosentasche.

**

Der Jugendappell wurde von vielen JA genannt. Bliss Liberty gab vielen Dingen Abkürzungen, die in sich keinen Widerspruch zuließen. So auch beim Jugendappell, um deutlich zu machen, dass kein Nein geduldet wurde. Vor allem nicht von den jungen Libertanen. Als ich ankam, waren bereits zwei Klassenkameraden von mir da, die mich mit dem Satz „Bliss Liberty lässt dich grüßen“ empfingen, wie es sich gehörte. Ich gab den Satz zurück und unterhielt mich mit ihnen.

Natürlich erzählte ich ihnen nichts von meinen täglichen Besuchen am Zaun und meinem seltsamen Fund im Wald. Als alle Knaben da waren, sprach der Guru zu uns. Er war der mächtigste Mann in ganz Bliss Liberty. Wer ihn nicht anhörte, wurde mit dem Sündenstuhl bestraft. Man sagte, wer auf dem Sündenstuhl war, würde nie mehr bei uns aufgenommen werden. Unser Guru war nicht sehr groß und er hatte helles langes Haare, die immerzu seine Ohren versteckten. Als kleiner Junge hatte ich große Angst ihm in die Augen zu schauen, denn ich sah nichts als Leere darin und die schwarzen Pupillen zogen einen in den Bann, der von tiefer Sehnsucht geprägt war und einem das Gefühl vermittelte, nie wieder Freude empfinden zu können. So vermied ich bei JAs meinen Blick zu heben, wenn der Guru kam. Meinem Vater gefiel mein Verhalten, denn er glaubte, ich zeige mich demütig gegenüber dem Mann, der uns das Leben geschenkt hatte. So dachte ich es früher.

Nach der zweistündigen Rede des Gurus lief ich nach Hause zum Abendbrot. Mein Vater stand bereits vor der Tür, den Bambusstab in der linken Hand und seinen alten Ledergürtel in der rechten Hand und wartete auf mich. Ein sehr ernstgenommenes Gesetz war es, den Menschen selbst die Auswahl zu überlassen. Eine Ironie in sich, da man in Wahrheit bis ins kleinste Detail manipuliert wurde und unsere sogenannten eigenen Entscheidungen auf der Basis des Willens des Gurus bauten. So wurde man auch bei der Bestrafung nach dem Mittel gefragt, mit welchem man bestraft werden wollte. So züchtigte er mich mit dem von mir ausgesuchten Gürtel, weil ich, seiner Meinung nach, getrödelt habe und die Zeit nicht sinnvoll genutzt hätte.

Mit der Zeit habe ich gelernt damit umzugehen. Ich habe zahlreiche Dinge ausprobiert, um dem Schmerz Stand zu halten. Ich fing an, mir schöne Dinge vorzustellen, soweit ich welche kannte oder die Hiebe zu zählen. Nichts half, also gab ich bald die Suche nach Lösungen auf und gab mich meinem Schicksal hin.

Als mein Vater zum Nachtgebet ins Zentrum ging, nutzte ich die Chance und sprach mit meiner Mutter. Ich befahl ihr mich anzuhören, wie es mein Vater mir beigebracht hatte. Er meinte immer, dass Bliss Liberty so fabelhaft wäre, da es verstünde, dass Frauen nur geboren werden, um einen Jungen zu gebären. Außerdem meinte er einst zu mir, dass Familien einen höheren Rang bekommen, wenn in der Familie ein Sohn zur Welt kommt. Ab diesem Zeitpunkt gilt, dass eine Frau keine Geburt mehr vollbringen darf, um nicht die Ehre des Sohnes zu beschmutzen. Ich war der so lange erhoffte Sohn meines Vaters, nach der Geburt meiner älteren Schwester.

Mein Vater versuchte unsere Familienehre als Familie mit rein männlichen Nachkommen zu schützen und preiste meine Schwester im Alter von acht Jahren zur jährlichen Versendung an. Der Guru allein entschied, welches angepriesene Kind in die große Welt ausgesandt wurde. Für den Guru damals ein Mittel der Machtdemonstration. Heute sehe ich diese Entsendung als den einzigen Freiheitsspruch, den ein Mädchen in Bliss Liberty erhalten konnte. Als in diesem Sommer meine Schwester ausgesucht wurde und somit unsere Familie ein höheres Ansehen erlangte, weil keine weiblichen Nachkommen mehr vorhanden waren, schenkte mein Vater mir vor lauter Freude ein Buch über die weiten Welten auf der anderen Seite des Zauns. So erfuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass es eine Welt außerhalb vom Zaun gab, in der Menschen, wie du und ich leben. Seit diesem Zeitpunkt war ich vernarrt in das Buch und wollte stets mehr über die Welt da draußen erfahren. Als mein Vater eines Tages bemerkte, mit wie viel Freude ich das Buch las, nahm er es mir weg und verbrannte es. Für ihn war das Buch ein Test, ob ich der Außenwelt widerstehen konnte und mich für die Utopie von Bliss Liberty entscheiden würde.

Einen Test, den ich nicht bestand.

**

Während meine Mutter sich hinsetzte, nachdem ich sie aufgefordert hatte mich anzuhören, spielte ich nervös mit meinen Händen. Ich wusste, dass sie verpflichtet war, all meine Fragen dem Vater zu berichten. Trotzdem überwand ich mich zu einer gefährlichen Frage.

„Warum bist du dem Ruf der Libertanen gefolgt, Mum?“, fragte ich langsam mit vorsichtiger Stimme. Ich saß mit meiner Mutter in der kleinen Küche, wo wir die meiste Zeit verbrachten, wenn wir im Haus waren. Sie hob erstaunt den Kopf und schaute mich mit ihren, schon vor langer Zeit, erloschenen Augen an und musterte meine Hände.

„Ach Liebling, du weißt doch, dass du dir stets für den Guru die Hände waschen sollst“, sagte sie zu mir mit keinerlei Ausdruck in der Stimme. Sie sagte diesen Satz fast tagtäglich immer wieder zu mir, obwohl meine Hände strahlend sauber waren.

„Mum, hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? Mum!“, rief ich jetzt mit einer lauteren und bestimmteren Stimme.

„Ich bin geboren, um Bliss Liberty anzugehören. Sie prüfen einen, während man unter den Lebenden weilt, um einen dann im Paradies zu belohnen. Das Innere des Zauns ist das einzig Richtige auf diesem Planeten. Alle Ungläubigen da draußen werden niemals so belohnt werden, wie einer von uns. Sie sind alle nur Nebenprodukte Gottes, bei dem Versuch einen von uns zu erschaffen.“

Die Worte kamen ihr ohne Emotionen oder Euphorie über die Lippen geglitten. Als hätte sie die Sätze schon vor geraumer Zeit immer wieder gehört und sich diese tief in ihren Kopf verwurzelt hatten, ohne dass die Möglichkeit besteht sie davon zu befreien. Mir schoss eine Frage in den Kopf, doch ich wagte nicht sie zu stellen. Mir gefror das Blut in den Adern und die Frage wurde immer lauter in meinem Kopf.

Was ist mit deiner Familie passiert? WAS IST MIT DEINER FAMILIE PASSIERT? Die Stimme in meinem Kopf schrie förmlich, bis es unerträglich für mich wurde.

„Was ist mit deiner Familie passiert?“, schoss es mir blitzartig über die Lippen. Ich erschrak vor meinen eigenen Worten – und vor der Antwort, die mir bevorstand.

„Bliss Liberty ist meine echte Familie. Falls du meine Erzeuger meinst, dann weiß ich nicht viel über sie. Sie waren selbst schuld. Sie hatten es nicht anders verdient. Ungläubige waren sie! Sie hatten Dämonen in ihren Köpfen, die ihren Verstand bereits unter Kontrolle hatten. So befreite mich mein Erzieher nur von ihnen“, antwortete mir meine Mutter mit einem Ausdruck der Schwäche. Da war noch was in ihrem Blick, was mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Es war Wut. Wut, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in meiner Mutter gesehen hatte. Ich wusste, dass meine Mutter nicht von alleine weiterreden würde, also wiederholte ich meine Frage mit einem harten Unterton.

„Was ist mit ihnen passiert?“

„Sie sind wahrscheinlich alle tot. So wie ich meinen Erzieher kannte, schaffte er solche Ungläubigen meistens aus dem Weg“, sagte sie.

„Alle, die mich in der Welt da draußen geliebt haben, alle die von meiner Entführung wussten. Die Blocker haben sie getötet. Blocker, die die Aufgabe haben, Bliss Liberty in seiner Vollkommenheit zu beschützen. Das haben sie getan und diese Ungläubigen dorthin befördert, wo sie hingehören. Weit weg von unserem Paradies!“

Das letzte Wort kam ihr nur schwer über die Lippen, als glaubte sie selbst nicht, was sie sagte. Mir wurde kalt. Sehr kalt, als wäre ein Schneesturm durch unsere kleine Küche gefegt. Meine Beine fühlten sich eiskalt an und gaben nach. Alles war dunkel.

Das Nächste, was ich wahrnahm, war die wütende Stimme meines Vaters:

„Lieg hier nicht rum, wie ein nasser Kartoffelsack!“, brüllte er auf mich ein.

„Hilf mir bei der Holzarbeit im Wald“.

„Was ist passiert? Wo ist Mum?“, stotterte ich vollkommen orientierungslos.

„Dieser Schwachkopf von Frau hat dir Dämonen in den Kopf gesetzt, bis du ohnmächtig wurdest. Sie ist da, wo sie hingehört. Auf dem Sündenstuhl!“

Ich erschrak so heftig, dass ich mich fast an meiner eigenen Zunge verschluckte.

„Oh mein Gott… Wann… wann darf sie wiederkommen?“, rief ich, während ich immer noch auf dem Boden in der Küche lag und kaum Luft bekam.

„Es gibt kein Wiedersehen von uns und dieser Sündengestalt. Sie hat meinem einzigen Sohn Flausen von der falschen Welt da draußen erzählt. Das ist Verrat!!“, polterte er los und wurde puterrot im Gesicht, als bekäme er keine Luft mehr. Endlich gewann ich meine Stimme zurück und schrie aus ganzem Leibe.

„Ich war es, der sie dazu aufgefordert hat! Ich wollte, dass sie mir davon erzählt! Sie stand unter meinem Gehorsam!“

Mein Vater musterte mich schweigend und schmunzelte.

„Keine Angst, du stehst immer noch unter dem Einfluss der Dämonen deiner Mutter. Diese Gedanken werden bald vorübergehen. Ich erlaube dir, dich für eine Stunde hinzulegen und danach verlange ich, dass du die noch übrig gebliebenen Dämonen in deinem Kopf unter Kontrolle hast.“

Er lächelte mich an, doch es war kein freundliches Lächeln. Es war ein verachtendes Lächeln. Erst jetzt bemerkte ich das Blut auf dem Boden der Küche. Es war viel Blut. Die letzten Spuren meiner Mutter. In diesem Moment wurde mir eines klar:

Ich war auf mich allein gestellt.

Bliss Liberty 1998

Seit dem Verschwinden meiner Mutter hatte sich mein Vater komplett verändert. Bei Bestrafungen schlug er immer fester zu, wodurch mein Körper mit Narben übersät wurde. Anstatt ihm zu gehorchen, um weitere Schläge zu vermeiden, kam ich beabsichtigt zu spät nach Hause, wusch mir meine Hände nicht und den Blick hob ich nun auch gegenüber dem Guru. Ich bat geradezu um weitere Gründe mich zu züchtigen. Meine innere Stimme hörte erst auf zu schreien, wenn ich der Meinung war, für den Moment genug bestraft worden zu sein. Die Gewissensbisse wegen meiner Mutter wurden immer stärker und ließen einfach nicht nach, doch mit jedem Schlag, mit jedem Tritt, mit jedem Hieb dachte ich, dass ich es immer mehr verdiente, bestraft zu werden.

**

Ich war nur noch selten am Zaun, aber den runden Gegenstand, den ich vor genau einem Jahr gefunden hatte, trug ich stets in meiner rechten Hosentasche bei mir. Er besaß etwas Geheimnisvolles und Stärkendes. Im Laufe des Jahres formten sich immer wieder verschiedene Geschichten um die Entstehung der kleinen runden Metallplatte. Ich stellte mir vor, wie ein Stück der goldenen Seele des Gurus vom Wind weggetragen wurde und mich aufgesucht hatte. Es könnte eine Probe sein, die testen sollte, ob ich dem Glanz widerstehen konnte und sie dem Guru zurückbrachte. So wurde ich aber unsicher und zweifelte daran, das Geheimnis des Gegenstandes zu bewahren, weshalb ich mich dazu entschied, nicht weiter an diese Geschichte zu glauben. An den meisten Tagen vergaß ich aber die Existenz des wundersamen Dinges komplett. Bis zu dem Tag, der alles veränderte.

**

Ich kam zu spät nach Hause, nachdem ich beim JA im Zentrum war. Mein Vater stand nicht, wie sonst vor der Tür, sondern wartete in der Küche auf mich. Der Herd war an, obwohl kein Topf darauf stand. Ich wusste, was mich nun erwartete, doch ich machte keine Anstalten mich unterwürfig zu verhalten. Ich hob den Blick und suchte den Augenkontakt mit meinem Vater.

„Werde ja nicht respektlos, Junge. Ich habe es satt! Dich bringt man nicht einmal mit dem Gürtel zur Gehorsamkeit. Jetzt herrscht ein anderer Ton bei uns.“