Gala Éluard - Katja Kulin - E-Book

Gala Éluard E-Book

Katja Kulin

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Beschreibung

Bevor die gebürtige Russin Gala Éluard im Sommer 1929 in Spanien den jungen Künstler Salvador Dalí kennenlernt und für ihn Mann und Tochter verlässt, genießt sie als einzige Frau im Kreise der Dadaisten und Surrealisten der Pariser Avantgarde einen besonderen Status als Muse mit Einfluss. Verheiratet mit dem Dichter Paul Éluard und in einer offenen Dreiecksbeziehung mit Max Ernst, bricht die willensstarke Gala schon früh mit den Konventionen ihrer Zeit. Ihr Geschäftssinn, ihre Klugheit und Durchsetzungskraft sind es, die Dalí nach einigen kargen Jahren zu großem Erfolg verhelfen. Mit unerschütterlichem Glauben an sein Talent ist Gala die treibende Kraft hinter dem Surrealisten. Für ihn bringt sie die mütterliche Fürsorge auf, die ihrer Tochter ein Leben lang verwehrt bleibt. Von Dalí wird sie vergöttert und in zahlreichen Werken verewigt – sie ist mehr als seine Geliebte und Quelle seiner Inspiration: "Gala hörte mich … Sie nahm sich die Macht, meine Beschützerin zu sein." Gemeinsam erobert das exzentrische Paar nicht nur Paris, sondern bald auch die USA. Katja Kulin zeichnet das bewegende Porträt einer geschäftstüchtigen, selbstbewussten Frau und beleuchtet ihre Rolle an der Seite eines großen Künstlers. Von ihren Zeitgenossen oft noch als Hexe verschrien, ist Gala Éluard aus heutiger Sicht das frühe Beispiel einer emanzipierten Frau, die ihren Weg zielstrebig verfolgte.

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Katja Kulin

GalaÉluard

Muse der Surrealisten unddie große Liebe Salvador Dalís

Romanbiografie

Titel der Originalausgabe: Gala ÉluardMuse der Surrealisten und die große Liebe Salvador Dalís

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Programmleitung: Fitore Brahimi

Lektorat: Sabrina Kiefer

Umschlagmotiv: Anemone Kloos

Layout und Umschlaggestaltung: Sabine Kunzmann

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-81516-4

ISBN (Buch): 978-3-451-38384-7

INHALT

PROLOG (1910) –KINDLICHE VORWEGNAHME

ERSTER TEIL (1929) –DAS RÄTSEL DER BEGIERDEMAGIE DER GEGENSÄTZE

ZWISCHENSPIEL (1901–1910) –EINE KINDHEIT IN RUSSLAND

ZWEITER TEIL (1930–1933) –DAS GEFÜHL DES WERDENSZUSAMMEN GEGEN ALLE WIDERSTÄNDE

ZWISCHENSPIEL (1913–1922) –PAUL ÉLUARD UND DIE KÜNSTLERGRUPPE

DRITTER TEIL (1934–1939) –EIN PAAR, DIE KÖPFE VOLLER WOLKENERFOLG UND ANERKENNUNG

ZWISCHENSPIEL (1922–1924) –MAX ERNST UND DER SURREALISMUS

VIERTER TEIL (1941–1945) –HONIG IST SÜSSER ALS BLUTDIE EROBERUNG AMERIKAS

ZWISCHENSPIEL (1968–1982) –DIE UNGNADE DER SPÄTEN JAHRE

FÜNFTER TEIL (1948) –LEDA ATOMICAHEIMKEHR

NACHWORT –DAS GEHEIME LEBEN DER GALA ÉLUARD

ANHANG –LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

»Starke Frauen sind von unerbittlicher Konsequenz.«

Heinrich Laube

PROLOG(1910)—KINDLICHE VORWEGNAHME

FIGUERES, UM 1910

Dieses Zimmer beherbergt Wunder.

Eine granatrot glänzende Statue von Mephistopheles, dessen Dreizack Funken sprühen kann. Einen Rosenkranz, den gewiss größten der Welt, noch dazu aus dem Olivenholz von auf dem Ölberg gewachsenen Bäumen geschnitzt. Einen präparierten Frosch an einem Faden, der Señor Trayter noch im Tode zu zeigen vermag, wie das Wetter am nächsten Tag werden wird.

Ob der Lehrer wohl weiß, welche Qualen das Buchstabieren und das Rechnen dem Knaben Salvador bereiten, und ob er ihn deshalb regelmäßig in sein privates Studierzimmer einlässt? Für ihn, der das magische Denken des Kleinkindalters nicht aufgeben mag, ist dieser Raum ohne Zweifel ein besserer Lernort, als ein Klassenzimmer es je sein kann. Überhaupt versteht er nicht, wozu ihm all die Zahlen und Buchstaben nützen sollen, wenn es doch die Schwäne und Enten gewesen sind, von ihm als Zweijährigem mit einer Gabel in die Tischplatte gekratzt, die die Augen seiner Mutter Felipa nach dem Tod des nie gekannten Bruders zum Leuchten brachten. Bilder für die mama und dazu all die wundersamen Dinge, die die Welt und sein Innerstes stets für ihn bereithalten. Was braucht es denn mehr?

Auf den Regalen des unerschöpflichen Bücherschranks von Esteban Trayter Colomer reihen sich uralte, verstaubte Prunkbände neben medizinischen Utensilien und verschiedensten Objekten. Gerade die, die in trüb gewordenen Flüssigkeiten schwimmen und von Tüchern halb oder ganz bedeckt sind, geben Salvadors Fantasie nachdrücklich die Sporen. Bei jedem Besuch enthüllt der Lehrer ein neues Geheimnis, stets eingeleitet mit den Worten: »Und jetzt zeige ich dir etwas, was du noch nie gesehen hast.«1

GALA SCHREITET VORAN WIE EINE SIEGESGÖTTIN

Salvador Dalí

Ein Quell immer wieder erneuerbaren Erstaunens ist der große quadratische Kasten, der in der Mitte des Zimmers auf einem unscheinbaren Tischchen steht. Er birgt ein optisches Theater, das alles wie am Grunde eines sehr klaren stereoskopischen Wassers, das sich allmählich und gleichmäßig in den schillerndsten Tönen verfärbt, erscheinen lässt. Die von hinten beleuchteten, auf unerklärliche Weise ineinander übergehenden Bilder – sie stammen aus einer weißen Welt, die Russland heißt – lassen Salvador den Mund weit offen stehen. Sie alle brennen sich in seine Netzhaut ein, doch eine Bilderfolge brennt weiter und hinterlässt Spuren in allen Zellen: Ein russisches Mädchen sitzt in einem von drei Pferden gezogenen Schlitten und fährt durch eine tief verschneite Landschaft. Kaum sieht man es, so tief im Inneren des Schlittens ist es, in weiße Pelze gehüllt, verborgen. Sechs Wölfe verfolgen mit glühenden Augen das Gefährt. Doch das Mädchen sieht sich nicht um, es kennt keine Angst. Die stolze Miene gebietet Ehrfurcht; der starre und doch bewegte Blick, die bebenden Nasenflügel lassen Salvador an ein kleines Wildtier denken. Gleichzeitig erscheint ihm das ovale Gesicht harmonisch wie bei einer Madonna von Raffael. Er kennt sie aus Gowan’s Art Books, einer Sammlung von Meisterwerken der Malerei, die sein Vater ihm unlängst geschenkt hat.

Hier ist es endlich, das absolut Außergewöhnliche, nach dem sein kindlicher Geist sich sehnt.

Das russische Mädchen wird Salvador von nun an nicht mehr verlassen. Er wird ihm immer wieder begegnen, nicht nur im Studierzimmer seines Lehrers. Es wird geheimnisvolle Akteurin seiner falschen Erinnerungen sein, die er unentwegt produziert, um der Ödnis der unseligen Schule zu entgehen.

Doch beinahe zwanzig Jahre wird es noch dauern, bis es ihm, inzwischen zur Frau geworden, leibhaftig gegenübersteht. Wenn der Zeitpunkt einst gekommen ist, wird er sie sogleich erkennen und dem Schlittenmädchen von damals endlich einen Namen geben können: Galuschka. Die Koseform des Namens der Frau, die schon bald nach ihrer ersten Begegnung seine Gala Gradiva werden wird – die Vorschreitende, der er folgen will und muss, was immer da auch komme.

ERSTER TEIL(1929)—DAS RÄTSEL DER BEGIERDE—MAGIE DER GEGENSÄTZE

CADAQUÉS, SOMMER 1929

Der katalanische Sommer heißt niemanden willkommen. Kein Blumenschmuck, kein sattes Grün kühlt in der brütenden Hitze die Blicke der Reisenden, selbst das Meer, so nah geglaubt, hält sich hinter einem scheinbar endlosen Anstieg versteckt. Und auch die Unverwüstlichen, die in der kargen Landschaft unter dem Brennglas der Sonne standhaft bleiben − Fenchel, Distel und Olive −, lassen den Wagen, der sich auf seiner letzten Etappe bis zum Ziel hustend durch die Mäander der engen Bergstraße quält, ohne jedes Mitleid für seine Passagiere an sich vorüberziehen.

Leise stöhnend dreht Gala das Gesicht zum geöffneten Fenster. Wie aufgewärmter Honig umfließt der Fahrtwind ihre Haut und bringt nur wenig Erleichterung. Die Pariser Mode verträgt sich nicht im Geringsten mit langen Autofahrten in sengender Sonne, alles klebt und drückt, das Kleid ist nahezu durchtränkt von Schweiß. Auch Paul steht das Wasser in großen Perlen auf der Stirn, doch in seinen Zügen liegt stille Vorfreude. Sie haben den beschwerlichen Weg auf Einladung eines aufstrebenden, aber noch unbekannten Künstlers auf sich genommen. Ihr Mann war gleich nach der ersten Begegnung im Bal Tabarin für ihn entflammt, und die Aussicht auf günstige Ferien kam ihm gerade recht. Seit den Kursstürzen müssen sie sich einschränken, zumal Paul kürzlich erst sechstausend Franc beim Spielen verloren hat.

Außerdem hofft er besonders darauf, ihre Ehe nach all den durchstandenen Wirrungen noch einmal kitten zu können. Lange sind sie voneinander getrennt gewesen, stets auf Reisen, jeder von ihnen kurzzeitigen Liebesabenteuern hingegeben. Nun hat Paul eine Fünfzimmerwohnung in der Rue Becquerel unterhalb der Sacré-Cœur de Montmartre herrichten lassen, die nach dem Urlaub auf sie warten wird. Um den Innenarchitekten zu bezahlen, hat er einen de Chirico und mehrere afrikanische Masken verkauft. Paul scheint sich ihrer völlig gewiss, doch seinen Beteuerungen in den Briefen der letzten Monate, er liebe nur sie allein, schenkt Gala keinen rechten Glauben mehr.

Die beiden kommenden Wochen sind eine Generalprobe, von der sie nicht weiß, ob sie sie bestehen kann. Denn auch ihre eigenen Gefühle sind ins Wanken geraten. Die Zeiten, in denen sie ihre Briefe an Paul mit »Deine Frau für immer« unterzeichnet hat, sind längst vorbei. Manchmal kennt sie ihn nicht wieder. Er ist nicht mehr der unerfahrene, tuberkulosekranke junge Mann, der noch am Rockzipfel seiner Mutter klebte und den sie mit ihrer Reife zu führen vermochte, nicht mehr der unsichere Dichter, den sie allein mit ihrer Bestätigung zur Entfaltung seines Genies bringen konnte. Das »für immer«, das sie sich zum ersten Mal wenige Wochen nach ihrer ersten Begegnung im Sanatorium Clavadel geschworen haben, ist längst sterblich geworden.

Die elfjährige Cécile, von keinen trüben Gedanken, aber umso mehr von der Dauer der Fahrt geplagt, ist nach langem Quengeln endlich inmitten ihrer Bücher auf dem Rücksitz eingeschlafen. Die Anwesenheit ihres Kindes, ihres ihr immer fremd gebliebenen und meist von der Großmutter versorgten Kindes, soll wohl ihren Teil dazu beitragen, diese Familie wieder heil werden zu lassen. Erneut wendet Gala das Gesicht zum Fenster. Die Hitze ist unerträglich. Wie nur soll ausgerechnet in dieser Dürre etwas wieder zum Leben erwachen?

Dann, ganz plötzlich, fällt das Gelände hinter der nächsten Kurve senkrecht ab und das Meer ist da. Sie muss nichts sagen, Paul hält gleich den Wagen an. Rasch steigen sie aus und gehen vorsichtig bis zum Abgrund, begleitet von motorloser Stille, die das Blätterrascheln der Olivenbäume und fernes Möwengeschrei hörbar macht.

Paul zeigt mit dem Finger. »Schau, mein Herz, da unten ist Cadaqués! Ist es nicht wunderhübsch?«

Das kleine Fischerdorf kauert mitsamt seinem winzigen Hafen in einer Bucht am Ende des Gebirgspasses. Das Weiß der Häuser reflektiert das Sonnenlicht so stark, dass Gala kaum hinsehen kann.

Sie hat sich bislang zurückgehalten, doch ganz will sie ihren Unmut über diesen Ort, der nichts mit der mondänen Côte d’Azur gemein hat, Paul gegenüber nicht verbergen. »Aus der Ferne sieht es zumindest noch ganz annehmlich aus.«

Paul sieht sie mit sorgenvoller Stirn an, begreift aber nichts. »Mein Kleines, verzeih mir. Du musst erschöpft sein. Bald sind wir da, dann kannst du dich ausruhen. Komm!« Sanft küsst er sie auf die Wange, umfasst dann ihren Arm und führt sie wieder zum Auto.

Das Wissen um die baldige Ankunft verkürzt die restliche Fahrt, einige steile Abwärtskurven später haben sie Cadaqués erreicht. Mit einem hat Paul recht, sie freut sich auf das Bett im Hotel. Doch bevor sie im Miramar einziehen, will er noch ihre Ankunft vermelden, also müssen sie zunächst das Haus des Künstlers finden.

Das Dorf, winziger noch als gedacht, beachtet sie bei ihrer Suche nicht im Geringsten. Es bereitet sich gerade auf die Siesta vor. Die Türen der kleinen Geschäfte werden abgesperrt, die Fensterläden geschlossen, und wer noch auf der Straße ist, macht sich eiligst auf den Weg ins Haus.

Welch ein Empfang.

Mit einem gewaltigen Satz springt das Kaninchen aus dem Unbewussten und schiebt sein Profil vor die Pupille. In allen Einzelheiten kann er es jetzt betrachten. Das vulvagleiche Ohr, die bebenden Schnurrhaare und den Papageienkopf, mit dem das Tier ein Auge teilt.

Dalí kennt dieses Bild bereits, doch es hat ihm noch nicht die Stelle preisgegeben, die es auf der Leinwand einnehmen muss, und so sitzt er in seinem Schlafzimmer seit Stunden bewegungslos vor der Staffelei und wartet auf sein erneutes Auftauchen, nackt, den Pinsel in der Hand.

Nun ist der Moment gekommen. Langsam schwebt der Kaninchenkopf fort und legt sich an den rechten Platz auf dem begonnenen Gemälde: den Wangenknochen seines schlafenden Selbstporträts.

Sofort beginnt er zu malen, den scharfen Geschmack im Mund, den keuchende Jagdhunde in dem Moment haben müssen, da sie ihre Zähne in das soeben mit einem wohlgezielten Schuss getötete Wild graben.

Seit seiner Rückkehr aus Paris bestürmen ihn beständig Bilder wie dieses, ziehen als endloser Reigen an seinen Augen vorbei. Es sind Fantasien und Erinnerungsfragmente seiner Kindheit. Bunte Sonnenschirme, von denen einer bereits, wie auch die Heuschrecke, den Weg auf die Leinwand gefunden hat, und kleine grüne Hirsche mit sienafarbenem Geweih: Abziehbilder, wie er sie mit seiner Mutter einst in ein Album geklebt hat. Alles andere ist dahinter zurückgetreten. Die Zeit auf dem Gymnasium, die Studentenjahre in Madrid, die Reisen nach Paris – sie erscheinen nun bedeutungslos.

Warum sein Geist sich wieder rückwärts wendet, nachdem er Paris für sich eingenommen und einen Vertrag mit dem Galeristen Camille Goemans geschlossen hat – dreitausend Franc und die Ausstellung aller Gemälde dieses Sommers –, weiß er nicht und muss es nicht wissen.

Dalí hat sich entschieden, die Erinnerungsbilder auf dem Gemälde, an dem er inzwischen seit Wochen arbeitet, so gut wie nur möglich abzubilden, und was die Komposition angeht, folgt er dabei niemals seinem eigenen Gusto, sondern nur dem Diktat der Dinge. Dieses Bild wird im authentischsten Sinne surreal werden. Goemans hat es bereits gesehen und haltlose Begeisterung gezeigt. Vor wenigen Tagen ist er gemeinsam mit Yvonne Bernard in Cadaqués eingetroffen, und auch René Magritte, dessen Debut der Galerist betreut, hat mit seiner Ehefrau Georgette den Weg hierhergefunden.

Er versucht ihnen ein guter Gastgeber zu sein, doch bis in die frühen Nachmittagsstunden darf der Tag nur ihm und seiner Arbeit gehören. Um möglichst wenig abgelenkt zu werden, hat Dalí die Staffelei direkt neben seinem Bett aufgestellt, er steht mit dem begonnenen Werk auf und nimmt es abends mit in den Schlaf. Im Traum stattet er ihm noch ein oder zwei Besuche ab, nur um am nächsten Morgen wieder angespannt davorzusitzen, auf seine Eingebungen zu warten und irgendwann endlich in die Leinwand zu stürzen.

Für den Moment ist es genug. Der scharfe Geschmack im Mund ist fort, das Kaninchen da. Die Höhen wird er nach dem Trocknen setzen. Wie immer, wenn die Bilderflut ihn für kurze Zeit freigibt, streicht jetzt Minerva ruhig und streng mit der kühlen Hand der Intelligenz über seine Stirn und erinnert ihn: »Zeit, schwimmen zu gehen.«

Bevor er dem Aufruf folgen kann, hört er Motorenlärm, der sich dem väterlichen Sommerhaus nähert. An der etwas außerhalb des Dorfes gelegenen Playa d’es Llaner kommen nicht viele Autos vorbei. Es muss Paul Éluard sein, seine Ankunft war für heute telegrafiert.

Goemans hat ihm den surrealistischen Dichter mit dem Hinweis, er sei ein wichtiger Mann, er kaufe Bilder, in einem Lokal vorgestellt. In Begleitung einer Freundin in schwarzen Pailletten trank Éluard still vor sich hin und schien ganz darin aufzugehen, sich die schönen Frauen anzuschauen, doch nach mehreren Flaschen Champagner wurde schließlich ein Besuchsversprechen gegeben.

Rasch streift Dalí Hemd und Hose über, greift im Vorübergehen die lange Kette mit den falschen Perlen und macht sich baren Fußes auf den Weg zur Begrüßung. Nur ein paar wenige Schritte hat er getan, da fühlt er wieder das Lachen in sich aufsteigen.

Neben dem Malen und der häufigen, beinahe zwanghaft gewordenen Masturbation ist es vor allem eines, mit dem er nach seiner Rückkehr in das Cadaqués seiner Kindheit beschäftigt ist: Er ist auf jede nur denkbare Weise bemüht, die Verrücktheit, die ganz offenbar das Haus seines Geistes beziehen will, willkommen zu heißen. Jedes Phänomen seiner zunehmenden psychischen Abnormität, begonnen mit der Halluzination einer Frau im Nachthemd, gibt ihm solche Befriedigung, dass er nicht mehr davon lassen mag, denn das Irrationale ist doch nichts anderes als die wahre Wirklichkeit hinter den Dingen. Als Künstler wird ihn das über alle anderen erheben.

Die Lachanfälle allerdings, die ihn oftmals überwältigen – ausgelöst von abstrusen Vorstellungen und ihrer Natur nach unkontrollierbar –, verursachen nicht nur grässliche Seitenstiche, sondern verunmöglichen ihm zunehmend die Teilnahme an geselligen Runden. Sobald er, wenn er etwas zum Gespräch beitragen will, den Mund öffnet, schüttelt es ihn wieder. Das Erstaunen, die Irritation, die peinliche Berührtheit auf den Gesichtern der anderen verstärken einen solchen Anfall nur. Inzwischen haben Goemans und Magritte sich damit abgefunden. »Frag nur Dalí nicht, was er dazu meint«, warnen sie die noch Unwissenden. »Sonst fängt er wieder an zu lachen und wir können uns auf gut zehn Minuten Wartezeit einstellen.« Sowieso hat er das Reden beinahe aufgegeben.

Nun geschieht es erneut zur unrechten Zeit; auf dem Weg zu einem weiteren Menschen, der nur wegen ihm nach Cadaqués, das schließlich in keinerlei Hinsicht den Komfort bietet, den man von einem Urlaubsort erwarten würde, gekommen ist. Er tut das einzig Mögliche: Er lässt dem Anfall freien Lauf.

Als er aus dem Haus tritt, bekommt das Feuer seines Gelächters unglücklicherweise weitere Nahrung. Sein Besuch hat halb Paris mitgebracht. Es befindet sich in mehreren monströsen Schrankkoffern, festgezurrt auf dem Dach des Wagens, und es liegt, wenn auch etwas aufgeweicht, in den blasierten Mienen seiner Insassen.

Beim Aussteigen weicht das Lächeln Éluards angesichts der Lachkrümmung seines Gegenübers der Verwirrung; der Ausdruck der Frau, über deren Ruch Goemans Dalí schon in Paris hinter vorgehaltener Hand aufgeklärt hat, ändert sich nicht. Ihr ebenso intelligentes wie stolzes Gesicht zeigt ausdauernden Unmut, gewiss darüber, hierher verschleppt worden zu sein. Sie erinnert Dalí an jemanden.

Éluard spricht zu ihm; er muss sich konzentrieren, den Sinn der Worte aufzunehmen. Er setzt ihn noch zusammen, als das Ehepaar schon wieder in das Auto steigt.

Nicht stören wolle man, was für ein Überfall, nur rasch die Ankunft melden, hocherfreut, und vielleicht um fünf Uhr ein Treffen im Hotel?

»Aber ja doch, ja!«, ruft Dalí dem Wagen zwischen zwei Lachern hinterher. Auf dem Weg ins Haus ebbt das Gelächter ab und eine Ahnung steigt in ihm auf: Die Frau, die soeben in Cadaqués eingetroffen ist, ist ein Ereignis.

So wie Gala aus ihrem Nickerchen ist auch das Dorf am späten Nachmittag wieder erwacht. Der Lebensmittelhändler preist erfolgreich seine Waren an, und in der Bäckerei und der kleinen Apotheke gehen die Menschen geschäftig ein und aus.

Schwarz gekleidet und bestrumpft plaudern Mütterchen auf dem Dorfplatz oder sitzen, Netze flickend, auf den niedrigen Steinmauern, während ihre Männer Stühle vor die Häuser stellen und in kleinen Grüppchen diskutieren und rauchen.

Eben haben die Magrittes, Goemans und seine Freundin Yvonne, die gemeinsam ein Apartment im Dorf bewohnen, die Éluards im Hotel abgeholt. Nun sitzen sie im Café auf dem Dorfplatz und nehmen im Schatten der Platanen einen Aperitif. Der katalanische Cava ist vorzüglich, und für einen Moment tut Gala nichts anderes als daran zu nippen und den Gesprächen zu lauschen.

Die beiden anderen Paare kennen sich schon länger, das ist offensichtlich. Die Frauen tauschen aus, was die jüngste Pariser Gerüchteküche hergibt, und berühren sich dabei oft an Händen oder Armen. Georgette Magritte, eine feingliedrige Rothaarige mit kornblumenblauen Augen, versucht Gala wiederholt in das Gespräch miteinzubeziehen, doch sie bleibt, wenngleich höflich, zurückhaltend. Gala ist nicht hier, um Freundinnen zu finden. Derlei liegt ihr grundsätzlich nicht.

In Paul ist derweil der Sammler erwacht. »Ich wäre sehr am Kauf einiger Bilder interessiert«, lässt er Magritte wissen, der einen vielsagenden Blick mit dem Mann wechselt, der nicht ganz sein Galerist ist.

Goemans wischt sich, scheinbar besorgt, mit der flachen Hand über das Gesicht. Dabei wechselt seine Mimik wie das Wetter im April. Den Schlusspunkt des Schauspiels setzt ein verschwörerisches Räuspern. »Nun, es wäre möglich, dass es ein wenig über meine tatsächlichen Befugnisse hinausgeht, doch ich denke, da wird sich etwas machen lassen.«

Paul ist jetzt Feuer und Flamme, Gala erkennt es an seinem durchgedrückten Rücken. »Meine Herren, Sie verzeihen sicher, wenn ich nicht ungern erführe, was hinter diesen Worten steckt.«

Man weiht ihn ein. Magritte ist noch in Brüssel bei dem Kunsthändler und Galeristen Paul-Gustave van Hecke unter Vertrag, doch für einige Werke hat Goemans sich vorab die Rechte gesichert.

»Aber«, so endet Goemans, »mein guter Freund hier ist auch jetzt noch bereit, mir das ein oder andere Werk, das ich zuvor, nun, übersehen habe, anzuvertrauen.«

Paul ist begeistert. Es kümmert ihn nicht, ob alles mit rechten Dingen zugeht, solange er nur seine Sammlung mit hoffnungsvollen Talenten aufstocken kann. Sie hat noch immer nicht wieder den Umfang erreicht, den sie hatte, bevor Paul sich im März 1924 in Luft auflöste. Zusammen mit siebzehntausend Franc aus der Geschäftskasse seines Vaters. Nach Tahiti hat er sich damals abgesetzt und Gala allein gelassen, mit Kind, ohne Geld. Vielleicht eine Flucht aus der Dreiecksbeziehung mit Max Ernst, die er zu Beginn doch so befürwortet hatte. Zu sehen, wie ihr dieser Mann immer wichtiger wurde, hat Paul wohl letztlich nicht ertragen.

Und dennoch hielt er es ohne sie nicht lange aus und gab ihr bald freie Hand, seine Schätze versteigern zu lassen, damit sie nachkommen konnte. Das tat sie, dachte im Gegensatz zu ihm aber auch daran, zuvor dem Schwiegervater seinen Verlust und auch alle anderen Schulden auszugleichen. Immerhin hat diese Episode es vermocht, sie beide für einige Zeit wieder zusammenzuschweißen. Für einige Zeit.

Das Kind, geht Gala plötzlich ein ungewohnter, wie eingeflüsterter Gedanke durch den Kopf, wo ist eigentlich das Kind? Aber Cécile ist nicht weit. Sie schaut zwei Jungen gebannt beim Diabolospielen zu. Sie ist genauso begeisterungsfähig wie ihr Vater und genauso wenig wie er in der Lage, ihren Gefühlszustand zu verbergen. Geschickt werfen die Kinder das Diabolo in die Luft, lassen es surren und fangen es auf. Schließlich reicht einer von ihnen Cécile das Spielgerät. Geduldig erklärt er ihr zunächst auf Spanisch, von dem sie kein Wort versteht, und schließlich mit Händen und Füßen, wie sie die Handstöcke führen muss.

Ob ihre Tochter es schafft, die Doppelkegel in der Luft rotieren zu lassen und wieder aufzufangen, bekommt Gala nicht mehr mit, denn in diesem Moment erscheint der Mann, auf den sie alle gewartet haben.

In seiner Staffage und mit seinem schmalen Schnurrbart wirkt Dalí wie ein knabenhafter Dandy. Seine braune Haut bildet einen starken Kontrast zu der engen weißen Hose und einem ebensolchen Seidenhemd mit Brustkrause, um die herum die Perlenkette, die er auch mittags schon getragen hat, mit großer Sorgfalt drapiert wurde. Das tiefschwarze Haar trieft vor Pomade. Nur in einem unterscheidet Dalí sich nicht von seinen Landsleuten: An den Füßen trägt er Bigatanes, schwarze Espadrilles mit Schnürbändern, die bis an die Waden hinaufreichen.

Aber auch der Eindruck eines Dandys täuscht, denn als er an den Tisch tritt, kann von formvollendeten Manieren keine Rede sein. »Dalí war in Paris«, sagt er und winkt die Bedienung herbei. »Jetzt ist kein Platz mehr in Europa für die manischen Rechteckchen von Monsieur Mondrian.« Dann bestellt er einen Pernod, setzt sich und sagt kein Wort mehr.

Gala sieht ihren Eindruck vom Morgen bestätigt. Für Dalís angebliches Genie hat sich bisher kein Hinweis gezeigt, der Wahnsinn allerdings hat gerade den nächsten Punkt gemacht. Sein Französisch immerhin ist einwandfrei, auch wenn das R wie Donner in seiner Kehle grollt.

»Gewiss, Sie haben großen Eindruck hinterlassen in Paris«, erwidert Goemans und wendet sich an die anderen. »Picasso hat sein Talent auch schon erkannt. Der übrigens hat womöglich schon am gleichen Tisch gesessen wie wir jetzt, er hat einen Sommer hier verbracht, bei Ramón Pichot. Wir haben ihn bloß um neunzehn Jahre verpasst.«

»Und den armen Pichot um vier, Gott hab ihn selig«, ergänzt Magritte.

Goemans nickt. »Picasso hat ihm seinen Tribut gezollt, indem er ihn in Die drei Tänzerinnen hineingemalt hat.«

»Da lohnt sich das Sterben ja schon fast«, sagt Yvonne und leert ihr Glas mit einem Zug.

Paul will etwas sagen, doch in diesem Moment setzt das Gelächter ein. Nun ist alle Aufmerksamkeit wieder bei Dalí. Gala wünscht sich augenblicklich fort aus dieser peinlichen Situation, doch alle Anwesenden nehmen den Vorfall erstaunlich gelassen.

»Was, um Himmels willen, hat er denn?«, wendet Paul sich flüsternd an Magritte.

»Ach, das hier ist noch gar nichts, da haben wir schon anderes erlebt. Immerhin sitzt er noch auf seinem Stuhl.«

Da Pauls Irritation nach wie vor auf seinem Gesicht abzulesen ist – auf Galas Gesicht würde, ließe sie es zu, wohl eher Abscheu erscheinen –, lässt Magritte etwas genant weitere Erklärungen folgen. »Unser Freund hat es uns unlängst erklärt. Er sieht in seiner Vorstellung Dinge. Dinge, die ihn zum Lachen bringen. Sein Lieblingsbild etwa ist eine kleine Holzeule, die auf den Köpfen der Leute sitzt. Und diese balanciert auf ihrem Kopf ein Stückchen, nun …«

»Kot«, springt seine Frau ein, als der Satz unvollendet bleibt.

»Aber meiner«, stößt Dalí mühsam hervor. »Es ist meine eigene Scheiße, versteht ihr?« Nun schüttelt es ihn wieder umso heftiger.

Gala ist entsetzt. Was für ein unerträglich anrüchiger Mensch dieser Mann ist!

Nach dem Essen macht die Gruppe einen Spaziergang durch das Dorf. Langsam, sehr langsam, bricht die Dämmerung herein und bringt eine angenehme Brise mit sich.

Dalís Anfall ist glücklicherweise vorüber, und in der Art, wie er sich mit Paul über dessen Gedichte unterhält, erkennt Gala nun plötzlich eine Gedankenschärfe, die sie bei ihm nicht erwartet hätte.

»Paul, um es zusammenzufassen: Ich glaube, Sie sind, wenn auch vielleicht mit weniger Glück, ein Dichter vom Schlage eines Lorca in seinen Anfängen, also einer von den großen und echten. Ich muss es wissen, denn kaum jemand kennt Lorca besser als ich.«

»Sie sind mit ihm befreundet?«, fragt Paul.

»Nicht mehr, nicht mehr. Aber ich habe ihn an der Academia de San Fernando in Madrid kennengelernt. Im Studentenwohnheim haben wir zeitweise ein Zimmer geteilt und auch zusammen gearbeitet. Für sein Stück Mariana Pineda habe ich das Bühnenbild und die Kostüme entworfen. In den Ferien war er oft hier zu Besuch.«

Gala fällt etwas ein. Mit raschem Schritt schließt sie auf. »Er hat eine Ode an Sie geschrieben, nicht wahr? Ich erinnere mich, Derartiges gelesen zu haben.«

Dalí wendet sich zu ihr, starrt sie an, Glut in den Augen. »Oui, Madame, zweifelsohne war er sehr verliebt in mich. Zeitweise glaubte ich, ihm etwas schuldig zu sein, doch ich habe seinen Avancen widerstanden.«

»Oh.« Rasch sucht Gala in Gedanken nach einem anderen Thema. »Ich hörte, Sie haben auch einen Film gemacht?«

»Aber ja, Un chien andalou, ja, ja.« Dalí rollt mit den Augen, dass dem aufscheinenden Genie der Wahnsinn wieder näher rückt. »Diesen Film habe ich dem intellektualisierten Paris mit der ganzen Realität des iberischen Dolches mitten ins Herz gestoßen, ha! Buñuel, der eigentlich bloß einen lächerlichen Film über die Herstellung einer Zeitung hat drehen wollen, füllte sich vor der Premiere die Hosentaschen mit Steinen, aus Angst vor dem Publikum. Gleich in der Eingangsszene wird nämlich einer jungen Frau das Auge mit einer Rasierklinge aufgeschlitzt. Doch das Publikum hat verstanden, dass es nicht nur um das Schockmoment ging, sondern dass mit der Gallerte auch das schändliche Zeug, das man abstrakte Kunst nennt, tödlich verwundet zu Boden fiel. Eine Dekade pseudointellektuellen Nachkriegsavantgardismus war endlich zunichtegemacht.«

Während Dalí noch weiter wie manisch von der Uraufführung am 6. Juni im Pariser Studio des Ursulines berichtet, bei der er selbst gar nicht zugegen war, bemerkt Gala, dass Paul, bewegt von seinem seltsamen Masochismus, sich unauffällig zurückfallen lässt, Cécile an die Hand nimmt und ein Gespräch mit Magritte beginnt.

Ihres mit Dalí endet so bald nicht, auch nicht, als es schließlich dunkel ist, sie sich an den Steinstrand setzen und den Leuchtfischerbooten zusehen, deren Lichtsignale wie glühende Nadeln immer wieder die vollkommene Schwärze der Nacht durchstechen.

Die Sonne hat ihr Tagwerk noch nicht begonnen. Während sie weiterhin im Meer ruht, ist Dalí bereits wach. Bevor die Helligkeit es konnte, hat innere Unruhe ihn geweckt. Die Arbeit an seinem Bild wird er heute eine Stunde eher als üblich abbrechen müssen, denn er hat sich mit seinen neuen Freunden zum Schwimmen verabredet. Besonders den Éluards gegenüber will er höflich sein, doch die anstehende Unterbrechung seiner Routine ärgert ihn.

Sobald das Licht ausreicht, setzt er sich vor die Staffelei, doch der Tag scheint ihm schon jetzt verdorben. Ob die Sonne sich durch eindringliche Beschwörung von ihrem weiteren Aufstieg abhalten lässt? Vergeblich. Schon bald regt sich alles wie gewohnt im gleißenden Frühmorgenlicht.

Unten hört Dalí die Faust des Dienstmädchens vor die verzogene Küchentür krachen, die sich anders nicht mehr öffnen lässt. Von draußen trägt der Wind zunächst das Bimmeln der vorbeiziehenden Schafherde herein, dann ihren berauschenden Geruch, dominiert von dem potenten Duft des Widders.

Zehn Minuten später hört er wie immer aus der anschwellenden Symphonie der Geräusche den charakteristischen Ruderschlag des Fischers Enrique heraus. Damit ist endgültig bestätigt, dass dieser Tag sich durch nichts von allen anderen zu unterscheiden versucht. Doch Dalí weiß: Etwas ist anders, und so will auch das Versenken in sein Gemälde nach wie vor nicht gelingen. Immer wieder findet er einen Grund, aufzustehen.

Vor dem Spiegel klippt er sich die Ohrringe seiner Schwester Ana María an. Sie kleiden ihn gut. Für die Éluards will er sich kunstvoll ausstaffieren. Haben sie gestern den dekadenten Epheben kennengelernt, sollen sie heute dem armen Künstler oder, besser noch, dem zerlumpten Ochsentreiber begegnen. Die Pomade wird er weglassen, zu seiner von unzähligen Sonnenstunden geschwärzten nackten Haut wird ihm zerzaustes Haar sehr viel besser stehen. Wenn er den Freunden dann noch mit Pinsel und Palette gegenübertritt, wird alles zusammen einen äußerst interessanten Eindruck machen.

Noch einmal setzt Dalí sich vor die Staffelei, doch schon Sekunden später springt er auf und reißt sich den Schmuck von den Ohren. So geht es nicht, die Ohrringe werden ihn doch beim Schwimmen stören!

Den Versuch zu malen muss er für heute aufgeben. Wie ein Stier wütet er durchs Zimmer. Wo ist die Schere? Wo sein bestes Hemd? Stoff fällt zu Boden.

Das Hemd ist jetzt so kurz, dass es nur noch bis zum Bauchnabel reicht. Das ist gut, aber noch nicht gut genug. Mit den Händen reißt er Löcher hinein: eines entblößt die rechte Mamille, eines die linke Schulter, eines die Haare auf der Brust. Es ist immer noch nicht genug. Der Kragen ist ein noch zu lösendes Problem. Offen oder geschlossen? – Welch profane Auswahl! Die Schere muss einen weiteren Dienst verrichten. Nun ist es gut. Zumindest oben herum.

Die Badehose ist zu modisch-elegant, aber das lässt sich nicht ändern. Oder doch? Rasch reißt Dalí sich die Hose herunter und dreht sie auf links. Innen ist sie mit Baumwolle gefüttert, auf der einige Rostflecken prangen, verursacht durch seinen Gürtel. Schon besser.

Mehr kann er nun im Grunde nicht tun, ein von Natur aus knappes Strandkostüm begrenzt sich schließlich selbst. Doch der Zustand kreativer Rage fühlt sich zu gut an, um jetzt aufzuhören.

Eine Rasur der Achseln bringt nicht das zuvor imaginierte, bläulich schimmernde Ergebnis, also holt er etwas Waschblau aus der Waschküche. Mit Pulver vermischt ergibt sich ein kräftiges Blau. Fasziniert betrachtet er seine Achseln, doch die Enttäuschung ist nicht weit. Schweiß lässt die ganze Pracht schon bald in traurigen Streifen an seinen Seiten hinunterlaufen. Nichts wie weg damit!

Als seine Haut auf das groblappige Reiben mit wütendem Rot reagiert, kommt Dalí eine neue Idee. Blut, geronnen, würde hervorragend zu seinen Achseln passen. So streicht er also das Rasiermesser erneut über die Haut, aber diesmal folgt Blut ihm auf dem Fuße. Endlich geronnen, tupft er es auf ausgewählte Stellen am ganzen Körper. Vor allem auf den Knien wirkt es perfekt, so sehr, dass er auch hier nicht widerstehen kann, sich einen kleinen Schnitt beizubringen. Zum Abschluss noch eine Geranie hinter das Ohr: Welch ein Meisterwerk!

Wenn er sich nun im Spiegel betrachtet, versteht er Narziss nur zu gut. Aber nicht nur sein Äußeres soll begehrenswert sein. Fragte man den Widder draußen, so würde er bestätigen, dass dem Geruch nicht mindere, vielleicht sogar größere Bedeutung beikommt. Doch wie gelangt man an den Duft eines Ziegenbocks, wenn man keiner ist?

Rasch zündet Dalí den Spirituskocher an, den er sonst für seine Radierungen benötigt. Er wird etwas Fischleim im kochenden Wasser auflösen und in der Zwischenzeit einige Handvoll von dem kürzlich erst gelieferten Ziegenmist holen, der hinter dem Haus lagert.

Nach einer Weile ergeben Leim und Mist eine gelierende Masse, deren würzig-scharfer Geruch das ganze Haus erfüllt. Eine halbe Flasche Lavendelöl vollbringt schließlich das Wunder. Es ist, als stünde der Widder nun direkt vor ihm!

Als die erkaltete Paste an seinem Körper klebt, ist Dalí endlich fertig. Die Glocke der Kirche Santa Maria bestätigt es, indem sie elf Uhr schlägt. Die Uhrzeit der Verabredung ist gekommen.

Er geht zum Fenster, die Freunde sind schon da. Sie ist schon da. Als er ihren nackten Rücken sieht, erkennt er sie sofort. An den knabenhaften Schulterblättern und Lenden, dem weiblichen Kreuz, der schmalen, das Gesäß betonenden Taille. Gala wirkt so athletisch undzugleich so zerbrechlich, so gespannt und so zart, so weiblich und so energisch. Sie ist es. Sie ist Galuschka Rediviva. Das russische Mädchen hat endlich leibhaftige Gestalt angenommen und ist zu ihm zurückgekehrt.

Hat er es nicht schon gestern geahnt, als sie miteinander sprachen? Und plötzlich begreift er, dass er sich nicht für die Freunde, nicht für das Ehepaar Éluard so aufgetakelt hat, sondern allein für sie. Das Ganze ist nichts anderes als ein Hochzeitsstaat. Die Selbstverliebtheit ist mit einem Mal fort, sein Anblick im Spiegel kommt ihm nun nur noch erbärmlich vor. So kann er nicht zu ihr gehen.

Es dauert eine halbe Stunde, bis er seinen Körper von dem Blut, der Paste und vor allem von dem Gestank befreit und frische Strandkleidung angelegt hat. Allein die Geranie, ein wenig in der Länge reduziert, und die Perlenkette dienen nun als Schmuck.

Als Dalí endlich das Haus verlässt, hat sich die innere Unruhe des frühen Morgens in Angst und Freude verwandelt, die sich in seinen Eingeweiden zu einem gewaltigen Orkan tiefer Bewegtheit verwirbeln. Denn es ist Neuland, das er jetzt betritt.

Die Strände in Cadaqués passen zu den Einheimischen. Kein feiner Sand, der sich bereitwillig an Touristenkörper schmiegt wie an den Stränden, die Gala gewohnt ist, findet sich hier, sondern nur flache Kiesel unterschiedlicher Größe. Die Jahrtausende haben ihre Oberfläche ein wenig glätten können, aber ihren Charakter nicht verändert.

In der Bucht ganz in der Nähe von Dalís Elternhaus haben die Besucher aus Paris unter wolkenlosem Himmel ihre Badetücher ausgebreitet, Paul und René haben sich lachend mit dem Sonnenschirm abgemüht, und sie alle sind schon im Wasser gewesen. Ihr Gastgeber ist unpünktlich, doch sie können sich ihre Zeit auch ohne seine Extravaganzen vertreiben.

Paul erzählt den Magrittes von seinem Vorhaben, sich von Dalí porträtieren zu lassen. Immer wieder findet sein Blick Galas Brüste und bleibt für einen Moment darauf liegen, bevor er wieder zu seinen Gesprächspartnern schweift. In Gedanken wird er – Gala kennt ihren Mann – bei der letzten Nacht sein, als er sie beim Liebesspiel immer wieder zärtlich drückte. Die beiden anderen Frauen haben sich in altmodisch züchtige Badebekleidung gezwängt, die Gala schon vor Jahren abgelegt hat. Auch mit fünfunddreißig Jahren ist ihr Körper noch straff und jugendlich, und sie zeigt ihn gern.