Gayer du Vogel - Joachim Polzin - E-Book

Gayer du Vogel E-Book

Joachim Polzin

0,0

Beschreibung

Der Fußball bringt die Geschichte des zwölfjährigen Jürgen "Seppi" Neumann im Dresden der 1970-er Jahre ins Rollen. Von den Eltern ungeliebt, hat er schon früh gelernt, sich allein durchzuboxen: Die Straße ist sein Zuhause. Wenn er nach der Schule mit seinen Kumpels um die Häuser zieht, wird geklaut und geprügelt. Nach einem Beinbruch und einem schicksalhaften Erlebnis im Krankenhaus beschließt Seppi, sein Leben umzukrempeln. Mit Pfiffigkeit und gegen alle Widerstände verdient er sein eigenes Geld, schafft das Abitur, wird sexsüchtig und zum Liebling der Frauen. Als Jürgen zum Wehrdienst einberufen wird, wird er von einem Unterfeldwebel Gayer bis zur Schmerzgrenze malträtiert. Seinem Schwur, sich an denen zu rächen, die ihm Schaden zufügen, bleibt Jürgen treu und geht dabei sogar das Risiko ein, ins Straflager Schwedt versetzt zu werden. Selbst Gayers härteste Schikanen vermögen ihn nicht zu brechen. Bei einem Manöver kommt es zu einem Todesfall - für Jürgen ist es Mord! 24 Jahre später kommt der Tag der Abrechnung ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Joachim Polzin/Autor

Ich bin in Dresden geboren, dort zur Schule gegangen. In Rostock habe ich an der Hochschule für Schauspielkunst " Ernst Busch" studiert. In diesem Beruf war ich am Theater, in Film und Fernsehen beschäftigt.

In meiner Freizeit bin ich mit dem Caravan auf Reisen, koche gern, male in Öl, Bleistift, betreibe Kraftsport und schreibe Geschichten.

Zurzeit schreibe ich an zwei Büchern: „Sparringspartner" / „Hütchenspieler unter der Anwaltsrobe"/ Aus der persönlichen Erfahrung mit diesen Dienstleistern, denen ein Fehlurteil ihrer Mandanten egal ist, denn ihr Honorar kassieren sie so oder so.

Antagonisten sind 8 Anwälte - 4 Richter/in - 2 Gutachter, mit denen in einer spannenden Geschichte abgerechnet wird!

Inhaltsverzeichnis

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Teil II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Hütchenspieler unter der Anwaltsrobe

TEIL I

1

Friedhof

Verdammter Mist, jetzt ist der Ball wieder über die Friedhofsmauer geflogen. Er klettert auf die hohe Mauer und hält Ausschau. Wo liegt die Murmel?

Eigentlich liegt das Ding hier ganz richtig zwischen den ausrangierten Grabutensilien. Die Nähte von dem einstmals neuen Lederball sind aufgerissen, die Gummiblase drückt es nach außen. Er balanciert auf der Mauer entlang und über diesen Haufen von Drahtballen, die dort abgelegt sind, um Friedhofsgänger daran zu hindern, den Weg abzukürzen und dort hindurchzugehen.

Mensch, wo liegt das Lederei bloß? Bei einer Flanke eierte das Ding durch die Luft und bei einem Kopfball krachten die Schädel zusammen, aber völlig am Ball vorbei. Die Flugphase von dem Ding machte alles unberechenbar. Man trat ins Leere und ein Dribbling war eine technische Herausforderung. Das Fluchen und missgünstige Lachen der Gegner waren im Gleichklang. Es ist immer wieder der Spaß am Ende, trotz Tränen und Wutausbrüchen, denn der nächste ist ein Tag für die Revanche. Er hat die Schnauze voll, bis morgen muss ein neuer Ball her. Morgen steht eine Sportstunde auf dem Plan, da muss er mal einen Ball beiseitelegen, im Umkleideraum, wo er später das Ding rausschmuggelt. Warum muss er das wieder klauen? Hä? Weil die sich wieder ins Hemd pissen, wenn er sie fragen würde, ob die den Ball organisierten könnten.

Als er das Hindernis gerade überwunden hat und sich mit vorsichtigen Schritten auf der Mauer weiterbewegt, zieht es ihm das Bein weg und er stürzt von der Mauer, hinab auf ein paar unten abgelegte alte Grabsteine.

Er hört noch ein trockenes Knacksen, bevor er sich einmal um die eigene Achse dreht und zwischen alten Kränzen, Verschnitt und den Grabsteinen zum Liegen kommt. Scheiße, schießt es ihm durch den Kopf. Jetzt ist was passiert! Irgendwie ist das komisch, als er sein rechtes Bein so verdreht sieht und die Ferse statt der Zehenspitzen wie bei seinem anderen Bein.

Dann hört er die Rufe seiner Kumpels. »Seppi, was ist?«

»Verdammte Scheiße, das sieht beschissen aus. Ihr müsst mir helfen!«, brüllt er in ihre Richtung.

Atze, Franky, Manne und Günni, klettern auf die Mauer und besehen sich die Bescherung von oben.

»Mann, glotzt nicht so blöd und helft mir, ich hab mir das Bein gebrochen, das sieht man doch. Holt mich hier raus!«

Die drei klettern runter und stehen hilflos vor ihm.

»Wie denn, Alter?«, fragt Atze ratlos.

»Zerrt den Draht beiseite und hievt mich da durch. Über die Mauer geht nicht.«

Sie machen sich sofort ans Werk, was sich als sehr schwierig erweist, weil alles miteinander verflochten ist. Aber letztendlich entsteht eine Lücke, durch die hindurch es vielleicht möglich sein kann.

»So Jungs, jetzt versuchen wir es russisch rustikal. Das kaputte Bein legt ihr vorsichtig über das andre und rädelt mir einen Draht drum rum, packt mich links und rechts unter … und 2 halten meine Beine hoch und dann los.

»Tut das nicht weh?«, fragt Franky besorgt. »Das sieht aber bissel verdreht aus … hast du wirklich keine Schmerzen?«

»Bis jetzt noch nicht, los geht’s! Das kommt noch, da bin ich mir sicher!«

Günni legt vorsichtig das gebrochene Bein über das gesunde. Entsetzt stellt er fest, dass das Bein viel kürzer ist. Seppi beißt die Zähne zusammen und presst heraus, dass er auch einen dicken Oberschenkel hat.

»Sowas habe ich so noch nicht gesehen! Das eine Bein ist normal, da kannste vorwärts geh´n und mit dem anderen rückwärts.«

»Manne, hast du den Ball vor die Rübe bekomm? Der kann weder vorwärts noch rückwärtsgehen, wir müssen den tragen. Und du weißt, wo du zupacken musst!«, schimpft Günni genervt.

Atze hat inzwischen ein Stück Draht zur Seite gebogen und wickelt es so, wie Seppi gesagt hat, um ihn herum.

Die Enden dreht er über Seppis beiden Beinen zusammen.

»Günni, Manne, ihr haltet das Bein und ihr beiden schultert mich links und rechts und dann versuchen wir’s mal.«

»Wenn’s dir zu wehtut, brüllst du halt. Klaro?«

Seppi nickt.

Alle vier heben ihn an und tragen ihn behutsam zum Mauerdurchgang. Zwischen all den Hindernissen ist es nicht einfach, festen Fuß zu fassen, aber es gelingt, ohne dass Seppi einen Mucks von sich gibt.

»Jungs, das macht ihr wirklich prima. Schafft ihr es, mich bis nach Hause zu schleppen?«

»Du bist herrlich, hast du gedacht, wir lassen dich hier auf dem Friedhof probeliegen?«, quittiert Franky die dumme Frage und lacht dreckig.

Immerhin sind schon einige Meter geschafft, nun nur noch bis in den vierten Stock. Und dann ist da noch Muttern, das wird nicht lustig.

Sie hat versprochen, dass sie es sich heute noch abholen kann, aber zwei Stunden sitzt sie bestimmt noch dran. Der Hosenaufschlag mit dem Stoßband ist etwas zu dick für die Nadel und eine ist schon abgebrochen – bügeln muss sie die Hose auch noch, da darf nichts dazwischenkommen. Einholen müsste sie eigentlich auch noch, aber da kann sie Seppi noch mal losschicken. Wenn der wieder nicht pünktlich ist, kann er was erleben.

So, ein Hosenbund ist fertig!

Hat sie richtig gehört? Es hat doch geklingelt … Sie stellt das Radio leiser und geht in den Flur. Als sie die Tür öffnet, hält sie vor Schreck die Hand vor den Mund.

Sie sieht ihren Sohn, gestützt von seinen Kumpels. Der eine hält Seppis Bein gestreckt.

Sie erkennt sofort, dass da wieder was Schlimmes passiert ist, auch wenn ihr Sohn ein klägliches Lächeln aufgesetzt hat.

»Frau Neumann, Seppi ist unglücklich gestürzt und hat sich da sein Bein verdreht oder so …«, stammelt Franky.

»Bringt ihn in die Küche, das schaue ich mir mal an«, bestimmt sie forsch.

Sie geht voraus und sagt ihnen, dass sie ihn auf den Küchentisch legen sollen. Die Jungs wünschen gute Besserung und werden von ihr mehr oder wenig hinausgeworfen.

Als sie zurück in die Küche kommt, kann sie sich ihren Unmut nicht verkneifen.

»Das nimmt kein Ende mit dir. Löcher im Kopf, gebrochene Finger, blaue Augen, blutige Nasen, Schürf- und Platzwunden, kaputte Klamotten, du musst dich ja immer rumkloppen. Und was ist das jetzt?« Er darf ihr nicht sagen, dass er von der Friedhofsmauer geflogen ist. Das hat sie ihm verboten, weil irgend so eine bekloppte Alte ihr zu getratscht hat, dass sie ihn gesehen hat wie er darauf rumgetunt hat.

»Beim Fußball … bin gestürzt, weil der Arsch von Arnold mir in die Beine gegrätscht hat … der Arsch, der!«

Sie verpasst ihm eine schallende Ohrfeige. Er schaut sie fragend an.

»Die ist für deine Schimpfwörter. Ich kann das nicht hören.«

Es ist nur eine Ausrede, in Wirklichkeit ärgert sie sich vor allem darüber, dass sie die Hosen nicht fertig nähen kann und die Nachbarin nachher vor der Tür stehen wird.

Seppi liegt mit abgestützten Händen der Länge nach auf dem Tisch und schaut seine Mutter fragend an.

Die bellt ihn sofort wieder an, dass er nicht so dumm aus der Wäsche gucken soll. Und weiter tobt sie: »So dreckig, wie du bist, kann ich ja keinen Arzt rufen, zieh deine Schuhe aus und die Socken gleich mit!«

Unter dem Waschbecken zieht sie eine Schüssel hervor und lässt Wasser ein. Seppi sieht, dass es kaltes Wasser ist, na prima. Den Boiler schmeißt sie gar nicht erst an.

»Ich komm nicht an die Schuhe ran«, riskiert er einen zarten Einwand, verbunden mit der Gefahr, dass er gleich noch eine gescheuert kriegen könnte. Bis zum Draht kommt er noch, um den aufzubiegen.

Dann ist sie auch schon da und begutachtet sein Bein.

Aus ihrem fragenden Blick entnimmt er, dass sie nach einer Beantwortung sucht. Wo soll sie anfangen? Dann brüllt sie ihn auch schon an.

»Wieso stehen die Zehen nach hinten und die Ferse nach vorn?«, guckt sie ihn fragend an. Ehe er was sagen konnte, griff sie zu, packt den Fuß und dreht ihn in Richtung Normalstellung, um ihn gleich wieder loszulassen, weil Seppi wie am Spieß brüllt. Da ist sie wieder, die Ohrfeige. Immer auf dieselbe Stelle.

»Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken! Mit deinem Gebrüll, da hört man dich ja im ganzen Haus, bist ja selber schuld!« Patsch, da kommt die nächste, diesmal auf die andere Seite.

Sie zieht ihm die Schuhe von den Füßen und die Socken gleich mit. Alles andere als vorsichtig – russisch rustikal, wie man sagt, wenn jemand so grob ist. Seppi sieht seine dreckigen Füße und weiß, was ihn erwartet.

»Schrei bloß nicht rum, ich warne dich!«, droht sie ihm schon vorher. Und zeigt ihm mit erhobener Hand, was dann passiert.

Da macht sie auch schon los, schmiert die Füße mit Kernseife ein, bis der Schaum schwarz ist.

Seppi beißt die Zähne zusammen, denn jetzt beginnt der Oberschenkel schmerzhaft zu hacken. Mit dem Küchenlappen wischt sie die Füße trocken. Die Zehennägel sind noch schwarz. Wenn die jetzt die Wurzelbürste holt, dann …

Er setzt an, etwas zu sagen, da hat er auch schon den Lappen im Gesicht, so heftig, als würde sie ihn auf den Fußboden klatschen. Er schmeckt die Seife und bekommt kaum Luft. Bloß keinen Mucks mehr von sich geben, sonst kriegt er den Lappen noch mal um die Ohren. Seppi hat großen Durst, traut sich aber nicht, danach zu fragen.

»Die alte Trainingshose kriegen wir ja nicht runter, aber ein sauberes Hemd ziehst du noch an, bevor ich den Krankenwagen rufe … Mein Gott, nichts als Ärger, mit dir hat man wirklich nur Ärger.«

Kopfschüttelnd geht sie aus der Küche, um ein frisches Hemd zu holen.

Sie wirft es ihm zu und sagt, dass sie jetzt anrufen geht.

»Wo ist mein Portemonnaie? Hab‘ ich überhaupt Kleingeld? Rühr dich bloß nicht von der Stelle, ich bin gleich wieder da!« Und weg ist sie.

Hat sie ihm jetzt gedroht oder war sie besorgt? Wo soll er denn hin?

Weggehen kann Seppi ja nicht, aber er wird sicherlich schon weg sein, wenn Vater von der Arbeit kommt und ihm seine Tracht Prügel verabreicht. Dass ihn ein gebrochenes Bein daran hindert, glaubt er nicht, schon gleich gar nicht, wenn er wieder einen zu viel gekippt hat.

Ins Krankenhaus … Was macht man da mit ihm? Scheiße, vielleicht schickt man ihn wieder heem, wenn die ihn eingegipst haben. Das haben die mit Eddy auch gemacht, als der sich das Schienbein gebrochen hatte. Na dann.

»Das wär‘ nicht so gut«, murmelt er vor sich hin. Obwohl, ein paar Tage Krankenhaus wären schon nicht schlecht.

Er seufzt. »So hat doch alles Schlechte auch sein Gutes!«

Seppi sitzt noch immer auf dem Tisch. Ihm tut nicht nur das Bein weh, sondern auch sein Hintern.

Jetzt ist bestimmt schon ’ne halbe Stunde vergangen, solange ist Muttern schon wieder da. Sie sitzt jetzt wieder an der Nähmaschine und trampelt in die Fußwippe, wie Täve Schur in die Pedalen zur Friedensfahrt.

Er hat noch immer Durst, die Zunge klebt ihm schon am Gaumen, aber traut sich nicht danach zu fragen, weil er weiß, dass sie ihm sowieso nichts geben wird. Die Antwort auf seine Bitte wäre garantiert, dass er sich gedulden soll, sie muss das da erst fertig machen. Er wird schon nicht verdursten. Also Klappe halten, der Tag ist noch lang.

Es klingelt, das werden bestimmt die Sanitäter sein. Muttern geht zur Tür und lässt sie rein. Richtig, da kommen zwei Weißkittel rein. Einer schleppt eine Trage.

»Tach Junge, na da woll’n wir uns dein Malheur mal anschauen«, sagt der andere.

Der erste sieht seinem Kollegen über die Schulter und stellt fest, dass der Oberschenkel gebrochen ist.

»Genau«, meint sein Kollege, »dann lassen wir alles so, wie es ist. Wir wollen dich ja nich‘ unnötig quälen, Kleiner«, nickt er Seppi freundlich zu.

»So, Großer, jetzt rutsch mal ganz dicht an die Wand, dann legen wir die Trage davor und bugsieren dich drauf. Einverstanden?«

»Ja, mach ich, ich mach mich lang und ganz steif!«

Die beiden fassen ihn unter und heben ihn wie ein Brett auf die Trage.

»Schönes Arbeiten mit dir, Großer! Jetzt schnallen wir dich fest, damit du uns nicht runterfällst.«

Gesagt, getan, und schon geht der Transport los. Der Vordere trägt das Gestell in Schulterhöhe und der Hintere in Hüfthöhe durch die Wohnung. Seppi hält sich fest, damit er nicht nach hinten rutscht.

Der Schwerpunkt verlagert sich, als es die Treppen runtergeht. Er will noch ganz schnell Muttern fragen, ob sie… da fällt die Tür ins Schloss.

Seppi merkt, dass er langsam nach vorn und sein gesundes Bein über die Querstrebe rutscht, aber das kaputte daran hängen bleibt und zusammengestaucht wird. Verdammte Scheiße! Er kann sich auch nicht hochschieben, weil er quer festgeschnallt ist. Jetzt schiebt sich die Bruchstelle noch mehr zusammen und sein Oberschenkel wird immer dicker. Er hat das Gefühl, als würde sich der Knochen gleich durch das Bein bohren. Oh Mann, sind das Schmerzen! Er will am liebsten schreien, aber das wäre im ganzen Haus zu hören und Mutter peinlich.

Wo sind wir jetzt? Noch eine Etage, dann liegt Seppi wieder in der Horizontalen und die Schmerzen sind nicht mehr so schlimm wie gerade. Was sehnt er diesen schmerzfreien Moment herbei. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Nur noch die 4 letzten Stufen vor dem Eingang.

Gleich hat er‘s überstanden …

2

Krankenhaus

Seppi schaut auf die Uhr über der Tür. 4:55. In fünf Minuten ist es wieder so weit. Dann kommt sie reingewalzt und die Nacht ist zu Ende.

Jeden Morgen dieselbe Prozedur, wenn sie Frühdienst hat. Sie hat schon seit vier Tagen Frühdienst und die Woche hat noch drei Tage, bevor der Schichtwechsel kommt.

Seppi drückt seine beiden Handflächen auf die Glasplatte des Nachtschranks, um sie etwas anzuwärmen.

Dann ist es so weit. Schwester Berta reißt die riesengroße zweiflügelige Tür auf. Sie brüllt, dass die Nachtruhe beendet sei, schaltet das Licht an, gleitet mit ihren bestimmt 140 Kilo bei vielleicht eins sechzig wie ein Kugelblitz durch den Raum zu den Fenstern, die sie sperrangelweit aufreißt. Sie gleitet geräuschlos, wie ohne Absätze durch den Raum, als trüge sie Rollschuhe und wäre von hinten angeschoben worden oder als schwebte sie auf einem Luftkissen. Hätte sie ein volles Glas Wasser auf dem Kopf stehen, nichts würde überschwappen. Ihr Kittel hängt fast bis zum Boden. Und nun kommt sie auf ihn zu. Warum fängt sie immer bei ihm an? Gegenüber sind noch neun Betten, einige davon belegt, nein, und dann geht das Theater auch schon los.

Das Luftkissen schwebt wieder zur Tür, schnappt sich den Teewagen, auf dem eine große Aluwaschschüssel steht, und kommt wieder zu ihm. Nun hakt sie die Gewichte vom Fußende ab, vom Rohrgestell, das an seinem Bettende montiert ist, damit sein bandagierter Oberschenkel gestreckt wird.

So eine Scheiße, dass er nur auf dem Rücken liegen kann. Richtig zudecken kann er sich auch nicht, weil sein Bein und die eine Arschbacke komplett im Freien liegen.

»Na, ausgeschlafen? Halt fest!«

Damit meint sie, dass er sein Bein mit beiden Händen greifen soll. Dann kommt die mit Unmut erwartete Prozedur.

Schwester Berta fasst ihn unter und hebt ihn mühelos auf die Tischplatte. Da er nur ein kurzes Nachthemd anhat, sitzt er mit dem nackten Hintern auf der kalten Glasplatte. Kalt ist es auch an den Eiern.

Zusätzlich muss er sich noch ausbalancieren, damit er nicht vom Nachttisch fällt.

Schwester Berta zieht das Bettlaken ab, wendet es und spannt es wieder über die Matratze, schüttelt Kopfkissen und die dünne Decke auf, packt ihn wieder mit geübtem Griff, legt ihn hin, schlägt die Decke nach oben, hängt ihn wieder an die Gewichte, fischt den Waschlappen aus der Schüssel, wringt ihn etwas aus und schon hat er ihn im Gesicht. Nicht ganz so forsch wie bei Muttern.

Seppi brennen die Augen von der Seife oder was auch immer an Lösungsmitteln in der Schüssel ist.

»So, Kleener, was willste zum Frühstück? Kaffee oder Tee?«

Jeden Morgen dieselbe Frage, und das schon seit über zwei Wochen. Kaffee oder Tee? Zwei-, dreimal hat er Kaffee getrunken, immer in der Hoffnung, dass der sich im Geschmack mal von der Milch absetzen würde. Hoffnungslos! Es bleibt bei Muckefuck! Und Tee? Das muss der schwarze Tee sein, der so bitter ist, dass man ihn mit mindestens vier Stück Zucker drin, überhaupt erst genießbar machen muss. An die belegten Brötchen will er gar nicht erst denken.

»Ich nehme Tee!«

Schwester Berta will gerade verschwinden, da dreht sie sich um und blickt ihn wortlos an … Mann, die hat sich aber wieder.

»Bitte! Ich hätte bitte gern Tee, Schwester Berta!«

»Geht doch, Kleener!«, entgegnet sie und schwenkt zum Nachbarn.

Während sie sich wegdreht, mahnt sie, dass er nicht vergessen soll, sich die Zähne zu putzen. Dort beginnt der gleiche Ablauf, nur muss keiner mit dem nackten Arsch auf die Scheißglasplatte. Die können wenigstens neben dem Bett stehen und in den Waschraum gehen.

Um neun kommt das Frühstück mit zwei belegten Brötchen. Es gibt immer nur die beschissene Schmierwurst, Mettwurst, Leberwust, grob oder fein, und Blutwurst mit fetten Grieben. Erdbeermarmelade ist auch dabei. Gott sei Dank sind die Geschmäcker verschieden und sie tauschen fleißig untereinander. Der eine ist ein Süßhahn und der andere scharf auf Mettwurst. Wenn Seppi Glück hat, nimmt er Leberwurst, doch die anderen gehen von Bett zu Bett und tauschen, da geht er oft leer aus.

Was soll’s, dem Hunger ist’s wurscht und da gibt’s eben keine Auswahl. Morgen ist auch noch ein Tag.

Zum Mittag soll es Bratwurst mit Sauerkraut und Stampfkartoffeln geben, wie am letzten Dienstag. Im Brei ist Kümmel drin. Das Sauerkraut ist aus dem Glas, auch mit Kümmel und aufgewärmt, und die Wurst nur halbseitig angebraten. Es ist ein lieb- und geschmackloser Fraß und das zieht sich durch die ganze Woche. Die können hier am Essen sparen, denn Nachschlag verlangt keiner.

Noch mehr ärgert Seppi, dass er kein richtiges Nachthemd oder einen Schlafanzug hat. Wenigstens eine Hose wär‘ schon was. Die Dreieckbadehose wäre ideal, die ist an einer Seite offen und wird nur zugeknöpft.

Irgendwann kann er bestimmt mal das Bett verlassen und an Krücken gehen, dann muss er nicht mehr auf die Bettpfanne und die Pinkelente ist dann auch Vergangenheit. Er kann doch nicht ewig mit dem kurzen Hemd, sichtbar mit nackten Hintern und Schniedel durch die Gegend humpeln!

Mutter war am zweiten Tag zu Besuch und hat klipp und klar gesagt, dass sein Schlafzeug nichts fürs Krankenhaus sei, da würde sie sich schämen. Sie wollte sich mal nach was Günstigem umsehen. Er sei selber dran schuld, warum muss er denn auch auf der Friedhofsmauer rumklettern? Irgendwer hat es ihr doch gesteckt, dass er von der Mauer geflogen ist. Mann, das ist doch Schnee von gestern, verjährt. Seinen Wunsch schluckt er runter, bringt sowieso nichts.

»Mach dir mal Gedanken drüber, dass du in der Schule noch mehr hinterherhängen wirst«, zischt sie ihm mit unterdrückter Wut in der Stimme zu.

Sie hat die Klassenlehrerin, Frau Schröder, auf der Straße getroffen und die hat ihr gesagt, dass er in Russisch, Erdkunde, Biologie, Chemie, Deutsch, Mathe auf Vier steht. In Betragen und Ordnung sieht es nicht viel besser aus. Er sei versetzungsgefährdet! Sollte er sitzen bleiben, dann nimmt sie ihn nach der achten Klasse aus der Schule, da kann er als Hilfsarbeiter auf den Bau gehen.

»Du machst uns nur Ärger. Wann hat das mal ein Ende!«

Mutter ist aufgestanden und gegangen. Dabei hatte sie den Kopf eingezogen, als würde sie sich schämen, dass ihr der ganze Ärger auf der Stirn geschrieben steht, und jeder lesen kann.

Heute am Mittwoch ist wieder Besuchstag, da kommen halbe Familien reingestürzt. Fressalien bringen sie mit, und was für welche! Äpfel, Schokolade, rote Limo, Bier, fertig gebratene Schnitzel, Knacker und weiß der Kuckuck was.

Der mit dem Verband um den Kopf hatte am Sonntag drei Bananen auf seinem Nachttisch liegen und aß eine ganz auffällig und genussvoll vor den neidischen Blicken seiner Bettgenossen. Seine Bemerkung: »Und dann noch mit Nudossi bestrichen – lecker!«

Am nächsten Morgen lagen zwei Bananenschalen auf seinem Teller und ein Zettel, auf dem geschrieben stand:

»Lecker, auch ohne Nudossi!«

Erst hat er ganz dumm geguckt und geschimpft wie ein Rohrspatz: »… keine Ehre, ihr kleinen Zwiebeldiebe, das sind Bananen vom Klassenfeind, schämt euch, ihr … ihr …«, und dann hat er herzlich gelacht. »Meine Alte arbeitet im Großhandel, ich red‘ mal mit der.«

Die Kranken kommen und gehen. Früh wird entlassen und abends ist das Bett wieder belegt. Alle Jahrgänge. Nachts wird geschnarcht und gefurzt.

Ab zweiundzwanzig Uhr ist Nachtruhe. Schnell in den Schlaf, dann hat man mehr davon. Wenn einer in der Nacht in seinen Hauslatschen schlaftrunken zum Klo schlurft, ist sie auch schon wieder vorbei.

3

Andy

Die Besucherstunde muss er sich nicht antun, denkt sich Seppi. Was soll schon passieren? Er kriegt sowieso keinen Besuch.

Er fragt Micha, der sich den Knöchel gebrochen hat, ob er seine Krücken und seinen Bademantel bekommen kann und er ihm die Gewichte abhängt. Das tut der auch und warnt ihn vor Schwester Berta.

Seppi muss hier raus, auf die Verwandten und das Abschmatzen kann er verzichten. Mit den Krücken hat er nach wenigen Schritten den Dreh raus.

Weil seine Station im Erdgeschoss liegt, ist es nicht schwer, zum Hinterausgang, in die Parkanlage zu humpeln. Seppi entdeckt eine Bank, die von der Märzsonne voll beschienen wird.

Neben der Bank sitzt jemand im Rollstuhl, der bis zum Hals in dicke Decken eingemummelt ist.

Seppi setzt sich ganz außen auf die Bank, hängt den Papierkorb aus und stellt ihn so hin, dass er sein steifes Bein darauf ablegen kann.

»Hallo«, begrüßt er dann den Mann im Rollstuhl.

Der ist jung und grüßt mit einem freundlichen Lächeln zurück. Seppi überlegt kurz, ob er dieses Gesicht schon mal gesehen hat. Der Typ sieht gut aus, mit pechschwarzen Haaren und hellblauen Augen. Wo hat er ihn bloß schon mal gesehen?

Seppi verjagt etwas mit der Hand, das ihm vor dem Gesicht rumfliegt. Es ist eine Biene oder Wespe, die sich jetzt auf die Stirn des Typen setzt. Der schüttelt den Kopf, aber das Insekt bleibt und krabbelt über sein Gesicht. Der Mann hält still.

Es ist eine Wespe, stellt Seppi fest, denn das Hinterteil ist schwarzgelb. Bei einer Biene ist das Hinterteil bräunlicher, glaubt er sich zu erinnern. Die kann stechen, sogar mehrmals. Die Wespe nur einmal, weil die einen Stachel mit Widerhaken hat und nach dem Stich stirbt. So herum ist das doch, oder?

Mann, ist der locker. Jag sie doch weg, Mensch … Aber es hat sich erledigt, die Biene, er legt sich jetzt fest, die Wespe fliegt genau in dem Moment davon.

»Die Sonne ist schon schön warm«, sagt Seppi, um irgendetwas zu sagen.

»Ja, das ist sie«, sagt der Typ gedankenversunken und mit ganz leiser Stimme, mehr zu sich selbst. Gesprächig scheint der nicht zu sein!

»Wo wohnst du denn? Besser wo bist du hier untergebracht?«, fragt Seppi ihn, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Im Haus C, da drüben«, sagt der Mann mit geschlossenen Augen leise. Er scheint die Sonne zu genießen. »Und du?«, fragt er dann tonlos.

Daraufhin sprudelt es nur so aus Seppi raus, als hätte man einen Stöpsel aus einem Fass gezogen. Es hat sich einiges bei ihm angestaut, seitdem er hier im Krankenhaus so dumm rumhängt, an dem Gestell mit den Gewichten.

»Mann, mir wird schlecht, wenn ich sehe, was sich da drin zu den Besuchszeiten abspielt. Da kommen alle Familienmitglieder von der Oma bis zum Enkel und es wird abgeknutscht, gedrückt und gestreichelt, als würden die die Nacht nicht überleben – ekelhaft. Und was die denen alles mitbringen! Da denkste, Ostern und Weihnachten fallen auf einen Tag. Bekloppt! Deshalb bin ich hier, bis das ganze Theater da drinnen vorbei ist.«

Schläft der?

»Ja, ich hab‘ nur noch Pech, das müsste alles nicht sein, der ganze Scheiß. Hier mein Bein, da bin ich auf der Friedhofsmauer rumgeturnt, wir haben vorn Fußball gespielt. Kennst du den Friedhof, in Löbtau?«

»Ja, kenn ich.«

Ha, der schläft doch nicht!

»Dort ist die Mauer so auf drei Meter eingestürzt und da haben die Hirnis, damit keiner abkürzt, massenweise solche Drahtballen abgelegt. Ich bin da mitten durch, auf die andere Seite der Mauer und bleib an so ’nem Scheißdraht hängen und fliege runter, mitten auf ein paar alte Grabsteine, die kreuz und quer unten rumliegen. Klatsch, und da hat es knacks gemacht! Typisch, sowas kann nur mir passieren. 100-mal bin ich da drüber geklettert, nichts und dann klatsch, lag ich zwischen den alten Grabsteinen.«

Seppi macht eine Pause, weil er auf irgendeine Reaktion wartet. Bedauern, Mitleid oder so … doch nichts. Nur irgendwann ein gelangweiltes »Ja, und?«

»Ja, und? Da haben mich meine Kumpels rausgehievt, aus den Grabsteinen, durch den Draht durch und mich nach Hause geschleppt, bis in den vierten Stock! Mann, das hat vielleicht wehgetan, das kannst du dir nicht vorstellen! Ich hatte einen ganz dicken Oberschenkel und das Bein war verdreht, die Ferse stand nach vorn und das Bein baumelte an mir rum wie die Bimmel in der Glocke. Mein lieber Schwan, ich dachte, ich nibbel ab!«

Der Typ sitzt ja weiter völlig bewegungslos da und träumt in der Sonne vor sich hin …

»Und was noch?«, fragt er dann eher gelangweilt.

Geh ich dem aufn Sack?

»Was noch?«, fragt Seppi etwas verdattert.

»Ja.«

»Ja, das Drama ging dann weiter. Meine Mutter war so was von begeistert. Ich musste mich auf den Küchentisch setzen. Das Bein hat sie erst mal gerichtet – russisch rustikal – und so lange gedreht, bis die Zehen wieder vorne waren. Glück gehabt, dass sie in die richtige Richtung gedreht hat. Ich hab‘ gebrüllt wie ein Schwein am Spieß und dafür gleich ’ne Watsche abgekriegt. Dann hat sie mir mit einem Ruck die Schuhe die Strümpfe gleich mit ausgezogen. Als sie meine dreckigen Füße gesehen hat, hat sie sie mir erst mal gewaschen, denn mit sowas kann man ja nicht den Arzt rufen, hat se die ganze Zeit gewettert, und dann ist sie zur Telefonzelle gerannt.«

Hat er da ein kleines Schmunzeln gesehen?

»Na ja, dann sind zwei Sanitäter gekommen, Kerle mit einem Kreuz wie die Möbelpacker, haben mich auf die Bahre geschnallt und da ging die Post ab, vier Stockwerke runter. Die haben mich so schräg nach unten getragen, weiste, dass ich langsam nach vorn, nach unten geruckelt bin. Mein normales Bein, also mein heiles, ist über die Querstrebe gerutscht und das andere hat dagegen gestaucht, weiste und ist dabei immer kürzer geworden. Komisch war, dass das gar nicht so doll wehgetan hat, erst als der Schinderhannes von Arzt das Bein ausgerichtet und wieder auf gleiche Länge gezogen hat.«

Schweigen

»Du, da drin gibt es eine Oberschwester, die Berta«, Seppi zeigt in Richtung Stationshaus, »die hat mich voll im Klammergriff gehabt, damit der Schinderhannes mich nicht vom Tisch zieht. Ich hab‘ gedacht, ich bin wieder beim Ringen. Der hat mit seinen kalten Griffeln die Bruchstelle angefasst, aber bis auf die Knochen. Den Griff spür ich heute noch. Dann haben die mich von oben bis unten mit breitem Klebepflaster eingewickelt, auf die nackte Haut, verstehste? Dann an der Fußspitze einen Strick mit Karabiner eingehakt und über eine Rolle, an so ’nem Gestell, überm Bett, solche Scheiben als Gewichten angehangen, damit immer ein Dauerzug draufbleibt. Kannste also nur auf dem Rücken liegen und das ist so was von beschissen, sag ich dir … ja, und auf die Hütte kannste auch nicht gehen, sondern musst auf die Pfanne und in die Ente pinkeln. Kannste dir vorstellen, wie peinlich das ist?«

Immer noch keine Reaktion.

»Mann, das juckt wie verrückt, ich werd' wahnsinnig!«, ruft Seppi und schlägt sich auf den Schenkel.

»Ja, und nun häng ich noch ’ne Weile hier rum, zwe Wochen noch, schätz ich. Muss mal nachfragen.«

»Und dann?«, fragt ihn der Träumer.

»Und dann? Was soll dann sein?«

Seppi hebt die Schultern.

Der Bursche starrt ihn an, als wollte er ihn durchbohren. Nach einer Weile fragt er ihn: »Wie alt bist du?«

»Im Juni werd ich dreizehn, und du?«

»Einundzwanzig«, antwortet der Typ nur und schaut lange an ihm vorbei, irgendwie ins Leere, ohne zu blinzeln.

»Du wirst wieder gesund und dein Leben geht weiter … irgendwie … Was wirst du anders machen … wenn du hier wieder raus bist?«

Seppi überlegt, ob er ihm auch das erzählen soll. Der Typ hat ihn gefragt und der ist ja auch mal zur Schule gegangen.

»Wenn ich hier wieder raus bin? Bis jetzt war ich ein fauler Hund und die Schule ist nicht so mein Ding. Dafür, dass ich fast nichts mache, bin ich fast schon wieder gut. Ich hab‘ mehr Vieren als alles andere auf dem Zeugnis und wenn nicht ein Wunder passiert, bleib ich sitzen. Meine Mutter hat schon damit gedroht, dass sie mich rausnimmt. Ich soll arbeiten gehen und den Alten nicht auf der Tasche liegen.«

»Hast du noch Geschwister?«, fragt ihn der Rollifahrer.

»Ja, noch vier, aber die sind alle älter und schon raus.«

Auf einmal fällt bei ihm endlich der Groschen.

»He, jetzt weiß ich, dass ich dich schon mal gesehen habe!«, jubelt Seppi begeistert. »Ich hab‘ die ganze Zeit überlegt, woher ich dein Gesicht kenne! Du warst im Dölzschener Bad. Ich hab‘ dich Volleyball spielen sehen, mit so ’ner hübschen Kirsche. Die hatte lange blonde Haare mit ’nem Pferdeschwanz, ’nen roten Bikini an und ’ne tolle Figur. Der wär‘ fast alles rausgehüpft, so wie die Einsatz gezeigt hat. Und du musst auch ’ne Sportskanone sein. Kein Gramm Fett über deinen Bauchmuskeln. Ist das deine Freundin? Nicht schlecht, Herr Specht!«

»Ja, das ist … war sie … «

»Und was treibst du für ’nen Sport?«, fragt Seppi weiter.

»Kanu, im Zweier und Vierer.«

»Ha, ich sehe ab und zu solche Boote auf der Elbe hoch- und runterpaddeln. Macht dir das Spaß?«

»Jaja … doch. Erfolg, Selbstbestätigung, Disziplin, Freundschaft, einen Europameistertitel, zweiter Weltmeister zu sein, der für die Olympiade trainiert … hat.«

»Pffaaah … echt nicht schlecht, Herr Specht!«, kommentiert Seppi bewundernd.

»Und wie paddelst du so durchs Leben, Kleener, nach der Schule?«

»Na, schau mich an, muss mir das gerade passieren! In der Schule kack ich ab! Ich trag die ganze Zeit die Klamotten meiner Geschwister ab. Meine Mutter schickt mich aller vierzehn Tage zum Haareschneider, der mir fünf Zentimeter über den Ohren die Murmel abdreht. Das nennt sich Topfschnitt. Ich seh‘ scheiße aus. Wenn ich hier raus bin, krieg ich bestimmt noch Nachschlag und acht Tage Stubenarrest, für meine Friedhofsaktion. In drei Monaten hol ich den Schulstoff niemals auf und dann bin ich der Dummdackel und brumm noch mal nach oder meine Alten machen ihre Drohung wahr! Meine Aussichten sind beschissen. Meine Träume bleiben Träume. Bin selber schuld. Jetzt quatsche ich meiner Mutter schon nach.

Du bist zu beneiden, du hast das alles hinter dir! Aber sag mal, warum bist du eigentlich hier?«

»Ich? Ich hatte einen Unfall.«

»Ha, den hatte ich auch! Was ist dir denn passiert?«

Lange Pause.

»Ich weiß das nicht so genau, da ist jetzt noch eine große Leere, ein schwarzes Loch. Ich bin wie immer abends nach dem Training mit der Bahn nach Hause gefahren. Ich sitze immer im letzten Hänger. An dem Tag bin ich ausgestiegen und wie immer hintenrum, weil ich auf die andere Straßenseite muss … Ab und zu fährt die Bahn in die Gegenrichtung gerade vorbei, manchmal nicht – aufpassen muss man schon.«

»Und dann?« Seppi ahnt, dass jetzt gleich was Schlimmes kommt.

Pause … Pause … Pause …

»Man hat mir gesagt, dass mich ein Betrunkener angerempelt hat. An den kann ich mich erinnern, der war im selben Waggon und hat die ganze Zeit rumgegrölt. Ja … und da kam die Bahn …«

Seppi spürt, dass er jetzt besser nicht mehr nachfragen sollte.

In dem Moment kommt eine Krankenschwester und sagt ganz freundlich, aber wie zu einem Kleinkind: »So, Herr Sommer, die Besuchszeit ist zu Ende. Wir fahren jetzt schön wieder hinein.«

Von dem kommt keine Reaktion. Sie berührt ihn vorsichtig an der Schulter. Aus seinen Gedanken gerissen zuckt er.

»Wie? Ja, machen wir …«

»Gut, Herr Sommer.« Die Schwester löst den Radstopper und will ihn wegfahren. Da bittet er sie, ihn noch mal direkt zu dem Jungen zu drehen.

Er schaut Seppi in die Augen und sagt mit einem schwachen Lächeln: »Ich erkenne dich jetzt auch … ein wenig. Ja, du hast mir den Ball mit einem Handballenunterschlag zugespielt – ziemlich geschickt – und grüne Haare hattest du«, und grient ihn an.

»Genau, von diesem Scheißchlor«, antwortet Seppi mit einem gekünstelten Lachen.

Warum sieht der mich so lange an? Was überlegt der? Dann schlägt der Typ plötzlich die Decke zur Seite.

Seppi wird es plötzlich heiß, als würde eine Feuerwalze durch seinen Körper strömen. Er kann nicht schlucken, starrt hin - wie gelähmt. Dann atmet er heftig und kann es nicht unterdrücken. Tränen schießen ihm in die Augen, so dass er alles verschwommen sieht.

Um Gottes willen, was sieht er da noch durch den Tränenschleier?

Er sieht dick mit Binden verpackte Armstumpen. Aus dem rechten Verband ragt nur noch der Rest eines Unterarms raus und vom linken Arm ist bloß ein Stück oben an der Schulter zu sehen. Und die Beine? Die sind nicht mehr da – nur dick eingewickelte Stümpfe. Ab Kniehöhe sind die Schlafanzughosen umgeschlagen und festgepflastert.

»Ich bin der Andreas, meine Bekannten und Freunde rufen mich Andy, und du?«

Seppi schluckt krampfhaft, räuspert und stammelt.

»Jürgen … Ich bin Jürgen, meine Freunde rufen mich Seppi.«

»Glaub mir, mein Freund, wenn ich eine Vorahnung von meinem Schicksal gehabt hätte, hätte ich ein Heute gelebt, als würde es kein Morgen geben. Mach’s gut, Seppi!«

Andys rechter Stumpen zuckt.

»Ha, das Hirn glaubt, ich hätte noch Hände und Füße. Ich spüre die Hand noch, die ich dir gerade geben wollte. Meine Beine sind auch noch dran, siehst du, wie ich mit den Zehen wackle? Mein Hirn ist wie ein Wetterhäuschen, dort sitzt der Bösewicht, der mich verarscht, indem er mir etwas vortäuscht, was nicht mehr da ist. Und dann kommt der andere raus, redet mir ins Gewissen, fragt, wie lange ich noch so ein unwürdiges Leben aushalten will.«

Wie kann der da noch lächeln?

»Seppi, was ist dein Traum? Hast du Träume?«

Seppi räuspert sich, »Ich? Ja klar … Arzt, äh … Tierarzt ist, wäre mein Traum.« Andy lächelt, »du wirst Tierarzt, da bin ich mir sicher. Vielleicht kann ich dich dabei unterstützen.«

Er sieht verschwommen, wie die Krankenschwester mit ihrer Hand in ihrem Gesicht wischt.

»Für meine Eltern bin ich ein Pflegefall … Meine Freundin … das klärt sich auch … nein, das ist schon geklärt … Und mein Hund Aibi, ein kleiner reinrassiger Mischling, wie ich immer sage, ist sicher schon im Tierheim …«

Seppi sieht, wie Andreas überlegt, zögert, ehe er weiterspricht.

»Weißt du, was Würde ist?«

Seppi zuckt nur hilflos mit den Schultern, der Anblick hat ihm die Sprache verschlagen.

Andreas lächelt milde, aber seine Augen blicken traurig. Leise sagt er: »Die Würde ist ein ganz dünner Mantel, mein Freund, den man auch bei größter Kälte tragen muss, …«

Seine Augen blicken an dem Jungen vorbei und dann verbessert er sich, »… tragen sollte … bis zum Ende.«

Seppi merkt gar nicht, dass er diesen Spruch nickend bestätigt, als hätte er ihn schon mal gehört. Er hat ihn nicht gekannt, aber jetzt hat er sich bis in alle Ewigkeit in sein Gedächtnis eingebrannt.

»Seppi, was du an Problemen hast, die Schule, dein Bein und was in deiner Zukunft noch auf dich zu kommt, das sind nur Problemchen, es ist nichts, gar nichts, glaub mir. Wenn du einmal in einer aussichtslosen Situation bist und glaubst, es geht nicht mehr, dann denk an mich.

Da gibt es … da gab es den Andy, der sofort, auf der Stelle, mit einem Lachen, mit Freudensprüngen, mit dir tauschen würde. Das Ganze könnte sich noch x-mal abspielen … trotzdem würde er es dir mit einem Jubelsprung abnehmen … alles und immer wieder und immer wieder!«

Abrupt wendet sich Andy zur Krankenschwester. »So, bringen wir es zu Ende.«

Die hat bei dem Gespräch die ganze Zeit in eine andere Richtung gesehen, als wäre sie gar nicht anwesend, und vergeblich versucht, die Tränen zu unterdrücken.

Nun dreht sie den Rolli um und fährt ihn langsam den Weg runter.

Auf einmal halten Andreas und sie an, er spricht etwas und daraufhin fingert sie an seinem Hals rum und kommt zu ihm zurück.

»Das soll ich dir geben«, sagt sie heiser und legt Seppi ein goldenes Kettchen in die Hand.

An der Kette ist ein Anhänger.

»Danke …«, krächzt er nur zur Antwort, wegen seiner belegten Stimme.

Die Frau läuft zu Andreas zurück und schiebt ihn weiter. Seppi sieht, dass der den Arm hebt, das, was davon übrig ist, und mit dem Stumpen noch einmal winkt.

Seppi winkt zurück.

Wie versteinert sitzt Seppi auf der Bank. Was hat er gerade erlebt? Er versucht, den Wirbel seiner Gedanken zu beruhigen, zu ordnen. Da war ein junger Mann, der Ähnlichkeit mit dem Schwimmweltmeister und Olympiasieger Marc Spitz hat. Dieser, wie hieß er gleich? Andreas … Andy, den er im letzten Sommer noch bewundert hat. Der in der Kantine neben ihm stand und zehn Pfennig ausgelegt hat, die ihm zu der Bockwurst und Limonade noch fehlten, als diese Kioskpfeife ihn drängelte, weil er die ganze Schlange aufhielt. Da legte dieser Andy einen Groschen hin und sagte, glaubt Seppi sich zu erinnern:

»Alles geregelt, Chef. Weiter geht’s! Lass dir’s schmecken, Kleener.«

Und derselbe Typ, diese Sportskanone, hat ihm gerade nur noch als ein Klumpen von Mann gegenübergesessen …

Ihm ist flau im Magen.

Er öffnet die Hand und sieht, Andreas ist auch Krebs, wie er ...

Das Sternzeichen ist golden und befindet sich in der Mitte eines silbernen Kreises.

Er versucht krampfhaft das Caos in seinem Kopf zu ordnen. Es sind Gedankenblitze … blonde Frau, roter Bikini … Straßenbahn Blut … das lachende Gesicht von Andy … eine Ohrfeige von Muttern … er stürzt mit dem Fahrrad ...

Er schließt die Augen und drückt seine Hände gegen die Schläfen und versucht langsam und gleichmäßig zu atmen. Er öffnet die Augen und hat wieder einen klaren Blick und wieder klares Denken und Fragen.

War das reiner Zufall? Wieso ist er in den Park? Wieso hat er sich geraden auf diese Bank gesetzt, der ganze Park ist voller Bänke! Ist das sowas wie Schicksal, dass er gerade Andy begegnet, der ihm nicht fremd ist?

Er schaut sich seine Hände an, dreht die Handflächen nach oben und schließt sie zur Faust, spreizt die Finger und berührt sein Gesicht. Alles normal. Das normale kann auf einen Schlag unmöglich sein – wenn man Pech hat.

4

Unfallchirurgie

Seppi liegt wieder im Bett und kann nicht schlafen. Die Nacht scheint unendlich lang. Es beschäftigt ihn pausenlos, dass er irgendwas nicht verstanden hat – überhört –, was dieser Andreas, Andy, so gesagt hat. Was war es noch? Er hört sein Herz immer lauter klopfen. Sprach der nicht schon so … so, über Vergangenes?

Irgendwann überwältigt ihn der Schlaf, der kurze Zeit später von Schwester Berta auch schon wieder beendet wird.

Seppi lässt die Morgentoilette über sich ergehen. Schwester Berta wundert sich, dass er gar nicht darauf reagiert, wenn sie nachfragt, ob er gut geschlafen hat. Sie vermerkt, dass er wohl noch nicht ausgeschlafen ist.

Er hört sich nach Micha rufen, dass der ihm die Krücken und den Bademantel bringen soll.

Er wartet nicht aufs Frühstück. Er humpelt so schnell es geht auf den Krücken durch den Park, bis zur Station C. Er liest, dass die Unfallchirurgie in der fünften Etage ist, unter dem Dach. Nur dort kann er irgendwo liegen.

Mit dem Lift fährt Seppi nach oben. Es nervt ihn, dass das Ding so langsam nach oben schleicht. Endlich angekommen, sucht er nach dem Zimmer. Wo wird es sein? Rechts oder links? Er steht in der Mitte vom Flur. Er spricht eine Krankenschwester an, die gerade an ihm vorbeilief, wo dieser Andreas liegt, dieser junge Mann, der keine Arme und Beine hat. Sie zeigt den rechten Flur runter und nennt ihm Zimmer 14.

Ohne anzuklopfen, öffnet er die Tür und sieht bloß ein zerwühltes Bett, sonst nichts und niemanden. Wo könnte er bloß sein?

Er wird im Schwesternzimmer nachfragen und die werden ihm sagen, dass Herr Sommer beim Verbandswechsel ist oder beim Röntgen oder Spazieren gefahren wird oder so … Bestimmt wird man so was sagen!

Seppi humpelt gerade an der Tür vorbei, wo Fluchtweg dran steht, da sieht er auf dem gewienerten Linoleum kreuz und quer schmale, graue Reifenspuren. Er öffnet die Tür und sieht den Rollstuhl am Treppenabsatz stehen.

»Oh Gott … Nein … Bitte nicht!«, entfährt es ihm.

Was Seppi auf den Stufen sieht, bestätigt seinen Verdacht, nämlich dass Andreas irgendwie versucht hat, die Stufen zu der, wie er bemerkt, die offenstehende Tür da oben zu erreichen. Ein paar Blutspuren entdeckt er auch auf den Treppen.

»Gott … lieber … Gott, bitte … nicht!«, stammelt er.

Seppi stemmt sich auf seinen Krücken die acht oder neun Stufen, zwei auf einmal nehmend, nach oben. Als er durch die Tür ist, sieht er nichts, nur ein mit feinen Kieseln bedecktes Flachdach. Die frischen Druckstellen sehen aus wie Abdrücke von kleinen Schildkröten, die nach dem Schlüpfen durch den Sand robben, um das Meer zu erreichen – das lebensnotwendige Wasser.

Am Strand warten die Vögel, und die Schildkröten, die es ins Wasser schaffen, sind den Fischen ausgeliefert. Die überlebenden Kröten kommen Jahre später an denselben Strand zurück und legen ihre Eier ab. Der Kreislauf beginnt von vorn.

Das hat Seppi mal in einem Tierfilm gesehen. Was schießt ihm denn hier durch den Kopf? Das hier sind die Spuren, Abdrücke eines Krüppels, der sich zu dem niedrigen Mauersockel am Ende des Daches gequält hat.

Langsam folgt Seppi diesen Abdrücken. Sein Herz rast in seiner Brust; es fühlt sich an wie ein wildes Tier in einem engen Käfig, was nach einem Ausbruch sucht. In seinen Ohren rauscht es plötzlich. Er hört nichts mehr …nichts, nur rauschen.

Eine ganze Weile steht er wie angewurzelt da und hört seine Gedanken galoppieren: Was wird er sehen müssen, wenn er nach unten guckt ..?

Durch sein hastiges Atmen wird ihm schwindlig. Er wirft die Krücken weg und gleitet zu Boden, was durch sein steifes Bein ziemlich hinderlich ist.

Seppi kriecht jetzt an den Abdrücken entlang nach vorn. An der Mauerkante hält er an und beschließt, sich vorsichtig darüber zuziehen und nach unten zu schauen. Dann … sieht er Rasen, nicht als grünen Rasen, bis zum Fußweg an der Straße. Nichts ist zu sehen – nichts! Wo ist Andreas?

Seppi schaut sich um und sieht vor sich die Veränderung der Abdrücke im Kiesbett. Es sieht so aus, als hätte sich ein Körper ab der Mauerkante gerollt, seitlich weiter, um die eigene Körperachse, vielleicht fünf Meter, dann verschwinden die Abdrücke. Seppi schaut auf die walzenartigen Spuren im Kies, die sich parallel zu dem Mauersims abzeichnen. Er kriecht an ihnen entlang, bis zu der Stelle, wo sie abrupt enden.

Lieber Gott im Himmel, lass es nur einen bösen Traum sein! Ich werde auch wieder an den Pfarrstunden teilnehmen – bitte! Lass mich aufwachen! Bitte!

Seppi zieht sich langsam über die Mauerkante und schaut nach unten … Als er sieht, was da unten auf dem Beton liegt, schreit er aus vollem Hals.

Bis Seppi die Tränen in die Augen schießen, glaubt er zu sehen, dass Andys Augen geöffnet sind und zu ihm aufschauen. Das leichenblasse Gesicht ist von einer Blutlache umgeben.

Seppi schreit und brüllt um Hilfe und zeigt mit ausgestreckten Armen nach unten. Er sieht nicht die Leute in den weißen Kitteln, die ihn bemerkt haben und glauben, dass auf dem Dach einer ist, der sich hinabstürzen will. Er hört auch nicht ihre Rufe.

Seppi liegt im Kiesbett und wimmert, bis zwei Weißkittel kommen, die ihn hochhieven und wegtragen wollen.

»Nein … nein … da … unten, da … unten … liegt … Andreas«, stammelt er heulend.

Einer ruft was nach unten. Das Rauschen zwischen seinen Ohren wird lauter. Ihm wird schwarz vor Augen …

Als Seppi wieder zu sich kommt, wird er gerade auf ein Rollbett gehoben und in den Lastenaufzug geschoben, es geht nach unten.

»Da ist er ja wieder«, hört er eine Frauenstimme sagen.

Er schließt die Augen wieder. Es ist alles still, kein Rauschen mehr. Er kann nicht schlucken, die Zunge klebt ihm am Gaumen.

Erst als er von Berta ins Bett gehoben wird, weiß Seppi, wo er ist. Er fühlt sich schlapp und müde. Die Schwester hält ihm eine Tasse Tee an die Lippen.

»Trink, du musst das trinken. Du hast Durst.«

Und er trinkt, ohne die Augen zu öffnen. Die Schwester Berta kann Gedanken lesen, denkt er sich.

Seppi spürt, dass sich Berta auf die Bettkante gesetzt hat. Als er die Augen wieder öffnet und sie ansieht, fasst sie ihn sanft unter, hebt ihn an und drückt ihn an ihre Brust. Dann legt sie ihn wieder hin, streichelt ihm über den Kopf und ganz sanft über die Wangen.

Das ist ihm angenehm. Er lächelt sie an und sie ihn auch. Sieht er da etwa feuchte Augen? Bei Schwester Berta? Sie holt ein Taschentuch aus ihrem Kittel, schnäuzt kräftig hinein und schwebt wieder durch den Raum. Dann übermannt ihn der Schlaf. Sein letzter Gedanke ist … Was hat sie ihm in den Tee getan?

Traumlos schläft Seppi bis zum nächsten Mittag durch.

Als er erwacht, muss er erst einmal in Gedanken sortieren, was geschehen ist. Was ist denn das auf seinem Nachtschrank? Da steht eine Flasche Apfelsaft oder so. Zwei Apfelsinen, drei Bananen, ein paar Tafeln Schokolade, Äpfel, ein Glas Eingewecktes. Und das da müssen Erdbeeren sein … und ein Glas Nudossi.

Im Raum ist es ganz still. Als er sich umsieht, schauen ihn alle wortlos an.

Er raunt nur: »Danke … wofür?«

Dann wird es laut. Jeder ruft ihm was zu: »Werd' gesund …, Alles wird wieder gut … und kanntest du den Jungen?«

Von Andys Sturz wissen nun alle im Krankenhaus.

Er sinkt zurück in die Kissen und wieder wird es langsam Nacht.

Vom Bett aus sieht Seppi die Sterne am Himmel. Es ist Vollmond und sein Leuchten zeichnet das Fensterkreuz als Schatten auf den Boden. So, wie der Mond wandert, wandert auch das Schattenkreuz durch den Raum, langsam auf ihn zu.

Seppi kann nicht schlafen. Schwester Bertas gut gemeinte Belehrungen hat er gar nicht richtig wahrgenommen. Völlig unwichtig – so was von unwichtig.

Er versucht, seine Gedanken auf andere Dinge zu lenken, weg von der Gegenwart, er will wieder Jux haben. Er muss an irgendwas denken, an was Schönes.

An Weihnachten vor ein paar Jahren, als er mit der silbernen Stabtaschenlampe auf dem Klo in den Himmel geleuchtet hat und Schneeflocken durch die weiße Lichtsäule tanzten, bis ins All – in die Unendlichkeit. Sich die einmal vorzustellen, hat er versucht und ist ziemlich weit gekommen, aber dann ist ihm schwindlig geworden. Ihm war schweinekalt gewesen, weil er die ganze Zeit am offenen Fenster gestanden hatte.

Mit der Taschenlampe konnte er auch unter der Bettdecke Bücher lesen, ohne dass es Mutter bemerkte, die Jerry-Cotton-Krimis, Der Graf von Monte Christo, die Abenteuer von Karl May.

Seppi denkt an die kleine graue Feldmaus, die er in einem Schuhkarton unter dem Bett versteckt hat. Bestimmt hat die Mutter sie schon entdeckt. Einen kleinen Hoffnungsschimmer hat er: Ob sie sich jetzt um sie kümmert?

Seppi denkt auch an die Situation vor zwei Tagen, als der Opa nach der OP in sein Bett gehievt werden sollte. Das Transportbett hatten die drei Pfleger nach oben gekurbelt, bis auf Betthöhe. Sie hatten jedoch vergessen, das Sicherheitsgitter auf der anderen Seite hochzuklappen, und so hat sich der Opa noch halb in Narkose selbst abgerollt und ist auf der anderen Seite aus dem Bett gefallen. Die drei sind daraufhin rumgerannt, haben sein Hemd angehoben und gesehen, dass die Naht wieder aufgegangen war. Dann haben sie versucht, den Opa wieder aufs Transportbett zu heben – und da konnte er sich da das Lachen nicht verkneifen, es war filmreif, wie die sich dabei angestellt haben. Immer wieder ist der denen wie ein nasser Sack aus den Händen geflutscht. Irgendwann hat es dann geklappt und sie sind mit Vollgas aus dem Raum geprescht. Jetzt kann er darüber nicht mal mehr schmunzeln – warum bloß?

Womit sich Seppi auch abzulenken versucht, seine Gedanken werden, wie Dias in einem Projektor weitergeschoben und immer wieder durch das Bild von Andreas auf dem Steinpflaster liegend, ersetzt. Immer wieder und immer wieder …

Dann kommen schleichend auch Gedanken über sich selbst. Über das, was war, was jetzt ist. Er hat sich bisher nie Gedanken darüber gemacht, was noch kommen könnte. Planlos, ohne irgendein Ziel … Alles war bis jetzt so dahingelaufen und er hat es so hingenommen, weil es eben so war, wie es war und das war doch gut so.

Bis jetzt wollte er immer nur seinen Spaß haben, die freie Zeit genießen. Nach der Schule flog der Ranzen in die Ecke und dann ab auf die Straße, zu den Kumpels, auf in den Jux. Jeden Tag ging es nur darum: Was stellen wir heute an? Die Hausaufgaben schrieb er am nächsten Tag in der Pause, vor der Unterrichtsstunde, noch schnell von den Strebern ab.

Ja, die Straße war bis jetzt seine aktive Lebenszeit gewesen. Es war herrlich dort, auf den Straßen von Löbtau, voller Erlebnisse und kleiner Abenteuer. Kein Baum war zu hoch, um an die Kirschen, Birnen und Äpfel zu kommen, kein Baum außer Reichweite, ob in Gärten oder Alleen. Es gab alles im Überfluss, man brauchte nur danach zu greifen. Maiskolben, Möhren, Kohlrabi, alles nahmen sie auf dem Heimweg mit oder gaben den Pferden auf der Koppel was. Die wieherten schon, wenn sie angeradelt kamen. Sie waren längst gute Bekannte.

Klingeln putzen im ganzen Viertel, um die Bewohner an die Fenster zu locken. Hinter den Bäumen oder Einfahrten versteckt, warteten sie das Rufen der Bewohner,

»Ja … hallo, ist da wer?«

»Ja, der Weihnachtsmann, mit der dicken Rute oder der Osterhase mit den dicken Eiern!« Nur dumme Sprüche und viel zu lachen.

Und die Verfolgungsjagden waren so was von aufregend. Fuchs und Hase. Der Hase wurde ausgewählt und die Füchse, manchmal bis zu zwölf Mann, gaben dem Hasen 10 Minuten Vorsprung. Der gewann, wenn man ihn nach einer halben Stunde nicht aufgestöbert hatte!

Da war Ärger angesagt, aber sie ließen sich nicht davon abhalten. Es ging über Garagendächer, über Mauern und Zäune, durch verwilderte Gärten. Erdbeeren, Tomaten, Blumen wurden platt getrampelt, egal, das Jagdfieber trieb sie an. Es wurde in den dunklen Kellern bis hoch auf dem Dachboden gesucht. Manchmal hatte man Pech und irgend so ein Stinker von Hausbewohner hat hinter ihnen den Keller abgeschlossen. Tja, da wurde ein Vorhängeschloss geknackt und das Kellerfenster ausgehangen und auf die Straße geklettert. Man sah aus wies Schwein – egal. Es hat sich immer ausgezahlt, dass man zu zweit jagte, da war man mutiger und konnte sich gegenseitig helfen.