Gano - Petra Pfeiffer - E-Book

Gano E-Book

Petra Pfeiffer

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Chile 1848. Ein junger, deutscher Forscher macht eine unglaubliche Entdeckung und bringt das Grauen mit in die Heimat … Heute: Nur die 14-jährige Lisa hört das Flüstern im Keller ihres Elternhauses. Als ihr wenig später eine junge Frau namens Ella im Spiegel erscheint und sie verzweifelt um Hilfe bittet, ist Lisa völlig außer sich und vertraut sich ihren besten Freunden Ben und Micha an. Zusammen versuchen sie, das Geheimnis zu lüften und Ella zu retten. Fast zu spät erkennt Lisa, dass sie selbst und ihre Familie in höchster Gefahr schweben. Gemeinsam mit Ella nimmt sie den Kampf gegen das Flüstern aus der Tiefe auf.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 225

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


PETRA PFEIFFER

Gano

Das Flüstern aus der Tiefe

Roman

Für meinen Ehemann.Den besten von allen.

Prolog

Chile, im Jahr 1878, südwestlich von Villarrica

»Señor van Lyncken, kommen Sie bitte!« Vicente war außer Atem, nachdem er den ganzen Weg zum Lager der kleinen Expedition gerannt war. Es war heiß, über dreißig Grad im Schatten, und die kleine Gruppe hatte sich in den letzten Wochen langsam, aber stetig durch die unterschiedlichen Vegetationszonen gearbeitet, um die größtenteils unbekannten Pflanzen dieser Gegend zu erforschen und zu katalogisieren. Für den deutschen Wissenschaftler Dr. Peter van Lyncken war es eine große Ehre, von der Universität Berlin als Expeditionsleiter für diese Aufgabe ausgewählt worden zu sein. Nach einer mehrjährigen Lehrtätigkeit in Chile war diese Expedition der krönende Abschluss seiner Tätigkeit auf einem fremden Kontinent.

Van Lyncken sah von seinen Notizen auf. »Was ist denn los, mein lieber Vicente?«

»Señor, Joaquin und Cristobal haben in einer kleinen schattigen Schlucht etwas gefunden, das sehr eigenartig aussieht. Vielleicht sollten Sie es selbst einmal untersuchen.«

Der Biologe stand ächzend von seinem improvisierten Arbeitsplatz auf und folgte seinem Assistenten hinab in die Schlucht, die etwa dreihundert Meter vom Lager entfernt war. Ein kleines Grüppchen stand um einen grünlichen Buckel am Boden herum.

Joaquin ergriff das Wort. »Sehen Sie, Señor, wir glauben, das ist eine Art Pilz, aber keiner von uns weiß so recht, wie wir ihn einordnen sollen – keiner von uns hat so etwas jemals gesehen.«

Van Lyncken setzte seine Brille auf und beugte sich hinunter. Der Buckel schimmerte grünlich, etwas feucht, fast als lebte er – oder etwas in ihm. »In der Tat, auf Anhieb kann ich mir da auch keinen Reim darauf machen … lass uns eine kleine Probe mit nach Hause nehmen, an der Universität haben sie bessere Analysewerkzeuge als wir hier mit unserer doch sehr begrenzten Ausrüstung.« Er nahm ein kleines Glasröhrchen aus der Tasche, die er aus dem Lager mit­gebracht hatte, und schabte vorsichtig einige Zentimeter von dem grünen Schleim ab. »So, mein Guter, jetzt wirst du eine weite Reise nach Deutschland machen …«

Kapitel 1

Ella

»Feierabend!«, seufzte Ella erleichtert, ausnahmsweise pünktlich. Was für ein Glücksfall, da sie am Abend mit ihrer Mutter zum Essen verabredet war. Gerne legte ihr der Chef noch in letzter Sekunde einen eiligen Auftrag auf den Tisch. Heute war er auf einer Schulung gewesen, deshalb hatte sie einen ruhigen Tag im Büro verbringen können.

Der Raum bot ihr eine kleine Waschgelegenheit, mit Waschbecken und Spiegel. Sie blickte in den Spiegel und bürstete sich energisch das dunkelbraune, halblange Haar. Noch etwas Eyeliner, um die braunen Augen zu betonen, Wimperntusche, fertig. Sie betrachtete ihr Gesicht mit der etwas zu groß geratenen Nase und den ausgeprägten Wangenknochen. Nein, eine Schönheit war sie nicht, aber durchaus gutaussehend. Wie schön wäre es, heute Abend ein Date zu haben statt mit ihrer Mutter essen zu gehen. Sogar ihre Mutter war der Meinung, dass es mit 24 Jahren an der Zeit war, eine feste Beziehung zu führen. Aber da hatte ihr Bernd einen dicken Strich durch die Lebensplanung gemacht und sie vor vier Monaten für eine 30-jährige Diplomsozialpädagogin verlassen. Jetzt bewohnte sie die kuschelige Zwei­zim­mer­woh­nung in Heimlingen alleine. Vor zwei Jahren hatten Bernd und sie die kleine Wohnung angemietet und waren unglaublich glücklich in ihrer Zweisamkeit. In ihren Träumen kamen bereits zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ein Golden Retriever und ein großes Einfamilienhaus im Grünen vor. Ella zuckte mit den Schultern. Sollte Bernd doch glücklich werden mit seiner Diplomsozialpädagogin.

Sie holte ihren Blazer aus dem Schrank, zog ihn über ihre blau gemusterte Bluse, die gut zu den Jeans und den Turnschuhen passte, hängte sich ihre große Umhängetasche über die Schulter, und warf noch einen prüfenden Blick durch ihr Büro. Die Fenster waren zu, der Computer ausgeschaltet, die Schreibtischlampe aus. Sie zog die Bürotür hinter sich zu und sperrte ab. Am Ausgang steckte sie ihren Ausweis in das Zeiterfassungsgerät, winkte dem Pförtner fröhlich zu und verließ das Gebäude.

Bis zur Bushaltestelle musste sie einige hundert Meter laufen. Die Tasche hing ihr schwer über der Schulter. »Was habe ich da eigentlich alles drin?«, überlegte Ella und zog den Riemen wieder höher über die Schulter. Ella verzichtete gern auf das Auto. Auf der Schnellstraße war während des Berufsverkehrs immer Stau; der Bus stand zwar auch in der Kolonne, aber sie konnte die Zeit wenigstens dazu nutzen, sich zu entspannen, weiter in ihrem Thriller zu schmökern, oder einfach vor sich hin zu träumen.

Sie ging die Gartenstraße schnellen Schrittes entlang. Der Weg zur Haltestelle führte geradeaus, bis er auf die Hauptstraße stieß; dort, gleich ums Eck, war das Haltestellenhäuschen. Die Gartenstraße war gesäumt von alten Vorkriegshäusern. Manche wirkten heruntergekommen, hatten aber ihren eigenen Charme entwickelt, mit den schiefen Fensterläden und den efeubewachsenen Fassaden. Sie standen neben liebevoll renovierten Häusern, die zu wahren Schmuckstücken geworden waren. Zu jedem Haus gehörte ein kleiner Vorgarten, und dahinter öffnete sich jeweils ein großer, parkähnlicher Garten. Eine schöne Wohngegend, dachte Ella, aber die Häuser waren bestimmt unbezahlbar, und wenn nicht, dann war eine Renovierung sicher ruinös. Am liebsten ging sie auf der linken Straßenseite. Hier musste sie zwar zwei Seitenstraßen überqueren, aber die Wohngegend war kaum befahren, und sie kam an den schönsten Vorgärten vorbei. Es waren kleine, gepflegte Schmuckstücke, üppig bewachsen mit Rhododendren, Hortensien, Rosen und Lavendel, die je nach Jahreszeit ein wahres Blütenmeer entfalteten.

Gerade überquerte sie eine der Seitenstraßen, als sie lautes Gegröle hörte. Sie drehte sich um und sah drei große Jugendliche den Gehweg entlang torkeln. Die drei trugen schwere Springerstiefel, die Haare kurzgeschoren, einer hatte eine überschäumende Bierflasche in der Hand. Ella packte ihre Tasche fester und ging energisch weiter. Nur nicht auffallen, dachte sie. Was gar nicht so einfach war: Kein Auto oder Radfahrer war in Sicht; weit und breit werkelte niemand in den Gärten. Ein lautes Klirren war zu hören. »Ey, scheiße, Mann, jetzt ist das Bier hin!« Nun wurde es Ella doch mulmig. Sie senkte den Kopf und ging schneller. »Du bist doch echt der totale Loser«, grölte einer der Jugendlichen, dann johlten und lachten die drei. »Ey, da vorne läuft eine! Los, schnappen wir uns die Alte!«

»Oh nein«, dachte Ella, »jetzt sind sie hinter mir her!« Sie begann zu rennen, die schwere Tasche schlug ihr gegen den Rücken. Hilfe, dachte sie. »Hilfe!«, krächzte sie erstickt. Ella bekam heftiges Seitenstechen, sie japste und rang nach Luft. Hinter ihr hallten die Springerstiefel auf dem Asphalt. Sie konnte den Atem der Verfolger förmlich in ihrem Nacken spüren. »Bleib doch stehen, Süße!« – »Gib die Tasche, Alte!« Plötzlich erhielt sie einen heftigen Stoß in den Rücken, stolperte hilflos nach vorne, sah den Asphalt auf sich zukommen … und fing sich gerade noch. Ella richtete sich auf und rannte, heftig nach Luft schnappend, weiter. Sie lief in eine Nebelfront hinein. Die Straße war in dichten, grauen Nebel gehüllt. Seltsam, wunderte sie sich, gerade war doch noch strahlender Sonnenschein. Links von ihr sah sie eine offene Tür, durch deren Spalt diffuses Licht durch den Nebelvorhang strömte. Meine Rettung, dachte sie erleichtert, machte einen scharfen Linksschwenk, rannte durch den kleinen Vorgarten, die Stufen zur der offenen Eingangstür hinauf, schlüpfte hindurch und drückte kräftig mit dem Rücken die Haustür zu.

Sie beugte den Oberkörper nach vorne, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und ließ ihre Tasche dabei zu Boden gleiten. Sie versuchte, regelmäßig tief ein und auszuatmen, was einen heftigen Hustenanfall zur Folge hatte. Links neben ihr befand sich ein schmales Fenster aus kleinen Buntglasscheiben. Sie spähte vorsichtig hinaus. Viel konnte sie in dem dichten Nebel nicht erkennen, aber von ihren Verfolgern war nichts zu sehen.

Jetzt erst sah sie sich um. Niemand schien ihr Eindringen bemerkt zu haben. Es roch irgendwie eigenartig. Bitter, oder eher modrig? Sie stand in einem langen Flur, der von wunderschönen Wandlämpchen aus feinem Glas in ein angenehmes Licht gehüllt wurde. Der alte Parkettboden funkelte im Licht, die Wände waren mit einer altmodischen, leicht verblichenen Blümchentapete versehen. An der linken Seite gab es eine kleine Kommode mit einem altmodischen schwarzen Wählscheibentelefon. Am Ende des Flurs stand die Tür zu einem hellerleuchteten Raum offen, auf der rechten Seite befanden sich zwei geschlossene Türen. Links von ihr führte eine Holztreppe mit durchgetretenen Stufen nach oben.

Ihre Bluse fühlte sich im Rücken klatschnass an und klebte auf der Haut. Ich bin völlig durchgeschwitzt, dachte sie. Langsam fand ihr Herz wieder zu seinem normalen Rhythmus zurück. Du meine Güte, schuldbewusst blickte sie an sich herunter, ich hab den schönen Holzboden voll getropft. Unter ihr hatte sich eine dunkle Lache gebildet. War der Nebel so feucht, überlegte sie. Sie ging in die Knie und wühlte hektisch in ihrer Tasche nach ihrem Handy; sie wollte jetzt unbedingt mit jemandem reden, am besten mit ihrer Mutter. Ein Blick auf das Display zeigte ihr, dass sie keinen Empfang hatte. Mist. Enttäuscht schaltete Ella das Gerät wieder aus und steckte es in die Hosentasche. Prima, dachte sie, wahrscheinlich müsste sie nach draußen gehen, um Empfang zu bekommen, aber das kam im Moment überhaupt nicht in Frage. Womöglich lungerten die drei Kerle noch im Vorgarten herum.

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie eine Bewegung. Am Ende des Flurs stand ein Mädchen. Es hatte beide Hände entsetzt auf den Mund gepresst und sah sie mit riesengroßen erschreckten Augen an. Ihre Gestalt flimmerte und war etwas verschwommen. »Hallo, tut mir leid …«, begann Ella und machte einen Schritt auf das Mädchen zu. Da war es plötzlich weg, wie vom Erdboden verschluckt. Ella blinzelte verwirrt. Sie fühlte sich auf einmal so schlecht, dass sie kurz in die Hocke ging und befürchtete, einfach umzukippen. Dann ließ der Druck in ihrem Kopf wieder nach. Was war das denn, überlegte sie und ging vorsichtig den Flur entlang. »Hallo?«, krächzte Ella. Sie räusperte sich und rief nochmal: »Hallo? Entschuldigung, die Tür stand offen!« Sie wartete einen Moment, doch nichts regte sich.

Vorsichtig spähte sie in den hell erleuchteten Raum. Nochmals rief sie leise »Hallo?« Sie befand sich in der Küche, einer herrlichen alten Küche aus hellem Holz, dunklem Parkettboden, in der Mitte ein großer, hell gescheuerter Holztisch mit altmodischen Stühlen drumherum, und einer großen alten Uhr an der Wand. Aber auch hier war niemand. Alles war ordentlich aufgeräumt. Eigenartig, dass mich niemand bemerkt hat, wunderte sie sich. Vielleicht sind alle oben? Sie zuckte mit den Schultern und ging zur Treppe, die ins Obergeschoss führte.

Sie sah hinauf. »Hallo? Entschuldigung!«, rief sie etwas lauter. Vorsichtig stieg sie die Stufen hinauf. Auch hier spendeten Wandlämpchen ein angenehmes Licht. Auf der rechten Seite stand eine Zimmertür offen und der Raum war hell beleuchtet. Hier ist bestimmt jemand, dachte sie, klopfte vorsichtig an die Tür und blickte durch den Spalt ins Zimmer. An einem kleinen runden Holztisch saß eine alte Dame mit weißem, kunstvoll aufgestecktem Haar, verrunzeltem Gesicht und knotigen Fingern. Sie legte leicht zitternd eine Patience. Erschrocken blickte sie auf, als sie Ella in der Tür stehen sah.

»Entschuldigung«, Ella trat ein, »die Haustür stand offen und ich bin einfach hereingerannt. Mich hat eine Gruppe Jugendlicher verfolgt. Ich glaube, die wollten mir die Handtasche klauen. Tut mir leid – ich wusste einfach nicht, wohin.«

Die alte Dame stand vorsichtig auf und sah Ella ratlos an. »Die Tür stand offen?«, murmelte sie. »Ja, was machen wir jetzt? Du bist ja völlig durchnässt und verängstigt, mein Kind. Komm, gehen wir in die Küche, ich mache dir eine heiße Schokolade.«

»Das ist sehr nett von ihnen«, antwortete Ella dankbar, »ich müsste auch dringend telefonieren«.

»Das Telefon steht unten auf der Anrichte«, erklärte die alte Dame, »aber jetzt komm erst einmal mit«.

Ella folgte der kleinen, alten Frau, die steif und etwas gebückt vor ihr her ging. An einer Tür blieb sie stehen und öffnete sie. »Hier ist das Bad, mach dich erst einmal frisch. Zieh die nassen Sachen aus und häng sie über die Wanne. Hinter der Tür findest du einen Bademantel, den kannst du dir überziehen.« Die Frau deutete Richtung Treppe, »komm danach runter in die Küche«.

Ella bedankte sich erleichtert, betrat das Badezimmer und schloss die Tür fest hinter sich. Sie seufzte tief und lehnte sich gegen die geschlossene Tür. Im Rücken fühlte sie den festen Stoff eines Bademantels. Wieder fiel ihr der unangenehme Geruch auf. Sie rümpfte die Nase. Langsam ging sie zum Waschbecken und wusch sich die Hände und das Gesicht. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr schneeweißes, bleiches Gesicht. Große entsetzte Augen sahen ihr entgegen. Ich bin völlig fertig, dachte sie. Eigentlich ist nichts Schlimmes passiert – ich bin nochmal mit dem Schrecken davon gekommen. Ich wusste gar nicht, dass ich so schnell laufen kann, sie grinste ihr Spiegelbild schief an. Diese Kerle sind doch krank, denen macht so etwas auch noch Spaß. Was hatten die eigentlich von ihr gewollt? Wahrscheinlich die Handtasche. Bargeld, Handy, Kreditkarten – damit ließ sich bestimmt etwas anfangen, dachte sie wütend.

Jetzt rufe ich endlich meine Mutter an, erzähle, was passiert ist und werde das Essen heute Abend absagen. Irgendwie geht es mir gar nicht gut. Aber erst muss ich mich zu der alten Dame in die Küche setzen. Sie ist so nett und hilfsbereit, da bin ich ihr ein paar Minuten Zeit schuldig. Und dann geht’s endlich ab nach Hause. Sie seufzte. Wie gerne würde sie jetzt daheim ein heißes, entspannendes Bad nehmen und danach gemütlich auf dem Sofa liegend fernsehen. Genau das, was ich jetzt bräuchte, dachte sie.

Ella durchfuhr ein Gedanke. Ich muss zur Polizei! Nicht, dass diese Kerle noch andere Frauen belästigen; das wäre unerträglich. Das muss ich dann aber auch gleich erledigen, das heißt, aufs Polizei­revier in der Stadt fahren und eine Anzeige aufgeben. Konnte sie der Polizei eine Beschrei­bung von den dreien geben? Ella überlegte und stützte sich aufs Waschbecken. Kurzgeschorene Haare, Springerstiefel … der mit der Bierflasche hatte ein auffälliges Tattoo auf dem Unterarm. Schwarze Klamotten, auffällige Piercings im Gesicht. Wie alt waren die drei? Auf jeden Fall noch sehr jung, vielleicht 16 Jahre. Mehr fiel ihr nicht ein. Sie hatte die Typen nur ganz kurz gesehen und dann war sie gerannt. Aber vielleicht half das der Polizei auch schon weiter und zumindest war der Überfall dann aktenkundig. Sie musste unbedingt versuchen, ihre Freundin Marion zu erreichen. Diese würde sich bestimmt mit ihr auf dem Polizeirevier treffen und ihr bei der Anzeigenaufgabe beistehen. Irgendwie sehnte sie sich nach Beistand und Marion war ihre beste Freundin, eine treue Seele, immer für andere da. Sie waren schon seit der Schulzeit miteinander befreundet. Ja, Marion würde ihr bestimmt helfen. Ella seufzte. Sie hatte noch einen anstrengenden Abend vor sich.

Mit kalten, steifen Fingern machte sie sich daran, ihre Bluse aufzuknöpfen. Bluse und Hose hing sie über die Leine, die über der Wanne gespannt war. Das Badezimmer war, genau wie der Rest des Hauses, sehr altmodisch eingerichtet. Die Wanne war kurz und schmal, die Armaturen waren in einem klobigen, goldenen Design gehalten und über der Toilette hing ein Wasserkasten mit einer Leine daran. Die Wände waren halb hoch mit kleinen, weißen Kacheln gefliest, darüber hing eine hässliche, grün gemusterte Tapete. Der Boden war mit schwarzen Fliesen bedeckt und wirkte im Gegensatz zum Rest des Badezimmers sehr edel. Rasch zog sie den Bademantel über und richtete nochmal ihre Bluse über der Leine aus, damit sie nicht zu viele Falten bekam.

Plötzlich wurde ihr schwindlig. Ihr Blick zerfiel in kleine Scherben. Als sie klarer sah, hingen ihre Bluse und die Hose zerknittert über der Leine und waren von dunklem Blut getränkt. Dicke Tropfen fielen in die Wanne, jeder davon wurde von einem satten ›Plopp‹ begleitet. Das Blut sammelte sich am Boden der Wanne und lief langsam in einem dickflüssigen, hellroten Rinnsal in den Abfluss. Ella presste die Hände auf den Bauch, ihr wurde schwindlig und übel, sie drehte sich übers Waschbecken. Ihr Gesicht blickte ihr im Spiegel entgegen. Es war entsetzlich zugerichtet. Über dem linken Auge hatte sie eine tiefe langgezogene Wunde, aus der dunkles Blut über das Auge lief und sich im Mundwinkel sammelte. Die Wange war in einer Mischung aus dunkelviolett und gelb verfärbt, die Lider dick geschwollen. Die Haut grau, die Lippen blass, fast weiß. Das Haar hing ihr wirr, dunkel und schwer vom Blut ins Gesicht.

Hinter ihr stand das Mädchen, das sie unten im Flur gesehen hatte, und starrte sie panisch an. Ella keuchte entsetzt auf und drehte sich schnell um, doch da war niemand. Sie ging in die Knie und klammerte sich verzweifelt am Waschbecken fest. OGott­oGott­oGott, murmelte sie panisch vor sich hin. Sie ließ sich ganz herabgleiten und saß völlig verängstigt auf dem Fußboden. OGott­oGott­oGott, wimmerte sie weiter und hob den Blick zu den Kleidungsstücken auf der Wäscheleine. Die hingen harmlos über der Leine, etwas feucht, nichts tropfte, alles ohne jede Spur von Blut. Sie presste die Hände auf den Mund und fühlte sich unglaublich schwach. Sie zog sich zitternd am Waschbecken hoch, riskierte vorsichtig einen Blick in den Spiegel. Alles war wieder normal. Ihr Gesicht war erschreckend blass und ihre Augen weit aufgerissen, der Mund leicht geöffnet. Ihr Atem ging schnell, jedoch war keine Wunde über der Augenbraue, kein Blut, keine graue Gesichtsfarbe zu sehen. Was passiert nur mit mir?, dachte sie und sah sich entsetzt in die Augen.

Kapitel 2

Lisa

»Essen ist fertig!«, hörte Lisa ihre Mutter rufen. Seufzend, doch froh, mit dem Lernen Schluss machen zu können, schlug Lisa ihr Geschichtsbuch zu und lief die Treppe hinunter in die Küche. Es roch schon richtig gut. Ihre Mom hatte bestimmt ein leckeres Abendessen gekocht. Warm gegessen wurde bei ihnen immer abends, wenn ihr Vater nach Hause kam und die ganze Familie sich in Ruhe an dem schönen, großen Holztisch in der Küche versammeln konnte.

Ihr 16-jähriger Bruder Peter war zwei Jahre älter als sie, ärgerte sie meistens und brachte sie zur Weißglut mit seiner Besserwisserei, aber es war trotzdem schön, abends gemeinsam mit allen am Tisch zu sitzen. Peter war 1,80 m groß, muskulös und gutaussehend, der Schwarm aller Mädchen, lästerte sie oft. Er spielte Handball in der Heimlinger Jugendliga als Spielmacher im zentralen Rückraum. Auf jeden Fall waren die Mädchen am Susanne-Löhne-Gymnasium, das sie beide besuchten, verrückt nach ihm. Ihre Eltern waren sehr stolz auf ihn und außerdem der Meinung, es wäre durchaus möglich, dass er eine Sportlerkarriere einschlagen würde.

Lisa freute sich auf das gemütliche Abendessen im Kreis der Familie, bei dem man erzählen konnte, was tagsüber passiert war. Ihr Vater gab oft lustige Geschichten aus dem Büro zum Besten. Von seinem ansteckenden Lachen wurden alle mitgerissen.

Lisa ging den Flur entlang und war schon fast an der Küchentür, als sie hinter sich ein leises Seufzen hörte. Sie drehte sich erstaunt um und sah am anderen Ende der Diele, vor der Eingangstür, einen großen, dunklen Fleck. Stirnrunzelnd ging sie einen Schritt näher und sah eine Lache dicken, dunklen Blutes auf dem alten Holzboden. In dem Blut stand eine junge, dunkelhaarige Frau, die sie erschrocken aus großen Augen ansah. Die Frau war nur leicht verschwommen zu erkennen. Sie öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte und war im nächsten Moment verschwunden. Lisa schrie entsetzt auf. Nein, sie schrie gar nicht, sie brachte nur ein Röcheln zustande. Mit weichen Knien und schneeweißem Gesicht lehnte sie an der Wand. Ihr war schwindlig und ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt.

Ihre Mutter kam alarmiert aus der Küche gelaufen. »Alles in Ordnung? Du bist ja ganz blass. Ist dir schlecht?« Besorgt fuhr sie Lisa übers Haar.

Lisa schüttelte verwirrt den Kopf. »An der Haustür hat sich gerade etwas bewegt, da war ein großer Schatten.« Als sie den besorgten Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter sah, schluckte sie den Rest, der ihr auf der Zunge lag, schnell hinunter. Ihre Mutter würde nur anfangen, sich Sorgen zu machen und sie womöglich gleich ins Bett stecken.

Peter sah neugierig aus der Küchentür. »Hey Kleine, alles ok?«

»Ja, alles ok«, erwiderte Lisa, »ich hab mich nur erschreckt, kein Problem. Jetzt hab ich aber Hunger«, schob sie schnell nach, um ihre Mutter abzulenken.

»Habt ihr Mädchen gestern wieder diese Horrorfilme geguckt?«, fragte Lisas Mutter vorwurfsvoll und zog den Bräter mit dem Hackbraten aus dem Ofen. Sie zog sich die Topfhandschuhe aus und fuhr sich durch das kurze, blonde Haar.

»Hmmm, das riecht aber lecker«, sagte Lisa und ließ sich auf ihren Stammplatz am Küchentisch plumpsen. Immer noch hatte sie das Gefühl, in ihrem Kopf drehte sich alles.

»Ich lass mich nicht ablenken, Lisa!«, sagte ihre Mutter streng.

»Ja, haben wir geguckt«, murmelte Lisa und malte angestrengt Kreise auf des Platzset vor ihr.

»Lisa, das Sensibelchen«, griente Peter, »kriegt von ein bisschen Filmblut Alpträume! Buhhh!«

Lisas Mutter verzog ärgerlich das Gesicht. »Lass sie in Ruhe, Peter, und setz dich hin.« Sie nahm einen Tellerstoß aus dem Schrank und reichte ihn Peter. »Oder noch besser, du kümmerst dich um die Teller. Lisa, du holst das Besteck.«

Grummelnd stemmte sich Lisa wieder vom Stuhl hoch und suchte das passende Besteck aus der Schublade. Ihr Vater kam herein, groß, dunkelhaarig, gutaussehend, mit Lachfältchen im Gesicht. »Hallo, wie geht’s euch?« Er umarmte Lisas Mutter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Du kommst genau richtig«, sagte Lisas Mutter lächelnd, »das Essen ist fertig, setz dich.«

»Na, was gibt’s Neues?«, fragte Lisas Vater und schaufelte sich Kartoffelbrei auf den Teller.

»Lisa hatte Nervenflattern«, grinste Peter und warf Lisa einen schelmischen Blick zu.

Lisa streckte ihrem Bruder kurz die Zunge heraus und nahm sich ein Stück Hackbraten. Eigentlich eines ihrer Lieblingsessen, aber diesmal schmeckte das würzige Fleisch trocken und sie musste heftig schlucken, um überhaupt einen Bissen hinunter zu bekommen. Was war da passiert?, dachte sie, sie hatte sich das doch nicht eingebildet, oder? Sie musste nachher unbedingt zur Haustür gehen und nachsehen, ob dort ein Blutfleck war. Andererseits war der Fleck sehr groß, und ihr Vater hätte ihn nicht übersehen können, als er vorhin zur Tür herein kam.

»Was war denn, Lisa?«, fragte ihr Vater und sah sie besorgt an.

»Ach, nichts«, Lisa warf Peter einen bösen Blick zu, »ich hab mich nur erschreckt. Da war ein Schatten an der Haustür und ich dachte er bewegt sich.« Lisa winkte wegwerfend und schob sich schnell eine große Gabel Kartoffelbrei in den Mund.

»Ja, Lisa, unser Sensibelchen.« Ihr Vater beugte sich vor und tätschelte ihre Wange.

»Die Mädchen haben gestern Abend wieder Horrorfilme geschaut«, sagte ihre Mutter vorwurfsvoll. »Da siehst du, was dabei herauskommt!«

Lisa kaute tapfer weiter und versuchte, fröhlich zu lächeln.

Lisa schloss seufzend die Zimmertür hinter sich und ließ sich aufs Bett fallen. Es war anstrengend gewesen, beim Essen einen normalen und fröhlichen Eindruck zu machen. Aber keinesfalls wollte sie ihre Eltern beunruhigen. Wenn sie erzählt hätte, was wirklich passiert war, hätte ihre Mutter gleich morgen früh einen Termin bei einem Gesprächstherapeuten oder Psychiater oder so ähnlich ausgemacht. Sie machte sich immer gleich so übertriebene Sorgen, vor allem, da Lisa lange Zeit regelmäßig nachts aufgestanden und geschlafwandelt war. Der Arzt hatte ihre Mom zwar beruhigt, dass das in Lisas Alter nicht ungewöhnlich war und sicher auch nach einiger Zeit von selbst wieder aufhören würde, aber ihre Mutter war zutiefst beunruhigt und beobachtete sie mit Argusaugen.

Lisa war hundemüde und zugleich völlig aufgedreht. Ich geh duschen, dachte sie und schnappte sich ihr teures Duschgel aus dem Regal. Die Flasche versteckte sie vor Peter in ihrem Zimmer, denn der würde ihr exklusives Duschgel einfach verbrauchen, ohne zu merken, wie gut man danach duftete und wie geschmeidig es die Haut machte. Mit der Flasche unterm Arm wanderte sie zum Badezimmer und stand vor der abgesperrten Tür. Sie zog die Augenbrauen hoch und klopfte energisch an die Tür. »Peter? Ich muss ins Bad!« Nochmals klopfte sie nachdrücklich.

»Ja, ja«, kam es undeutlich aus dem Badezimmer, »ich bin gleich fertig, muss zum Hand­ball­training!«

Lisa ließ sich im Flur auf den Boden sinken, zog die Beine an und umarmte die Flasche. Na hoffentlich war das ›gleich fertig‹ auch ernst gemeint.

Die Badtür öffnete sich und mit einem Schwall feuchter Luft kam Peter heraus, mit noch nassem, dunklem Haar, frisch geduscht und gut riechend. Ihr großer Bruder sah wirklich gut aus. »Na, kleine Nervensäge, alles klar?« Peter tätschelte ihr liebevoll den Kopf und ging mit langen Schritten zur Treppe.

»Du hast dich aber schick gemacht. Viel Spaß beim Training!«, rief Lisa ihm hinterher. Sie hörte Peter noch fröhlich lachen. Sie hasste es, wenn er ihr den Kopf tätschelte.

Vielleicht nehme ich lieber ein Bad, überlegte Lisa. Dann ins Bett kuscheln und noch ein bisschen entspannende Musik hören. Sie schloss die Tür ab, ließ schon mal das Wasser in die Wanne laufen und fing an, sich auszuziehen. Sie trat zum Waschbecken, um ihr blondes, halblanges Haar hochzustecken. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Die Haare so zu tragen würde ihr auch gut stehen, vielleicht sollte sie das einfach mal ausprobieren. Sie betrachtete ihr schmales, etwas blasses Gesicht mit den großen blauen Augen. Auf der kleinen Nase tummelten sich einige Sommersprossen. Lisa verzog das Gesicht. Sie hasste diese Sommersprossen, obwohl sie auch ein bisschen frech wirkten. Langsam beschlug der Spiegel. Sie nahm ein kleines Gästehandtuch, um die Scheibe wieder sauber zu wischen. Da sah ihr ein fremdes Gesicht entgegen. Sie stolperte einen Schritt zurück und hielt das Handtuch schützend vor sich. Es war das Gesicht der jungen Frau, die sie vorhin unten im Flur gesehen hatte, sie war sich ganz sicher. Lisa bekam Gänsehaut und starrte gebannt in den Spiegel. Die dunkelhaarige Frau war ganz grau im Gesicht und hatte eine schlimme Wunde über der Augenbraue. Blut lief über ihre Wange und sammelte sich im Mundwinkel, die Lippen waren blass, fast weiß. Ihr Haar wirr und voller Blut, das ihr langsam auf die Schulter tropfte. Mit angstvollen Augen blickte sie aus dem Spiegel. Lisa ging rückwärts, bis sie an die Tür stieß, ließ das Handtuch fallen und presste fest die Hände vor den Mund, um nicht wie am Spieß zu schreien.

Kapitel 3

Ella

»So, mein Kind, setz dich zu mir. Leider habe ich keine Milch im Haus.« Entschuldigend blickte die alte Dame Ella an.

Ella zuckte mit den Schultern. »Das macht doch nichts.« Sie setzte sich auf einen der altmodischen Küchenstühle.

»Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?«

Ella nickte. »Ja, gerne.«

»Du kannst mich Charlotte nennen. Weißt du, ich wohne bereits seit einigen Jahrzehnten in diesem Haus.« Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und drehte sich zu Ella um. »Mein Mann hat sich damals förmlich in das Gebäude verliebt und es für uns gekauft. Elisabeth, unsere Tochter, war gerade sechs Jahre alt und es war herrlich, dass sie die Möglichkeit bekam, in einem großen Haus mit Garten aufzuwachsen. Vorher haben wir in Heimlingen gewohnt, direkt in der Innenstadt.«

Charlotte füllte das Glas mit Wasser aus dem Hahn und stellte es vor Ella hin.