Gameshow – Das Versprechen von Glück - Franzi Kopka - E-Book

Gameshow – Das Versprechen von Glück E-Book

Franzi Kopka

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Beschreibung

Dieses Spiel kann niemand gewinnen.Cass hat die Wahrheit über die Gameshow erfahren und entscheidet sich, auf der Seite des Widerstands zu kämpfen. Doch der Plan, das perfide System der Gamemaster zu stürzen, ist mehr als riskant. Denn neben der ständigen Gefahr, entdeckt zu werden, erkennt Cass, dass auch außerhalb der Arenen verhängnisvolle Spiele gespielt werden. Und schon bald muss sie sich fragen, ob sie den richtigen Menschen vertraut.

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Franzi Kopka

Gameshow

Das Versprechen von Glück

 

 

Über dieses Buch

 

 

Dieses Spiel kann niemand gewinnen.

Cass hat die Wahrheit über die Gameshow erfahren und entscheidet sich, auf der Seite des Widerstands zu kämpfen. Doch der Plan, das perfide System der Gamemaster zu stürzen, ist mehr als riskant. Denn neben der ständigen Gefahr, entdeckt zu werden, erkennt Cass, dass auch außerhalb der Arenen verhängnisvolle Spiele gespielt werden. Und schon bald muss sie sich fragen, ob sie den richtigen Menschen vertraut.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Franzi Kopka wurde 1990 im bergischen Land als Tochter einer Buchhändlerin geboren. Dank der zahlreichen Romane im Haus ist sie mit der Frage »Was wäre wenn« aufgewachsen und hat schon früh damit angefangen, sich selbst Geschichten für ihre drei jüngeren Geschwister auszudenken. Die meisten Inspirationen begegnen ihr auf Reisen, vor allem in London, dem ihre große Liebe gilt und das das Setting ihres Debüts »Gameshow – Der Preis der Gier« ist.

Inhalt

[Widmung]

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Danksagung

[Triggerwarnung]

Für meine Schwester Charly, die mit ihrer Kreativität meine eigene zum Leuchten bringt.

Kapitel 1

Etwas stimmt nicht. Mein ganzer Körper bebt, als würde mich jemand schütteln. Ein Teil von mir weiß, dass ich bei den NoClans bin. Unser Anführender Flannery hat mir versprochen, mir die Wahrheit über die Gameshow und das Ziel der NoClans zu zeigen. Mit Hilfe eines Geräts, das sich Mnestikop nennt. Ein Mnestikop kann Gedächtnisimplantate mit Erinnerungen anreichern. Mit fremden Erinnerungen. Meine Freundin Sierra meinte, es würde nur etwas kribbeln. In Wahrheit fühlt es sich an, als würde ich innerlich zerreißen!

Ein Schrei hängt in meiner Kehle fest. Sie ist zu trocken, um einen Laut von sich zu geben, und dann ist da immer noch dieses Zittern. Warum hört es nicht endlich auf? Ich spüre etwas Feuchtes über meine Wangen rinnen, will die Augen öffnen, aber es reicht nur für ein verschleiertes Blinzeln. Bin ich … auf einer Krankenstation? Jemand steht neben meinem Bett. Ein Typ, der mich so sehr an Jax erinnert, dass der Schmerz unerträglich wird.

Das Beben wird noch heftiger, meine Welt verschwimmt in Dunkelheit. Endlich schafft es der Schrei aus meiner Kehle – und dann werde ich einfach mitgerissen. In eine fremde Erinnerung, die ich wieder und wieder durchleben muss:

 

Mein Name ist Drey. Es ist wichtig, dass mir das bewusst ist. Drey ist nicht mein wirklicher Name, nur mein Gamertag. Ich war Favorit seit meinen ersten Spielminuten, stolzer Siegender der 79. Gameshow. Jetzt bin ich Gejagter, zum Tode Verurteilter, Opfer eines Systems, das perfide wie genial ist. Ich hätte es ahnen können, wir alle hätten es ahnen können. Aber wir waren nur die Bauern auf einem Schachfeld, das von Gamemastern regiert wird, Bauern, die sich ihren Weg zur Niederlage voller Ehrgeiz erkämpft haben. Weil wir dachten, man würde unsere blutgetränkten Hände dort haben wollen, wo alles blütenweiß ist.

Die Schüsse hallen noch immer in meinem Kopf wider. Busy Bee hat nicht geschrien. Dieser Wichser hat ihr seinen Gewehrlauf gegen den Kopf gehämmert, ihre Haut ist aufgeplatzt, sie ist zu Boden gesunken. Benommen und außer Stande, zu verstehen, was gleich mit ihr passieren wird.

Einzig Ricky G. konnte ich die Erkenntnis von den Augen ablesen, bevor sie das Licht ausschalteten. Bevor sie mit ihrem gehässigen Grinsen hinter dem Visier dachten, es würde wie immer laufen. Siegende unter Drogen setzen, abknallen, Leichen fortschaffen, draußen weiter das Märchen vom glorreichen Aufstieg zu den Neutrals erzählen.

Aber sie haben die Rechnung nicht mit Ricky G. und mir gemacht. Wir haben heute nichts angerührt, nicht einmal ein Glas Wasser nach dem, was sie Sieg nennen. Wir waren bei vollem Verstand, und wir haben es kapiert. Kaum dass es dunkel war, stürzten wir nach vorn, entrissen unseren beiden Henkern die Gewehre. Wir konnten zu wenig sehen, um zu schießen, aber ich wusste, wonach ich suchen musste. Ich fand den kleinen Schlüssel am Gürtel der Wache, fand die Tür und das Schloss. Ich dachte nicht nach, ich rannte einfach.

Und ich renne immer noch. Einem Instinkt folgend sprinte ich zurück an die Stelle im Keller des Casinums, an der mich zum ersten Mal ein seltsames Gefühl beschlichen hat. Als würde am Ende der Reise nicht wirklich die Freiheit auf uns warten. Ich halte inne, mein Herz füllt jede Sekunde mit zu vielen Schlägen. Ricky G. ist nicht mehr hinter mir. Für Rücksichtnahme fehlt mir die Zeit.

Gehetzt sehe ich mich um. Der eine Weg führt zurück in die Hölle, aus der ich gerade geflohen bin, ein anderer zu der Party, auf der man so tut, als würde man uns feiern. Ich könnte dort oben erzählen, was gerade passiert ist, und hoffen, dass mir auch nur einer dieser reichen Gambler glaubt. Unwahrscheinlich. Denn das würde alles in Frage stellen, worauf sie ihr Leben lang vertraut haben.

Also bleibt mir nur Weg Nummer drei. Ich muss es nach draußen schaffen, raus aus dem Casinum, runter in die Stadt. Dort habe ich immer noch einflussreiche Freunde, die mir helfen werden, wenn sie die Wahrheit über die Gameshow erfahren. Helfen, diese ganze Scheiße auffliegen zu lassen.

Irgendwo hinter mir höre ich Stimmen. Weiter, Drey! Ich hetze durch die dunklen Gänge, als wäre ich wieder in einem Labyrinth, während in mir erste Ideen reifen. Fetzen eines Plans, der Potenzial hat.

Vor mir ist eine Tür. Ich sprinte darauf zu, drücke die Klinke und spüre, wie sie nachgibt. Lauwarme Sommerluft schlägt mir entgegen, Freiheit kitzelt in meinem Nacken. Ich weiß, wie trügerisch dieses Gefühl ist, denn noch bin ich nicht in Sicherheit. Ohne zurückzusehen, tauche ich in der Nacht unter.

 

Ich stehe am Fenster im Penthouse meiner alten Freundin Angelica. Es liegt im achtzehnten Stock eines Wolkenkratzers und wurde teuer eingerichtet. Unter mir pulsiert das Nachtleben New Londons. Schwer vorstellbar, dass ich erst vor zwei Stunden aus dem Casinum geflohen bin. Keine zwanzig Minuten später stand ich unter einer Luxusdusche mit Massagebrause, ein scharfer Kontrast zu meinen letzten Monaten als Gamer.

»Es ist gut, dass du zu uns gekommen bist«, höre ich Vincent hinter mir sagen. Er hat sich neben Robert auf die Couch gesetzt, bewaffnet mit Whiskey und Zweifeln. Letztere sind sogar in der Spiegelung des Panoramafensters zu erkennen.

»Dein Plan wird jedoch nicht funktionieren«, wirft Robert ein. Er hat die Arme über dem dicken Bauch verschränkt, die bleiche, ohnehin faltige Stirn tief gerunzelt. »Niemand würde sich auf eine solche Torheit einlassen.«

Ich rühre in meinem Martini. »Und wenn ich selbst gehe?« Ich muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass mich meine Freunde belächeln. Vor meiner Degradierung war ich genau wie sie. Ein Gambler, der das Leben in der purpurnen Zone genießt, geschickte Wetten platziert und in Gamern unterhaltsame Spielfiguren sieht. Bis mich die Gier, immer noch mehr Coins anzusammeln, eingeholt hat.

Inzwischen weiß ich, wie es sich anfühlt, ein Gamer zu sein und ums Überleben kämpfen zu müssen – während meine Freunde noch immer auf ihrem purpurnen Thron sitzen.

»Du willst freiwillig zurück in die rote Zone?« In Vincents Frage schwingt Ungläubigkeit mit. »Bist du noch bei Sinnen, Drey?«

»Drey.« Robert lacht brüchig. »Wollen wir ihn wirklich weiter so nennen? Ich finde, er sollte sich einen Namen suchen, der zu einem Gambler passt. Denn du gehörst zu uns, mein alter Freund.«

Ich gehöre nicht mehr zu ihnen, denke ich, ich gehöre zu den Neutrals. Genau wie alle anderen Siegenden der Gameshows, die sich ihren verfluchten Platz in der weißen Zone erkämpft haben. Es fällt mir schwer, meine Wut runterzuschlucken, aber ich muss ruhig bleiben, wenn ich ihre Hilfe will.

»Das mag sein«, lenke ich ein, »allerdings kann ich nicht mit ansehen, wie sie Jahr für Jahr Menschen abschlachten, die sich einfach nur nach Freiheit sehnen.«

»Okay, mein Lieber.« Räuspernd beugt sich Vincent vor. »Lass mich noch einmal zusammenfassen: Du möchtest zurück in die rote Zone, mit einer neuen Identität und ohne diesen … wie heißt das Ding noch mal?«

»Tracker«, sage ich nüchtern, während ich zu meinem Handgelenk blinzle. Es ist nackt. Ein seltsames Gefühl, nachdem ich monatelang den Tracker tragen musste, der allen Gamern verpasst wird. Um unseren Standort zu überwachen, unseren Punktestand zu zeigen und uns mit unsanften Stromstößen daran zu erinnern, dass ein Game ansteht.

»Tracker, richtig«, sagt Vincent. »Und dann willst du einen geheimen Clan aufbauen –«

»Keinen Clan. Deshalb ja der Name. NoClans.« Ich weiß selbst, wie unsinnig es klingt, aber man gewöhnt sich an den Namen. Eine kleine Spitze gegen die ach so tollen Clans, die uns von den Gamemastern als Familien verkauft werden. Noch so eine Lüge der Regierung.

»Okay, du möchtest also im Untergrund diese NoClans aufbauen, eine Art Widerstand, der dir in einigen Jahren dabei helfen soll, New London zu revolutionieren. Angefangen mit –«

»Meine Güte, Vince, du lässt es ja klingen, als wäre das eine gute Idee!«, geht Robert polternd dazwischen. »Ohne lizensierte Unterkunft werdet ihr vollkommen schutzlos sein. Ihr werdet wie die Ratten auf der Straße leben, und die Nahrung, die wir euch schicken, wird verderben, weil ihr sie nicht lagern könnt.«

»Ihr seid also immer noch dieselben alten, engstirnigen Narren.« Angelicas glockenhelle Stimme lässt mich herumfahren. Die Herrin des Hauses steht im Türrahmen, dunkelbraunes Haar, das enge purpurne Kleid, mit dem sie vorhin noch auf einer Wettgala war. »Unser Freund wird sicherlich nicht wie eine Ratte hausen.«

»Ach, und wie genau stellst du dir sein Leben sonst vor?«, höhnt Robert.

»Es gibt einen alten, unterirdischen Komplex, den wir zwar erst mal auf Vordermann bringen müssten, aber der genug Platz für eine solche Widerstandsgruppe bietet. Mit allem nötigen Komfort. Und unser lieber Freund hier wird diese NoClans anführen und sie trainieren. So lange, so hart und so geduldig, bis es einige von ihnen in die Gameshow schaffen. Und während diese Auserwählten die Gameshow bestreiten, werden die restlichen NoClans die rote Zone verlassen und sich unter die Zuschauenden mischen. Sie werden der Parade bis zum Casinum folgen, und wenn die Siegenden anfangen, ihre eigene Hinrichtung live zu übertragen, werden sie dafür sorgen, dass alle mitbekommen, was den Siegenden der berühmten Gameshow wirklich geschieht, wenn sie angeblich in die weiße Zone gebracht werden. Die Menschen werden verstehen, dass diese Gamer nie eine echte Chance auf Freiheit hatten. Sie werden bereit sein, sich den Gamemastern zu widersetzen. Dieses Momentum wird unser Freund – Flannery – nutzen. Er wird sich Zugang zum Casinum verschaffen, begleitet von seinen besten Leuten, um die Gamemaster zusammenzutreiben und von gewissen Regeländerungen zu überzeugen.«

Ich liebe es, wie Angelica meinen Plan nachzeichnet, ganz ohne Hohn, ohne Zweifel.

»Flannery?«, wiederhole ich schmunzelnd. »Der Name gefällt mir.«

Sie erwidert mein Lächeln mit Sonnenwärme, die mich an eine andere Frau erinnert … Schnell stürze ich den Martini runter, bevor mich ihr Bild einholen kann, verbunden mit dem Schmerz, den ich so lange erfolgreich verdrängt habe.

»Mir auch«, sagt Angelica.

»Seid ihr wirklich so naiv, oder tut ihr nur so?« Robert plustert die bleichen Wangen auf, bis er wie eine Karikatur seiner selbst wirkt. »Eure blühende Phantasie in allen Ehren, aber wie zur Hölle soll ich eine ganze Armee durch den Zaun schleusen? Ich k-«

»Jetzt halt mal die Luft an, Robert«, schneidet ihm Angelica das Wort ab. »Wir wissen alle, wie viel du als Leitender der Zaungarde zu sagen hast. Also tu nicht so, als wäre ein Wunder notwendig. Und wir sprechen hier nicht von Heerscharen, sondern von einer ausgewählten Gruppe, die sich unbemerkt unters Volk mischen kann.«

Vincent räuspert sich. »Vielleicht habe ich noch eine bessere Idee.«

»Schieß los.«

»Nun«, er fährt über den Rand seines Whiskeyglases, »erinnert ihr euch noch an das alte U-Bahn-Netz? Es machen immer mal wieder Gerüchte die Runde, es gäbe noch einen Zugang, den man damals übersehen hat. Wenn wir ihn finden, könnten wir eine direkte Verbindung in die rote Zone freischlagen.«

»Ist das dein Ernst, Vince?«, fragt Robert genervt. »Und wie stellst du dir das vor? Wir schleusen einfach ein paar Presslufthammer in die rote Zone und hoffen, dass die Catcher den Krach nicht mitbekommen?«

Vincent sucht meinen Blick. »Der Tunnel wäre eure beste Chance, Drey. Ihr wärt nicht auf das gönnerische Wohlwollen eines überheblichen Gardeleitenden angewiesen und –«

»Es reicht.« Dieses Mal ist es Angelica, die Vincent unterbricht. »Danke für dein Engagement, aber Robert hat recht. Selbst wenn diese Gerüchte wahr wären, ist es zu riskant. Und viel zu aufwendig.«

»Ach? Riskanter als ein Loch in einem schwer bewachten Elektrozaun, über den nicht einmal der Leitende selbst Kontrolle hat?«, fragt Vincent. Sein Unterton ist stichelnd und trifft geradewegs Roberts wunden Punkt: seinen Stolz.

Robert lässt die verschränkten Arme sinken und springt auf. »Zweifelst du etwa an meinem Einfluss? Ich habe die volle Kontrolle über alles, was an diesem Zaun passiert!«

»Das heißt, deine Garde wäre doch eine Option?«, streut Angelica Salz in die Wunde.

»Vielleicht.« Knurrend geht Robert zur Anrichte und schenkt sich selbst Whiskey ein. »Wenn es wirklich nur eine ausgewählte Gruppe ist … Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich warne euch. Wenn ich durch eure kleine Revolution auch nur den geringsten Coin verliere, bringe ich euch eigenhändig um.«

Wir wissen, dass er es ernst meint, und trotzdem wird mein Lächeln breiter. »Keine Sorge, mein Guter. Ich dachte an ein System wie in der Schweiz. Berufsgamer, keine Zwangswetten, hohe Gewinnchancen für alle, die weiter mitmachen wollen. Also kein Verlust für dich. Was ist mit dir, Vince?« Es braucht nur einen Blickwechsel mit Vincent, um zu wissen, dass er ebenfalls helfen wird.

»Sehr schön«, spricht Angelica meine Gedanken aus. »Nur eine Sache noch.« Sie kommt zu mir, bis sie so nahe ist, dass ich ihr blumiges Parfüm riechen kann. Sie streicht mir eine der zu langen Haarsträhnen aus der Stirn. »Bevor wir dich zurückschicken, müssen wir dein Gesicht verändern. Und ich kenne da jemanden mit besonderer Expertise.« Sie beugt sich vor, um mir einen Kuss auf die Wangen zu hauchen.

Ich drehe mich wieder zum Fenster und mustere mein eigenes Spiegelbild, den Drey, der sich in meinem Geist zu verändern beginnt. Mein Mund wird etwas breiter, die Lippen selbst schmaler. Meine Wangenknochen treten unter der dunkelbraunen Haut markant hervor, meine Augenform wird gerader. Am Ende behalte ich neben meinen eisblauen Iriden nur das graue, zerzauste Haar, das mir den Anschein einer gealterten Legende verleiht. Einer Legende mit der Macht, ein ganzes System zu revolutionieren.

Kapitel 2

Dunkelheit.

Ein Flüstern.

Drey hat die Gameshow gewonnen.

Schmerzen.

Flannery ist Drey.

Flüssiges Feuer in meinen Adern. In meinem Kopf.

Ernste Worte, leise gemurmelt.

Die Gameshow, die nur eine Lüge ist.

Und wenn es die weiße Zone gar nicht gibt?

Ein weiterer Gedanke, der mir entgleitet. Ich sehe ihm nach, lasse ihn ziehen, bis er in der Finsternis verschwindet.

Etwas Neues blitzt auf.

Lebe ich noch? Das Feuer fließt weiter durch meinen Körper, der sich bleischwer anfühlt. Zu schwer, um ihn zu bewegen.

Und was ist mit meinem Verstand?

Gehören meine Gedanken wieder mir?

Oder bin ich immer noch in Flannerys Erinnerung?

Wie viel Uhr ist es überhaupt? Welcher Tag?

Dunkelheit.

Stille.

Liege ich in einem Krankenbett?

Noch ein Flüstern.

Frostige Kälte greift nach dem Feuer. Mit jedem Atemzug ebbt das Brennen in mir ab, zerstreut die Fetzen, die zusammenhanglos durch meinen Geist streifen.

»Sie wacht auf.«

Es sind die ersten Worte, die nicht nur in meinem Kopf existieren. Und diese Stimme … ich kenne sie aus … dem Bunker. Sie gehört der Frau, die mich nach meiner Degradierung zur Gamerin aufgenommen hat. Die mir geholfen hat, die ersten Spiele lebendig zu überstehen.

Yuna.

»Ihr Puls steigt!«

Und wer war das?

»Mince alors, würdest du dein Hirn ein bisschen anstrengen, wüsstest du, dass das normal ist.«

Noch sind meine Lider zu schwer, um sie zu öffnen, weshalb ich es mit dem Mund versuche. Es fühlt sich an, als wären meine Lippen aus Sandpapier, genau wie meine Kehle, aus der nur ein kratziger Laut dringt.

»Mach dich nützlich, Junge, sie braucht Wasser.«

Ein Tropfen fällt auf mein Gesicht, eiskalt, erfrischend. Ich zucke zusammen, dann hebe ich instinktiv die Hände und umfasse die Finger, die mir eine Tasse an den Mund halten.

»Endlich ein bisschen Zärtlichkeit«, feixt jemand.

Und das ist eindeutig Enzo.

»Wir sollten sie aufsetzen, bevor sie sich verschluckt.«

Jemand greift mir unter die Arme. Widerwillig lasse ich von der Tasse in Enzos Händen ab und starte einen neuen Versuch, meine Lider zu heben.

»Christoph, auf deiner Seite müsste ein Knopf für das Kopfteil sein.«

Ich werde aufgerichtet, etwas surrt, dann habe ich Halt im Rücken und bekomme das Wasser zurück. Mit jedem Blinzeln erkenne ich Schemen um mich herum, getaucht in diffuses Nachtlicht. Ich bin auf der Krankenstation der NoClans.

Enzo steht über mich gebeugt da, ein schiefes Grinsen im Gesicht. »Schön, dass du zurück bist, Süße.« Dann streicht er mir über die Schläfe, sein Grinsen bröckelt. »Ich hatte echt eine Scheißangst um dich.«

»Jetzt mach schon Platz, Junge.«

Mit einem Stock wird Enzo zur Seite geschoben. Sofort schießen mir Tränen in die Augen, brennend, als wären kleine Sandkörner in ihnen. »Yuna.«

Wie lange ist es her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben? Zwei, drei Monate? Es kommt mir vor, als wäre sie seitdem noch stärker gealtert. Ihre milchigen Augen liegen voll Skepsis in einem zerfurchten Gesicht, die Falten an ihren blassen Händen sind tiefer geworden. Oder habe ich mich nur an den Anblick von Flannery gewöhnt, der sein Alter besser zu verstecken weiß?

»Ich bin hier, Liebes.« Yuna nimmt mir die Tasse ab und zieht mich in eine kräftige Umarmung.

Schwach klammere ich mich an Yuna fest, auf meinen Lippen ein Wimmern, begleitet von den Tränen, die in dem Stoff auf ihrer Schulter versiegen. Es fühlt sich real an, und trotzdem kann es nicht echt sein. Ich bin auf der Krankenstation der NoClans, Yuna gehört nicht hierher. Oder doch? Der bloße Versuch, eine klare Erinnerung zu fassen zu bekommen, jagt einen stechenden Schmerz durch meinen Hinterkopf.

Zischend lockere ich meinen Griff.

»Mince alors, Mädchen, was hast du dir nur dabei gedacht, dir von einem Medi ein Mnestikop an dein Köpfchen halten zu lassen? Du hättest sterben können!« Yunas Skepsis weicht einer Besorgnis, über die nicht einmal ihr grimmiges Lächeln hinwegtäuschen kann. »Ich bin froh, dass du überlebt hast. Aber mach nie wieder so einen Mist, hast du gehört? Der arme Christoph war kurz vor einem Herzinfarkt, als uns deine Freundin diese Nachricht geschickt hat.«

»Yuna auch«, krächzt es von der anderen Seite.

Ich drehe meinen Kopf etwas zu schnell, so dass der Schwindel Funken vor meinen Augen tanzen lässt, kleine goldene Sterne, die ein weiteres vertrautes Gesicht umspielen.

Christoph greift lächelnd nach meiner Hand und drückt sie so fest, bis es schmerzt. Dann sehe ich den Schlauch, der sich von meiner Armbeuge zu einem Tropf schlängelt. Auf dem Tisch neben Christoph liegen ein Pager und eine leere Spritze, dahinter zeichnet ein Gerät meinen Puls auf, ein monotones Piepen, das immer schneller wird. Welcher Tag ist heute, wie lange liege ich hier schon?

»Versuch dich zu entspannen, Liebes.« Yuna nimmt meine andere Hand. »Sierra, weißt du, ob dein Hacker-Freund das Notsignal unterdrückt hat? Wir sollten nicht riskieren, dass euer Medi gleich hier auftaucht.«

»Längst erledigt.« Sierra schält sich aus dem Schatten des Vorhangs, der uns ein Mindestmaß an Privatsphäre gewährt. Jetzt steht sie am Fußende meines Bettes, und selbst durch den Tränenschleier erkenne ich, wie atemberaubend sie aussieht. Das Leuchten ihrer tätowierten Sommersprossen, die geflochtenen Haare über der Schulter. Sie trägt die weiße Kleidung einer Pflegenden. Ich wusste zwar, dass Sierra hin und wieder auf der Station aushilft, aber dass sie sogar in der Nachtschicht arbeitet, ist neu.

Anstatt mehr zu sagen, lächelt sie mir auf eine Weise zu, die sagt: »Ich bin da, wenn du etwas brauchst.«

Das Piepen der Messgeräte will trotzdem nicht ruhiger werden. Es gibt zu viele Lücken in meinem Gedächtnis. Warum sind Christoph und Yuna hier und nicht in ihrem Bunker? Und warum möchte Yuna verhindern, dass Tyson herkommt? Oder meint sie einen anderen Medi?

Das Letzte, woran ich mich noch erinnern kann, ist mein Besuch in Flannerys Büro. Er hat mich eine seiner Erinnerungen durchleben lassen, so oft, bis jedes Detail hängengeblieben ist. Ich stand in seinem Körper auf dem Paradewagen, ich habe mitbekommen, wie sie ihn töten wollten, und ich habe die Verbündeten der NoClans kennengelernt: Vincent, Robert und Angelica. Das sind Flannerys Kontakte jenseits der Zäune. Drei einflussreiche Purpurne, die ihm geholfen haben, all das hier aufzubauen. Mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen.

Weil unsere Gamemaster verlogene Arschlöcher sind.

Weil die weiße Zone nicht existiert. Zumindest nicht für Leute wie mich.

Und wenn sie gar nicht existiert? Wenn meine Freundinnen Eliza und Amanda längst …?

Stopp!, bremse ich mich selbst. Wenn ich diesen Gedanken zulasse, weiß ich, dass ich zerbrechen werde.

Außerdem habe ich gespürt, dass Flannery an die Neutrals glaubt, und an genau diesem Gefühl halte ich mich fest. Klammere mich daran wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz.

Der Schmerz in meinem Kopf schwillt an.

Ob meine Freundinnen wissen, dass ich es niemals zu ihnen schaffen werde? Eliza und Am sind intelligent, aufmerksam. Sie müssen bemerkt haben, dass in der weißen Zone keine ehemalige Gamer leben. Nur ein paar Werbefiguren, die jedes Jahr im Fernsehen auftreten, um diese ganze Lüge zu verkaufen. Wie Percival oder Caroline.

Du vergisst da etwas, Cass, wispert eine Stimme in mir. Eliza und Am wissen nicht, dass du zur Gamerin degradiert wurdest. Sie wissen nicht, dass dich dein eigener Vater um deine Coins betrogen hat …

»Langsam atmen, Kleines. Ein … und wieder aus …«, ermahnt mich Yuna. Sie streckt die freie Hand nach mir aus und streicht über meine Wange. »Es ist alles in Ordnung, Cass. Du bist in Sicherheit.«

»In Sicherheit.« In meiner Kehle kratzt ein Lachen. Mit jedem kurzen Atemzug kommen die Bilder zurück. Von der 84. Gameshow, unserer verlorenen Wette, von dem Moment, in dem Luther auf mich zu stürmt, mich mit der Faust zu Boden schlägt und mir auch noch mein letztes klägliches Guthaben stiehlt. Ich erinnere mich an die Spuckefäden in seinen Bartstoppeln, an sein Versprechen, mich freizukaufen. Mein Chip, der blutrot wird, und die Wachen, die mich abführen.

»Hier, Süße.« Enzos Augen geben mir einen Anker in der Gegenwart. Er hält mir den Becher an die Lippen.

Meine Schlucke sind größer, gieriger. In wenigen Zügen habe ich das Wasser geleert, und die Schatten, die Luther auf meiner Seele hinterlassen hat, werden blasser.

»So ist es richtig. Immer schön atmen.« Yuna tätschelt meinen Handrücken.

Ich blinzle runter zu meinem Handgelenk. Nackt. Kein Tracker, nur die feinen Narben von meinem damaligen Versuch, ihn selbst loszuwerden. Jetzt ist er einfach weg.

»Wo ist er?«, frage ich irritiert.

»Herzlich willkommen unter den offiziell Toten«, feixt Enzo. »Unser begnadeter Kumpel hat ihn dir abgenommen. Wäre schließlich schwer geworden, dich in diesem Zustand durch irgendein Game zu schleifen. Wobei ich dich jederzeit Huckepack getragen hätte.« Enzos Grinsen verrät, dass er es sich gerade bildlich ausmalt. »Warte, hast du eben die Augen verdreht?«

»Du bist immer noch derselbe Mistkerl«, raune ich.

»Und dafür liebst du mich.«

»Wie einen kleinen Bruder, der immer das letzte Stück Kuchen klaut.«

»Also innigst.«

Ich lächle schwach. »Verratet ihr mir jetzt endlich, was passiert ist? Und warum seid ihr überhaupt hier? Hat Flannery euch bei den NoClans aufgenommen oder –«

»Er weiß nicht, dass deine Freunde hier sind.« Blizz schiebt sich durch den Vorhang und bleibt neben Sierra stehen. »Wir haben sie reingeschmuggelt, nachdem Yuna äußerst vehement darauf bestanden hat, dich sehen zu dürfen.«

Yuna schnaubt. »Das ist ja wohl das Mindeste, nachdem euer Anführender sie mit seinen Erinnerungen ins Koma katapultiert hat.«

Ich sehe, dass Blizz antwortet, aber ich höre nicht mehr hin. Denn als er Sierra seinen Arm in die Taille legt, wird mir schmerzlich klar: All meine Freunde sind hier, außer … Jax.

Warum sollte er auch hier sein?, spöttelt die innere Stimme, die es liebt, mich in den Abgrund zu stoßen. Du hast ihn monatelang belogen, und jetzt, da er die Wahrheit kennt, gibt es keinen Grund mehr, mit dir zusammen zu sein.

Es tut verflucht weh, denn die Stimme hat recht. Wird man zum Gamer degradiert, werden einem alle Erinnerungen an geliebte Menschen genommen – theoretisch. Bei mir hat der Reset nicht funktioniert. Ich weiß noch jedes Detail, und dank Yuna ist mir bewusst, wie gefährlich das ist. Finden die Catcher heraus, dass man sich erinnert, löschen sie einen endgültig aus. Deshalb habe ich es vor allen geheim gehalten.

»Oh, Liebes.« Yuna wischt mit ihrem Daumen die Tränen von meiner Wange. Dann zieht sie sich ein Stück zurück, damit Blizz mich umarmen kann.

»Du hast uns echt einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als du in Flannerys Büro den Aufstand geprobt hast.«

Ich atme tief durch. Zumindest versuche ich es, denn seit sich Jax in meine Gedanken gestohlen hat, fühlt sich meine Brust noch enger an.

»Was für einen Aufstand?«, frage ich heiser. »Ich habe … keine Ahnung, was passiert ist.«

»Kein Wunder.« Yuna lässt sich auf den Stuhl sinken, der neben meinem Bett steht. »Ich will gar nicht wissen, was diese kleine Behandlung mit deinem Kopf angestellt hat.«

»Wir wussten nicht, dass ihr Implantat Probleme machen würde«, mischt sich Sierra ein. »Es tut uns leid, Cass. Kurz nachdem dir Tyson Flannerys Erinnerung übermittelt hat, hast du angefangen, um dich zu schlagen. Dein ganzer Körper hat gebebt, du hast geschrien, getreten, wir hatten keine Chance, dich davon abzuhalten –«

»Um an der Stelle einzuhaken: Als Gruppenleitender muss ich sagen, du hast dir einen echt kräftigen Schlag angeeignet.« Blizz schiebt sein T-Shirt hoch, um mir den verblassten Schatten eines blauen Flecks zu zeigen. »Respekt.«

»Warte, das war ich?!«

»Mit überraschender Präzision.«

Seufzend schiebt Sierra ihren Freund zur Seite. »Während wir versucht haben, dich festzuhalten, hat dir Tyson ein Beruhigungsmittel verabreicht«, erklärt sie weiter. »Danach warst du klar genug, um Flannerys Angebot zu akzeptieren. Die volle Unterstützung unserer Pläne gegen das Ende deiner Probezeit bei den NoClans. Du bekommst ein richtiges Quartier, die Regeln werden gelockert, und sowohl Yuna als auch Christoph dürfen hier einziehen. Sobald die Räume im Westflügel fertig ausgebaut wurden.«

Mit jedem Wort sickert die Erinnerung zurück in mein müdes Hirn. Der kleine Moment, in dem ich klar genug war, um Flannery in seinem Büro anzubrüllen:

»Aber … Aber die weiße Zone ist unsere ganze Motivation!«

»Cass.« Flannery fängt meinen verzweifelten Blick ein. »Um jemanden zu motivieren, musst du nicht jedes Versprechen halten. Sie müssen nur glauben, dass du es tust.«

Ein Schlag in die Magengrube, Übelkeit, Erkenntnis.

»Also, Cass, was sagst du? Wirst du mit uns gemeinsam für ein New London kämpfen, in dem jeder die Freiheit bekommt, die er verdient, oder möchtest du lieber vergessen?«

Flannery hält es für eine Wahl, ich weiß es besser. Noch eine falsche Berührung mit dem Mnestikop, und ich sterbe. »Ich nehme die rote Pille.« Eine Anspielung auf Elizas Lieblingsfilm.

»Und das heißt?«

»Zwei Zimmer für meine Freunde, mehr Rechte für mich.«

Flannery lächelt. »Sehr gerne.«

Wir schütteln Hände.

Ich drifte ab.

»Leider hast du direkt danach wieder um dich geschlagen«, erzählt Sierra weiter. »Wir haben alles getan, um dir die Schmerzen zu nehmen und dein Implantat zu stabilisieren. Dafür war es notwendig, dich in ein … künstliches Koma zu versetzen.«

Mir wird flau. »Koma? Wie lange?«

»Zwei Wochen«, antwortet Yuna. »Als wir nach den Westlands nichts mehr von dir gehört haben, waren Christoph und ich krank vor Sorge. Bis sich Sierra über deinen Pager gemeldet hat. Sie ist ein wahrer Schatz.«

Zwei Wochen. Kürzer, als ich befürchtet habe.

»Ich bin sicher, dass du noch hundert Fragen hast«, sagt Sierra. »Allerdings ist in einer knappen Stunde Schichtwechsel, und das heißt, wir müssen Yuna und Christoph vorher hier rausschaffen. Noch sind die beiden keine NoClans und dürften entsprechend nicht hier sein.«

»Lächerliche Regeln«, schnaubt Yuna.

Wären Christoph die Stimmbänder nicht durch seinen ehemaligen Clan verätzt worden, hätte er sicher einen bissigen Kommentar abgegeben. So nickt er nur augenrollend.

Sierra hat recht. Ich habe Hunderte Fragen. Über Flannery und sein Leben als Drey, wie genau er New London befreien will, und welche Rolle ich in dieser ganzen Sache spielen soll. Die Fragen glühen auf meiner Zunge, aber ein Wunsch flammt noch heißer: die Zeit mit Yuna und Christoph zu nutzen und ihnen irgendwie beizubringen, welche bitteren Erkenntnisse in der roten Pille enthalten waren.

»Jungs?« Als hätte Sierra meine Gedanken gelesen, nickt sie Richtung Vorhang. »Lassen wir die drei noch einen Moment alleine.«

Dann sind wirklich nur noch Yuna, Christoph und ich übrig.

Wie fängt man so ein Gespräch an? Wie soll ich den beiden erklären, dass all die Gamerinnen tot sind, denen sie jahrelang zum vermeintlichen Sieg verholfen haben?

»Wie geht es dir, Cass?« Yuna rafft sich von dem Stuhl auf, um sich direkt neben mich auf die Bettkante zu hieven.

»Beschissen«, antworte ich ehrlich. Kurz überlege ich, so zu tun, als wäre alles wie bei unserem letzten Treffen, aber sie haben die Wahrheit verdient. »Es gibt da etwas, was ich euch sagen muss. Über die … Gameshow.« Meine Worte stolpern.

»Musst du nicht. Sierra hat uns bereits eingeweiht, und es gibt keinen Grund, es noch mal auszusprechen«, erwidert Yuna. »Ich behaupte nicht, dass wir die Nachricht besonders gut aufgefasst hätten. Oder dass ich diesen Dreckssäcken von Gamemastern nicht am liebsten eine Kugel verpassen würde – angefangen mit meinem Ex-Mann Shadrick. Aber das würde uns Rain und die anderen Mädchen auch nicht zurückbringen. Wir … kommen schon klar.«

Christoph schiebt mir sein Tablet rüber, darauf die Worte: »Wir sind einfach froh, dich wiederzusehen.«

Mit einem Mal habe ich das dringende Bedürfnis, mich in ihren Armen zu vergraben und alles rauszulassen, was mich in den letzten Monaten gequält hat. Ich muss es nicht aussprechen. Die Tränen, die sich anbahnen, reichen. Yuna rutscht näher an mich ran, Christoph setzt sich auf die andere Seite, so dass ich meinen Kopf an seine Schulter lehnen kann. Ich weiß, dass Yuna mich anlügt. Sie kommen nicht klar, wie sollten sie auch? Nicht einmal eine starke Seele wie ihre kann einfach so wegstecken, dass ihre Schützlinge nie in der weißen Zone angekommen sind.

»Wie es aussieht, kümmern sich die NoClans gut um dich«, lenkt Yuna ab, und ich lasse sie. »Du hast zugenommen.« Sie kneift mir in die Wange, und ich mime ein Lächeln. »Kein Wunder bei diesem ganzen Mist, den sie dir hier schenken. Schokolade, Bonbons, eine Flasche Chilendra von eurem Flannery … ein grandioses Geschenk für eine Komatöse … und das hier hat wohl dein Jax vorbeigebracht.« Sie greift nach einer Schale, die auf meinem Nachttisch steht.

Jemand hat sie mit einem Teller abgedeckt. Darauf klebt ein gelber Notizzettel: »Bleib bei mir.«

Mit zitternden Fingerspitzen hebe ich den Deckel an. Der Duft von Kirschkompott kommt mir entgegen, weckt eine süße Erinnerung an meine Mum. Jax kann es nicht wissen, aber vielleicht hat er bemerkt, dass ich jedes Mal lächle, wenn ich Kirschkompott rieche.

»Leugnen ist zwecklos, Liebes«, durchbricht Yuna meine Gedankenspirale. »Meine letzte Liebschaft mag einige Jahre her sein, doch ich erkenne junges Glück, wenn ich es sehe.« Mit neckender Miene nimmt sie mir die Schale ab. »Es war wirklich reizend, wie ihr versucht habt, es vor den Kameras in den Westlands zu verstecken.«

Entweder hat Yuna irgendwann abgeschaltet, oder sie hat den Moment verpasst, in dem Jax aufgehört hat, mit mir zu reden.

»Es ist … kompliziert«, murmle ich.

Yuna gibt eine Mischung aus Lachen und Brummen von sich. »Was ist in der roten Zone nicht kompliziert? Möchtest du darüber reden?«

Bisher habe ich Christoph und Yuna alles erzählt. Aber diese Wunde ist zu frisch, zu tief, um sie weiter reizen zu wollen.

»Kannst du mir einfach nur was versprechen?«, weiche ich aus. »Falls es irgendwann weniger kompliziert ist, zeig ihm seine Akte. Er hat ein Recht darauf, mehr über seine Familie zu erfahren.« Über die Familie, an die er sich dank seines Resets kaum erinnern kann, füge ich innerlich hinzu.

»So ernst ist es also. Mince alors, Mädchen, ist dir eigentlich bewusst, was du da von mir verlangst?«

Wenn Yuna Jax seine Akte zeigt, wird er fragen, woher sie so sensible Informationen hat. Und dann müsste sie gestehen, dass es jenseits des Zauns einen Club außergewöhnlicher Ladys gibt, der einflussreich genug ist, um Zugriff auf das Archiv des Casinums zu haben.

»Na schön«, knurrt sie schließlich. »Ich werde darüber nachdenken.«

Ich presse die Lippen zusammen. Es ist mehr, als ich erwartet habe, und trotzdem habe ich Angst, dass es nicht reicht. »Danke«, ringe ich mir ab.

Wir schweigen eine Weile, dann schreibt Christoph etwas aufs Tablet und legt es mir auf die Beine.

»Ich muss dich etwas fragen. Du hast uns nach den Westlands von einer Geneva und Geraldine geschrieben. Schwarze Locken? Dunkle Augen? Etwas frech und kaum voneinander zu unterscheiden?«

Ich blinzle ihn irritiert an. Ja, ich habe Christoph und Yuna eine Nachricht geschickt, in der ich die rebellischen Zwillingsschwestern erwähnt habe: Geneva und Geraldine. Zwei Reds, die in dem Grenzheim aufgewachsen sind, in dem meine Mum gearbeitet hat. Allerdings bin ich sicher, dass ich in dieser Nachricht weder ihr Aussehen noch ihre Sprüche erwähnt habe.

»Woher weißt du das?«, frage ich.

Statt einer Antwort legt Christoph den Kopf in den Nacken und stößt ein Lachen aus. Ein Laut, den man viel zu selten von ihm hört. »Sie leben«, bringt er hervor. »Sie leben wirklich!« Seine Freude sprudelt aus jeder Silbe, obwohl ihm das Sprechen höllische Schmerzen bereiten muss.

»Christoph ist mit den beiden im selben Clan aufgewachsen«, erklärt Yuna. »Nach seinem Rausschmiss war er noch einmal da, um seine Freundinnen zu suchen, aber sie waren bereits weg.«

Ich greife nach Christophs Hand. »Sobald ich hier raus bin, werde ich dich zu ihnen bringen. Allerdings lebt Geraldine gerade in den Westlands.«

Christoph verzieht fragend das Gesicht. Er ist noch etwas hagerer geworden, nur sein Bart wuchert so wild wie eh und je, während der Kopf kahl rasiert ist.

Dann fasse ich zusammen, was in meiner letzten Nachricht keinen Platz gefunden hat. Angefangen bei Mums Verbindung zu den Zwillingen. Wie sie den beiden helfen wollte, aus der roten Zone zu fliehen, indem sie ihnen Zugang zum alten U-Bahn-Netz Londons verschafft hat. Ich erzähle von der harten Arbeit, davon, wie es Geraldine und Geneva geschafft haben, die Signaturen ihrer Tracker zu tauschen, um für die jeweils andere an Games teilnehmen zu können. Wie Geraldine schwanger wurde und sie entschieden haben, ihren Tod vorzutäuschen, damit sie das Kind behalten kann. So wurde die Idee geboren, sich in den Westlands ein zweites Lager aufzubauen, weil es dank der Games dort leichter ist, an Nahrung und sauberes Wasser heranzukommen.

Christoph hört nicht mehr auf zu strahlen. Als ich erzähle, dass es allen gut geht und sie sich heute Undergrounds nennen, drückt er mir einen Schmatzer auf die Wange. Und ich kann zum ersten Mal wirklich lächeln.

Der nächste Teil meiner Erzählungen ist schwerer. Denn es wird Zeit, über die Erinnerung zu sprechen, die Flannery mir überlassen hat. Ich überspringe den Part, an dem er erkannt hat, dass die Gameshow eine Lüge ist, und komme direkt zu seinem Gespräch mit Robert und Vincent, direkt nach seiner Flucht.

»Was für eine charmante Gruppe.« Yuna verzieht missmutig das Gesicht. »Dieser Robert klingt nach einem aufgeblasenen Schnösel, dem nur an seinem eigenen Wohl gelegen ist. Und dieser Vincent? Ein Mitläufer.«

Schulterzuckend lasse ich mich tiefer ins Kissen sinken. Das Reden strengt mehr an, als ich dachte. »Kann sein. Aber offensichtlich haben sie sich an ihr Versprechen gehalten, die NoClans zu unterstützen. Sonst säßen wir nicht hier. Und Flannery würde nicht immer so teure Seidenanzüge tragen.«

»Seidenanzüge«, höhnt Yuna. »Als ob es in der roten Zone kein geeignetere Kleidung gäbe. Aber lassen wir das.« Sie späht zu dem Tablet, auf dem Christoph einen Timer gestellt hat. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.

Christoph zieht das Tablet zu sich heran. »Vertraust du Flannery?«

Wie oft habe ich mir genau dieselbe Frage gestellt? Ist Flannery der Held oder der Schurke? Und zum ersten Mal glaube ich die Antwort zu kennen. Weil ich die Welt durch seine Augen gesehen habe. Weil er die Chance gehabt hätte, bei den Purpurnen zu bleiben, aber zurückgekommen ist, um uns zu befreien. Und er hat mich nicht an die Catcher ausgeliefert, obwohl er jetzt von meinem gescheiterten Reset weiß.

Ich atme tief durch, denn mir ist bewusst, wie viel meine nächsten Worte bedeuten: »Ja. Ich vertraue Flannery.«

»Also werden wir seinen Plan unterstützen?« Yuna wirkt nicht restlos überzeugt. »Ich meine, lass uns ehrlich sein, Liebes. Ich bin heilfroh, dass wir nicht länger dabei zusehen müssen, wie du in irgendwelchen Games um dein Leben kämpfst. Aber dieser Plan klingt doch sehr riskant. Und ich möchte deine Überreste nicht von irgendeinem Elektrozaun kratzen müssen, weil so ein Snob namens Robert seinen Job versaut hat.«

Unwillkürlich muss ich an Vincent denken, der vorgeschlagen hat, das alte U-Bahn-Netz zu nutzen. Er wurde für diese Idee verlacht, aber damals wusste keiner, dass es längst Menschen gibt, die an diesem Tunnel arbeiten. Vielleicht sollte ich noch mal mit Geneva sprechen …

»Diese Erinnerung ist über fünf Jahre alt«, erwidere ich ausweichend. »Wie ich Flannery kenne, hat sich sein Plan seitdem weiterentwickelt. Ich hatte nur noch keine Gelegenheit, ihn nach den Details zu fragen.« Oder überhaupt eine Frage zu stellen.

»Okay.« Yuna hat meine Hand wieder genommen. »Das Wichtigste ist, dass wir nie aufhören, einander zu vertrauen. Wann immer dir etwas seltsam vorkommt oder falls du Bedenken hast … du weißt ja, in welcher Absteige du uns findest.«

»Noch«, sage ich mit Nachdruck. »Ihr solltet langsam anfangen, Kisten zu packen.«

Ein Schmunzeln huscht über ihr Gesicht. »Hast du das gehört, Christoph? Wie es aussieht, gibt es bald mehr zu essen als Haferschleim und Suppen.«

Allein Christophs Gesichtsausdruck reicht, um unsere letzten Minuten nicht länger mit schweren Themen belasten zu wollen. Ich grabe ein paar Anekdoten aus, und mit jeder tut mein Herz weniger weh. Auch wenn die Schatten tief in mir haften bleiben.

Kapitel 3

Kurz vor dem Schichtwechsel muss es schnell gehen. Blizz deaktiviert vorübergehend die Kameras auf den Gängen, Enzo bringt Christoph und Yuna nach draußen, während Sierra alle Spuren des Besuchs verwischt.

Danach bemüht sie ihr gesamtes schauspielerisches Talent. Als wäre ich gerade erst erwacht, rennt sie zu meinem Bett und drückt den kleinen Notfallknopf. Anscheinend hat Blizz das Signal wieder freigegeben, denn keine zwei Minuten später kommt Tyson angerannt, zeitgleich mit Sierras Schichtablösung Brenda, die mich missmutig anstarrt.

»Willkommen zurück, Platinkind«, knurrt sie, und aus irgendeinem Grund lässt es mich lächeln. Sie verdreht nur die Augen und zieht sich mit Sierra für die Übergabe zurück.

»Dann wollen wir mal schauen, wie es dir geht. Ich werde dein Kopfteil jetzt nach oben fahren.« Tyson bringt mich zurück in die aufrechte Position. Anschließend leuchtet er mir in die Augen und befühlt meinen Hinterkopf. »Wie fühlst du dich?«, fragt er.

»Beschissen«, krächze ich dieselbe Antwort wie bei Yuna.

»Kannst du die Schmerzen genauer lokalisieren?«

»Wäre leichter, wenn du fragen würdest, wo es nicht weh tut«, versuche ich mich an einem Scherz.

Tyson verzieht keine Miene. Stattdessen setzt er seine Untersuchung fort. Als er gerade Werte von dem Gerät hinter meinem Bett abliest, kommt der nächste Gast.

Flannery trägt einen dunkelblauen Anzug, den er wohl hastig übergeworfen hat. Eine Hemdspitze guckt aus dem Hosenbund heraus, und auch sonst wirkt er ungewöhnlich derangiert. Seine Augen sind winzig vom Schlaf, sein weißes Haar steht noch wilder ab als sonst. Trotzdem ist seine Erleichterung nicht zu übersehen. Schmunzelnd greift er nach dem Chilendra und präsentiert mir die Flasche.

»Versprochen ist versprochen, oder?«, sagt er, und jetzt sehe ich die Notiz, die an der Flasche klebt: »Willkommen bei den NoClans, Cassandra Pierson.«

»Versprochen ist versprochen«, wiederhole ich heiser.

»Ich denke allerdings, die heben wir uns für später auf. Tyson hat mich schon gerügt, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, hier Alkohol anzuschleppen.« Er wirft dem Medi einen vielsagenden Blick zu.

Tyson ignoriert es. »Wenn ihr mich kurz entschuldigen würdet. Ich habe zu tun …« Und weg ist er.

»Also, Cass, du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Wenn wir gewusst hätten, dass der Einsatz des Mnestikops Kurzschlüsse in deinem Implantat auslöst …« Flannery unterbricht sich. »Es gibt da etwas, worüber wir sprechen sollten. Erinnerst du dich noch an das, was wir dir gezeigt haben?«

»Du meinst, dass du in Wahrheit Drey bist?«, raune ich. »Siegender der 79. Gameshow und vielleicht der erste Siegende, der seine After-Show-Party überlebt hat?« Ich versuche, nicht an Yunas Gamerinnen zu denken. Unmöglich.

»Sehr gut. Dann erinnerst du dich sicher auch an meine Verbündeten. Angelica, Robert und Vincent?«

»Sie hat nach Blumen geduftet.« Ich weiß nicht, warum mir genau dieses Detail in den Kopf kommt. Vielleicht, weil der Duft dazu beigetragen hat, dass sich alles echt angefühlt hat. Echter als eine Nacherzählung oder ein Kinofilm.

Flannery lacht leise. »O ja. Angelica hat ein Faible für teure Düfte. Und für Recherche.«

Zweifelnd runzle ich die Stirn, was den Schmerz in meinem Kopf befeuert. »Und das bedeutet?«

»Dass Angelica nach dem Vorfall mit dem Mnestikop Nachforschungen über dich und deine Herkunft angestellt hat. Sie hat herausgefunden, dass deine Mutter eine äußerst begnadete Mnestika war … Es könnte also sein, dass sie … nun ja … Experimente an deinem Implantat durchgeführt hat.«

»Was?!«

»Hattest du vorher schon mal Probleme mit deinem Implantat? Vielleicht Erinnerungen, die sich fremd anfühlen? Ähnlich wie die Sequenz, die wir dir gezeigt haben?«

Fremde Erinnerungen. Ein Frösteln zieht sich über meinen Rücken. »Woher …?«

»Eine kurze Notiz in einem Bericht über den jährlichen Mnestikkongress in der Schweiz. Dort soll vor fünf Jahren eine gewisse Melody Pierson über den Transfer fremder Erinnerungen referiert haben, und ich bezweifle, dass es sich bei dem Nachnamen um einen Zufall handelt.«

Ich zucke kaum merklich zusammen. Nein, es ist kein Zufall. Aber bisher wusste ich nicht, dass Mum über solche Themen referiert hat. Aber ich wusste vieles nicht …

»Cass.« Flannery sucht meinen Blick. »Ich weiß, dass es für dich verwirrend sein muss, aber wir wollen herausfinden, warum du so heftig auf Tysons Behandlung reagiert hast. Nur so können wir es in Ordnung bringen. Also, hat dir dein Implantat schon mal Probleme bereitet?«, wiederholt er.

Das Frösteln breitet sich in meinen ganzen Körper aus. Flannery hat ins Schwarze getroffen. Seit man mich zur Gamerin degradiert hat, durchlebe ich immer wieder die Erinnerungen einer anderen Person: Mums.

Alles in mir sträubt sich dagegen, es laut auszusprechen, denn diese Erlebnisse sind nicht schön. Sie zeigen eine Seite an Mum, die ich nicht kannte – und die mir eine beschissene Angst macht. Aber ich will Flannerys Vertrauen nicht weiter aufs Spiel setzen.

»Es gab schon mal Probleme, ja.« Meine Worte sind so leise, dass ich nicht weiß, ob er sie gehört hat. »Deine Erinnerung war für mich nicht die erste fremde.«

Er mustert mich mit mehr väterlicher Fürsorge, als Luther in all den letzten Jahren für mich aufgebracht hat.

»Weißt du, wessen Erinnerungen es waren?«, hakt er behutsam nach.

»Mums.« Ich schlucke schwer. »Einmal war ein Mann bei ihr. Owen Cox. Mum wurde beauftragt, ein gewisses Ereignis von seinem Implantat zu löschen. Denn Owen hat mit angesehen, wie Gamemaster Lèvene seine Ehefrau erschossen hat.«

»Gilleroy Lèvene?« Flannerys Augen weiten sich. »Das ist … Ich meine, es gibt keinen Gamemaster, der seine Frauen so oft gewechselt hat wie Lèvene. Aber es hieß immer, sie wären alle zu den Neutrals …« Er unterbricht sich, scheint nachzudenken. »Weißt du, welche seiner Ex-Frauen es war?«

Alles in mir rebelliert. Ich sollte die Antwort nicht wissen, aber ich kenne sie trotzdem. Als wäre sie schon immer in mir gewesen. »Es war Carlotta Lèvene. Er hat ihre Leiche … eingemauert. In seinem damals neuen Stadthaus.«

Kaum habe ich es ausgesprochen, kämpft sich Galle meinen Hals hoch. Sofort hält mir Flannery eine Schüssel hin, in die ich ausspucken kann. Unser Gamemaster Gilleroy Lèvene hat seine Frauen nicht nur umgebracht, er hat sie gesammelt. Wie Trophäen. Ein neuer Anbau für jede der sechs.

»Widerlicher Dreckskerl.« Flannery schenkt mir frisches Wasser in den Becher ein. »Seit wann weißt du davon?«

»Du hast mich doch mal dazu verdonnert, dieses Buch vom Gameshowsiegenden Percival zu lesen. Owen Cox ist Percival, und ich nehme an, sein Zahnpastagrinsen auf dem Cover hat diese Erinnerung in mir geweckt.« Mit zitternder Hand nehme ich Flannery den Becher ab und versuche, den fiesen Geschmack aus meinem Mund zu waschen.

»Es tut mir leid, Cass.« Flannery wirkt betroffen. »Ich weiß, dass es kein Trost ist, aber vielleicht hilft es dir, wenn ich dir sage, dass uns solche Informationen den Arsch retten könnten. Entschuldige die Ausdrucksweise.«

Fragend blinzle ich über den Tassenrand.

»Jetzt bin ich wohl dran mit Erklärungen.« Flannery zieht sich den Stuhl heran. »Aber vorher muss ich wissen, ob es noch mehr solcher Informationen gibt? Vorausgesetzt, du bist bereit, darüber zu sprechen?«

Ich gehe noch mal alle plötzlich aufgetauchten Erinnerungen durch. Aber die einzig wertvolle Information kann ich noch nicht teilen. Denn dabei handelt es sich um den Zugang zum U-Bahn-Netz und damit zum geheimen Versteck der Undergrounds. Erst muss ich mit Geneva reden.

»Noch nicht, nein«, antworte ich schließlich.

»Du weißt hoffentlich, dass du nicht alleine da durchmusst«, erwidert Flannery. »Sollte dich die Vergangenheit quälen, kannst du jederzeit zu mir kommen – egal, ob es deine eigene ist oder die deiner Mutter.«

Ich versuche, dankbar zu lächeln, aber meine Mundwinkel wollen sich nicht mehr heben.

»Wie du weißt, habe ich die NoClans nicht ohne Grund ins Leben gerufen«, beginnt er mit seiner Erzählung und überschlägt die Beine. »Seit über fünf Jahren bereiten wir uns darauf vor, die Lügen der Gamemaster öffentlich zu machen und gewisse Regeländerungen zu erwirken. In all dieser Zeit habe ich nicht eins unserer Mitglieder in die Gameshow geschickt. Doch diese Saison wird sich alles ändern. Team Qualified trainiert seit Jahren dafür, es in genau diese Gameshow zu schaffen. Ich mache mir nicht die Illusion, alle könnten es schaffen, aber am Ende reicht ein einziger NoClan, um der Welt zu zeigen, was nach dem großen Sieg wirklich passiert.«

Jax und Enzo sind in Team Qualified. Bei der Vorstellung, einer von ihnen könnte in diesem finsteren Todesraum landen, aus dem Flannery damals entkommen ist, zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Immerhin verstehe ich jetzt besser, warum es Jax so wichtig ist, es in die nächste Gameshow zu schaffen. »Okay.« Ich versuche, das unangenehme Ziehen zu ignorieren. »Dann ist der Plan also immer noch derselbe, den du damals mit Angelica, Robert und Vince besprochen hast?«

»Weitestgehend ja.« Flannery nickt. »Auch wenn sich die Details natürlich im Laufe der Jahre verfeinert haben. Unter anderem hat sich Angelica mit jemandem aus der Security des Casinums angefreundet, der uns helfen wird, bereits nach der Parade eine kleinere Gruppe ins Casinum zu schleusen – angeführt durch mich selbst. So haben wir die Chance, uns noch vor der Übertragung auf die Party im großen Saal zu schleichen, alle Gamemaster ausfindig zu machen und bis zur großen Stürmung im Auge zu behalten.«

»Und wenn die Gamemaster nicht alle im großen Saal sind? Wie wollt ihr sie dann finden? Soweit ich weiß, ist das Casinum ein regelrechtes Labyrinth.«

»Nun, dank besagter Security kennen wir den Grundriss des Gebäudes.« Ein Blinzeln lang weicht Flannery meinem Blick aus, gefolgt von einem Räuspern. »Bedauerlicherweise meine ich damit ausschließlich eine Übersicht des Erdgeschosses. Bislang ist es keinem meiner Verbündeten gelungen, an einen gesamtheitlichen Grundriss zu kommen, geschweige denn an die technischen Pläne, in denen Türmechanismen, Schutzräume oder geheime Verbindungsgänge eingezeichnet sind. Aber wir arbeiten daran.«

Unwillkürlich muss ich an Yuna denken, an ihre vielen Skizzen und Zettel und Pläne. Ich weiß, dass sie ihren Ex-Mann Old Shad früher öfter ins Casinum begleitet und jede Chance genutzt hat, ihre eigenen Pläne anzufertigen. Allerdings bezweifle ich, dass sie bereit wäre, ihre wahre Identität mit den NoClans zu teilen.

»Sobald wir alle Gamemaster von der Party gelockt haben, wird es ernst.« Flannery beugt sich ein Stück vor. »Wir könnten es uns leicht machen und sie einfach alle abknallen, aber damit wären wir keinen Deut besser als diese Arschlöcher. Und abgesehen davon bezweifle ich, dass es New London gutheißen würde, wenn seine neuen Gesetze mit Blut geschrieben werden.«

»Klingt vernünftig.« Obwohl ich die Gamemaster verabscheue, beruhigt es mich, dass Flannery so denkt.

»Also werden wir sie zur Kooperation zwingen müssen«, fährt Flannery fort. »Und genau hier kommen solche Informationen ins Spiel wie deine. Denn selbst ein harter Brocken wie Gilleroy Lèvene dürfte in unseren Händen zu Wachs werden, wenn wir drohen, seine Morde öffentlich zu machen. Angelica und Vincent haben in den vergangenen Jahren eine ganze Liste hübscher Skandale gesammelt, sowohl über die Gamemaster selbst als auch einige hochrangige Mitglieder der Gesellschaft, denen es sicher nicht gefallen wird, wenn wir die rote Zone und die Zwangswetten abschaffen, da ihr ganzer Wohlstand auf diesem System basiert. Doch unsere Liste weist noch Lücken auf, die ich gerne füllen würde.«

In seinem Blick erkenne ich dasselbe Feuer, das ich in seiner Erinnerung gespürt habe. Flannery meint es ernst. Er möchte New London verändern. Die rote Zone auflösen. Uns von grausamen Games und Zwangswetten befreien. Allein bei der Vorstellung regt sich in mir ein nervöses Kribbeln. Zum ersten Mal scheint Veränderung wirklich möglich. Und ich bin bereit, alles dafür zu tun, um Flannery zu unterstützen.

»Sollte ich mehr herausfinden, werde ich es dir sagen«, verspreche ich. »Was wird sonst meine Aufgabe bei diesem Plan sein?«

Flannery schmunzelt. »Ich bewundere dein Engagement, aber fürs Erste sollten wir uns auf deine Gesundheit konzentrieren.«

»Natürlich.« Was habe ich in meinem Zustand auch erwartet?

»Und auf deine Erinnerungen«, fügt er hinzu. »Wenn du so willst, sieh dich als Masterschlüssel zu einer gewaltfreien Zukunft. Vorausgesetzt, da sind noch mehr verfängliche Details auf deinem Implantat.«

Das klingt schon besser, auch wenn es mir nicht reicht. Immerhin habe ich keinen blassen Schimmer, wie ich Mums Erinnerungen aktivieren kann. Sie kommen, wann sie wollen. Fürs Erste werde ich mich aber wohl mit dieser Aufgabe abfinden müssen. »Dann habe ich nur noch eine Frage.« Die nächsten Worte kratzen scharfkantig in meinem Hals. »Hast du … Hast du jemals an der Existenz der weißen Zone gezweifelt? Und ich meine nicht nur für uns Gamer.«

»Nein.« Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. »Als ich noch Gambler war, hatte ich einen Freund in der weißen Zone. Wir hätten keinen Kontakt haben dürfen, doch Robert hat es uns ermöglicht, Briefe über die Grenze zu schmuggeln. Sie trugen eindeutig Eliahs Handschrift, und er hat mir erzählt, wie es da drüben ist. Von Sommerfesten, Cocktailpartys oder seinen Grillabenden mit der Nachbarschaft. Seit ich offiziell tot bin, sind Briefe bedauerlicherweise zu gefährlich geworden. Doch ich weiß, dass ich ihn wiedersehen werde.«

Mit einem Seufzer fallen mir tausend Steine vom Herzen. Die weiße Zone ist keine Lüge. Amanda und Eliza leben. Sie würden lachen, wenn ich ihnen sage, dass ich befürchtet habe, sie könnten nie dort angekommen sein. »Danke, Flannery.« Ich stelle meinen Becher zurück auf den Nachttisch. Dabei fällt mein Blick auf die Schale mit dem Kirschkompott. Meine Erleichterung erleidet einen harten Dämpfer. »Übrigens … was du in deinem Büro über Jax gesagt hast …«, setze ich an und schürze die Lippen. »Was genau war sein Auftrag? Mich betreffend?«

Einige Sekunden vergehen, in denen ich das Gefühl habe, zu fallen, meine Wangen glühen, mein Körper zittert.

»Nun, ich war der Meinung, ich hätte in diesen Dingen stets mit offenen Karten gespielt, aber ich werde versuchen, es deutlicher zu machen«, sagt Flannery schließlich. »Wie dir bekannt sein dürfte, werden Newbies vorerst nur für die harmlosen Games zugelassen. Schicken die Gamemaster dich gleich zu Beginn in eine tödliche Arena wie das Labyrinth, gibt es dafür erfahrungsgemäß drei Gründe: Du bist in eine Fehde mit anerkannten Mnestika verwickelt, hast einen Disput mit den Gamemastern selbst oder dich der Rebellion verdächtig gemacht. Die Chancen, einen solchen Newbie für die Sache der NoClans zu gewinnen, stehen deutlich besser als bei denen, die allein aus Habgier zu Gamern degradiert wurden. Wenn du also wissen willst, ob ich Jax den Auftrag gegeben habe, dich im Blick zu behalten, dann ja. Ich wollte wissen, wer diese neue Gamerin ist, die so früh zum Sterben ins Labyrinth geschickt wurde, und ob sie das Zeug hat, eine echte NoClan zu werden.«

»Okay. Er hat diese Gamerin also hergebracht«, erwidere ich rau. »Dann saß ich in diesem stickigen Empfangszimmer und musste vor dir einen Seelenstriptease hinlegen, haarscharf balancierend zwischen Wahrheit und Selbstschutz.«

»Und du warst wirklich gut.«

»Aber nicht gut genug. Denn irgendwie hast du mich durchschaut.«

Flannery schmunzelt. »Du hast recht. Ich war nicht sicher, ob und welche Teile deiner Erzählung gelogen waren, allerdings habe ich deinen Schmerz bemerkt. Es war nicht diese Trauer um verlorene Erinnerungen, die ich von anderen Gamern kenne, sondern mehr. Als wüsstest du ganz genau, welche Menschen du verloren hast, Details, die du nach dem Reset nicht mehr hättest wissen dürfen. Da ich dieses Gefühl genauso gut kenne wie die Gefahr, die mit dieser Wahrheit einhergeht, wusste ich, es würde Zeit brauchen, um dein Vertrauen zu gewinnen. Zeit und den richtigen Menschen.«

»Du meinst drei bis vier Wochen und jemanden mit genug Charme, um mich zu verführen?« Jetzt ist es raus. Die Frage, die unterschwellig die ganze Zeit in mir gewuchert ist.

Für einen Moment gibt es nur das innere Echo meiner Worte, das Piepen der Geräte und Flannerys unergründliches Gesicht.

»Ihr seid euch also doch nähergekommen«, sagt er und lässt ein Lächeln durchschimmern. »Mein bester Recruiter und meine Gamerin mit den kostbaren Erinnerungen. Und ich dachte schon, ich hätte mir die Chemie zwischen euch nur eingebildet.«

»Chemie? Also hast du ihm nicht aufgetragen, alles zu tun, um an mein Geheimnis zu kommen?« Ich bohre die Nägel in meine Handflächen, während sich hinter meinen Augen ein scharfes Brennen meldet.

Flannerys Lächeln schwindet in nur einem Atemzug. »Manche meiner Methoden mögen unorthodox sein, Newbies romantische Liebe vorzugaukeln, gehört jedoch eher in das Repertoire von Clans wie den Bailish Blues oder Caribbean Shippers. Versteh mich nicht falsch, Cass. Natürlich mache ich mir im Vorfeld Gedanken, welcher Recruiter für wen am besten geeignet ist, damit sich unsere Newbies wohlfühlen. Und auch wenn Jax gerne so tut, als wäre er jemand, für den allein die Gameshow zählt, habe ich seine Blicke bemerkt. Wie er dir im Labyrinth geholfen hat, obwohl es nicht zum Auftrag gehörte, wie er danach jedes deiner Spiele verfolgt hat, wie er versucht hat, seine Freude zu überspielen, als ich ihn gebeten habe, dich nach dem Arctic Race herzubringen. Natürlich hatte ich gehofft, du würdest dich ihm anvertrauen. Und falls es dich tröstet: Er wusste lange nichts von meinem Verdacht. Bis zu unserem ersten Training im Observatorium.«

Also war alles echt. Jeder Kuss, jede zärtliche Berührung, unsere Nacht in den Westlands. Ein Teil von mir will vor Erleichterung aufheulen, aber da ist immer noch diese andere Sache. Ich habe ihn belogen. Und ich habe keine Ahnung, wie ich das wieder hinkriegen soll.

»Worüber auch immer du gerade nachdenkst, rede mit ihm. Menschen wie du und ich tragen so viele Wunden aus der Vergangenheit in uns, dass wir uns in der Gegenwart keine neuen zufügen sollten.«

So viele Wunden aus der Vergangenheit. Er weiß gar nicht, wie recht er hat. »Würdest du Jax vielleicht … Bescheid sagen, dass ich wach bin?« Es kostet mich Überwindung, ihn zu fragen, aber früher oder später muss ich dieses Gespräch führen, wenn ich Jax nicht endgültig verlieren will.

»Das würde ich gerne, allerdings fürchte ich, du wirst dich noch einige Tage gedulden müssen. Jax wurde für eine neue Arena ausgewählt. Er ist gestern Abend aufgebrochen.«

»Einige Tage?!«, wiederhole ich entsetzt. »Seit wann schicken sie jemanden in so kurzen Abständen in zwei mehrtägige Arenen?! Wir waren doch gerade erst in den Westlands!«

»Wo ihr so gute Unterhaltung geboten habt, dass man wohl mehr von Jax sehen will. Sie nennen es Trickster Island, ein Survivalgame in einer natürlichen Arena mitten im Pazifik. Praktisch keine Startausrüstung außer Kleidung, giftige Spinnen, hohe Punkte für Kills … Die Details erspare ich dir lieber.«

Es ist unfair. Ich habe zwei Wochen geschlafen, und Jax kämpft schon wieder um sein Leben. Ein Teil von mir will wissen, was für Gefahren noch auf ihn lauern, aber vielleicht ist es besser, wenn ich es nicht weiß. Wenn ich einfach nur darauf vertraue, dass er das tut, was er immer tut: überleben. Gewinnen. Zurückkommen.

»Weißt du, Cass«, Flannery rafft sich auf, »Survivalgames, Kills, tödliche Fallen. Wenn wir das hier überstanden haben, wird keiner dieser Begriffe mehr eine Bedeutung haben. Wenn wir das hier überstanden haben, werden wir frei sein. Frei zu leben. Frei zu heilen.« Er streicht meine Bettdecke glatt. »Und jetzt solltest du deine Kräfte schonen. Wir haben schon 4 Uhr, und ich bin mir sicher, es wird einen kleinen Ansturm geben, sobald die anderen erfahren, dass du wach bist.«

»Okay.« Flüsternd lasse ich mich tiefer in die Kissen sinken. Erst jetzt merke ich, wie sehr mich die ganzen Gespräche erschöpft haben. Mein Kopf ist bleischwer, mein Körper ausgelaugt wie nach einem Labyrinth. Die Müdigkeit überrollt mich in einer unaufhaltsamen Welle. Meine Lider flattern. Ich höre noch, wie Flannery den Vorhang zuzieht, dann spüre ich, wie mich die Müdigkeit einholt.

 

Als ich das nächste Mal aufwache, fühle ich mich besser. Das bläuliche Nachtlicht ist dem grellen Weiß von Neonröhren gewichen, hinter dem Vorhang höre ich Stimmen, irgendwo lacht jemand. Auf meinem Nachttisch steht noch immer die Schüssel mit dem Kirschkompott. Und dem Zettel. Vorsichtig balle ich meine Hände zu Fäusten, bis ich sicher bin, dass ich genug Kraft habe, um die Schale zu nehmen. Leider habe ich nicht mit dem Zittern gerechnet, das mir die Schüssel scheppernd aus der Hand schlägt, kaum dass ich sie angehoben habe.

Jemand kommt herbeigeeilt. »Cass!« Mit vorwurfsvoller Miene steht Tyson vor meinem Bett.

»Ich wollte nur was essen.«

»Du solltest klingeln, wenn du wach bist.«

»Es geht mir gut, Tyson. Okay, vielleicht nicht gut, aber gut genug, um einen Löffel zu halten.«

»Das klang aber anders.«

»Willst du mich etwa füttern?«

»Falls es notwendig ist.«

»Echt jetzt?«

»Ich glaube nicht, dass du herausfinden willst, wer von uns beiden sturer sein kann«, erwidert er ungerührt. »Aber du hast Glück, denn meine Zeit reicht nur für einen kurzen Check-up und gute Neuigkeiten. Achtung, ich fahre dein Kopfteil jetzt hoch.«

Mit einem Surren werde ich in eine Position gebracht, die zum Essen eindeutig besser geeignet ist – allerdings hat Tyson andere Pläne, denn er beginnt sofort wieder, mich zu untersuchen.

»Und was sind das für gute Neuigkeiten?«, frage ich, während Tyson meinen Kopf abtastet. »Autsch«, zische ich, als er einen ungünstigen Punkt erwischt.

»Der Schmerz, den du fühlst, wird von deinem Implantat verursacht. Wir mussten es nach den Kurzschlüssen neu kalibrieren, und es kann noch einige Wochen dauern, bis sich alles richtig eingestellt hat. Aber das bedeutet, dass keins deiner Hirnareale dauerhafte Schäden davongetragen hat. Noch ein bisschen Ruhe und Geduld, und du wirst wieder ganz die alte Cass sein.« Er beendet seine Untersuchung damit, mir noch einmal in die Augen zu leuchten. »Versprich mir nur, dass du klingelst, wenn du das geringste Anzeichen einer Verschlechterung verspürst. Oder auf Toilette musst.«

»Und ich dachte, als echte NoClan bräuchte ich keine Begleitung mehr.«

»Ich kann dir auch wieder einen Katheter verpassen und Flannery raten, dich von der Silvesterfeier auszuschließen.«

»Aber Silvester ist erst in –«

»Zwei Wochen. Wenn du mit den anderen feiern möchtest, sei eine brave Patientin und versprich mir, dieses Bett nur zu verlassen, wenn du meine ausdrückliche Erlaubnis hast. Dann bist du in ein paar Tagen hier raus.«

Missmutig verziehe ich den Mund. »Ja, Papa.«

Der Vorhang wird zurückgerissen. Eine Frau mit schwarzer Haut und feuerroten Dreads sieht von mir zu Tyson. »Die Jungs aus dem Kolosseum sind zurück.«