Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter - E-Book

Gabriele Reuter – Gesammelte Werke E-Book

Gabriele Reuter

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Beschreibung

Ihre wichtigsten Werke in überarbeiteter Fassung Die zu Lebzeiten viel gelesene Autorin wurde bekannt durch ihren Roman "Aus guter Familie" (1895), der die "Leidensgeschichte eines Mädchens" (Untertitel), einer typischen "höheren Tochter" der Wilhelminischen Ära erzählt. Das Buch verkaufte sich bis 1931 in 28 Auflagen. Weitere Bestseller waren etwa ihr Roman "Ellen von der Weiden" (1900), die Novellensammlung "Frauenseelen" (1901) oder der Roman "Der Amerikaner" (1907). Null Papier Verlag

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Gabriele Reuter

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Gabriele Reuter

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962814-07-6

null-papier.de/597

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Aus gu­ter Fa­mi­lie

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Das Trä­nen­haus

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Der Ame­ri­ka­ner

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

El­len von der Wei­den

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

Frau­en­see­len

Treue

Graue Stun­den

Cle­men­ti­ne Holm

Kin­der

Die Frau mit den Zie­gen­fü­ßen

Five o’clock

Ei­nes To­ten Wie­der­kehr

Schwes­ter Eli­sa­beth

Die Barm­her­zi­gen

Das Opern­glas

Ins neue Land

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Irm­gard und ihr Bru­der

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

In­dex

Dan­ke

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Aus guter Familie

Erster Teil

I.

Breit und hell fiel ein Strahl der Früh­lings­son­ne durch das ver­staub­te Bo­gen­fens­ter ei­ner Dorf­kir­che. Er durch­schnitt als war­mer, glän­zen­der Strei­fen die graue Däm­me­rung und ver­lor sich hin­ter weißem Git­ter in den schat­tig-feuch­ten Tie­fen des Pfarr­stuh­les, den meh­re­re fest­lich ge­klei­de­te Her­ren und Da­men be­setzt hat­ten. Mit­ten in der Licht­bahn stand die Kon­fir­man­din vor dem Al­tar. Das klei­ne Kreuz auf ih­rer Brust glüh­te gleich ei­nem über­ir­di­schen Sym­bol, und wie ein Kranz welt­li­cher Herr­lich­keit flim­mer­te, von tau­send Gold­fun­ken durch­sprüht, das brau­ne Haar über dem ro­sen­ro­ten, trä­nen­be­tau­ten, fei­er­li­chen Kin­der­ge­sicht.

Sie stand ganz al­lein an dem hei­li­gen Orte, durch­schau­ert von der Be­deu­tung des Au­gen­blicks – ban­gend, das Ge­lüb­de aus­zu­spre­chen, das auf ih­ren Lip­pen schweb­te und sie für ein Le­ben der Wahr­heit und der Hei­li­gung un­wi­der­ruf­lich ver­pflich­ten soll­te.

Hin­ter ihr, zwi­schen den schma­len Holz­bän­ken, hör­te sie das Ge­pol­ter ei­ni­ger nie­der­kni­en­den Ta­ge­löh­ner­kin­der, die be­reits die Ein­seg­nung emp­fan­gen hat­ten. Aga­the wünsch­te plötz­lich mit krank­haf­ter Hef­tig­keit, un­ter den pein­lich glatt­ge­kämm­ten und rot­ge­seif­ten Köp­fen, den un­ge­schick­ten Ge­stal­ten dort sich ver­ber­gen, sich an der Ge­mein­schaft mit ih­nen stär­ken zu kön­nen.

Ihr Herz woll­te sein Schla­gen aus­set­zen, eine Furcht er­griff sie, ein Schwin­del, in­dem sie auf die Knie sank und den Kopf mit dem Ge­fühl neig­te, es müs­se in der nächs­ten Mi­nu­te ihr Da­sein, das froh emp­fun­de­ne Da­sein, ge­gen einen Zu­stand von frem­der Schau­er­lich­keit, voll er­ha­be­ner Schmer­zen und be­klem­men­der Won­nen ein­ge­tauscht wer­den.

Über sich hör­te Aga­the die sanf­te, ernst­fei­er­li­che Stim­me des Geist­li­chen die Fra­ge an sie rich­ten: ob sie dem Teu­fel, der Welt und al­len ih­ren Lüs­ten ent­sa­gen, ob sie Chri­sto an­ge­hö­ren und ihm fol­gen wol­le. In sü­ßer Schwer­mut hauch­te sie »ja«, fühl­te die Berüh­rung der seg­nen­den Hän­de auf ih­rem Haup­te und ver­such­te mit ge­walt­sa­mer An­stren­gung, alle ihre Sin­ne ein­zut­au­chen in die An­be­tung der ewi­gen Gott­heit – des Herrn, der über ihr schweb­te.

Aber sie ver­nahm das Rau­schen ih­res ei­ge­nen sei­de­nen Klei­des; ein ge­rühr­tes Flüs­tern und un­ter­drück­tes Schluch­zen drang aus dem Pfarr­stuhl, wo ihre El­tern sa­ßen, zu ih­ren Ohren; sie hör­te ein Ge­sang­buch ir­gend­wo pol­ternd zur Erde fal­len und eine ge­mur­mel­te Ent­schul­di­gung – sie lausch­te auf die falschen Töne, die der Küs­ter bei sei­ner lei­sen Or­gel­be­glei­tung griff – sie muss­te an ein Buch den­ken, an eine an­stö­ßi­ge Stel­le, die sie ver­folg­te … Trä­nen quol­len un­ter ih­ren ge­senk­ten Li­dern her­vor, krampf­haft fal­te­ten sich ihre Hän­de, auf den schwar­zen Hand­schu­hen sah sie die Trä­nen­trop­fen nas­se Fle­cke bil­den – sie konn­te nicht be­ten …

Nicht in die­ser Stun­de? Nicht wäh­rend we­ni­ger Se­kun­den konn­te sie Gott al­lein an­ge­hö­ren? Und sie hat­te ge­schwo­ren, für ihr gan­zes Le­ben dem Ir­di­schen ab­zu­sa­gen! Sie hat­te einen Mein­eid ge­leis­tet – eine un­tilg­ba­re Sün­de be­gan­gen! Mein Gott, mein Gott, wel­che Angst!

Ver­such­te der Teu­fel sie? Es gab doch einen Teu­fel. Sie fühl­te ganz deut­lich, wie er in ih­rer Nähe war und sich freu­te, dass sie nicht be­ten konn­te. Lie­ber Gott, ver­lass mich doch nicht! – Vi­el­leicht kam die Prü­fung über sie, weil sie in der Beich­te, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und dem Geist­li­chen über­rei­chen müs­sen, nicht auf­rich­tig ge­we­sen … Hät­te sie sich so ent­setz­lich de­mü­ti­gen sol­len … das be­ken­nen? Nein – nein – nein – das war ganz un­mög­lich. Lie­ber in die Höl­le!

Der Schweiß brach ihr aus, so pei­nig­te sie die Scham.

Das konn­te sie doch nicht auf­schrei­ben. Tau­send­mal lie­ber in die Höl­le!

… Jetzt nicht dar­an den­ken … Nur nicht den­ken. Wie war es denn an­zu­stel­len, um Macht über das Den­ken zu be­kom­men? Sie dach­te doch im­mer … Al­les war so ge­heim­nis­voll schreck­lich bei die­sem christ­li­chen Glau­bens­le­ben. Sie woll­te es ja an­neh­men … Und sie hat­te ja auch ge­lobt – nun muss­te sie – da half ihr nichts mehr!

Mit ei­nem un­er­träg­li­chen Zit­tern in den Kni­en be­gab das Mäd­chen sich an ih­ren Platz zu­rück. Der Ge­sang der Ge­mein­de und das Spiel der Or­gel schwol­len stär­ker an, wäh­rend der Geist­li­che die Vor­be­rei­tun­gen zum Abend­mahl traf, aus der schön­ge­form­ten Kan­ne Wein in den sil­ber­nen Kelch goss und das ge­stick­te Lei­nen­tuch von dem Tel­ler mit den hei­li­gen Obla­ten hob.

Das Licht der ho­hen Wachs­ker­zen fla­cker­te un­ru­hig. Aga­the schloss ge­blen­det die Au­gen vor dem hel­len Son­nen­schein, der die Kir­che durch­ström­te, und in dem Mil­li­ar­den Stau­ba­to­me wir­bel­ten. War die Him­mels­son­ne nur dazu da, al­les Ver­bor­ge­ne zu schreck­li­cher Klar­heit zu brin­gen?

In stump­fem Er­stau­nen hör­te sie ne­ben sich zwei ih­rer Mit­kon­fir­man­din­nen lei­se flüs­tern – flachs­köp­fi­ge Mäd­chen, die einen Duft von schlech­ter Po­ma­de um sich ver­brei­te­ten.

»Wie­sing – wo is Dien Mod­der?«

»Sei möt uns’ lüt­t’ Kalf bör­nen.«

»Ju! He­wet et ji all? Dat’s fin! Dat kunnst mi ok gliek ver­tel­len!«

»Klock Twelf hat’s de Bleß bracht. Wie sünd all die Nacht in’n Stall west!«

Wie konn­te man über so et­was in der Kir­che re­den, dach­te Aga­the. Ein Zug hoch­mü­ti­ger Missach­tung be­weg­te ihre Mund­win­kel. Sie wur­de ru­hi­ger, si­che­rer im Ge­fühl ih­res hei­ßen Wol­lens. Eine Mü­dig­keit – eine Art von se­li­ger Er­mat­tung be­schlich sie bei dem Ge­san­ge je­nes al­ten mys­ti­schen Abend­mahls­lie­des:

Freue dich, o lie­be See­le, Lass die dunkle Sün­den­höh­le, Komm ans hel­le Licht ge­gan­gen, Fan­ge herr­lich an zu pran­gen. Denn der Herr voll Heil und Gna­den Will dich jetzt zu Gas­te la­den, Der den Him­mel kann ver­wal­ten Will jetzt Zwie­sprach’ mit dir hal­ten. Eile, wie Ver­lob­te pfle­gen, Dei­nem Bräu­ti­gam ent­ge­gen. Der da mit dem Gna­den­ham­mer Klopft an dei­nes Her­zens Kam­mer. Öff­n’ ihm dei­nes Geis­tes Pfor­ten, Red’ ihn an mit sü­ßen Wor­ten: Komm, mein Liebs­ter, lass dich küs­sen. Lass mich dei­ner nicht mehr miss­en.

Nun war es nicht der er­ha­be­ne Gott-Va­ter, der das Op­fer for­der­te, nicht mehr der hei­li­ge Geist, der un­be­greif­lich-furcht­ba­re, der mit den Glu­ten des ewi­gen Feu­ers sei­nen Be­lei­di­gern droht, der nie­mals ver­gibt – jetzt nah­te der himm­li­sche Bräu­ti­gam mit Trost und Lie­be.

»Wer da un­wür­dig is­set und trin­ket, der sei ver­dammt« – heißt es zwar auch hier. Aber über das Mäd­chen kam eine fro­he Zu­ver­sicht. Vor ihr in­ne­res Auge trat Je­sus von Na­za­reth, wie ihn die Kunst, wie ihn Ti­zi­an ge­bil­det hat, in sei­ner schö­nen, jun­gen Men­sch­lich­keit – ihn hat­te sie lieb … Ein schmach­ten­des Be­geh­ren nach der ge­heim­nis­vol­len Ve­rei­ni­gung mit ihm durch­zit­ter­te die Ner­ven des jun­gen Wei­bes. Der star­ke Wein rann feu­rig durch ih­ren er­schöpf­ten Kör­per – ein sanf­tes, zärt­li­ches und doch ent­sa­gungs­vol­les Glück durch­beb­te ihr In­ners­tes – sie war wür­dig be­fun­den, sei­ne Ge­gen­wart zu füh­len.

*

Auch Aga­thes El­tern, ihr Bru­der, ihr On­kel, und die Frau des Pre­di­gers, in des­sen Hau­se sie seit ei­ni­gen Mo­na­ten leb­te, nah­men das Abend­mahl, um sich in Lie­be dem Kin­de zu ver­bin­den. Da­rum hat­te der Geist­li­che zu­erst sei­ne länd­li­chen Kon­fir­man­den und de­ren An­ge­hö­ri­ge ab­sol­viert und dann die Toch­ter des Re­gie­rungs­ra­tes und ihre Fa­mi­lie zum Tisch des Herrn tre­ten las­sen. So stand denn Aga­the um­ge­ben von all de­nen, die ihr die nächs­ten wa­ren auf die­ser Welt.

Gleich­gül­tig sa­hen die mür­ri­schen al­ten Bau­ern, die schläf­ri­gen Knech­te, voll Neu­gier aber die Päch­ter- und Taglöh­ner­frau­en dem Ge­ba­ren der Frem­den zu. Der statt­li­che Herr mit dem Or­den, der den ho­hen Hut im Arm trug, konn­te eine Be­we­gung in sei­nen Zü­gen trotz der wür­de­vol­len Hal­tung nicht ver­ber­gen. Er wand­te sei­nen Kopf zur Sei­te, um mit der Fin­ger­spit­ze eine leich­te Feuch­tig­keit von den Wim­pern zu ent­fer­nen. Das ver­merk­ten die Frau­en mit Ge­nug­tu­ung. Und dann weck­te das schwar­ze At­las­kleid und der Spit­ze­num­hang der Mut­ter lei­se ge­raun­te Be­wun­de­rung. Die Re­gie­rungs­rä­tin selbst je­doch hat­te die Emp­fin­dung, ihr Kleid wir­ke auf­dring­lich in die­ser be­schei­de­nen Um­ge­bung, und als sie zum Al­tar trat, hielt sie die Schlep­pe ängst­lich und ver­le­gen an sich ge­drückt, da­bei wein­te sie und seufz­te von Zeit zu Zeit tief und schmerz­lich. Als die Ge­mein­de den letz­ten Vers sang, stahlen sich ihre Fin­ger nach Aga­thes Hand und drück­ten sie krampf­haft. Kaum war der Got­tes­dienst zu Ende, so um­arm­te Frau Heid­ling ihre Toch­ter mit ei­ner Art von kum­mer­vol­ler Lei­den­schaft, die we­nig für die Ge­le­gen­heit zu pas­sen schi­en, und mur­mel­te meh­re­re Mal un­ter Trä­nen: mein Kind, mein sü­ßes, ge­lieb­tes Kind! – ohne mit ih­rem Se­gens­wunsch zu Ende ge­lan­gen zu kön­nen.

Doch die be­weg­te Mut­ter durf­te das Kind nicht an ih­rem Her­zen be­hal­ten. Der Va­ter ver­lang­te nach ihr, On­kel Gu­stav, Bru­der Wal­ter, Frau Pas­tor Kand­ler – alle woll­ten ihre Glück­wün­sche dar­brin­gen. Ein je­der gab da­bei noch an der Kirch­tür dem Mäd­chen ein we­nig An­lei­tung, wie sie sich dem kom­men­den Le­ben ge­gen­über als er­wach­se­ner Mensch zu ver­hal­ten habe.

Sie hör­te mit ver­klär­tem Lä­cheln auf dem ver­wein­ten Ge­sicht­chen alle die gol­de­nen Wor­te der Lie­be, der äl­te­ren Weis­heit. So schwach fühl­te sie sich, so hilfs­be­dürf­tig und so be­reit, je­der­mann zu Wil­len zu sein, al­les zu be­glücken, was in ihre Nähe kam. Sie war ja selbst jetzt so glück­lich!

Ihr Bru­der, der Abi­tu­ri­ent, lief auf­merk­sam noch­mals in die Kir­che zu­rück, ihr ver­ges­se­nes Bou­quet zu ho­len, wäh­rend alle an­de­ren sich auf den Weg zum Pfarr­haus be­ga­ben. Aga­the war­te­te auf ihn, sah ihn dank­bar an und leg­te den Arm in den sei­nen. So folg­ten sie den El­tern.

»Ver­zei­he mir auch alle mei­ne Un­ge­fäl­lig­kei­ten«, mur­mel­te Aga­the de­mü­tig dem Abi­tu­ri­en­ten zu. Wal­ter er­rö­te­te und brumm­te et­was Un­ver­ständ­li­ches, in­dem er sich vor Ver­le­gen­heit von der Schwes­ter los­riss.

»Na, Jo­chen, – was macht der Brau­ne?« schrie er dem Pas­tors­kut­scher zu, setz­te mit An­lauf und ge­schick­tem Tur­ner­sprung über einen auf dem son­nen­be­glänz­ten Hof ste­hen­den Pflug hin­weg und ver­schwand mit Jo­chen in der Stall­tür. Aga­the ging al­lein ins Haus. Es wa­ren ei­ni­ge Pa­ke­te für sie ge­kom­men, die man ihr vor­ent­hal­ten hat­te, um sie am Mor­gen vor der hei­li­gen Hand­lung nicht zu zer­streu­en. Nur das schö­ne Kreuz an fei­ner gol­de­ner Ket­te hat­te Papa ihr beim Früh­stück um den Hals ge­legt. Jetzt durf­te sie sich wohl schon ein we­nig der Neu­gier auf die Ge­schen­ke von Ver­wand­ten und Freun­din­nen hin­ge­ben.

In der nied­ri­gen, an die­sem Früh­lings­ta­ge noch et­was kel­le­rig-küh­len gu­ten Stu­be des Pfarr­hau­ses er­quick­ten sich die Er­wach­se­nen an Wein und klei­nen But­ter­bröt­chen. Aga­the ver­spür­te kei­nen Hun­ger. Sie setz­te sich eif­rig mit ih­ren Pa­ke­ten auf den Tep­pich, riss an den Sie­geln, schlug sich mit den Pack­pa­pie­ren her­um. Ihre Wan­gen brann­ten glü­hen­d­rot, die Fin­ger zit­ter­ten ihr.

»Aber, Aga­the, zer­schnei­de doch nicht all die gu­ten Bind­fa­den«, mahn­te ihre Mut­ter. »Wie Du im­mer hef­tig bist!«

»Wenn ein Mäd­chen ge­dul­dig Kno­ten lö­sen kann, so be­kommt es einen gu­ten Mann«, er­gänz­te die Pas­to­rin aus dem Ne­ben­zim­mer, wo der Ess­tisch ge­deckt wur­de.

»Ach, ich will gar kei­nen Mann!« rief Aga­the lus­tig, und ritsch – ratsch flo­gen die Hül­len her­un­ter.

»Na – ver­schwör’s nicht, Mä­del«, sag­te der di­cke On­kel Gu­stav und guck­te mit lis­ti­gem Lä­cheln hin­ter sei­nem Gläs­chen Mar­sa­la her­vor. »Von heu­te ab musst Du ernst­lich an sol­che Sa­chen den­ken.«

»Das woll­t’ ich mir ver­be­ten ha­ben«, fiel die Re­gie­rungs­rä­tin ihm ins Wort; den Ton durch­klang das Sie­ges­be­wusst­sein, wel­ches die Müt­ter sehr jun­ger Töch­ter er­füllt: Kommt nur, ihr Frei­er ihr … hei­ra­ten soll mein Kind schon – aber wer von Euch ist ei­gent­lich gut ge­nug für sie?

»Rückerts Lie­bes­früh­ling!« schrie Aga­the da plötz­lich laut auf und schwenk­te ein klei­nes ro­tes Bü­chel­chen so ent­zückt in der Luft, dass al­les um sie her in Ge­läch­ter aus­brach.

»Zur Kon­fir­ma­ti­on? Et­was früh!« be­merk­te Papa ver­wun­dernd und ta­delnd.

»Ge­wiss von Eu­ge­nie?« frag­te die Re­gie­rungs­rä­tin; sie ant­wor­te­te sich selbst: »Na­tür­lich – das ist ganz wie Eu­ge­nie.«

In­zwi­schen kam der In­halt ei­nes zwei­ten Pa­ke­tes zu Tage.

»Geroks Palm­blät­ter – von der gu­ten Tan­te Mal­vi­ne«, be­rich­te­te Aga­the dies­mal ru­hi­ger mit an­däch­ti­ger Pie­tät.

»Ach – das won­ni­ge Arm­band! Gera­de sol­ches hab’ ich mir ge­wünscht! Eine Per­le in der Mit­te! Nicht wahr, Mama, das ist doch echt Gold?« Sie leg­te es gleich um ihr Hand­ge­lenk. Knips! sprang das Sch­löss­chen zu.

»– Und hier wie­der ein Buch! Der pracht­vol­le Ein­band! Des Wei­bes Le­ben und Wir­ken als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter … Von wem denn nur? Frau Prä­si­dent Dürn­heim. Wie freund­lich! – Nein, aber wie freund­lich! Sieh doch nur, Mama! Das Weib als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter mit Il­lus­tra­tio­nen von Paul Thu­mann und an­de­ren deut­schen Künst­lern!«

»Nein – nein – wie ich mich aber freue!«

Aga­the sprang mit ei­nem Satz vom Tep­pich auf und tanz­te vor aus­ge­las­se­nem Glück in der Stu­be zwi­schen den gel­ben und brau­nen Pa­pie­ren her­um; die lo­sen Löck­chen auf ih­rer Stirn, die Ket­te und das Kreuz auf ih­rer Brust, der Lie­bes­früh­ling und das Weib als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter, das sie bei­des zärt­lich an sich drück­te – al­les hüpf­te und tanz­te mit.

Die er­wach­se­nen Leu­te auf dem Sofa und in den Lehn­stüh­len lä­chel­ten wie­der. Wie rei­zend sie war! Ach ja – die Ju­gend ist et­was Schö­nes!

End­lich fiel Aga­the ganz au­ßer Atem bei ih­rer Mut­ter nie­der, warf ihr all ihre Schät­ze in den Schoß und rieb wie ein ver­gnüg­tes Hünd­chen den brau­nen Kopf an ih­rem Klei­de.

»Ach – ich bin ganz toll«, sag­te sie be­schämt, als Mama lei­se ihr Haupt schüt­tel­te. Aga­the fühl­te ein schlech­tes Ge­wis­sen, weil Pas­tor Kend­ler ge­ra­de jetzt ein­trat. Er hat­te den Talar ab­ge­legt und trug sei­nen ge­wöhn­li­chen Hut in der Hand.

»Du gehst noch aus?« frag­te sei­ne Frau er­schro­cken.

»Ja – war­tet nicht auf mich mit dem Es­sen. Ich muss doch bei Gro­ter­jahns gra­tu­lie­ren – ich höre, dass ihre Fa­mi­lie durch ein Kälb­lein ver­mehrt wor­den ist«, sag­te er mit der gut­mü­ti­gen Iro­nie des re­si­gnier­ten Land­geist­li­chen, der längst er­fah­ren hat, dass er die Dor­fleu­te nur durch sein per­sön­li­ches In­ter­es­se für ihre ma­te­ri­el­len Sor­gen füg­sam zur An­hö­rung der christ­li­chen Heils­leh­re macht. »Ich be­stel­le also Wie­sing zu heut Abend her­auf –, Du woll­test doch wohl selbst mit ihr spre­chen, lie­be Cou­si­ne?« frag­te er die Re­gie­rungs­rä­tin.

»Ja – wenn das Mäd­chen Lust hät­te, in die Stadt zu zie­hen, möch­te ich es schon ein­mal mit ihr ver­su­chen«, ant­wor­te­te die­se.

Aga­the saß bei Tisch vor ei­nem Tel­ler, der mit gel­ben Schlüs­sel­blu­men um­kränzt war, zwi­schen Va­ter und Mut­ter. Der Kon­fir­man­din ge­gen­über hat­te Pas­tor Kand­ler sei­nen Platz, ne­ben ihm leuch­te­te On­kel Gu­stavs ro­si­ges Ge­sicht aus den blon­den Bart­ko­te­let­ten über der wei­ßen vor­ge­steck­ten Ser­vi­et­te. Die Pas­to­rin war von dem Re­gie­rungs­rat ge­führt wor­den. Un­ten, zwi­schen der Ju­gend, saß eine alte Nä­he­rin, die stets das Os­ter­fest im Pfarr­hau­se zu­zu­brin­gen pfleg­te. Nach je­dem Gang zog sie ihr Mes­ser zwi­schen den Lip­pen hin­durch, um ja nichts von den präch­ti­gen Spei­sen und der nahr­haf­ten Sau­ce zu ver­lie­ren. Wal­ter fühl­te sich in sei­ner Abi­tu­ri­en­ten­wür­de sehr ge­kränkt, weil man ihm die zahn­lücki­ge Per­son als Nach­ba­rin ge­ge­ben hat­te, und es war ihm fa­tal, dass er nicht recht wuss­te, ob es schick­li­cher von ihm sein wür­de, sie an­zu­re­den oder ihre Ge­gen­wart ein­fach zu über­se­hen. Die Re­gie­rungs­rä­tin warf gleich­falls un­be­hag­li­che Bli­cke auf die alte Flicke­rin, denn sie dach­te, ihr Mann möch­te viel­leicht an de­ren Ge­gen­wart An­stoß neh­men.

Aber auf den Re­gie­rungs­rat Heid­ling wirk­te sie nur sanft be­lus­ti­gend. Er war ja ganz im Kla­ren dar­über, dass er sich un­ter nai­ven, welt­frem­den Leut­chen be­fand. Mit wohl­über­leg­ter Ab­sicht hat­te er sei­ne Toch­ter nicht im Krei­se ih­rer Freun­din­nen bei dem Mo­de­pre­di­ger in M. kon­fir­mie­ren las­sen, son­dern bei dem be­schei­de­nen Vet­ter sei­ner Gat­tin. Er schätz­te eine po­si­ti­ve Fröm­mig­keit an dem weib­li­chen Ge­schlecht. Für den deut­schen Mann die Pf­licht – für die deut­sche Frau der Glau­be und die Treue.

Dass der Fonds von Re­li­gi­on, den er Aga­the durch die Er­zie­hung mit­ge­ge­ben, nie­mals auf­dring­lich in den Vor­der­grund des Le­bens tre­ten durf­te, ver­stand sich bei sei­ner Stel­lung und in den Ver­hält­nis­sen der Stadt eben­so von selbst, wie das Tisch­ge­bet und die alte Flicke­rin hier in dem pom­mer­schen Dörf­chen an ih­rem Platz sein moch­ten. »Lui­se« von Voß fiel ihm ein – in jun­gen Jah­ren hat­te er das Buch ein­mal durch­ge­blät­tert. Es tat sei­ner Toch­ter gut, die­se Idyl­le ge­nos­sen zu ha­ben. Aga­the war frisch und stark und ro­sig ge­wor­den in dem stil­len Win­ter, bei den Schlit­ten­fahr­ten über die be­schnei­ten Fel­der, in der kla­ren, her­ben Land­luft. Sein Kind hat­te ihm nicht ge­fal­len, als es aus der Pen­si­on kam. Et­was Zer­fah­re­nes, Eit­les, Schwatz­haf­tes war ihm da­mals an ihr auf­ge­fal­len. Nur das nicht! Er stell­te idea­le For­de­run­gen an die Frau.

Un­will­kür­lich form­ten sich ihm die Ge­dan­ken zu red­ne­ri­schen Phra­sen. Er schwieg bei den Ge­sprächs­ver­su­chen der Pas­to­rin und spiel­te mit der ge­pfleg­ten Hand an dem graublon­den Bart.

In­zwi­schen schlug schon Pas­tor Kand­ler an sein Glas. Die Re­gie­rungs­rä­tin zog aus Vor­sicht, so­bald er sich räus­per­te, ihr feuch­tes Bat­tist­tuch – es war ihr Braut­ta­schen­tuch – her­vor. Und das war gut, denn un­auf­hör­lich tropf­ten ihr bei sei­nen Wor­ten die Trä­nen über das ver­blüh­te mat­te Ant­litz, des­sen Wan­gen eine flie­gen­de, ner­vö­se Röte an­ge­nom­men hat­ten. Er sprach so er­grei­fend! Er rühr­te ihr an so vie­les!

Die Grund­la­ge der Rede bil­de­te das Bi­bel­wort: Al­les ist euer – ihr aber seid Chris­ti. Pas­tor Kand­ler such­te in sei­ner Fan­ta­sie nach ei­ner na­tur­wah­ren Be­schrei­bung der Freu­den, die das Le­ben ei­ner mo­der­nen jun­gen Dame der fei­nen bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ihr zu bie­ten habe: in der Fa­mi­lie, im Ver­kehr mit Al­ters­ge­nos­sin­nen, durch Na­tur, Kunst­be­stre­bun­gen und Lek­tü­re. Er deu­te­te auch an­de­re Glück­se­lig­kei­ten an, die ih­rer war­te­ten – denn es war nun ein­mal der Lauf der Welt – hold, un­schul­dig, wie sie da vor ihm saß, das lie­be Kind, in ih­rem schwarz­sei­de­nen Kleid­chen, die brau­nen Au­gen aus dem wei­chen, hel­len Ge­sicht­chen an­däch­tig auf ihn ge­rich­tet – wie bald konn­te sie Braut sein. Al­les ist Euer!

Aber wie soll die­ses »Al­les« be­nutzt wer­den? Be­sit­zet, als be­sä­ßet Ihr nicht – ge­nie­ßet, als ge­nös­set Ihr nicht! – Auch der Tanz – auch das Thea­ter sind er­laubt, aber der Tanz ge­sch­ehe in Ehren, das Ver­gnü­gen an der Kunst be­schrän­ke sich auf die rei­ne, gott­ge­weih­te Kunst. Bil­dung ist nicht zu ver­ach­ten – doch hüte Dich, mein Kind, vor der mo­der­nen Wis­sen­schaft, die zu Zwei­feln, zum Un­glau­ben führt. Zü­g­le Dei­ne Fan­ta­sie, dass sie Dir nicht un­züch­ti­ge Bil­der vor­spie­ge­le! Lie­be – Lie­be – Lie­be sei Dein gan­zes Le­ben – aber die Lie­be blei­be frei von Selbst­sucht, be­geh­re nicht das ihre. Du darfst nach Glück ver­lan­gen – Du darfst auch glück­lich sein – aber in be­rech­tig­ter Wei­se … denn Du bist Chris­ti Nach­fol­ge­rin, und Chris­tus starb am Kreuz! Nur wer das Ir­di­sche ganz über­wun­den hat, wird durch die dor­nen­um­säum­te Pfor­te ein­ge­hen zur ewi­gen Freu­de – zur Hoch­zeit des Lam­mes!

Aga­the muss­te wie­der sehr wei­nen. Aufs Neue er­fass­te sie das ängs­ti­gen­de Be­wusst­sein, wel­ches sie durch alle Kon­fir­man­den­stun­den be­glei­te­te, ohne dass sie es ih­rem Seel­sor­ger zu ge­ste­hen wag­te: sie be­griff durch­aus nicht, wie sie es an­zu­stel­len habe, um zu ge­nie­ßen, als ge­nös­se sie nicht. Oft schon hat­te sie sich Mühe ge­ge­ben, dem Wor­te zu fol­gen. Wenn sie sich mit den Pas­tors­jun­gen im Gar­ten schnee­ball­te, ver­such­te sie, da­bei an Je­sum zu den­ken. Aber be­dräng­ten die Jun­gen sie or­dent­lich, und sie muss­te sich nach al­len Sei­ten weh­ren, und die Lust wur­de so recht toll – dann ver­gaß sie den Hei­land ganz und gar. – Schmeck­te ihr das Es­sen recht gut – und sie hat­te jetzt im­mer einen aus­ge­zeich­ne­ten Ap­pe­tit – soll­te sie da tun, als ob es ihr nicht schmeck­te? Aber das wäre ja eine Lüge ge­we­sen.

Wahr­schein­lich hat­te sie das Ge­heim­nis des Spru­ches noch gar nicht ver­stan­den. Ach – sie fühl­te sich der Ge­mein­schaft ge­reif­ter Chris­ten recht un­wür­dig! Aber es war doch wun­der­hübsch, nun kon­fir­miert zu sein – und es war auch an der Zeit, sie wur­de doch schon sieb­zehn Jah­re alt.

Hat­te der Pas­tor dem Kin­de sei­ne Verant­wor­tung als Him­mels­bür­ge­rin klar zu ma­chen ge­sucht, so be­gann der Va­ter Aga­the nun die Pf­lich­ten der Staats­bür­ge­rin vor­zu­hal­ten.

Denn das Weib, die Mut­ter künf­ti­ger Ge­schlech­ter, die Grün­de­rin der Fa­mi­lie, ist ein wich­ti­ges Glied der Ge­sell­schaft, wenn sie sich ih­rer Stel­lung als un­schein­ba­rer, ver­bor­ge­ner Wur­zel recht be­wusst bleibt.

Der Re­gie­rungs­rat Heid­ling stell­te gern all­ge­mei­ne, große Ge­sichts­punk­te auf. Sein Gleich­nis ge­fiel ihm.

»Die Wur­zel, die stum­me, ge­dul­di­ge, un­be­weg­li­che, wel­che kein ei­ge­nes Le­ben zu ha­ben scheint und doch den Baum der Mensch­heit trägt …«

In die­sem Au­gen­blick wur­de noch ein Ge­schenk für Aga­the ab­ge­ge­ben. Der Land­brief­trä­ger hat­te es als Dank für das am Mor­gen er­hal­te­ne reich­li­che Trink­geld trotz des Fei­er­ta­ges von der klei­nen Bahn­sta­ti­on her­über­ge­bracht.

»Ach nein! – Das schickt Mani!« sag­te Aga­the und wur­de rot. »Er hat­te es ver­spro­chen, aber ich dach­te, er wür­de es ver­ges­sen.«

»Dein Vet­ter Mar­tin, von dem Du so viel er­zählst?« er­kun­dig­te sich die Pas­to­rin neu­gie­rig.

Aga­the nick­te, in glück­li­chen Erin­ne­run­gen ver­stum­mend.

Her­weg­hs Ge­dich­te. – – Und die Som­mer­fe­ri­en bei On­kel Au­gust in Bor­nau – der son­nen­be­schie­ne­ne Ra­sen, auf dem sie ge­le­gen und für die glü­hen­den Ver­se ge­schwärmt hat­te, die Mar­tin so pracht­voll de­kla­mie­ren konn­te … Wie sie sich mit ihm be­geis­ter­te für Frei­heit und Bar­ri­ka­den­kämp­fe und rote Müt­zen – für Dan­ton und Ro­bert Blum … Aga­the schwärm­te da­zwi­schen auch für Bar­ba­ros­sa und sein end­li­ches Er­wa­chen …

Sie hat­te Mar­tin seit­dem noch nicht wie­der­ge­se­hen. Er diente jetzt sein Jahr. Ach, der gute, lie­be Jun­ge.

Aga­the war zu be­schäf­tigt, das Buch auf­zu­schla­gen und ihre Lieb­lings­stel­len nach­zu­le­sen, um zu be­mer­ken, dass eine pein­li­che Stil­le am Ti­sche ent­stan­den war.

Als sie em­por­sah, be­geg­ne­te ihr Blick dem von ver­hal­te­nem La­chen ins Brei­te ge­zo­ge­nen Ge­sicht von On­kel Gu­stav, der sich eif­rig mit dem Öff­nen ei­ner Cham­pa­gner­fla­sche be­schäf­tig­te. Pas­tor Kand­ler stand auf, ging schwei­gend um den Tisch her­um und nahm ihr den Her­wegh aus der Hand. Er trat zu dem Re­gie­rungs­rat und zeig­te ihm hier und da eine Stel­le. Bei­de Her­ren mach­ten erns­te Mie­nen. Es lag et­was Un­an­ge­neh­mes in der Luft.

»Dass der Ben­gel noch so dumm wäre, hät­te ich ihm doch nicht zu­ge­traut«, brach der Re­gie­rungs­rat är­ger­lich los.

»Mein lie­bes Kind«, sag­te Pas­tor Kand­ler be­schwich­ti­gend zu Aga­the, »ich den­ke, wir he­ben Dir das Buch auf und bit­ten Vet­ter Mar­tin, es ge­gen ein an­de­res um­zut­au­schen. Es gibt ja so vie­le schö­ne Lie­der, die für jun­ge Mäd­chen ge­eig­ne­ter sind und Dir bes­ser ge­fal­len wer­den.«

Aga­the war ganz blass ge­wor­den.

»Ich hat­te mir Her­weg­hs Ge­dich­te ge­wünscht«, stieß sie ehr­lich her­aus.

»Du kann­test wohl das Buch nicht?« frag­te ihr Va­ter mit der­sel­ben be­ängs­ti­gen­den Mil­de, die des Pas­tors Vor­schlag be­glei­te­te. Man woll­te sie an ih­rem Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge scho­nen, aber es war si­cher – sie hat­te et­was Schreck­li­ches ge­tan!

»Doch!« sag­te sie ei­lig und lei­se und setz­te noch schüch­ter­ner hin­zu: »Ich fand sie schön!«

»Du wirst ei­ni­ge ge­kannt ha­ben«, ent­schul­dig­te Pas­tor Kand­ler. Sein Blick haf­te­te ein­dring­lich auf ihr. Soll­te das sanf­te Kind ihn mit ih­rer in­ni­gen Hin­ga­be an das Chris­ten­tum ge­täuscht ha­ben? Wo­her plötz­lich die­ser Geist des Aufruhrs?

»Was ge­fiel Dir denn be­son­ders an die­sen Ge­dich­ten?« prüf­te er vor­sich­tig.

»Die Spra­che ist so wun­der­schön«, flüs­ter­te das Mäd­chen ver­le­gen.

»Hast Du Dir nie klar ge­macht, dass die­se Ver­se mit man­chem, was ich Dich zu leh­ren ver­such­te, in Wi­der­spruch ste­hen?«

»Nein – ich dach­te, man soll­te für sei­ne Über­zeu­gung kämp­fen und ster­ben!«

»Ge­wiss, mein Kind, für eine gute Über­zeu­gung. Aber für eine tö­rich­te, ver­derb­li­che Über­zeu­gung soll man doch wohl nicht kämp­fen?«

Aga­the schwieg ver­wirrt.

Va­ter und Seel­sor­ger spra­chen mit­ein­an­der.

»Das sind doch be­sorg­li­che Sym­pto­me«, sag­te der Re­gie­rungs­rat. »Ich ver­ste­he mei­nen Nef­fen ab­so­lut nicht! In des Kö­nigs Rock! Gera­de­zu un­er­hört!«

»Ich glau­be, wir brau­chen die Sa­che nicht so ernst zu neh­men«, mein­te Pas­tor Kand­ler, mit sei­nem stil­len, iro­ni­schen Lä­cheln den Re­gie­rungs­rat be­trach­tend. »Die Ju­gend hat ja schwa­che Stun­den, wo ein be­rau­schen­des Gift wohl eine Wir­kung tut, die bei ge­sun­der Ver­an­la­gung schnell vor­über­geht. Das wis­sen wir ja alle aus Er­fah­rung!« Er leg­te das an­stö­ßi­ge Buch bei­sei­te und ging auf sei­nen Platz zu­rück.

»Wäre den Herr­schaf­ten nicht ein Stück­chen Tor­te ge­fäl­lig?« frag­te die Pas­to­rin freund­lich.

On­kel Gu­stav ließ von ei­ner Cham­pa­gner­fla­sche, die er mit weit­läu­fi­ger Fei­er­lich­keit be­han­del­te, weil sie sei­ne Bei­steu­er zum Fes­te war, den Pfrop­fen mit ei­nem Knall in die dar­über ge­hal­te­ne Ga­bel sprin­gen. Die bei­den Pas­tors­jun­gen jauchz­ten über das Kunst­stück, der schäu­men­de Wein floss in die Glä­ser, man er­hob sich und stieß an. Der Schat­ten, den die blut­dürs­ti­ge Re­vo­lu­ti­ons­lust der Kon­fir­man­din auf die Ge­sell­schaft ge­wor­fen, war der al­ten, still­be­weg­ten Hei­ter­keit ge­wi­chen. Nur in Aga­thes brau­nen Au­gen war noch et­was Sin­nen­des zu­rück­ge­blie­ben. On­kel Gu­stav klopf­te dem Nicht­chen be­gü­ti­gend die vol­le Wan­ge und rief da­bei mit sei­nem jo­via­len La­chen:

»Vor­läu­fig doch mehr Blü­te als Wur­zel!«

Dann flüs­ter­te er Aga­the ins Ohr: »Dum­mes Ding – Ge­schen­ke von net­ten Vet­tern packt man doch nicht vor ver­sam­mel­ter Tisch­ge­sell­schaft aus!«

Lei­der war On­kel Gu­stav sel­ber ein Fa­mi­li­en­schat­ten. Er hat­te kei­ne Grund­sät­ze und brach­te es des­halb auch zu nichts Rech­tem in der Welt. So hei­ra­te­te er z. B. eine Frau, die al­ler­lei Aben­teu­er er­lebt hat­te und sich schließ­lich von ei­nem Gra­fen ent­füh­ren ließ. Das moch­ten ihm die Ver­wand­ten nicht ver­zei­hen. Aga­the hat­te ihn trotz­dem lieb. Er war so gut; bot sich die Ge­le­gen­heit, ei­nem Men­schen in klei­nen oder großen Din­gen zu hel­fen, so fand man ihn ge­wiss be­reit. Was er sag­te, konn­te frei­lich nicht sehr ins Ge­wicht fal­len. Aga­the blieb nach­denk­lich.

»Al­les ist Euer«, war ihr eben ver­si­chert wor­den, und gleich dar­auf nahm man ihr das Ge­schenk ih­res liebs­ten Vet­ters fort, ohne sie auch nur zu fra­gen. Wi­der­spruch wag­te sie na­tür­lich nicht. Sie hat­te ja Ge­hor­sam und de­mü­ti­ge Un­ter­wer­fung ge­lobt für das gan­ze Le­ben.

*

Spä­ter, als die Er­wach­se­nen in al­len So­fae­cken des Pfarr­hau­ses ihr Ver­dau­ungs­schläf­chen hiel­ten – man war ein biss­chen heiß und müde ge­wor­den von dem reich­li­chen Mit­tags­mahl und dem Cham­pa­gner – ging Aga­the den brei­ten Gar­ten­weg hin­ter dem Hau­se auf und nie­der. Die Jun­gen hat­ten den Be­fehl er­hal­ten, sie heu­te nicht zu stö­ren und zum Spie­len zu ho­len, wie sonst. Sie mach­ten mit Wal­ter einen Spa­zier­gang. Die Pas­to­rin half, un­ge­se­hen von den Gäs­ten, der Magd in der Kü­che beim Tel­ler­wa­schen; von dort­her tön­te bis­wei­len ein Ge­klap­per, sonst herrsch­te Stil­le in Hof und Gar­ten. Aga­the hör­te mit heim­li­chem Ver­gnü­gen ihre sei­de­ne Schlep­pe über den Kies rau­schen, hat­te die Hän­de ge­fal­tet und bat den lie­ben Gott, er möge ihr doch nur den Är­ger aus dem Her­zen neh­men. Es war doch zu schreck­lich, dass sie heut, am Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge, ih­rem Pas­tor und ih­rem Va­ter böse war! Hier fing ge­wiss die Selb­st­über­win­dung und die Ent­sa­gung an. Sie war doch noch recht dumm! Ein so ge­fähr­li­ches Gift für schön zu hal­ten … Der An­fang von Mar­tins Lieb­lings­lie­de fiel ihr ein:

»Reißt die Kreu­ze aus der Er­den. Alle sol­len Schwer­ter wer­den – Gott im Him­mel wirds ver­zeih’n.«

Ja, das war schon eine fürch­ter­li­che Stel­le, und auf die war On­kel Kand­ler ge­wiss ge­ra­de ge­sto­ßen. Aber doch – es lag so eine Kühn­heit dar­in – und dann wur­de der lie­be Gott ja doch auch be­son­ders um Ver­zei­hung ge­be­ten. Das hat­te Aga­the im­mer sehr ge­fal­len in dem Lie­de.

Aber so war es fort­wäh­rend: was ei­nem ge­fiel, dem muss­te man miss­trau­en.

Sie blick­te fra­gend und zwei­felnd ge­ra­de in den hell­blau­en Früh­lings­him­mel hin­auf. Kein Wölk­chen zeig­te sich dar­an, er war un­end­lich hei­ter, und die Son­ne schi­en warm. Es gab noch fast kei­nen Schat­ten im Gar­ten, die gol­de­nen Strah­len konn­ten über­all durch die Baum­zwei­ge auf die Erde nie­der­tan­zen. Und das Sin­gen und Ju­beln der Vö­gel hör­te nicht auf.

Scha­de, dass sie mor­gen nach der Stadt zu­rück muss­te, ge­ra­de nun es hier so rei­zend wur­de – täg­lich schö­ner! Seit ges­tern hat­te sich al­les schon wie­der ver­än­dert. Busch und Strauch tru­gen nicht mehr das Grau des Win­ters – wie durch­sich­ti­ge bun­te Schlei­er lag es über dem Ge­zweig. Trat man nä­her und beug­te sich her­zu, so sah man, dass die Far­ben­schlei­er aus tau­send und aber­tau­send klei­nen Knösp­chen zu­sam­men­ge­setzt wa­ren. Nein, aber wie süß! Aga­the ging von ei­nem zum an­de­ren. Dun­kel­rot schim­mer­te es an den knor­ri­gen Zwei­gen der Ap­fel­bäu­me, die sich über den Weg streck­ten, grün­weiß hoch oben an dem großen Birn­baum, und schne­eig glänz­te es schon von den lo­sen Zwei­gen der sau­ren Kir­schen. Bei den Kas­ta­ni­en streck­ten sich aus braunglän­zen­den kleb­ri­gen Kap­seln wol­li­ge grü­ne Händ­chen neu­gie­rig her­aus, und die Her­lit­ze war ganz in hel­les Gelb ge­taucht. Der Flie­der – die Hain­bu­che – je­des be­saß sei­ne ei­ge­ne Form, sei­ne be­son­de­re Far­be. Und das ent­fal­te­te sich hier still und fröh­lich in Son­nen­schein und Re­gen zu dem, was es wer­den soll­te und woll­te.

Die Pflan­zen hat­ten es doch viel, viel bes­ser als die Men­schen, dach­te Aga­the seuf­zend. Nie­mand schalt sie – nie­mand war mit ih­nen un­zu­frie­den und gab ih­nen gute Ratschlä­ge. Die al­ten Stäm­me sa­hen dem Wach­sen ih­rer brau­nen, ro­ten und grü­nen Knos­pen­kin­der­chen ganz un­be­wegt und ru­hig zu. Ob es ih­nen wohl weh tat, wenn die Schne­cken, die Rau­pen und die In­sek­ten eine Men­ge von ih­nen zer­fra­ßen?

Aga­the strei­chel­te lei­se die bor­ki­ge Rin­de des al­ten Ap­fel­bau­mes.

Soll­ten die Vö­gel viel­leicht das Aus­schel­ten über­nom­men ha­ben? Das war eine ko­mi­sche Vor­stel­lung, Aga­the ki­cher­te ganz für sich al­lein dar­über. Ach be­wah­re – die Vö­gel hat­ten um die­se Zeit schon furcht­bar viel mit ih­rem großen Lie­bes­glück zu tun. Ob es wohl auch Vö­gel gab, die eine un­glück­li­che Lie­be hat­ten? Na ja – die Nach­ti­gall na­tür­lich! Üb­ri­gens – ganz ge­nau konn­ten das die Dich­ter auch nicht wis­sen.

Ach – wäre sie doch lie­ber ein Vö­gel­chen ge­wor­den oder eine Blu­me!

Auf ei­nem ganz schma­len Pfa­de ging Aga­the end­lich zum Mühl­teich hin­ab. Er lag am Ende des Gar­tens, der sich vom Hau­se her in sanf­ter Sen­kung bis zu ihm streck­te. Weil die Pas­tors­jun­gen be­stän­dig ins Was­ser ge­fal­len wa­ren, hat­te man den Weg zu­wach­sen las­sen. Aga­the muss­te die Ge­bü­sche aus­ein­an­der­bie­gen, um hin­durch zu schlüp­fen. Sie woll­te Ab­schied von dem Bänk­chen neh­men, das un­ten, heim­lich und trau­lich ver­steckt, am Ran­de des Wei­hers stand. Im ver­gan­ge­nen Herbst hat­te sie viel dort ge­ses­sen und ge­le­sen oder ge­träumt, auch in die­sem Früh­ling schon, in war­men Mit­tags­stun­den.

Am lin­ken Ufer des stil­len Sees, der wei­ter hin­aus zu ei­nem sump­fi­gen Rohr­feld ver­lief, lag die Müh­le mit ih­rem über­hän­gen­den Stroh­dach und dem großen Rade. In der Bucht am Pfarr­gar­ten zeig­ten sich auf dem Was­ser klei­ne Nym­phä­en-Blät­ter. Im Herbst war es hier ganz be­deckt ge­we­sen von den grü­nen Tel­lern, und dar­über flirr­ten die Li­bel­len. Die schlei­mi­gen Stie­le der Pflan­zen dräng­ten sich so­gar durch die grau­en Plan­ken des zer­fal­le­nen Boo­tes, wel­ches dort im Was­ser faul­te.

An­fangs heg­te Aga­the ro­man­ti­sche Träu­me über den al­ten Kahn: dass er drau­ßen in Sturm und Wel­len ge­dient – dass er das Meer ge­se­hen habe und an Fel­sen­klip­pen ge­schei­tert sei. Die klei­nen Pas­tors­jun­gen hat­ten sie aber mit die­ser Ge­schich­te aus­ge­lacht. Das Boot wäre im­mer schon auf dem Mühl­tei­che ge­we­sen, doch bei den vie­len Was­ser­pflan­zen und den Rohrs­ten­geln kön­ne man ja gar nicht fah­ren; da sei es durchs Stil­le­lie­gen all­mäh­lich ein so elen­des, nutz­lo­ses Wrack ge­wor­den. Nun konn­te Aga­the das Boot nicht mehr lei­den. Es stimm­te sie trau­rig. Ihre jun­ge Mäd­chen­fan­ta­sie wur­de be­wegt von un­be­stimm­ten Wün­schen nach Grö­ße und Er­ha­ben­heit. Sie dach­te gern an die Fer­ne – die Wei­te – die gren­zen­lo­se Frei­heit, wäh­rend sie an dem klei­nen Teich auf dem win­zi­gen Bänk­chen saß und sich ganz ru­hig ver­hal­ten muss­te, da­mit sie nicht um­schlug und da­mit die Bank nicht zer­brach, denn sie war auch schon recht morsch.

Plötz­lich fiel Aga­the die Beich­te wie­der ein, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und ih­rem Seel­sor­ger über­ge­ben müs­sen. Ihre Halb­heit und Unauf­rich­tig­keit … und nun wur­de es ihr zur Ge­wiss­heit, die Schuld des Un­frie­dens, der die­sen hei­li­gen Tag stör­te, lag in ihr sel­ber. Scham­voll be­küm­mert starr­te sie in das Was­ser, das auf der Ober­flä­che so klar und mit fröh­li­chen, klei­nen gol­de­nen Son­nen­blit­zen ge­schmückt er­schi­en und tief un­ten an­ge­füllt war mit den fau­len­den Über­res­ten der Ve­ge­ta­ti­on ver­gan­ge­ner Jah­re.

II.

Die Freund­schaft zwi­schen Aga­the Heid­ling und Eu­ge­nie Wu­trow be­stand schon sehr lan­ge – seit­dem sie ei­nes Mor­gens mit wei­ßen Schürz­chen und neu­en Ta­feln und Fi­bel­bü­chern zum ers­ten Mal in die Schu­le ge­bracht wur­den und ihre Plät­ze ne­ben­ein­an­der an­ge­wie­sen be­ka­men. Da hat­ten sie die Bon­bons aus ih­ren Zucker­dü­ten ge­tauscht, und nun wa­ren sie Freun­din­nen. Ihre bei­den Ma­mas schick­ten sie in die­se klei­ne vor­neh­me Pri­vat­schu­le, denn in der staat­li­chen hö­he­ren Töchter­schu­le ka­men doch im­mer­hin Kin­der von al­ler­lei Leu­ten zu­sam­men, und sie konn­ten leicht ein häss­li­ches Wort oder ge­wöhn­li­che Ma­nie­ren mit nach Haus brin­gen.

Ent­we­der hol­te Aga­the die klei­ne Wu­trow zum Schul­weg ab, oder Eu­ge­nie klin­gel­te um drei­vier­tel auf acht Uhr bei Heid­lings, wozu sie sich auf die Ze­hen stel­len muss­te, bis Mama Heid­ling ein Strick­chen an den gel­ben Mes­sin­g­ring des Glo­cken­zu­ges band. Auch in ih­ren Frei­stun­den steck­ten die Mä­del­chen be­stän­dig zu­sam­men. Am liebs­ten war Aga­the bei Eu­ge­nie, dort blie­ben sie un­ge­stör­ter mit ih­ren Pup­pen und Bild­chen und Sei­den­flöck­chen, mit ih­ren Ge­heim­nis­sen und ih­rem end­lo­sen Ge­zwit­scher und Ge­ki­cher.

Das große alte Kauf­manns­haus, wel­ches Eu­ge­nies El­tern ge­hör­te, barg eine Un­men­ge von Ecken und Win­keln, köst­lich zum Spie­len und um sich zu ver­ste­cken. Dunkle Kor­ri­do­re gab es da, in de­nen auch bei Tage ein­sa­me Gas­flam­men brann­ten und dünn­bei­ni­ge Kom­mis ei­lig an den klei­nen Mäd­chen vor­über­stri­chen – hin­ter ver­git­ter­ten, stau­bi­gen Fens­tern das Komp­toir, und dar­in saß Herr Wu­trow, ein ver­schrumpf­tes, tau­bes, gro­bes Männ­chen, auf ei­nem ho­hen Dreh­stuhl – ein Hof mit un­ge­heu­ren lee­ren Kis­ten und graue, schmut­zi­ge Hin­ter­ge­bäu­de, an­ge­füllt mit ei­ner Schar Ar­bei­ter und Ar­bei­te­rin­nen, die in kah­len Räu­men Zi­gar­ren dreh­ten. Die Fa­brik – das Komp­toir – die Kor­ri­do­re – al­les roch nach Ta­bak. Der süß­lich-schar­fe Ge­ruch drang so­gar bis in die großen Wohn­zim­mer des Vor­der­hau­ses. Hier ließ Frau Wu­trow be­stän­dig das Par­quett boh­nern und die Spie­gel­schei­ben der Fens­ter put­zen, des­halb war es im­mer kalt und zu­gig. Aber der Ta­baks­ge­ruch blieb trotz­dem haf­ten.

Auf Aga­the übte das Haus, in dem al­les ganz an­ders war als bei ih­ren El­tern, eine ge­heim­nis­vol­le An­zie­hung aus. Sie fürch­te­te sich vor den Kom­mis und den Ar­bei­te­rin­nen und noch mehr vor Herrn Wu­trow selbst, sie hat­te eine in­stink­ti­ve Ab­nei­gung ge­gen Frau Wu­trow, und mit Eu­ge­nie zank­te sie sich sehr oft, lief dann schluch­zend nach Haus und hass­te ihre Freun­din. Aber Eu­ge­nie hol­te sie im­mer wie­der, und al­les blieb wie zu­vor. Eu­ge­nie konn­te nie­mals or­dent­lich spie­len. Sie hat­te ihre Pup­pen nicht wirk­lich lieb und glaub­te nicht, dass es eine Pup­pen­spra­che gäbe, in der Hol­de­wi­na, die große mit dem Por­zel­lan­kopf, und Käth­chen, das Wi­ckel­kind, mun­ter zu plau­dern be­gan­nen, so­bald ihre klei­nen Müt­ter au­ßer Hör­wei­te wa­ren.

Aga­the ver­dank­te ih­rer Freun­din ver­schie­de­ne Straf­pre­dig­ten, weil Eu­ge­nie sie ver­führ­te, mit ihr in al­ler­lei Ne­ben­gas­sen der Stadt her­um­zu­bum­meln, an den Klin­geln zu rei­ßen und dann fort­zu­lau­fen, al­ten Da­men, die an Par­ter­re­fens­tern hin­ter Blu­men­töp­fen sa­ßen, die Zun­ge her­aus­zu­ste­cken und sich mit Schul­jun­gen zu un­ter­hal­ten.

Am liebs­ten hielt Eu­ge­nie sich in der Fa­brik auf. Sie schlich sich an die Män­ner her­an und strei­chel­te die schmut­zi­gen Rö­cke der Ar­bei­te­rin­nen und steck­te ih­nen Ku­chen und Äp­fel zu, die sie heim­lich aus ih­rer Mut­ter Spei­se­kam­mer hol­te, da­mit die Mäd­chen ihr da­für Ge­schich­ten er­zähl­ten. Be­stän­dig muss­ten die Auf­se­her sie fort­ja­gen – im Um­se­hen war sie wie­der da.

Ja – und Eu­ge­nie wuss­te auch, dass Wal­ter eine Braut hät­te, mit der er sich küss­te, und wenn die Leh­rer das hör­ten, käme er vor die Kon­fe­renz. Meta Hil­le aus der drit­ten Klas­se wäre sein Schatz – na so eine! – Ja – ja – ja – ganz ge­wiss, wahr­haf­tig!!

Hat­te Eu­ge­nie et­was Der­ar­ti­ges her­aus­ge­spürt, so schüt­tel­te sich ihr klei­nes, schlan­kes Kör­per­chen vor Ver­gnü­gen, sie kniff ihre grau­en Au­gen zu­sam­men und blin­zel­te tri­um­phie­rend über ihr hüb­sches Näs­chen hin­weg.

Hei – das war fein!

Ei­nes Sonn­tags Nach­mit­tags sa­ßen die klei­nen Freun­din­nen auf dem un­ters­ten Ast des nied­ri­gen al­ten Ta­xus­bau­mes in Wu­trows Gar­ten. Sie hiel­ten ihre Bat­ti­ströck­chen mit den Fin­ger­spit­zen und weh­ten da­mit hin und her, denn sie wa­ren von ei­ner bö­sen Fee in zwei Vö­gel ver­wan­delt und schüt­tel­ten nun ihr wei­ßes und ro­sen­ro­tes Ge­fie­der. Das Spiel hat­te Aga­the an­ge­ge­ben. Sie woll­te im­mer so ger­ne flie­gen ler­nen.

Und dann wuss­ten sie nicht mehr, was sie an­fan­gen soll­ten, um den Sonn­tag Abend hin­zu­brin­gen.

Arm in Arm gin­gen sie an den Bee­ten mit blü­hen­den Au­ri­keln oder Stief­müt­ter­chen, an ih­ren stei­fen Buchs­baum-Ein­fas­sun­gen ent­lang. Zwi­schen den Mau­ern der Hin­ter­häu­ser, die den alt­mo­di­schen, zier­lich ge­pfleg­ten Stadt­gar­ten ein­schlos­sen, wur­de es schon grau und däm­me­rig, wäh­rend hoch über den Kin­dern eine rosa Wol­ke am grün­li­chen April­him­mel lang­sam ver­blass­te.

»Du«, flüs­ter­te Aga­the ganz lei­se, »es ist doch nicht wahr – das von den klei­nen Kin­dern … Mei­ne Mama …«

»Pfui – ge­klatscht! Du Petz­lie­se!«

»Nein – ich habe ja bloß ge­fragt!«

»Ach, Dei­ne Mama … Müt­ter lü­gen ei­nem im­mer was vor!«

»Mei­ne Mut­ter lügt nicht!« schrie Aga­the ge­kränkt.

Aus dem Streit ent­spann sich ein heim­li­ches Tu­scheln und Flüs­tern zwi­schen den klei­nen Freun­din­nen. Aga­the rief ein paar­mal: »Pfui, Eu­ge­nie – ach nein, das glau­be ich nicht …«

Hil­fe­schreie, die aus dem Abend­schat­ten un­ter dem al­ten Ta­xus­baum, wo die klei­nen Mäd­chen zu­sam­men­kau­er­ten, her­vor­klan­gen, wie eine ge­ängs­te­te Vo­gel­stim­me, wenn die Kat­ze zum Nest schleicht. Und vor Auf­re­gung und Scham und Neu­gier frie­rend und glü­hend, horch­te und horch­te sie doch und frag­te lei­se, sich dicht an Eu­ge­nie pres­send, und schließ­lich in ein maß­lo­ses Ge­ki­cher ver­fal­lend.

Das war zu ko­misch – zu ko­misch …

Aber Mama hat­te doch ge­lo­gen, als sie ihr er­zähl­te, ein En­gel bräch­te die klei­nen Ba­bies.

Eu­ge­nie wuss­te al­les viel bes­ser.

Wie sie bei­de er­schra­ken und in die Höhe fuh­ren, als Frau Wu­trows schar­fe Stim­me sie hin­ein­rief. Aga­the klopf­te das Herz ent­setz­lich – es war bei­na­he nicht aus­zu­hal­ten. Sie ge­trau­te sich nicht in das Zim­mer mit der hel­len Lam­pe, hol­te ei­lig ih­ren Hut vom Flur und lief da­von, ohne Adieu zu sa­gen.

Was Eu­ge­nie ihr sonst noch er­zählt hat­te – nein, das war ganz ab­scheu­lich. Pfui – pfui – ganz gräu­lich. Nein, das konn­te gar nicht wahr sein. Aber – wenn es doch wahr wäre?

Und ihre Mama und ihr Papa … Sie schäm­te sich tot.

Als Mama kam, ihr einen Gu­te­nacht­kuss zu ge­ben, dreh­te sie has­tig den Kopf nach der Wand und wühl­te das hei­ße Ge­sicht in die Kis­sen. Nein – sie konn­te ihre Mama nie­mals – nie­mals wie­der nach so et­was fra­gen.

Am an­de­ren Mor­gen trö­del­te Aga­the bis zum letz­ten Au­gen­blick mit dem Schul­gang. Nun war es schon viel zu spät, um Eu­ge­nie noch ab­zu­ho­len. Als sie in der Klas­se hör­te, dass Eu­ge­nie sich er­käl­tet habe und zu Haus blei­ben müs­se, wur­de ihr leich­ter. Mit wah­ren Ge­wis­sens­qua­len muss­te sie sich fort­wäh­rend vor­stel­len: Eu­ge­nie könn­te viel­leicht ster­ben … Und dann wür­de kein Mensch auf der Welt er­fah­ren, was sie ges­tern mit­ein­an­der ge­spro­chen hat­ten. Das wäre doch zu gräss­lich – ach – wenn doch Eu­ge­nie lie­ber stür­be!

»Frau Wu­trow schick­te schon zwei­mal. Du möch­test her­über­kom­men«, sag­te Frau Heid­ling zu ih­rer Toch­ter. »Wa­rum gehst Du nicht hin? Habt Ihr Euch ge­zankt?«

»Ich kann Eu­ge­nie nicht mehr lei­den.«

»O, wer wird sei­ne Freund­schaf­ten so schnell wech­seln«, sag­te Frau Heid­ling ta­delnd. »Was hat Dir denn Eu­ge­nie ge­tan?«

»Gar nichts.«

»Nun, dann ist es nicht hübsch von mei­nem klei­nen Mäd­chen, ihre kran­ke Freun­din zu ver­nach­läs­si­gen. Brin­ge Eu­ge­nie die Ver­giss­mein­nicht, die ich auf dem Markt ge­kauft habe. Eu­ge­nie ist manch­mal ein biss­chen spöt­tisch, aber mein Aga­th­chen ist auch sehr emp­find­lich. Du kannst viel von Eu­ge­nie ler­nen. Sie macht so hüb­sche Kni­xe und hat im­mer eine freund­li­che Ant­wort be­reit, lässt nie das Mäul­chen hän­gen, wie mein Träu­mer­chen!«

Aga­the sah ihre Mut­ter nicht an, mür­risch pack­te sie ihre Bü­cher aus. Es tat ihr schreck­lich weh im Hal­se, als wäre ihr da al­les wund. Sie hät­te sich am liebs­ten auf die Erde ge­wor­fen und laut ge­schri­en und ge­weint. Doch nahm sie ge­hor­sam und ohne wei­ter et­was zu sa­gen den Strauß und ging. Un­ter­wegs traf sie eine Bür­ger­schü­le­rin, die sie kann­te. Da warf sie die Blu­men fort und schlen­der­te mit dem Mäd­chen.

Als sie auf ih­ren ziel­lo­sen Strei­fe­rei­en wie­der am Hau­se ih­rer El­tern vor­über ka­men, sah Mama aus dem Fens­ter und rief sie zum Es­sen.

Aga­the ant­wor­te­te nicht und ging ru­hig wei­ter. Sie hör­te ihre Mut­ter hin­ter sich her ru­fen und ging im­mer wei­ter. Sie woll­te über­haupt nicht wie­der nach Hau­se zu­rück.

Auf ei­nem frei­en Platz mit Blu­men­bee­ten setz­te sie sich auf eine der ei­ser­nen Ket­ten, die, zwi­schen Stein­pfei­lern her­ab­hän­gend, die An­la­gen schüt­zen soll­ten, hielt sich mit bei­den Hän­den fest und bau­mel­te mit den Bei­nen. Das ta­ten nur die all­er­ge­meins­ten Kin­der! Das Mäd­chen aus der Bür­ger­schu­le setz­te sich auch auf eine von den Ket­ten. So un­ter­hiel­ten sie sich. Von Ame­ri­ka. Wie weit es wäre, um dort­hin kom­men. Der Leh­rer hat­te ih­nen er­klärt, Ame­ri­ka läge ganz ge­nau auf der an­de­ren Sei­te von der Erde. Man brauch­te nur ein Loch zu gra­ben, furcht­bar tief – im­mer tiefer – dann käme man schließ­lich in Ame­ri­ka an.

»Aber da­zwi­schen kommt erst Was­ser und dann Feu­er«, sag­te Aga­the nach­denk­lich. Das hat­te der Leh­rer nicht ge­sagt. Aber Aga­the glaub­te es, ganz be­stimmt. Eine ent­setz­li­che Lust plag­te sie, das mit dem Loch­gra­ben ein­mal zu ver­su­chen.

Da kam drü­ben auf dem Trot­toir im hel­len Son­nen­schein Eu­ge­nie mit ih­rer Mut­ter. Sie hat­te ih­ren neu­en lila Sam­met­pa­le­tot an und das Ba­rett mit dem Fe­der­be­satz. Wie sie sich zier­te! Sie ging ganz sitt­sam zwi­schen ih­rer Mut­ter und ei­nem Of­fi­zier. Plötz­lich be­merk­te sie Aga­the und stand er­staunt still, sie wink­te und rief ih­ren Na­men. Aber Aga­the bau­mel­te mit den Bei­nen und kam nicht. Frau Wu­trow sag­te et­was zu Eu­ge­nie, alle drei Per­so­nen sa­hen, wie es Aga­the schi­en, em­pört zu ihr hin und spa­zier­ten dann wei­ter.

Aga­the lach­te ver­ächt­lich. Dann ging sie mit der Bür­ger­schü­le­rin, die schon um zwölf Uhr zu Mit­tag ge­ges­sen hat­te, trank mit ihr Kaf­fee und ver­such­te mit ihr im Hof das tie­fe Loch zu gra­ben, das nach Ame­ri­ka füh­ren soll­te. Ach – wenn es wirk­lich wahr wäre!! Sie müh­ten sich ganz ent­setz­lich, nur erst den Kies und die Erde fort­zu­brin­gen. Dann tra­fen sie zu ih­rem gren­zen­lo­sen Er­stau­nen auf rote Zie­gel­stei­ne. Es wur­de Aga­the ganz selt­sam zu Mut, so, als müs­se jetzt ein Wun­der ge­sche­hen – weiß Gott, was sie nun se­hen wür­den. Mit al­ler Ge­walt such­ten sie die Zie­gel­stei­ne los­zu­bre­chen, schwitz­ten und stöhn­ten da­bei. Und als der eine sich eben schon ein we­nig be­weg­te – da kam je­mand. Das an­de­re Mäd­chen schrie laut auf vor Schre­cken: »Hu – die schwar­ze Jule! Die schwar­ze Jule!«

Hei­di jag­te sie fort und Aga­the hin­ter­drein. Wäh­rend die Haus­wir­tin ins Lee­re über ih­ren ver­wüs­te­ten Hof keif­te, steck­ten bei­de klei­ne Mäd­chen im Holz­stall und reg­ten und rühr­ten sich nicht vor Angst.

Aber das Nach­hau­se­kom­men …! Sie muss­te doch ein­mal – es wur­de schon dun­kel – in der Nacht hät­te sie sich auf der Stra­ße tot­ge­fürch­tet. Es gab auch Mör­der da. Sie muss­te schon. »Ach Gott! Ach lie­ber Gott, lass doch Mama in Ge­sell­schaft sein!«

Er war ja so gut – viel­leicht tat er ihr den Ge­fal­len.

Frau Heid­ling hat­te in­zwi­schen zu Wu­trows ge­schickt, ob Aga­the bei ih­nen ge­we­sen wäre.

Nein – sie hät­te auf dem Ka­ser­nen­plat­ze ge­ses­sen und mit den Bei­nen ge­bau­melt.

Aga­the hat­te jetzt al­les ver­ges­sen, was sie am Mor­gen ge­quält. Sie emp­fand nur noch eine große Furcht vor ih­rer Mut­ter, wie vor et­was schreck­lich Er­ha­be­nen, vor dem sie nur ein klei­nes Würm­chen war. Und da­bei misch­te sich auch eine be­stimm­te Sehn­sucht in die große Angst. Vi­el­leicht dach­te ihre Mut­ter, sie hät­te bei Wu­trows ge­spielt, und al­les war gut.

Als sie zag­haft und ganz lei­se klin­gel­te, riss Wal­ter die Tür auf, lach­te laut und rief: »Da ist sie ja, die Ran­ge!«

Ihre Mut­ter nahm sie bei der Hand und führ­te sie in die Lo­gier­stu­be. Dort ließ sie sie im Dun­keln ste­hen.

Mama wür­de doch nicht? Nein – sie war ja schon ein großes Mäd­chen, dach­te Aga­the und fror vor Angst – nein, das konn­te Mama doch nicht … Sie ging doch schon in die Schu­le …

Frau Heid­ling kam mit ei­nem Licht und mit der Rute wie­der.

»Nein! Nein! Ach bit­te, bit­te nicht!« schrie Aga­the und schlug wie ra­send um sich. Es war ein wil­der Kampf zwi­schen Mut­ter und Toch­ter, Aga­the riss Mama die Spit­zen vom Klei­de und trat nach ihr. Aber sie be­kam doch ihre Schlä­ge – wie ein ganz klei­nes Kind.

Als die schau­er­li­che Stra­fe zu Ende war, wank­te Frau Heid­ling er­schöpft in ihr Schlaf­zim­mer und sank keu­chend und wei­nend auf ihr Bett nie­der. Sie wuss­te, dass sie sich nicht auf­re­gen durf­te, und dass sie furcht­ba­re Ner­ven­schmer­zen aus­zu­ste­hen ha­ben wür­de. Bis zu­letzt, wäh­rend der Sor­ge und Angst um Aga­the hat­te sie ge­prüft ob sie es tun müs­se. Ja, es war ihre Pf­licht. Das Kind durf­te sich nicht so über alle Au­to­ri­tät hin­weg­set­zen. Als sie Aga­the sah, hat­te auch der Zorn sie über­mannt.

Das Mäd­chen lag in der Lo­gier­stu­be auf den Die­len und schrie noch im­mer, schlu­ckend und schluch­zend, sie konn­te die Töne nur noch hei­ser her­vor­sto­ßen, und ihr gan­zer klei­ner Leib zuck­te krampf­haft da­bei. Sie woll­te sich tot­schrei­en. Mit ei­ner sol­chen Schmach auf sich konn­te sie doch nicht mehr le­ben …! Was wür­de Papa sa­gen? Ihm wür­de es wohl leid tun, wenn er sein klei­nes Mäd­chen nicht mehr hät­te. Aber Mama – der war es ganz recht – ganz recht …

End­lich wur­de sie so müde, dass al­les um sie her und in ihr ver­schwamm. Mit wüs­tem Kopf stand sie auf und kroch tau­melnd in ihr Bett.

*

Aga­the hat­te ihre Mut­ter nicht mehr lieb. Heim­lich trug sie die Ge­wis­sens­not und den Schmerz dar­über – eine zu schwe­re Bür­de für ihre Kin­der­schul­tern. Ihre Hal­tung wur­de schlaff, in ih­rem Ge­sicht­chen zeig­te sich ein ver­drieß­li­cher, mü­der Zug. Aber der Arzt, den man be­frag­te, mein­te, das käme von dem ge­bück­ten Sit­zen auf der Schul­bank.

Ei­ni­ge Zeit spä­ter wur­de Aga­thes Va­ter als Ver­tre­ter des Lan­drats in eine klei­ne­re Stadt ver­setzt. Hier gab es kei­ne hö­he­re Töchter­schu­le und Aga­the be­kam eine Gou­ver­nan­te.

All­mäh­lich er­hol­te sie sich und wur­de wie­der mun­ter. Wahr­schein­lich ver­hielt sich al­les gar nicht so, wie Eu­ge­nie ge­sagt hat­te, dach­te sie nun. Weil es ihr zu un­mög­lich er­schi­en, ver­gaß sie ihre ver­wor­re­ne Weis­heit zu­letzt so ziem­lich. Nur hin und wie­der durch ein Wort von Er­wach­se­nen, eine Stel­le in ei­nem Buch, durch ein Bild ge­weckt, zu­wei­len ohne jede Ver­an­las­sung wach­te die Erin­ne­rung an die Stun­den in Wu­trows Gar­ten und in den dunklen Kor­ri­do­ren in ih­rem Ge­dächt­nis auf und quäl­te sie wie ein schlech­ter Ge­ruch, den man nicht los wird, oder wie die Mit­wis­ser­schaft ei­nes trü­ben, ver­häng­nis­vol­len Ge­heim­nis­ses.

III.

Frau Heid­ling heg­te das un­be­stimm­te Ide­al ei­nes in­ni­gen Ver­hält­nis­ses zwi­schen ei­ner Mut­ter und ih­rer ein­zi­gen Toch­ter. Doch wuss­te sie durch­aus nicht, wie sie es be­gin­nen soll­te, ein sol­ches zwi­schen sich und Aga­the her­zu­stel­len. Sie sorg­te mit pein­li­cher Pf­licht­treue für de­ren An­zug, für Zahn­bürs­ten, Stie­fel und Kor­setts. Aber wenn Aga­the mit ei­nem Aus­bruch ih­res bren­nen­den In­ter­es­ses für al­les und je­des in der Welt: für die Rät­sel in Ne­ros Cha­rak­ter und für Bür­gers Lie­be zu Mol­ly, für die Rin­ge des Sa­turn und die Au­fer­ste­hung der To­ten zu ih­rer Mut­ter kam, sah sie im­mer nur das­sel­be halb ver­le­ge­ne, halb be­schwich­ti­gen­de Lä­cheln auf dem blas­sen, kränk­li­chen Ge­sicht. Und ge­ra­de dann wur­de ihr meist das Wort ab­ge­schnit­ten mit ei­ner von den un­auf­hör­li­chen Er­mah­nun­gen: hal­t’ Dich ge­ra­de, Aga­the – wo ist Dein Zopf­band wie­der ge­blie­ben! Wirst Du denn nie ein or­dent­li­ches Mäd­chen wer­den? Das reiz­te sie bis zu Trä­nen und un­ge­zo­ge­nen Ant­wor­ten.

Frau Heid­ling frag­te sich oft er­staunt, ob sie selbst nur ein­mal so schreck­lich leb­haft und ex­al­tiert ge­we­sen sein kön­ne – jetzt war ihr doch al­les, was au­ßer­halb ih­rer Fa­mi­lie und ih­res Haus­hal­tes vor­ging, sehr gleich­gül­tig. Ihr Mann hielt die in sei­ne Form ge­klei­de­te geis­ti­ge Be­schei­den­heit an der Frau vor al­lem hoch, und liebt man einen Mann, so sucht man doch un­will­kür­lich ge­nau so zu wer­den, wie er es gern hat. Ja – und die vie­len Wo­chen­bet­ten und der Tod von klei­nen Kin­dern – das macht den Kopf ei­ner Frau recht müde. Aber da­für hat man sei­ne Pf­licht im Le­ben er­füllt. Frau Heid­ling konn­te sich oft ängs­ti­gen, dass Aga­the durch die­ses un­ru­hi­ge Um­her­fah­ren ih­rer Ge­dan­ken noch ein­mal auf Ab­we­ge ge­ra­ten wer­de.

Mit der Gou­ver­nan­te hat­te das Mäd­chen folg­lich die hef­tigs­ten Sze­nen. Fräu­lein wur­de ganz von dem Plan be­herrscht, den wohl­ha­ben­den Apo­the­ker des Städt­chens oder einen ält­li­chen Ge­richts­rat da­hin zu brin­gen, sie zu hei­ra­ten. Aga­the ver­ach­te­te sie des­halb aus vol­lem Her­zen. Mit bit­te­ren Ge­füh­len mach­te sie sich aber klar, dass nicht nur zwi­schen Fräu­lein und ihr, son­dern auch zwi­schen El­tern und Kin­dern eine un­aus­füll­ba­re Kluft be­ste­he. Ein­sam und von nie­mand ver­stan­den, wer­de sie an die­sem Kum­mer ster­ben müs­sen. Mit ei­nem wah­ren Schwel­gen in grau­sa­men Ra­che­ge­lüs­ten konn­te sie sich dann die Reu­e­trä­nen ih­rer Mut­ter, die Verzweif­lung des Va­ters vor­stel­len. Papa hat­te sie üb­ri­gens doch lie­ber als ihre Mut­ter. Zwar lach­te er meis­tens, wenn sie eine Mei­nung äu­ßer­te, aber er zank­te doch we­nigs­tens nicht so viel. Ei­gent­lich war es noch ein Trost, dem Ge­dan­ken nach­zu­hän­gen, sie sei viel­leicht gar nicht das rech­te Kind ih­rer El­tern und dar­um kön­ne sie sie nicht so heiß lie­ben, wie es ihr sehn­lichs­ter Wunsch war. Denn sonst – sonst wäre sie ja ein ganz schlech­tes, ver­dor­be­nes Kind ge­we­sen.

Frau Heid­ling er­kun­dig­te sich bei an­de­ren ver­trau­ens­wür­di­gen Frau­en, wie her­an­wach­sen­de Mäd­chen zu be­han­deln sei­en. »Man soll ja nicht mur­ren«, sag­te sie seuf­zend, »aber es ist doch recht wun­der­lich vom lie­ben Gott ein­ge­rich­tet, dass die Mut­ter, die die Kin­der ge­bo­ren hat, nach­her gar kei­ne Kraft mehr üb­rig be­hält, sie auch zu er­zie­hen. Aga­the greift mich furcht­bar an.«

Über­all riet man ihr »die Pen­si­on«. Sie sah also, dass das Übel, wel­ches sie quäl­te, ein weit­ver­brei­te­tes war, und das be­ru­hig­te sie voll­stän­dig.

Da sie in ih­rem frü­he­ren Wohn­ort, der Haupt­stadt der Pro­vinz, man­nig­fa­che Be­zie­hun­gen un­ter­hielt, wand­te sie sich dort­hin, um von ei­nem ge­eig­ne­ten In­sti­tut zu hö­ren. Sie wähl­te, da­mit ihre Toch­ter sich in der Frem­de nicht ver­las­sen füh­len möge, die An­stalt, wo sich meh­re­re frü­he­re Freun­din­nen von Aga­the be­fan­den, un­ter ih­nen Eu­ge­nie Wu­trow.

*

»Du – ge­ste­he mal gleich, wer ist denn Dein s­wee­the­ar­t?«

So lau­te­te eine der ers­ten Fra­gen, die ihre Mit­schü­le­rin­nen an Aga­the rich­te­ten, nach­dem die Vor­ste­he­rin sie in das Ar­beits­zim­mer ge­führt hat­te, wo die jun­gen Mäd­chen mit Hef­ten, Bü­chern und Hand­ar­bei­ten um einen großen Tisch sa­ßen.

Aga­the lern­te be­reits seit ei­nem Jah­re Eng­lisch, aber das Wort s­wee­the­ar­t war in der Gram­ma­tik noch nicht vor­ge­kom­men. Das sag­te sie schüch­tern und wur­de furcht­bar aus­ge­lacht.

Aga­the be­wohn­te mit Eu­ge­nie den­sel­ben Schlaf­saal. An­fangs wur­de sie von der kin­di­schen Furcht be­un­ru­higt, Eu­ge­nie kön­ne ir­gend wel­che An­spie­lun­gen auf die Ge­sprä­che ma­chen, die sie als klei­ne Mäd­chen mit­ein­an­der ge­führt. Aber Eu­ge­nie schi­en die Erin­ne­rung dar­an voll­stän­dig ver­lo­ren zu ha­ben. Sie war ein hüb­sches und schon recht ele­gan­tes Mäd­chen ge­wor­den. Aga­the fass­te, zu ih­rer ei­ge­nen Ver­wun­de­rung, so­fort eine hef­ti­ge Lie­be für sie. Es gab nun kein grö­ße­res Ver­gnü­gen, als mit Eu­ge­nie Wu­trow zu­sam­men zu sein, sich an sie zu schmie­gen und sie zu küs­sen. Eu­ge­nie be­han­del­te die Zu­nei­gung ih­rer Kind­heits­ge­spie­lin wie die Ver­eh­rung ei­nes Man­nes. Bis­wei­len war sie kalt und sprö­de und wies Aga­thes Lieb­ko­sun­gen her­be ab. Aga­the konn­te sie we­der durch das Aner­bie­ten, die Re­chen­auf­ga­ben für sie zu lö­sen, noch durch schwär­me­ri­sche Brie­fe, die sie auf das Kopf­kis­sen ih­rer Freun­din nie­der­leg­te, er­wei­chen. Plötz­lich war Eu­ge­nie dann aber wie­der ent­zückend nett.

Aga­the litt neu­er­dings viel an Zahn­weh und ge­schwol­le­nen Ba­cken. Wenn sie des Nachts hin­ter dem Wand­schirm – der Schlaf­saal wur­de in die­ser Wei­se zu ver­schie­de­nen Pri­vat­käm­mer­chen ge­teilt – auf ih­rem La­ger stöhn­te und wim­mer­te, kam Eu­ge­nie mit blo­ßen Fü­ßen her­über­ge­schli­chen, brach­te Eau de Co­lo­gne oder Chlo­ro­form, saß auf ih­rem Bett­rand und strich ihr lang­sam und gleich­mä­ßig über die Stirn, bis die Schmer­zen nachlie­ßen, und Aga­the un­ter der ma­gne­ti­schen Wir­kung der wei­chen Mäd­chen­hand ein­sch­lief.

Eu­ge­nie war eine prak­tisch be­an­lag­te Na­tur, sie er­riet in je­der Lage ohne viel Be­sin­nen, was hier zu tun sei. Sie war all­ge­mein be­liebt un­ter den Back­fi­schen. Aga­the wur­de viel von Ei­fer­sucht ge­plagt, wenn Eu­ge­nie mit an­de­ren ging oder wenn sie gar den Arm um die Tail­le ei­ner an­de­ren leg­te.

Es war ihr dar­um auch schreck­lich trau­rig, dass sie in ei­ner Fra­ge, wel­che die Ge­mü­ter der Pen­sio­nä­rin­nen hef­tig er­reg­te, nicht zu der ge­lieb­ten Freun­din ste­hen konn­te. Etwa zehn der jün­ge­ren, die noch nicht kon­fir­miert wa­ren, hat­ten Re­li­gi­ons­un­ter­richt bei dem Di­rek­tor des In­sti­tuts, ei­nem Dok­tor der Theo­lo­gie und Phi­lo­lo­gie, Na­mens En­gel­bert. Er ge­hör­te dem Pro­tes­tan­ten­ver­ein an, war aus Ge­wis­sens­be­den­ken nicht Geist­li­cher ge­wor­den und sprach sei­nen Schü­le­rin­nen of­fen die An­sicht aus: er hal­te Je­sus Chris­tus nur für einen Men­schen, den rich­ti­gen Sohn der Ma­ria und des Jo­sef. Darob ent­stand ein großer Aufruhr un­ter den Mäd­chen. Die Toch­ter ei­nes eng­li­schen Pre­di­gers er­klär­te, ihre El­tern wür­den sie so­fort zu­rück­ru­fen, wenn sie so et­was von Dr. En­gel­bert hör­ten. Aga­thes from­mer Wun­der­glau­be em­pör­te sich ge­gen eine so nüch­ter­ne Auf­fas­sung der Er­lö­sungs­ge­schich­te. Dr. En­gel­bert gab sich aber be­son­de­re Mühe, ge­ra­de sie zu sei­ner An­sicht zu be­keh­ren. Es wa­ren nicht vie­le un­ter den jun­gen Mäd­chen, die welt­ge­schicht­li­che Fra­gen mit ei­nem so per­sön­li­chen In­ter­es­se er­fass­ten, wie Aga­the. Zum ers­ten Mal wur­de sie vor eine selbst­stän­di­ge Ent­schei­dung ge­stellt, Dr. En­gel­bert for­der­te stets Selbst­stän­dig­keit von sei­nen Zög­lin­gen. Aga­the blieb hart­nä­ckig ih­rem Gott-Hei­lan­de treu. Ohne Wun­der und ohne das Wal­ten über­ir­di­scher Mäch­te schi­en die Welt ihr öde und lang­wei­lig. Wo­hin sie schau­te, war al­les Le­ben, Ge­burt und Tod ihr nur ein Wun­der, sie fühl­te sich um­ge­ben von un­be­greif­li­chen Ge­heim­nis­sen, an die man nicht zu tas­ten wag­te.

In den Re­li­gi­ons­stun­den gab es lei­den­schaft­li­che Dis­pu­ta­tio­nen, un­be­stimm­te, aber de­sto hef­ti­ge­re Aus­ein­an­der­set­zun­gen, bis Aga­the schluchz­te, und auch Dr. En­gel­bert, ei­nem weich­mü­ti­gen Idea­lis­ten, die hel­len Trä­nen in sei­nen großen Voll­bart lie­fen. Der Glau­bens­streit wur­de in den Frei­stun­den und bis in die Schlaf­sä­le hin­ein fort­ge­setzt. Eu­ge­nie stell­te sich gleich auf die Sei­te von Dr. En­gel­bert. Sie äu­ßer­te, dass nur ein be­schränk­ter Ver­stand an Wun­der glau­ben kön­ne. Aga­the beb­te in der Furcht, Eu­ge­nie möch­te sie für dumm hal­ten und ihr die Freund­schaft kün­di­gen. Aber die Aus­sicht in ein ewi­ges Le­ben voll En­gel­ge­sang und himm­li­scher Glo­rie konn­te sie der Freun­din doch nicht op­fern.

Wel­ches Glück emp­fand Aga­the da­her, als Eu­ge­nie sie ei­nes Abends in ihr Käm­mer­chen her­über­hol­te und mit Cho­ko­la­de füt­ter­te. Eine äl­te­re, aus Gleich­gül­tig­keit ge­gen al­les Deut­sche ziem­lich duld­sa­me Eng­län­de­rin führ­te die Obe­r­auf­sicht über den Saal. Au­ßer Aga­the und Eu­ge­nie schlie­fen nur noch ei­ni­ge neu an­ge­lang­te Lands­männ­in­nen der Miss dar­in.

»Aga­the, hast Du schon ein­mal einen Mann gern ge­habt?« frag­te Eu­ge­nie lei­se.

»Aber Eu­ge­nie, wie kannst Du denn so et­was den­ken«, flüs­ter­te Aga­the er­schro­cken und wur­de dun­kel­rot.

»Du hast kein Ver­trau­en zu mir«, sag­te Eu­ge­nie ver­letzt und schloss die Schach­tel mit der Cho­ko­la­de in ihre Kom­mo­de.

»Geh’ nur, ich bin müde.« Sie blies das Licht aus und leg­te sich zu Bett. »Wenn Du of­fen wä­rest, wür­de ich Dir auch et­was ge­sagt ha­ben. Aber Du bist im­mer so ver­steckt. Du bist eine Tu­gend­heuch­le­rin. Ja, das bist Du.«

Eu­ge­nie dreh­te sich nach der Wand. Aga­the saß zag­haft im Kor­sett und Un­ter­rock auf dem Bett­rand. Aus den an­de­ren Kam­mern drang ru­hi­ges At­men und ein zu­frie­de­nes Mur­ren, wel­ches die Eng­län­de­rin beim Schla­fen aus­zu­sto­ßen pfleg­te. Es war be­hag­lich warm im Zim­mer und roch nach Man­del­kleie und gu­ter Sei­fe.

Aga­the ent­schloss sich end­lich, zu ge­ste­hen, dass sie ih­ren Vet­ter Mar­tin gern habe. Sie woll­te sich des Ver­trau­ens der an­ge­be­te­ten Eu­ge­nie wür­dig zei­gen.

Eu­ge­nie hob den Kopf. »Habt Ihr Euch ge­küsst?«

Aga­the be­teu­er­te, dass es nicht »so« wäre; sie habe ih­ren Vet­ter ja nur lie­ber als die an­de­ren Jun­gen.

Eu­ge­nie streck­te sich auf ih­rem La­ger aus und leg­te den Arm un­ter den Kopf.

»Aga­the, ich habe ge­liebt!« sprach sie nach ei­ner Wei­le dumpf und fei­er­lich.

Aga­the schlug das Herz wie ein Ham­mer in der Brust.

»Und – und – hast Du …?«

»Ge­küsst –; ach – zum er­sti­cken! Und er mich!«

Eu­ge­nie hat­te sich auf­ge­rich­tet, bei­de Arme um die Freun­din ge­wor­fen und press­te sie hef­tig an sich. Aga­the fühl­te, wie das Mäd­chen am gan­zen Lei­be beb­te.

»Des­halb ha­ben sie mich ja in Pen­si­on ge­schickt! – Aber es wäre doch zu Ende ge­we­sen. Der Er­bärm­li­che! Aga­the – er war mir treu­los!«

Sie warf sich in die Kis­sen zu­rück, aus den Fe­dern drang ihr er­stick­tes Schluch­zen.

»Wer war es denn?«

»Ei­ner aus un­serm Comp­toir … Weißt Du – das klei­ne Zim­mer, wo die Kis­ten mit den Zi­gar­ren­pro­ben ste­hen, wo es so dun­kel ist – da war es, da ha­ben wir uns im­mer ge­trof­fen. Ach – wie er schmei­cheln konn­te, wie er süß war und mich auf sei­ne Knie nahm, wenn ich nicht woll­te …«

Eu­ge­nie küss­te Aga­the lei­den­schaft­lich und stieß sie dann fort. »Geh, Du bist ein Kind – ich hät­te Dir das nicht sa­gen sol­len.«

Aga­the be­teu­er­te, dass sie kein Kind sei.

»Schwö­re, dass Du es nie­mand er­zäh­len willst! Auch nicht Dei­ner Mut­ter. Hebe die Fin­ger in die Höhe! Schwö­re bei Gott!«

Aga­the schwur. Sie war ganz be­täubt vor Stau­nen.

»Er woll­te mir nach­rei­sen«, stieß die auf­ge­reg­te Eu­ge­nie her­vor.

»Hier­her?«

»Er soll nur kom­men! Mit den Fü­ßen sto­ße ich ihn fort! Er hat mich be­tro­gen! Der Schuft! Mit Rosa hat er’s zu glei­cher Zeit ge­hal­ten, und die hat al­les er­zählt, aus Ra­che! Ich has­se ihn!«

»Eu­ge­nie – ach Du arme Eu­ge­nie! Ich ahn­te ja nicht, wie un­glück­lich Du warst«, flüs­ter­te Aga­the mit scheu­er Ver­eh­rung.

»Nein, man sieht es mir nicht an«, sag­te Eu­ge­nie. »Am Tage ver­stel­le ich mich. Aber des Nachts –! Da will ich mir oft das Le­ben neh­men. Wenn ich dies Chlo­ro­form aus­trin­ke, bin ich tot. Ich tra­ge es im­mer bei mir!«

Ent­setzt riss Aga­the der Freun­din das Fläsch­chen mit den Zahn­trop­fen aus der Hand und be­schwor sie un­ter Trä­nen, um ih­rer El­tern und ih­rer Freund­schaft wil­len das Da­sein zu er­tra­gen.

Sie stand un­ter dem Zau­ber der großen klas­si­schen Lei­den­schaf­ten – Erin­ne­run­gen an Eg­mont, an Ama­lia und The­kla tau­mel­ten durch ihre Fan­ta­sie, die Freun­din wuchs ihr zu ei­ner un­er­hör­ten Grö­ße durch das Ge­ständ­nis, dass auch sie »ge­lebt und ge­liebt« habe.

Nur das rach­süch­ti­ge Fa­brik­mäd­chen war ihr stö­rend in die­ser hei­li­gen Sa­che. Üb­ri­gens glaub­te sie nicht, dass der Com­mis treu­los sei. Er wür­de si­cher bald er­schei­nen und al­les auf­klä­ren. Aber wenn ihn dann Eu­ge­nie mit den Fü­ßen fort­s­tie­ße? Wenn er sich aus Verzweif­lung er­schie­ßen wür­de? Aga­the sah tra­gi­sche Auf­trit­te vor­aus und lag mit glü­hen­den Wan­gen und auf­ge­reg­ten Sin­nen noch stun­den­lang wa­chend im ei­ge­nen Bett. Sie hat­te ein Ge­fühl, als lie­fen ihr Amei­sen lei­se und ei­lig über den gan­zen Leib. Da­bei hör­te sie die un­ru­hi­gen Be­we­gun­gen von Eu­ge­nie, ihr tie­fes Seuf­zen.

Durch das Träu­men über das Ge­ständ­nis ih­rer Freun­din schlich sich heim­lich die Über­le­gung, ob sie selbst nicht doch ih­ren Vet­ter Mar­tin lie­be – so – so – wie Eu­ge­nie mein­te. Aber es war doch nicht, nein, es war ganz an­ders – ganz an­ders.

End­lich schlum­mer­te sie ein.

Plötz­lich, nach kur­z­er Zeit, kam sie wie­der zur Be­sin­nung, ge­weckt von ei­nem großen, bren­nen­den Sehn­suchts­ge­fühl, wel­ches ihr ganz fremd, ganz neu und schre­cken­er­re­gend und doch ent­zückend won­nig war, so­dass sie sich ihm einen Au­gen­blick völ­lig hin­gab.

»Mani!« mur­mel­te sie zärt­lich und ver­wirrt und fal­te­te ängst­lich die Hän­de. »Ach lie­ber Gott!«

Sie be­gann aus­zu­rech­nen, wie viel Tage es noch bis zu den großen Fe­ri­en sei­en, wo sie ih­ren Vet­ter wie­der­se­hen wer­de.

Dar­über schlief sie ein und dies­mal fest und traum­los – bis zum Mor­gen.

*

Aga­the muss­te im­mer aufs neue stau­nen, wie stark und si­cher Eu­ge­nie ihre große Lei­den­schaft in ih­rem Her­zen ver­schloss, und mit wel­cher Le­ben­dig­keit sie den Tag über an al­len Tor­hei­ten, die ge­trie­ben wur­den, ih­ren An­teil nahm. Ne­ben den re­li­gi­ösen Kämp­fen be­schäf­tig­ten sich die jun­gen Da­men haupt­säch­lich mit der Fra­ge, wer von ih­nen die längs­ten Au­gen­wim­pern habe. Es wur­den zur Lö­sung die­ser Zwei­fel die schwie­rigs­ten Mes­sun­gen vor­ge­nom­men. Wirk­lich ge­hör­te viel In­ter­es­se für die Sa­che dazu, um sich ein Blatt Pa­pier un­ter das Lid zu schie­ben und sich mit ei­nem Blei­stift dicht vor dem Aug­ap­fel her­um­fuch­teln zu las­sen.

Mit­ten im Vier­tel­jahr kam eine neue Schü­le­rin, die Toch­ter ei­nes be­rühm­ten Schrift­stel­lers aus Ber­lin. Sie wur­de mit der größ­ten Span­nung emp­fan­gen. Ein völ­lig farb­lo­ses, el­fen­bein­wei­ßes Ge­sicht und hell­grü­ne Au­gen un­ter schwar­zen Brau­en, die über der Na­sen­wur­zel dicht zu­sam­men­ge­wach­sen wa­ren, ge­stal­te­ten das Äu­ße­re die­ses Mäd­chens ei­gen­ar­tig ge­nug. Dazu eine Fä­hig­keit, sich mit der großen Zehe an der Nase kit­zeln zu kön­nen und die Fin­ger ohne jede Schwie­rig­keit nach al­len mög­li­chen und un­mög­li­chen Rich­tun­gen zu bie­gen und aus­zu­ren­ken – das al­les muss­te die kühns­ten Er­war­tun­gen von et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­chem über­tref­fen. Aga­the be­fiel bei dem An­blick der Neu­en so­fort eine böse Ah­nung.

Da Klo­til­de er­klär­te, ihr Va­ter habe stets ihre Auf­sät­ze kor­ri­giert, wur­de sie na­tür­lich ohne wei­te­re Prü­fung in die ers­te Klas­se auf­ge­nom­men. Dr. En­gel­bert glaub­te dies dem Ruhm ei­ner deut­schen Lit­te­ra­tur­grö­ße schul­dig zu sein. Hier er­füll­te die jun­ge Dame in­des­sen die auf ihr ge­bau­ten Hoff­nun­gen so we­nig, dass Dr. En­gel­bert sich ge­nö­tigt sah, sie in die zwei­te Klas­se, wel­che sei­ne Frau lei­te­te, zu­rück­zu­füh­ren. Es stell­te sich denn auch her­aus, dass Klo­til­de nur die Stief­toch­ter des Dich­ters war, also nicht wohl sei­ne Ta­len­te ge­erbt ha­ben konn­te.