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Pierre Stutz

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Beschreibung

Mystisches Leben heute

Inspiriert von den größten Mystikern und Mystikerinnen der letzten zweitausend Jahre lädt Pierre Stutz mit diesem Buch ein zu einem leidenschaftlich-offenen, ökumenischen Christsein. Dieses Buch antwortet auf eine Sehnsucht unzähliger Menschen, die sich auf der spirituellen Suche befinden: die Sehnsucht, eine lebensbejahende Spiritualität da zu finden, wo wir kulturell zu Hause sind – im Christentum.

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Seitenzahl: 380

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Das Buch

»Wir alle können mystische Menschen sein. Menschen, die die Tiefendimension in ihrem Leben suchen. Menschen, die Momente erleben, in denen Raum und Zeit wie aufgehoben sind. Menschen, die in ihrer Achtsamkeit voll da sind und ganz weg. Menschen, die die geheimnisvolle Gegenwart Gottes in allem spüren.«

Pierre Stutz

Auf den Spuren großer Mystikerinnen und Mystiker sensibilisiert Pierre Stutz für innere Haltungen, die einen mystischen Lebensstil auszeichnen. Wer die Sehnsucht nach einer lebensbejahenden, leidenschaftlichen und zeitgemäßen Spiritualität spürt, dem öffnet sich in diesem Buch ein wahrer Schatz.

Der Autor

Pierre Stutz ist Theologe und weit bekannter spiritueller Begleiter. Der Bestseller-Autor hält im ganzen deutsch-sprachigen Raum Vorträge und bietet Kurse an. Pierre Stutz lebt in Lausanne.

www.pierrestutz.ch

Pierre Stutz

Geborgen und frei

Mystik als Lebensstil

Kösel

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Überarbeitete Neuausgabe 2018

Copyright © 2008 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: © plainpicture / Blend Images / Shestock p555m1408882

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-23508-6V001

www.koesel.de

Harald Weß,

Monika Brunnsteiner,

Christoph Walser

gewidmet, in staunender Dankbarkeit.

Inhalt

Vorwort zur Neuauflage 2018

Zur Einstimmung

Zum Hintergrund dieses Buches

1 Du bist gesegnet – sei einfach da

Mystik des Daseins

Den göttlichen Urklang hören: Hildegard von Bingen

Inneren Bildern trauen: Mechthild von Hackeborn

Die Geburt Gottes in uns erahnen: Meister Eckhart

Angerührt von Gottes Gegenwart: Jan van Ruusbroec

Wesentlich werden: Angelus Silesius

Lebensbejahend sein

2 Entdecke die Wunder der Schöpfung – spüre deine Verwurzelung

Mystik des Staunens

Überwältigt sein vom Staunen: Symeon der Neue Theologe

Radikal leben: Franz von Assisi

Staunendes Mitgefühl: Gertrud von Helfta

Die Mütterlichkeit Gottes erfahren: Juliana von Norwich

Lange-Weile wagen: Thomas Müntzer

Die Schönschrift Gottes: Ernesto Cardenal

Schöpfungsverbunden leben

Mehr sein als unser Begreifen

3 Werde du selbst – lasse dich

Mystik der Selbstwerdung

Widersprüchlichkeit aushalten: Bernhard von Clairvaux

Schreibend ich selbst werden: Juana Inés de la Cruz

Ausstrahlung des eigenen Wesens: Edith Stein

Mystik und Politik: Dag Hammarskjöld

Selbstwerdung als Lebensaufgabe

Selbstliebe statt Selbstverleugnung

4 Wachse über dich selbst hinaus – bleib deiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit treu

Mystik des Widerstandes

Widerstand aus innerer Freiheit: Marguerite Porète

Gerechtigkeit für alle: Caterina von Siena

Grenzenlose Hingabe: Dorothy Day

Widerstand und Ergebung: Dietrich Bonhoeffer

Mystik der Straße: Leonardo Boff

Gerechtigkeit leben

5 Verweile im Schweigen – werde beziehungsfähiger

Mystik der Stille

Erleuchtete Finsternis: Dionysius Areopagita

Bildlose Schau: Die Wolke des Nichtwissens

Schweigen für den Frieden: Niklaus von Flüe

Schweigend sein Leben vertiefen: Francisco de Osuna

Den inneren Ruheort finden: Teresa von Avila

Beredtes Schweigen

Das innere Wort

Einheit im Schweigen

6 Wage Konflikte – sei ein Zeichen der Versöhnung

Mystik des Friedens

Sich einmischen: Birgitta von Schweden

Aufmerksam sein: Simone Weil

Unermüdlich Frieden schaffen: Thomas Merton

Gewaltfreier Widerstand: Martin Luther King

Der dritte Weg

7 Genieße das Leben mit allen Sinnen – vertiefe die spirituelle Kraft deiner Sexualität

Mystik der Erotik

Eros als göttliche Kraft: Origenes

Berührt zur leidenschaftlichen Liebe: Mechthild von Magdeburg

Zärtlich in der Seele geweckt: Beatrijs von Nazareth

Freundschaftsmystik: Ramon Lull

Die erotisch-spirituelle Kraft der Liebe

Ganzheitliche Liebe

Versöhnung von Sexualität und Spiritualität

Eros und Mystik

8 Bewege dich mit Leib und Seele – schaffe dir mehr Handlungsspielraum

Mystik des Tanzes

Zum Handeln bewegt: Dominikus

Bewegt von der Liebe Gottes: Rumi

Zur Freiheit bewegt: Die Beginen

Bewegender Aufbruch: Jakob Böhme

Zum Hoffnungstanz bewegt: Madeleine Delbrêl

Sich bewegen lassen

Das Herzensgebet

In BeWEGung bleiben

Das Gebet verwandeln lassen

9 Solidarisiere dich mit den Leidenden – entfalte dein Mitgefühl

Mystik des Schreis

Frag-würdige Passionsmystik: Angela da Foligno

Inneres Licht der Gewaltfreiheit: George Fox

Farbe bekennen: Dom Hélder Camara und Oscar Romero

Träume uns Gott: Dorothee Sölle

Mystik der offenen Augen

Leidenschaftlich Gott suchen

Leidenschaftliche Gelassenheit

10 Entfalte deine Achtsamkeit – erfahre Sinn im Alltäglichen

Mystik des Alltags

Den Alltag heiligen: Benedikt von Nursia

Alternatives Teilen: Margarita Colonna

Gott in allen Dingen finden: Ignatius von Loyola

Tiefendimension des Lebens: Gerhard Tersteegen

Schöpferisch-politische Achtsamkeit

So vieles ist möglich

11 Lerne zu sterben – bleibe lebendig

Mystik des Todes

Zu Grunde gehen: Johannes Tauler

Entbildet werden: Heinrich Seuse

Der Sehnsucht folgen: Johannes vom Kreuz

Dem Glaubenszweifel nicht ausweichen: Thérèse von Lisieux

Nach Sinn tasten: Marie Noël

Die Kunst des Sterbens

Tod als Neugeburt

12 Lass dich zur Liebe verwandeln

Mystik der Liebe

Berührt von der allumfassenden Liebe Gottes: Hadewijch von Antwerpen

Liebe differenziert: Pierre Teilhard de Chardin

Für eine menschenfreundlichere Kirche kämpfen

Existenziell-mystisches Gottesdienstfeiern

Geborgen und frei

Liste erwähnter Filme

Empfehlenswerte Einführungsbücher zur Mystik

Verwendete Literatur

Namensregister

Vorwort zur Neuauflage 2018

Über 25 Jahre sind es her, seit mir in einer großen Lebenskrise mystische Texte zugefallen sind. Seither begleiten mich diese geerdeten Lebensweisheiten Tag für Tag. Sie nähren mich auf dem Weg zu einer engagierten Gelassenheit. Sie erinnern mich, dass es wohl auf mich ankommt und nie von mir alleine abhängt. Sie verdeutlichen mir, dass ich immer mehr bin, als meine Verwundungen, meine Angstmuster, mein Erfolg und mein Scheitern. Dankbar bewegt bin ich, dass mein Mystikbuch so viele Menschen ermutigt, ihren ureigenen, inneren Weg zu gehen und es jetzt neu aufgelegt wird. Seit dem Erscheinen der Erstausgabe vor zehn Jahren ist mir besonders Etty Hillesum (1914–1943) zu einer all-täglichen Wegbegleiterin geworden. Als junge, lebensfrohe, jüdische Frau kämpft sie in der grausamen Zeit des 2. Weltkrieges in Amsterdam für die Würde aller Menschen. Am 30. November 1943 wird sie in Ausschwitz umgebracht. Obwohl sie keine intensive religiöse Sozialisation erfährt, entfaltet sie in ihrem atemberaubenden Tagebuch »Das denkende Herz«, das erst 1981 veröffentlicht wurde, zentrale mystische Erfahrungen, die mich immer wieder neu zur Hoffnung bewegen. Drei Aspekte, die auch zusammenfassend für die 60 mystischen Lebensentwürfe dieses Buches gelten, hebe ich besonders hervor:

1. Die Stille als Kraftquelle

Je dunkler und aussichtsloser die Lebenssituation von Etty Hillesum wird, umso mehr taucht sie in die Stille ein, um sich nicht zu verlieren. Ihre Einsicht, »in sich selbst große Flächen urbar zu machen für die Ruhe«, damit sie diese Ruhe auf andere ausstrahlen kann, ist mir eine stärkende Lebenshilfe. Sie verweist mich auch auf die politische Kraft der Stille. Wir können mitgestalten an einer Welt, die gerechter und zärtlicher wird, wenn wir uns kämpferisch engagieren. Wir können die Friedenskraft auf der ganzen Welt verstärken, wenn wir regelmäßig in die Stille eintauchen, um uns zu verbinden mit all den Menschen, die sich weltweit für eine bessere Welt einsetzen.

2. Verwandlung des Gottesbildes

In einer mystischen Alltagsspiritualität verabschiede ich mich von einem fernen Gott, der es irgendwann schon richten wird. Dass wir Gott brauchen, ist sonnenklar, doch Gott braucht auch uns als Freundinnen und Freunde, die seinen Traum der Achtsamkeit und des Mitgefühls konkretisieren. Diesen Bewusstseinswandel erkennt auch Etty Hillesum, in dem sie im Sommer 1942 in ihr Tagebuch schreibt: »Und fast mit jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du Gott uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.«

3. Frieden zuerst in sich entdecken

Selbstannahme ist kein Sonntagsspaziergang, sondern das Eingangstor, um liebend unterwegs sein zu können. Auch für Etty ist das »Arbeiten an sich selbst« kein kränklicher Individualismus, sondern der Weg zu einem echten Frieden, »wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Hass gegen die Mitmenschen, gleich welcher Rasse oder welchen Volkes, in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, sondern auf weite Sicht vielleicht sogar zu Liebe werden könnte.«, schreibt diese leidenschaftliche junge Frau als Vermächtnis für alle, die auch gewaltfrei Widerstand wagen für einen Weg der Mitmenschlichkeit.

Für diese ver-rückte Hoffnung lebe ich. Sie lässt mich voll tiefer Dankbarkeit viele Verbündete finden, die jeden Tag neu versuchen, aus ihrer inneren göttlichen Quelle Kraft zu schöpfen.

Lausanne, 21. Juli 2018

Pierre Stutz

Zur Einstimmung

Warum ich mich so intensiv mit der Mystik befasse, werde ich immer wieder gefragt. Weshalb ich so leidenschaftlich gerne Christ sei, ist manchmal ein Gesprächsthema in der spirituellen Begleitung von Menschen und im Gestalten meiner Kurse. Diese beiden zentralen Fragen kann ich nicht ein für alle Mal beantworten. Ich staune selber, mit welcher Begeisterung und Intensität ich seit 15 Jahren mystische Texte lese, meditiere, hinterfrage und in mein Leben hineinbuchstabiere und hineinwebe. Es übersteigt letztlich mein Auffassungsvermögen. Ich verstehe mich oft selber nicht, wenn ich tagelang hineintauche in uralte mystische Lebensentwürfe und mich trotz großem Befremden so tief angesprochen und angerührt fühle. Nebst regelmäßigem Ringen und Zweifeln fühle ich mich in einem guten Sinne aufgehoben in der Art und Weise, wie Mystikerinnen und Mystiker die christliche Botschaft existenziell verinnerlicht haben, um sich freier und selbstbewusster engagieren zu können für eine menschlichere Welt, die aus dem Eingebundensein in Schöpfung und Kosmos lebt.

In diesem Buch möchte ich Antwortversuche wagen im Entfalten meiner festen Überzeugung, dass eine mystische Lebensgestaltung eine bereichernde Lebenshilfe sein kann, um den Weg der Selbstwerdung zu gehen, um Liebeskraft entfalten zu können und um sich sinnstiftend mit anderen für eine zärtlich-gerechtere Welt einzusetzen. Wir alle können mystische Menschen werden, Menschen, die mit den Augen der Ewigkeit im Hier und Jetzt verweilen. Menschen, die hinter die Bilder schauen, wie ich dies in meinen Filmmeditationen am Anfang eines jeden Kapitels tue. Ich gehe leidenschaftlich gerne ins Kino und ich entdecke in vielen Filmen die mystische Spur, die mich in eine Tiefe und Weite führt. Eine Spur, die in diesem Buch verwurzelt ist in vielen mystischen Biografien, die für uns heute wegweisend sein können, wenn wir den Mut haben, nicht an kulturell bedingten Frömmigkeitsformen festzuhalten, sondern das Lebensbejahende hervorheben, das Menschen geborgen und frei werden lässt.

Jedes Kapitel beende ich mit einer kurzen Zusammenfassung, die mit den Worten »Mystische Menschen« beginnt. Darin verdichte ich eine christlich-mystische Lebensgestaltung, wie ich sie mir wünsche und auch vorstellen kann. Natürlich gibt es viele andere Möglichkeiten, um ein mystischer Mensch zu sein und werden zu können, auch im Verwurzeln der eigenen Erfahrungen in einer anderen Religion.

Ich ermutige zu einem leidenschaftlich-offenen, ökumenischen Christsein, das im Dialog mit anderen Religionen und mit Respekt und Toleranz sich für die Würde aller Menschen und für die Bewahrung der Schöpfung engagiert.

Dieses Buch ist in einem dynamischen Prozess mit vielen Menschen entstanden, denen ich danken möchte. Zuallererst Winfried Nonhoff vom Kösel-Verlag, der mit beharrlicher Geduld, mit Wohlwollen und Bestimmtheit mich durch all mein Hoffen und Zweifeln begleitet hat. Dankbar bin ich auch für die anregenden Echos auf Teile meines Manuskriptes und für die unterstützenden Gespräche mit Bernadette Inauen-Wehrmüller, Bernardin Schellenberger, Christoph Quarch, Christoph Walser, Eberhard Schwarz, Harald Wess, Marcel Laux, Monika Brunnsteiner, Pia Birri Brunner, Silvia Meier und Ursula Würth-Stutz. Danken möchte ich auch der Lektorin im Verlag, Silke Mayer, und den anderen Mitarbeitenden für die wohltuende Zusammenarbeit.

Möge dieses Buch zu einer leidenschaftlichen Gelassenheit bestärken.

Lausanne, 21. Juli 2008

Pierre Stutz

Zum Hintergrund dieses Buches

Der hoch begabte Theologe Karl Rahner hat schon 1966 geradezu prophetisch ausgedrückt, was sich immer mehr abzeichnet: die Zukunft des Christentums wird mystisch sein oder nicht mehr sein. Die Entdeckung und Gestaltung der mystischen Spur in allen Weltreligionen ist entscheidend, um Frieden in Gerechtigkeit mit größerer Entschiedenheit zu fördern. In dieser Grundhaltung des gegenseitigen Respekts und der Toleranz versuche ich in diesem Buch die Kernkompetenz einer christlichen Mystik hervorzuheben; nicht aus Überheblichkeit und nicht mit ausgrenzenden Wahrheitsansprüchen, sondern im Wissen, dass echte Identität sich durch Dialog und Beziehungen vertieft und nicht durch Ausgrenzung und Abwertung des Fremden. Der Theologe Paul F. Knitter, der sich sehr in der amerikanischen Friedensbewegung und im Dialog mit den Weltreligionen engagiert, sagt zu Recht, dass es eine Mystik und viele mystische Stimmen und Sprachen gibt.

Mystikerinnen und Mystiker glauben nicht etwas, was sie gehört oder gelesen haben, sondern was sie gefühlt haben. Mystische Menschen sind religiös erwachsen geworden. Trotzdem brauchen sie eine bestimmte religiöse Sprache, um ihre inneren Erfahrungen deuten zu können. Dieser Prozess der Verwurzelung ist entscheidend, um aus der Tiefe leben zu können. Die mystische Einheitserfahrung verbindet uns mit allen Gottsuchenden, doch wir brauchen die Weisheit, um in Verschiedenheit unterwegs zu bleiben. Meine Verwurzelung in das Christusereignis, in den Liebes-, Kreuz- und Auferstehungsweg Jesu als sinnstiftende Wirklichkeit für meine Selbstwerdung, meine Solidarität, meine Sehnsucht nach Ewigkeit lässt mich befreiter im Leben stehen. Je tiefer meine Wurzeln sind, umso mehr kann ich mich auf die Äste hinauswagen.

Abenteuer Mystik

Für mich war es ein Glücksfall, als die Bildungsleiterin der Propstei Wislikofen (Schweiz) Frau Dr. Imelda Abbt, mich vor 15 Jahren angefragt hat, ob ich mit ihr zusammen Seminare zu einer mystischen Spiritualität gestalten würde. In dieser wohltuenden und herausfordernden Zusammenarbeit suchten wir in jedem Seminar eine Annäherung zu einer Mystikerin, zu einem Mystiker wie Augustinus, Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Simone Weil, indem wir bedeutsame Textbeispiele mit den Teilnehmenden lasen, besprachen und im Schweigen vertieften. Wir suchten die bleibende Kraft in den Worten, um sie in Verbindung zu bringen mit all unseren alltäglichen Lebens-, Beziehungs- und Zukunftsfragen. Während dieser Zeit las ich die vier Bände der Geschichte der abendländischen Mystik von Kurt Ruh und herausfordernde Bücher zur Mystik von Alois M. Haas und Otto Langer. Diese faszinierende Gottessuche führe ich seither im regelmäßigen Gestalten von Seminaren zu einer alltagsnahen Mystik weiter: im Haus Klara in Zell am Main/Würzburg (www.hausklara.de), im Haus Ohrbeck in Georgsmarienhütte/Osnabrück (www.haus-ohrbeck.de), im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg (www.virgil.at) und im Kloster Kappel in Kappel am Albis/Zürich (www.klosterkappel.ch).

Die Begegnungen in der Gruppe, die vielen Einzelgespräche und die konstante Auseinandersetzung mit dem komplexen Phänomen »Mystik« hat mich nach 15 Jahren zu dieser Standortbestimmung geführt. Die immense Literaturliste am Ende dieses Buches ist der äußere Ausdruck meiner intensiv-leidenschaftlichen Suche nach dem, was wesentlich ist im Leben und was wirklich trägt. Bei meinem disziplinierten Lesen habe ich Hunderte von Zitaten gesammelt. Davon habe ich in diesem Buch jene ausgewählt, die mir »inwendig«, also »im Herzen« geblieben sind (»auswendig« heißt in der französischen Sprache »par coeur«, also »durch das Herz«). Ich verzichte ganz bewusst auf Anmerkungen, Interessierte finden in den beiden Literaturlisten am Ende des Buches weiterführende Werke.

Mystik ist für mich eine engagierte Denk- und Lebensform. Sie befreit von engen dogmatischen Vorstellungen in der Herausforderung, einen erdachten Glauben kritisch zu hinterfragen, im ureigenen Prozess der Selbsterkenntnis und im gemeinschaftlichen Ringen um notwendige Lebensfragen, die auch angesichts von Leid und Ungerechtigkeit eine Sinndeutung eröffnen möchten. Die Vielfalt der Mystik-Definitionen zeigt auf, wie unermüdlich nach Worten für das Unsagbare gesucht wird. Meine Annäherung und Interpretation der Mystik liegt eindeutig in der Nähe zu einem existenziellen Alltag. Ich bin mir mit der Theologin Dorothee Sölle sicher, dass wir alle Mystikerinnen und Mystiker sein können, wenn wir nicht ein Leben lang auf die großen Wunder warten, sondern zum Wunderbaren erwachen, das sich uns in der Schöpfung, im Selbstwerdungsweg und im fairen Gestalten von Beziehungen vielfältig zeigt. In Kampf und Kontemplation können wir jene befreiende Erleuchtung erkennen, die Menschen aufblühen lässt, weil sie erahnen, dass sie nie Einzelne, nie Einzelner sind, sondern immer Teil eines Ganzen, aufgehoben in einer größeren Wirklichkeit, die im Grunde immer schon da ist als Urgrund allen Lebens. Diese lebensbejahende Dimension suche ich in den mystischen Texten und wähle ganz bewusst jene Worte aus, die mich nähren und aufrichten zu einem solidarischen Menschsein.

Ursprünge des Wortes »Mystik« finden sich in den griechischen Worten »myein« und »mysterium«. Das Verb »myein« hat für mich Priorität, es bedeutet: die Augen zu schließen, um nach innen zu schauen. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, den wir ohnehin tun, wir schließen und öffnen immer wieder die Augen. Eine mystische Lebensgestaltung beginnt mit dem bewussten, achtsamen Wahrnehmen und Kultivieren dieser Geste, um die Tiefendimension in allen Lebensvollzügen erkennen zu können. Weil die Mystik zu Unrecht in die Ecke der Weltflucht und der Schwärmerei gestellt wurde, umschreibe ich dieses alltägliche Innehalten als Notwendigkeit, um dank der Distanz bewusster wahrzunehmen, was ansteht im Leben:

Schließe die Augen,

schaue nach innen,

um die tiefere Verbundenheit mit allem

klarer zu sehen und zu spüren.

All die Alltagsrituale, die ich in meinen Büchern entfaltet habe, sind Unterbrechungen, um den Rhythmus des Lebens wahrzunehmen und zu akzeptieren. Meine Innenschau ist ein politischer Akt des Widerstandes, um nicht gelebt zu werden durch Erwartungen und Sachzwänge. Ich schaffe Distanz zu meiner Arbeit, zu meinen Beziehungen, zu meinen Gedanken, um mich selbst-bewusster dem Fluss des Lebens und der Liebe anzuvertrauen. Dieses Schöpfen aus der inneren, göttlichen Quelle, die immer schon auf mich wartet, stärkt mich zu einer Spiritualität der Konfliktfähigkeit, um mich in engagierter Gelassenheit einzubringen mit meiner ganzen Lebenskraft und meiner Verletzlichkeit.

Das Wort »mysterium« heißt Geheimnis. Wer sich nicht mit dem Funktionieren und mit der Ungerechtigkeit abfindet, wer nicht bereit ist, oberflächlich zu leben, der begegnet dem Geheimnischarakter unseres Lebens. Er kommt mit jener Dimension in Berührung, die über uns hinausweist, die uns übersteigt – das ist mit dem Wort Transzendenz gemeint. Dies muss sich nicht in außerordentlichen Phänomenen zeigen, wie sie uns in mystischen Biografien begegnen können, etwa Visionen, Levitationen (Schweben einer Person), Lichtphänomene und ekstatische Erfahrungen. Schon der Mystiker Johannes vom Kreuz (1542–1591) hält außerordentliche, innere Erfahrungen für Begleiterscheinungen der Mystik, bei denen wir uns nicht aufhalten sollen. Denn die Gefahr der Wundersucht, des Machenwollens verhindert das Eintauchen in das Geheimnis Gottes, das als Geschenkcharakter des Lebens unfassbar bleibt. Diese Spur berührt mich in der Mystik: immer mehr hineinwachsen können in dieses Urvertrauen, das mir zuspricht sein zu dürfen vor aller Leistung, weil Gott in mir wesentlich wohnt und wirkt. Aufgehoben zu sein in meiner Lebendigkeit und in meinem tiefen Verwundetsein ist meine größte Sehnsucht. Darum richte ich mein Augenmerk im Studieren von mystischen Biografien nicht auf das Außerordentliche, sondern auf die konkrete Frage: Wie geht es einem Mystiker, einer Mystikerin am Montagmorgen?

Die folgenden Umschreibungen von Mystik ergänzen sich und zeigen uns zugleich, dass es keine klare Definition von Mystik gibt, weil die verschiedenen inneren Erfahrungen zu komplex sind. Trotzdem sind mir folgende Deutungen hilfreich:

Bernhard McGinn hat ein vierbändiges Werk zur Mystik geschrieben, für ihn ist Mystik das Bewusstsein der göttlichen Gegenwart, die sich in der mystischen Begegnung in Liebe und Erkenntnis ereignet.Der Jesuit Josef Sudbrack betont auch den Begegnungscharakter in der christlichen Mystik, der zur Selbstwerdung führt: Das Ich reift in der eigenen Tiefe zum Selbst – und zur Du-Begegnung, in der die oder der Liebende sich völlig vergisst. Diese Einheit der Beziehung befreit zur Selbst-ständigkeit.Die evangelische Theologin und Mystikerin Dorothee Sölle sieht die Mystik als antiautoritäre Religion, in der aus dem befehlenden Herrn der Geliebte wird und aus dem Später das Jetzt. In der vergrabenen Mystik der Kindheit, im Staunen können wir das Gefühl des Einsseins wiederentdecken.Der Jesuit Karl Rahner bestärkt uns im Vertrauen, dass der Fromme von morgen ein Mystiker sein wird, einer, der etwas erfahren hat. Unsere Verwiesenheit auf Gott lehrt uns zu verinnerlichen, dass Gott wesentlich der Unbegreifliche ist. Je näher wir ihm kommen, umso mehr wächst seine Unbegreiflichkeit.Der evangelische Professor für Kirchengeschichte Walter Nigg schreibt, dass die Mystik das Heimweh der Seele ist, nach dem, was sie in Wahrheit ist und was durch die Wirrnis ihres irdischen Daseins nur undeutlich durchscheint. Mystik ist die Vergegenwärtigung des verborgenen Lebens mit Gott.Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber sieht die Mystik als Grenzgebiet des Glaubens, in dem die Seele Atem holt zwischen Wort und Wort.Der Herausgeber des »Wörterbuchs der Mystik«, Peter Dinzelbacher, umschreibt die Mystik als das Streben des Menschen nach unmittelbarem Kontakt mit Gott vermittels persönlicher Erfahrung.Für die Islamkennerin Annemarie Schimmel ist mystisches Leben das ständige Streben, zum Ursprung zurückzugehen, zu jenem Ursprung, der in Gott liegt und aus dem alles entsteht.Gershom Scholem betont in seinem Grundlagenwerk zur jüdischen Mystik, dass es so viele Mystikdefinitionen wie Autoren gibt. Für ihn ist Mystik Religion in seiner innerlichsten, tiefsten und lebendigsten Form.Die Philosophieprofessorin Saskia Wendel beschreibt die Mystik als Einung mit Gott, die sich im Grund der Seele vollzieht. Möglichkeitsbedingung dieser Einung sind Selbsterkenntnis und Selbstreflexion.Gotthard Fuchs und Mariano Delgado verwenden in ihrem dreibändigen Werk »Die Kirchenkritik der Mystiker« ein weites Verständnis von Mystik als bewusste und reflektierte Erfahrung der Gegenwart Gottes. Mystik und Kirchenkritik gehören untrennbar zusammen.Thich Nhat Hanh, buddhistischer Mönch und engagierter Friedensaktivist, betont jene mystische Grundhaltung, die verbindet zum Leben im Hier und Jetzt: »Unsere wahre Heimat ist der gegenwärtige Augenblick … Buddhisten und Christen wissen, dass das Nirwana beziehungsweise das Himmelreich in ihren Herzen ist.«

Plädoyer für ein lebensbejahendes Christentum

Beim Studieren und Verinnerlichen mystischer Texte komme ich mir wie ein Archäologe vor. Ich suche das Ursprüngliche, das Originelle eines mystischen Lebensentwurfes, das sich in der Tiefe neben vielen problematischen Aussagen finden lässt. Mystische Menschen waren wie wir alle Kinder ihrer Zeit. Krank machende Gottesbilder, die zu sehr von Schuld, Sühne, Abtötung sprechen, finden sich in mystischen Texten ebenso wie leibfeindliche und weltverneinende Entwürfe. Besonders in der Leidensmystik können wir neben dem befreienden Aspekt des Mitgefühls, des Mitleidens (spanisch = compassion) und der Solidarität viele höchst problematische und neurotische Lebensmuster entdecken, die im Anwenden von Gewalt gegen sich selbst zerstörerisch sein können. Wir können und dürfen diese Frömmigkeitswege nicht ohne eine kritische Interpretation übernehmen. Sie sind mit der tiefen Sehnsucht nach einer Vereinigung mit Gott, oder auch mit vielen ungesunden religiösen Leistungsgedanken verknüpft. Die befreiende Lebensschule Jesu verbietet uns eine religiöse Versklavung. In seinem Mitsein, Lachen, Leiden, Genießen, Sterben und Auferstehen entdecken wir einen leidenschaftlichen Weg, der erfüllt ist von zärtlich-heilenden Begegnungen und Berührungen und zugleich vom Aushalten von Ungewissheit und Schmerz. Mit dem frühchristlichen Theologen und Bischof Irenäus von Lyon (135–202) bin ich tief überzeugt, dass »Gottes Ehre der lebendige Mensch ist«.

Alle Gottesbilder, die eine Konkurrenz und eine Trennung zwischen Gott und Mensch aufrechterhalten wollen, sind ein Verrat an seiner Menschwerdung. Wenn ich mich für ein mystisches Christentum einsetze, dann setze ich die lebensbejahende Spur frei, die »Gott in allen Dingen sucht« (Ignatius von Loyola, 1491–1556), weil sein heilender Lebensatem in allen Lebensdimensionen freigelegt und gefeiert werden möchte. Alle biblischen und mystischen Texte befrage ich kritisch nach ihrem lebensbejahenden Inhalt. Weil es zur Kernbotschaft Jesu gehört, dass er »Leben in Fülle« in uns fördert. Fülle bedeutet allerdings nicht »nur« Frieden, Glück, Vertrauen, Gerechtigkeit und Hoffnung, sondern auch Kampf, Konflikt- und Leidensfähigkeit, Schreien, Weinen und gemeinsames Aushalten und Durchgehen von Not und Schmerz.

Die Theologin Elisabeth Schüssler-Fiorenza spricht wie viele andere feministische Theologinnen in ihrem Buch »WeisheitsWege« von einer »Hermeneutik der Erfahrung, der Herrschaft und des sozialen Standes und des Verdachts«. Das griechische Wort Hermeneutik bedeutet »Auslegekunst, Deutung«. Es gibt keine objektive Auslegung, die über den Dingen steht. Wir lesen Texte mit unseren subjektiven Erfahrungen und Interessen, die geprägt sind von unserer sozialen Herkunft und unserer Bildung und die zu lange von der Einseitigkeit von männlich-patriarchalen Denkmustern beeinflusst worden sind. Misstrauen ist immer angebracht, wenn Religion eine Macht über Menschen, besonders über Frauen und Minderheiten ausüben will. Dorothee Sölle ergänzt diesen Gedanken in ihrem hervorragenden Buch »Mystik und Widerstand« mit einer »Hermeneutik des Hungers«. Vom kritischen Verdacht alleine haben wir noch nicht gelebt, wir hungern nach Brot und Rosen. So lese ich biblisch-mystische Texte mit diesem Hunger nach der einmaligen Würde, nach dem aufrechten Gang, nach dem lebensfördernden Aspekt einer Krisenerfahrung, dem kämpferischen Unterwegssein für gerechtere Strukturen. Ich baue all den lebensfeindlichen Schutt ab, der uns in unmündigen Abhängigkeitsmustern und -strukturen gefangen halten will. Ich suche den vergrabenen Schatz, die versteckte kostbare Perle, die in einem lebensbejahenden Menschen- und Gottesbild aufscheint, das innerlich befreit und zur Zivilcourage ermächtigt.

Meine Auswahl von mystischen Kerngedanken ist geprägt von einer lebensfördernden Grundhaltung, die weder aus Beliebigkeit noch aus Bequemlichkeit entsteht, sondern aus dem tiefen Glauben an den lebendigen Gott, der jeden Menschen zu sich selbst befreit. Ich treffe eine klare Wahl, die zur Geborgenheit in Freiheit bestärkt. Ich kann keinen kleinkarierten Gott lieben, der uns Menschen klein und als Marionetten halten will, um dadurch größer und allmächtiger zu sein. Mystische Menschen durchbrechen diese unterdrückenden und beziehungsfeindlichen Muster, indem sie neben vielen gelernten, traditionellen Aussagen unermüdlich vom liebenden Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch sprechen, vom dialogischen Sich-Ereignen Gottes im Seelengrund und in Schöpfung und Kosmos.

Der Mystiker David Steindl-Rast (geb. 1926) spricht mir aus dem Herzen mit der Erkenntnis, dass Jesus uns hautnah erfahren ließ, dass wir nicht mehr von Gott getrennt sind, sondern Gott in unserer Mitte gegenwärtig ist. Bruder David geht auch davon aus, dass wir alle Mystiker sind, weil Mystik für ihn die Erfahrung der Kommunion mit der letzten Wirklichkeit, mit Gott ist. Würden wir die Mystik den Mystikern überlassen, hieße es die Wurzeln menschlichen Lebens abzuschneiden. In einem mystischen Christentum suchen wir zutiefst persönlich und gemeinschaftlich diese Wurzeln, die immer schon da sind. Es bedeutet allerdings, dass wir um Gottes Willen mystische Frömmigkeitswege nicht einfach so kopieren und übernehmen können. Mystik kann lebensgefährlich sein! Die meisten bekannten Mystikerinnen und Mystiker haben zölibatär gelebt in einem klösterlichen Umfeld. Diese Lebensform, die bis heute sinnvoll ist, darf nicht als Bedingung für intensive Gotteserfahrungen gesehen werden. Der Lebensweg eines mystischen Menschen darf und will nicht kopiert werden, sondern er kann uns inspirieren, wenn wir uralte mystische Lebensgestaltungen kritisch in unsere Zeit hineinlesen.

Wir brauchen mystische Menschen, die in verschiedenen Lebensformen, in Partnerschaft und vielfältigen Arbeitsfeldern, im Glück und im Scheitern, das Einwohnen Gottes in ihrer Tiefe erahnen und feiern. Wir sind aufgerufen, mitzuvollziehen, was sich in jeder mystischen Biografie als zentraler Befreiungsakt entdecken lässt: der eigenen Intuition und Herzensstimme zu trauen als Akt der Selbstwerdung; die eigene Erfahrung wahrzunehmen, die einengende Glaubenswege sprengt, um uns in die Weite und in die Freiheit der Freundinnen und Freunde Gottes verwandeln zu lassen. Eine Freiheit, die sich nur in der Geborgenheit, im Hineintauchen in das Geheimnis der Liebe verwirklichen kann. Jene Momente der Geborgenheit und des Einsseins mit dem Urgrund aller Liebe, die uns beleben und aufrichten zum erfüllten Leben.

Schattenseiten der Mystik

Meine Begeisterung für eine mystische Lebensgestaltung klammert die Schattenseiten von mystischen Lebensentwürfen nicht aus. Der eigenen Herzensstimme zu folgen, kann gefährlich sein und zu überheblichen Allmachtsfantasien führen. Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn kann sehr dünn sein, die Grenze zwischen Religion und Krankheit auch! Mystische Menschen konnten zu himmelschreienden Kreuzzügen aufrufen, weil sie sich aus innerer Überzeugung dazu berufen fühlten. Religiöse Erfahrungen können krank machende, neurotische Verwirrungen beinhalten, die sich in »Wundersucht«, in Privatoffenbarungen, in leibfeindlichen Selbstkasteiungen, in Fundamentalismen äußern können, die gewalttätige Formen beinhalten, wie dies auch religiös motivierte Selbstmordattentäterinnen und -täter grausam aufzeigen.

Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind jene ethischen Grundwerte, über die sich keine Mystikerin, kein Mystiker stellen darf.

Der Mystiker Ignatius von Loyola (1491–1556) sagt voller Klugheit und Lebensweisheit, dass die Unterscheidung der Geister sehr wichtig ist. Diese kritische Grundhaltung zeigt sich in der entscheidenden Tatsache, ob mystische Menschen sich begleiten lassen, um auch kritisch-nüchtern ihre inneren Erfahrungen anzuschauen und zu hinterfragen. Für viele sind ihre inneren Bilder und Visionen eher eine Last. Sie tun sich schwer damit und manchmal brauchen sie mehrere Jahre, um sie aufzuschreiben. Im Dialog mit dem geistlichen Begleiter lassen sie sich hinterfragen und ermutigen. Darum darf die Mystik nicht als einseitig-individualistischer Weg gesehen werden. Auch heute braucht es eine geistliche Begleitung und manchmal auch professionelle therapeutische Hilfe, um unterscheiden zu können, was wirklich lebensbejahend ist.

Mystische Menschen ermutigen als Querdenkerinnen und Querdenker zum ureigenen Weg, zum Gang in die eigene Tiefe, um nicht fremdbestimmt zu werden. Darin liegt eine aktuelle Widerstandskraft, die immer auch kritisch analysiert werden muss, wie es genauso für die hierarchischen Verlautbarungen zutrifft, die trotz Mehrheitsbeschlüssen auch lebensfeindlich und ungerecht sein können, wie all die Fehlbeurteilungen und schrecklichen Verfolgungen in der Geschichte der Religionen zeigen.

Biblische Vertiefung

Bevor ich mit 38 Jahren die Mystik entdeckt habe, habe ich aus den Quellen der biblischen Tradition geschöpft, wie sie in der hebräischen (Erstes Testament) und der griechischen Bibel (Zweites Testament) fließen. Einige Worte von Frère Roger aus Taizé (1915–2005) haben mich als Jugendlicher befreiend geprägt: »Lebe das, was du vom Evangelium begriffen hast, und sei es noch so wenig, lebe das!« Dieser Lebensspur bin ich gefolgt, in einer kritischen Bibelinterpretation wie im Aneignen einer Psalmenspiritualität, in der alle Gefühle betend vertieft werden, im Entdecken des prophetischen Feuers und im inneren Wachsenlassen der heilend-befreienden Praxis Jesu. Als junger Erwachsener habe ich in einer ökumenischen Bibelgruppe in vielen anregenden und herausfordernden Gesprächen nach dem Lebensfördernden in der Bibel gesucht. In dieser Zeit habe ich die ganze Bibel gelesen und es ist kein Zufall, das mir fünf Bibelverse sofort ans Herz gewachsen sind, die mich bis heute hoffnungsvoll begleiten:

Du wirst Gott lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft.

DEUTERONOMIUM6,5

Denn Liebe will ich, nicht Opfer, Gotteserkenntnis, nicht Brandopfer.

HOSEA6,6

Der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen.

MARKUS2,27

Jesus schlug das Buch des Propheten Jesaja auf und fand die Stelle, wo es heißt: Der Geist Gottes ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht, damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr Gottes ausrufe.

LUKAS4,17–19

Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.

GALATER2,20

Das Lebensbejahende verdichtet sich in diesen fünf Versen, die mich damals wie heute tief anrühren und mich zur Hoffnung bewegen. Sie beinhalten die Verabschiedung eines strafenden Gottes, der uns mit Liebesentzug droht. Sie führen mich hinein in die Spannung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die sich als zentrale Grundwerte durch die jüdisch-christliche Tradition ziehen. Christliche Mystikerinnen und Mystiker verinnerlichen biblische Texte, sie erneuern sie im eigenen Leben, weil nur ein verinnerlichter Glaube trägt und nährt. Was Angelus Silesius (1624–1677) in einem Gedicht auf den Punkt bringt, gilt für jeden mystischen Lebensentwurf:

Wird Jesus tausendmal zu Bethlehem geborn und nicht in dir: Du bleibst noch ewiglich verlorn.

Eine biblisch-mystische Spiritualität nimmt die eigenen Lebens- und Beziehungserfahrungen ernst, um sie wiederfinden zu können in dem Weg des Volkes Gottes und im heilend-liebenden Dasein Jesu, in seinem Kreuz- und Auferstehungsweg. Der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard (1813–1855) spricht von »Gleichzeitigkeit«. Das Geheimnis der Menschwerdung ist nicht ein altes Ereignis, es geschieht gleichzeitig im Hier und Jetzt, auch in dir. Die Geburt Jesu, sein Mitsein, sein ansteckendes Lachen, sein befreiender Gerechtigkeitsweg, seine Konfliktfähigkeit voll von gewaltfreiem Widerstand, sein Lieben, sein Schrei, sein Hinabsteigen in die Abgründe, sein Auferstehen, seine Himmelfahrt erneuern sich in jedem Menschen, der offen wird für seinen Selbstwerdungs- und Versöhnungsprozess. Auf diesem dynamischen Verwandlungsweg wird die Bibel niemandem verordnet oder aufgepfropft, sondern die Kernaussagen werden in sinnstiftenden Deutungen im eigenen Leben freigelegt. Darum gebe ich in jedem Kapitel der biblischen Lebensvertiefung Raum, weil eben auch christliche Mystikerinnen und Mystiker ihr Suchen und Finden mit biblischen Lebensworten vertieft haben, um sie neu hineinzusprechen in den Alltag.

Diese biblische Vertiefung geschieht natürlich in der Wertschätzung meiner jüdisch-christlichen Wurzeln, ganz im Sinne des empfehlenswerten Buches des Jesuiten Christian Rutishauser: »Christsein im Angesicht des Judentums«. Ebenso wichtig ist mir das Fördern eines interreligiösen Dialoges, wie ihn der evangelische Pfarrer Reinhard Kirste in seinem bemerkenswerten Buch »Die Bibel interreligiös gelesen« entfaltet.

Kunst als Eingangstor

In meiner mystischen Lebensgestaltung schaue ich hinter die Ereignisse, hinter die Worte, hinter die Bilder, um mit den Augen der Ewigkeit die Gegenwart neu erschließen zu können. Die Kunst, die sich in Musik, Bild und Skulptur, in Lyrik und Roman, in Film und Theater ausdrückt, ist für mich ein Eingangstor zur Mystik. Ich finde mich auch in den Worten der Mystikerin Madeleine Delbrêl (1904–1964), die die »Kunst als eine Form von Religion« bezeichnet. Dabei will ich niemanden vereinnahmen und mich auf keinen Fall anbiedern. Es ist für mich ein Zeichen der Dankbarkeit und der Anerkennung, wenn ich mir bewusst werde, wie mein spiritueller Weg bereichert wird durch die Gedichte von Rainer Maria Rilke, Paul Celan und von Hilde Domin, die Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowski, die Romane von Max Frisch, die Lieder von Edith Piaf, Sting, Loreena McKennitt oder Herbert Grönemeyer und durch die Bilder von Vincent van Gogh und Marc Chagall, um nur einige wenige zu benennen. Da erfahre ich zeitlose Momente des Ergriffenseins, in denen ich voll da bin und ganz weg. Ich spüre ein bewegendes Angesprochensein, das mich verbindet mit vielen anderen Menschen. Darin erkenne ich die Schönheit Gottes, seinen heilenden Lebensatem, der sich auch in unbequemen Zumutungen ausdrückt.

In diesem Buch will ich meine Passion zum Film vertiefen. Ich gehe leidenschaftlich gerne ins Kino. Ich schaue mir am liebsten jene Filme an, in denen mir wirklich Zeit gelassen wird, um die Bilder anzuschauen. Ich habe mir fast alle Filme von Ingmar Bergman, Pier Paolo Pasolini, Wim Wenders, François Truffaut, Jim Jarmusch, Andrej Tarkowski, Werner Herzog, Aki Kaurismäki, Claude Sautet und Krzysztof Kieslowski angeschaut. Ich bin ergriffen von den Werken von Filmemacherinnen wie Jane Campion mit »Das Piano«, der mongolischen Regisseurin Byambasuren Davaa mit »Die Geschichte vom weinenden Kamel« und »Die Höhle des gelben Hundes«, Margarethe von Trotta mit »Rosenstraße«. Filme wie »Amarcord« von Frederico Fellini, »Billy Elliot« von Stephen Daldry, »Der Pianist« von Roman Polanski, »Die fabelhafte Welt der Amelie« von Jean-Pierre Jeunet, »Das Leben ist schön« von Roberto Benigni, »Smoke« von Wayne Wang, »Die Liebenden vom Pont-Neuf« von Leos Carax, »Das Zimmer des Sohnes« von Nanni Moretti, »Harald und Maude« von Hal Ashby und »Brokeback Mountain« von Ang Lee kann ich mehrere Male ansehen, um ein tiefes Angerührtsein in meiner Seele zu spüren, das mich bestärkt zu einer Menschenliebe und zur Schöpfungsverbundenheit. Dazu zähle ich auch einige Filme der Schweizer Regisseure Daniel Schmid und Alain Tanner und die eindrücklichsten Schweizer Filme »La Dentellière – Die Spitzenklöpplerin« von Claude Goretta und »Höhenfeuer« von Fredi M. Murer.

Beim Anschauen von Filmen hole ich mir immer wieder, was ich brauche, um das Wesentliche im Leben zu erahnen. Diese Leidenschaft entfalte ich am Anfang der zwölf Kapitel dieses Buches. Ich hebe eine Filmsequenz hervor, die mir eine Spur aufzeigt, um mein Leben zu vertiefen. All jene, die diese Filme (noch!) nicht gesehen haben, finden in diesen Eingangsworten ermutigende Lebensweisheiten, die für mich zeitlos sind und die mich an mystische Lebenserfahrungen erinnern. Die Auswahl der Filme fiel mir sehr schwer. Ich habe darauf geachtet, dass die besprochenen Filme einem größeren Publikum bekannt sind und dass sie als DVD im Handel erhältlich sind – siehe auch die Liste am Ende des Buches. Die vorgestellten Filme eignen sich auch gut, um in der Jugendarbeit, in der Erwachsenenbildung oder in den Pfarreien und Gemeinden, auch in besonderen Gottesdiensten, aufgenommen zu werden: als Brücke zu einer mystischen Lebensgestaltung.

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Du bist gesegnet – sei einfach da

Mystik des Daseins

»Wie im Himmel« heißt der Glücksfall eines schwedischen Filmes (2004) von Kay Pollak, der ganz unscheinbar und unaufhaltsam viele Herzen bewegt und berührt. Daniel Dareus ist ein berühmter Dirigent, auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ein Herzinfarkt wirft ihn auf sich selbst zurück. Er wagt eine Reise nach innen und zieht sich alleine an seinen Ursprungsort zurück. Langsam gewinnt er in seinem kleinen Heimatdorf wieder Vertrauen in das Leben.

Er findet durch die Begegnung mit dem kleinen Kirchenchor zu seiner Leidenschaft zurück, zur Musik. Seine unkompliziert bescheidene Art und Weise als neuer Leiter dieses Chores öffnet die Herzen der zehn Mitglieder. Er führt sie zu sich selbst, weil er aus der Hoffnung lebt, dass jede und jeder seinen eigenen Grundton hat und dass alle Musik schon da ist. Seine Lebensweisheit lässt sich mit wenigen Worten umschreiben: »Alles beginnt mit dem Hören.« Im Horchen auf den Atem, in der Kraft des Daseinkönnens ereignet sich die Verbindung zwischen dem persönlichen Ton und der gemeinsamen Lebensmelodie.

In diesem eindrücklichen Film begegnen mir die großen Lebensthemen mit einer Leichtigkeit, die die Härte des Lebens nicht ausklammert. Ich entdecke darin jene mystische Grundhaltung, die uns Menschen nicht auf unsere Mängel fixiert, sondern uns Ansehen schenkt im Hervorheben unserer unerschöpflichen Wachstumsmöglichkeiten, unserer einmaligen Ressourcen. Es ist für mich eine Wohltat, teilhaben zu können am Aufblühen von ganz unterschiedlichen Menschen. Das gemeinsame Singen bewegt sie zu einer befreienden Offenheit, die viel Verlogenes, Totgeschwiegenes freilegt. Sie führt zu einem authentischen Dasein, das Konflikte nicht mehr überspielt. Zwei zentrale Aspekte, die in jeder mystischen Biografie auftauchen:

Menschen, die wirklich der Kraft ihres Daseins, dem Ursegen trauen, werden innerlich frei. Sie sind weniger manipulierbar. Sie werden ermächtigt zum aufrechten Gang. Sie hinterfragen familiäre, politische und kirchliche Institutionen, die durch ungesunde Abhängigkeiten und durch Angst Macht ausüben wollen.

Einer der bewegendsten Momente im Film ist darum für mich der Soloauftritt von Gabriella beim gemeinsamen Konzert. Seit Jahren wird sie von ihrem Mann geschlagen. Alle im Dorf wissen es, doch niemand wehrt sich mit ihr, bis die heilsame Weggefährtenschaft im Chor zur Befreiung bestärkt. Mit ihrer kraftvollen Stimme singt sie von ihrer Sehnsucht, ihr Leben wirklich zu leben im Wissen, dass sie gut genug ist. Sie will ihr Selbst nicht mehr schlummern lassen, sondern es entfalten, auch zum Wohle ihrer Kinder.

Diese lebensbejahende Spur will ich in der christlichen Tradition hervorheben. Sie ist bis heute spürbar in den Erzählungen von den heilenden Begegnungen Jesu, die zum wirklichen Leben verführen! Im Laufe der Kirchengeschichte wird sie manchmal zugedeckt durch eine lebensverneinende Fixierung auf Schuld und Sünde, ohne jedoch völlig verloren zu gehen. Mystische Menschen betonen unermüdlich, dass im Anfang nicht die Ursünde, sondern der Ursegen ist. Wie anders könnte die bedingungslose Liebe Gottes glaubwürdig erlebbar werden? Der Theologe Johann Baptist Metz betont zu Recht, dass Jesu erster Blick nicht der Sünde der anderen, sondern dem Leid der anderen gilt. Ich ergänze diesen wichtigen Aspekt mit der Zusage, dass der Blick Jesu auch der inneren göttlichen Quelle gilt, die heilende Kräfte in uns freilegen kann. Diese hoffnungsstiftende Perspektive heben Mystikerinnen und Mystiker im Entfalten eines positiven Menschen- und Gottesbildes hervor. Ein Ja der Liebe ist in unser Herz gelegt, das zur Selbstannahme und zur Solidarität bestärkt.

»Heute besuche ich mich, mal schauen, ob ich zu Hause bin?«, sagt sich der Münchner Karl Valentin mit seinem tiefsinnigen Humor. Ich erkenne in diesen Worten eine der urreligiösen Fragen. Sie erzählt von der Verheißung und der Zumutung, sich zurechtzufinden im eigenen Seelenhaus. Ich kann dies nur durch die Erinnerung, dass mir vor allen Ansprüchen der Zuspruch gilt, angenommen und geliebt zu sein in meinem Dasein, in meiner Lebenskraft, in meiner Verletzlichkeit, in meiner Liebesfähigkeit und mit meinen Ecken und Kanten. Eine »Moralin-Religion«, die Menschen klein und unmündig halten will, ist ein Verrat an der Menschenfreundlichkeit jenes Liebhabers des Lebens aus Nazareth.

Mystische Menschen hinterfragen den Machtanspruch einer organisierten Religion, die sich anmaßt, den Menschen Gott bringen zu können. Es gibt keinen gottlosen Menschen auf dieser Welt, weil kein Mensch Gott loswerden kann. Der Theologe und Jesuit Karl Rahner (1904–1984) bringt diese Grundannahme in Verbindung mit einem mystagogischen Handeln, weil er wie alle Mystikerinnen und Mystiker davon ausgeht, dass Gott als tiefes Geheimnis in jedem Menschen wohnt und wirkt. Mystagogie bedeutet für ihn eine Hinführung zu diesem Geheimnis, indem wir einander aufzeigen, wo immer wir mit diesem Urgrund unseres Lebens mitten im Alltag in Berührung gekommen sind. Mystagogie als Aneignung (nicht Verordnung) des Glaubens findet sich schon im Jahre 350 nach Christus in den mystagogischen Katechesen des Cyrill von Jerusalem. Er hatte ein feines Gespür für die Einmaligkeit und Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Eine Hinführung zum christlichen Glauben muss darum die Persönlichkeit des Einzelnen mit seinen Bedürfnissen und seinem soziologischen Hintergrund ernst nehmen, damit eine reflektierte Verbindung zwischen dem Einzelnen und der christlichen Tradition und Liturgie aufgezeigt und verinnerlicht werden kann. Kirchliche Gemeinschaft kann Gott nicht haben, sondern ihre Aufgabe besteht darin, ihn mit anderen zu suchen, freizulegen, zu hinterfragen, zu finden und zu feiern.

Spirituelle Menschen erinnern einander alltäglich daran, dass unsere menschliche Existenz zutiefst verbunden und eingebunden ist in die göttliche Gegenwart, die spürbar ist und uns zugleich übersteigt. In der Zusage, gesegnet zu sein vor allem Tun, wehren sich mystische Menschen gegen eine angstmachende Religion, die Menschen aufzeigen will, wann Gott zu ihnen kommt und wann nicht. Er kommt all unserem Tun mit seinem Segen, mit seiner Gnade zuvor, weil das Wesentliche im Leben immer ein Geschenk bleibt. Mystische Menschen denken groß vom Menschen, weil er fähig ist, sich verwandeln zu lassen, um immer mehr werden zu können, wie er oder sie von Anfang an gemeint ist: Abbild Gottes. Diese biblische Grundaussage entfalten Mystikerinnen und Mystiker in vielen Symbolen, Urbildern und lebensbejahenden Worten.

Den göttlichen Urklang hören: Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen (1098–1179), Äbtissin, Apothekerin, Dichterin, Komponistin, Prophetin, Heilkundige, Visionärin, Naturforscherin, ist überzeugt, dass Gott uns ins Gesicht schaut und wir ihm gut gefallen. Dieses Ansehen befreit, und weil es allen Menschen gilt, besteht unsere Aufgabe darin, aufeinander Rücksicht zu nehmen, besonders auch auf die Schöpfung, weil in ihr Gottes heilender Geist atmet. Wir Menschen sind eine Leib-Geist-Seele-Einheit, ein »Spiegel aller Gotteswunder«.

Diese Hoffnung belebt sie und sie unternimmt viele beschwerliche Reisen, um sich mit kämpferischen Worten für eine ganzheitliche Spiritualität einzusetzen, die einen leibfeindlichen Dualismus überwindet. Ein gesunder Lebensstil gehört für sie zur täglichen Lebensaufgabe, der auch Verletzlichkeit und Verwundbarkeit beinhaltet, weil wir in uns »nicht nur Himmlisches« suchen sollen. Ihre schöpfungszentrierte Spiritualität bestärkt uns, psychosomatische Zusammenhänge zu erkennen, damit wir auch an Krankheiten wachsen und reifen können. Zugleich ermutigt sie uns, unsere Endlichkeit anzunehmen, weil unser Gesegnetsein von der Ewigkeit erzählt, die schon im Hier und Jetzt erfahrbar wird und uns verbindet mit allem.

Hildegard ist in ihrem Leben oft krank gewesen, sie weiß um unsere Zerbrechlichkeit. Wie die meisten Mystikerinnen und Mystiker hat sie von ihren inneren Erfahrungen aus einer inneren Notwendigkeit geschrieben, damit aus unseren Schwächen, unseren wunden Punkten Stärken entstehen können. Leidenschaftlichkeit gehört für sie wesentlich zu unserem Menschsein, damit unsere Verwundbarkeit nicht überspielt wird und unser sprühendes Leben nicht unterdrückt wird. Tiefster Grund dieser Hoffnung ist das Christusereignis, das von einem menschgewordenen Gott erzählt, der uns sichtbar werden lässt, was in unserem innersten Seelengrunde angelegt ist: »ein Verlangen nach dem Kusse Gottes«. Dieses intim-dialogische Geheimnis ist nicht nur sehr persönlich, sondern hat zugleich eine kosmische Dimension. Da sein können, einfach leben, innehalten und verweilen im Augenblick wird zur Lebensaufgabe, weil wir sinnstiftend erleben können, wie die ganze Schöpfung und der Kosmos »vom Kuss des Schöpfers« belebt wird.

Diese verbindende Wirklichkeit beschreibt Hildegard in musikalischen Bildern. Die Seele trägt die Symphonie Gottes in sich, sie »hat in sich einen Wohlklang und sie ist selber klingend«. Alles ist ein »Urklang aus der Ordnung Gottes«. In der Kraft des Daseins und des Verweilens können wir die göttliche Schwingung wahrnehmen, die uns zum Innehalten bewegt, weil wir alle viel mehr sind als unsere Leistung. Als sensible Menschenkennerin verschweigt Hildegard von Bingen zum Glück nicht, dass wir beim Horchen auf die himmlische Harmonie auch mit unseren Verstimmtheiten konfrontiert werden.

Hildegards Menschen- und Gottesbild ist nicht statisch, sondern dynamisch und prozessorientiert, wie bei allen Mystikerinnen und Mystikern. Es ist verwurzelt in der biblischen Weisheitstradition, die mit »Frau Sophia« auch ein weibliches Sprechen von Gott ausdrückt. Hildegard von Bingen bewegt es zum Hineinwachsen in ein Urvertrauen, das genährt wird von der »umarmenden Mutterliebe Gottes«, die einlädt, Erde und Himmel miteinander zu verbinden. Diese Verwurzelung nährt die Kraft zum Kampf für Gerechtigkeit, den sie auch in einer Kritik an Klerus und Papst ausdrückt, weil sie das Blutgeld mehr lieben als die »schöne Königstochter, die Gerechtigkeit«. Mystik und Kirchenkritik sind untrennbar.

Inneren Bildern trauen: Mechthild von Hackeborn

Mechthild von Hackeborn (1241–1299) lebt im Kloster Helfta, zusammen mit Gertrud der Großen und Mechthild von Magdeburg. Die drei großen Frauen von Helfta trauen ihren Visionen, ihren inneren Bildern. In einem mühsam-befreienden Prozess haben viele Mystikerinnen jahrelang gerungen, um der Kraft ihres inneren Seelenlebens zu trauen. Darin drückt sich die bleibende Spannung aus, die zu einem mystischen Weg gehören wird. Wenn jemand mir in der spirituellen Begleitung anvertraut, dass er oder sie in direktem Kontakt mit Jesus oder Maria sei, dann nehme ich diese Worte wohl ernst, doch ich begegne ihnen auch mit Skepsis. In einer autoritären Religion ist die Gefahr, dass wir unmündig bleiben und unsere Verantwortung an die Hierarchie abgeben. Die Schlagseite einer mystischen Religion wiederum besteht in der Gefahr, eigene Erfahrungen absolut zu setzen, überheblich zu werden und den notwendigen Dialog zu verweigern. In vielen mystischen Biografien scheint diese Problematik auf, indem sich Menschen mit inneren Bildern jahrelang schwertun, um sie aufzuschreiben. Sie sind nicht nur beglückt, sondern sie leiden auch an diesem tiefen Angerührtsein.

Mechthild von Hackeborn hat ihre Visionen bis zum 50. Lebensjahr verschwiegen. Diese Erfahrung lehrt mich, kritisch mit religiösen Erlebnissen umzugehen, denn sie sind verwoben mit all unseren persönlichen, sozialen und politischen Erfahrungen. Kritisch im doppelten Sinn, indem ich wie viele Mystikerinnen und Mystiker das Gespräch suche, mich hinterfragen lasse und zugleich, indem ich mir treu bleibe und innere Bilder, die sich mir auf eine vielfältige Art und Weise immer wieder zeigen, auch aufschreibe und ausdrücke. Es ist diese anspruchsvolle Gratwanderung, die mich in mystischen Biografien faszinieren und befremden kann. Fasziniert bin ich vom Selbstbewusstsein jener Frauen, die sich in einer patriarchalen Welt nicht beirren lassen, einen sinnlicheren Glauben auszudrücken. Befremdet bin ich von den absoluten Aussagen wie »Christus sagt zu mir …«, die mystische Menschen in ihrer geistlichen Begleitung jedoch auch selber hinterfragen.

Ein mystisches Christentum muss diese Spannung aufrechterhalten. Die Gratwanderung, von den eigenen persönlichen Erfahrungen auszugehen, um sie kritisch verwurzeln zu können in den Erfahrungen der Bibel und der Tradition. Diese Lebenseinstellung gilt auch im Umgang mit mystischen Texten. Ich kann die Erfahrungen von Mechthild nicht kopieren in mein Leben, ich brauche eine kritische Distanz zu zeitbedingten asketischen Äußerungen. Ich suche nach dem Lebensbejahenden und finde es in ihren originellen Worten, die mich zur Kraft meines Daseins führen. Sie spricht vom inneren Christus, der in uns Wohnstatt hat. Wir suchen und finden ihn »mit allen fünf Sinnen«, damit wir vertrauen, dass das Wesentliche schon da ist. Denn ihr innerer Christus spricht uns zu: »Wo immer du weilst, da ist mein Himmel.« Mechthild hat ihre Erfahrungen im »Buch vom strömenden Lob« aufgeschrieben. Die Symbolik des Herzens prägt es. Der Dialog zwischen Mensch und Gott ereignet sich von Herz zu Herz. Unser Atem strömt aus dem Herzen Gottes. Atempausen für die Seele lassen uns diese Wirklichkeit erahnen.

Die Geburt Gottes in uns erahnen: Meister Eckhart

Meister Eckhart (1260–1328), Dominikanermönch, begabter Philosoph und Prediger, ist viel unterwegs zwischen Erfurt, Köln, Straßburg und Paris. Sein Leben ist voll von innerer und äußerer Bewegung. Ein verantwortungsvolles Dasein lässt sich in seiner Biografie entdecken, das in der Wechselwirkung von Engagement und Rückzug lebt. Er bringt diesen Rhythmus in der Grundhaltung zum Ausdruck, uns nicht allein vom Haben bestimmen und leben zu lassen, sondern uns vom Sein her zu nähren. Denn für ihn ist die entscheidende Frage im Leben nicht, was wir tun, sondern wer wir sind. Er bestärkt uns auch »ohne Warum – sunder warumbe« leben zu können, weil unser Wert aus unserem Sein entspringt.