Gebranntes Kind sucht das Feuer - Cordelia Edvardson - E-Book

Gebranntes Kind sucht das Feuer E-Book

Cordelia Edvardson

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Beschreibung

Cordelia Edvardsons Roman ist „eines der großen Werke der Holocaust-Zeugenschaft“. (Daniel Kehlmann) – Eine literarische Wiederentdeckung

„Das Mädchen hatte schon immer gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte.“ Cordelia, unehelich geboren, ist eine „Dreivierteljüdin“, ihre Mutter eine berühmte Schriftstellerin und glühende Katholikin. Im entscheidenden Moment schützt diese nicht ihre Tochter, sondern rettet sich selbst. Mit 14 Jahren wird Cordelia Edvardson nach Auschwitz deportiert.
Ihr Roman ist die schmerzhafte Annäherung an den Verrat durch die eigene Mutter, die tastende Suche nach einer Identität, der Versuch, dem Grauen der Vergangenheit ungeschützt ins Gesicht zu sehen. „Eines der großen Werke der Holocaust-Zeugenschaft.“ (Daniel Kehlmann)

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Das ist das Cover des Buches »Gebranntes Kind sucht das Feuer« von Cordelia Edvardson

Über das Buch

»Das Mädchen hatte schon immer gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte.« Cordelia, unehelich geboren, ist eine »Dreivierteljüdin«, ihre Mutter eine berühmte Schriftstellerin und glühende Katholikin. Im entscheidenden Moment schützt diese nicht ihre Tochter, sondern rettet sich selbst. Mit 14 Jahren wird Cordelia Edvardson nach Auschwitz deportiert.Ihr Roman ist die schmerzhafte Annäherung an den Verrat durch die eigene Mutter, die tastende Suche nach einer Identität, der Versuch, dem Grauen der Vergangenheit ungeschützt ins Gesicht zu sehen. »Eines der großen Werke der Holocaust-Zeugenschaft.« (Daniel Kehlmann)

Cordelia Edvardson

Gebranntes Kind sucht das Feuer

Roman

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann

Hanser

Für meine Mütter

Elisabeth Langgässer Berlin

Stefi Pedersen Stockholm

Sylvia Krown Jerusalem

und für meine Kinder

TEIL I

Die Vergangenheit ist

unserer Barmherzigkeit ausgeliefert.

Lars Gyllensten

1

Das Mädchen hatte schon immer gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Sie war nicht wie andere. Mit ihr war ein Geheimnis verknüpft, ein sündiges, schamvolles, dunkles Geheimnis. Es war nicht ihre eigene Sünde und Scham; sie war hineingeboren worden, auserwählt für das, weshalb sie ausgesondert, ausgegrenzt und ausgeschlossen wurde.

Und darin fand sie ihren Stolz, um nicht zu sagen Hochmut. Wer ausgesondert, ausgegrenzt und ausgeschlossen wurde, der war auch auserwählt! Auserwählt — wozu? Sicher nicht, um eine goldglitzernde, edelsteinbesetzte Prinzessinnenkrone zu tragen. Prinzessinnen waren lieb, zart und blond, mit blauen Augen. Das Mädchen wusste, dass es das Gegenbild einer Prinzessin war; ein dunkles, pummeliges, böses und bockiges kleines Kind, das mitnichten in einem verzauberten Garten lebte, sondern in einer dunklen Wohnung in Berlin-Siemensstadt. Oh, diese frühe Dunkelheit!

Und doch, trotztröstete sich das Mädchen, trug es auch eine Art Krone, eine Krone des Leids, eine Dornenkrone, wie sie jenen verliehen wurde, die »hinabgestiegen in das Reich des Todes«. Denn das war ihr Auftrag, ihre Berufung. Und wie so oft bei einer echten Berufung kam diese früh, sehr früh. Und das Mädchen hörte, sah und gehorchte. Die Kraft und die Herrlichkeit hatten zu ihm gesprochen.

Als das Mädchen noch ein hilfloser Säugling mit nachdenklichen, traurigen braunen Augen war, ein Erbe des jüdischen Vaters, legte die Mutter oft ihren Kopf an die Brust des Kindes im Strickpullover, um bei ihm Trost und Hilfe zu finden. »Strickbrüstchen«, hieß das Ritual. Die Mutter, allein, gequält und von Erscheinungen gepeinigt, las dem Kind ein paar Verse vor, ein kleines Lied über die eisigen Winde der kalten, dunklen Welt dort draußen, über das Vöglein, das tief ins Nest geduckt unter den Flügeln der Mutter Schutz sucht, und über das Kind, das warm im Arm der Mutter ruht. Die Mutter an der Brust des Kindes, denn das schuldlose, unschuldige Kind ist die Zuflucht der Mutter, ihre Rettung und ihr Opferlamm. Wer stillte wen? Wer entsandte Proserpina, Blumen zu pflücken, die ihre Lebenskraft aus dem Humus des Totenreichs sogen? Der erste Roman der Mutter hieß genau so, Proserpina, die Tochter las ihn nie, das war nicht nötig. Die Botschaft war schon früher angekommen, viel früher.

Ihre eigenen Mythen nährten die Mutter und durch die nie durchtrennte Nabelschnur auch die Tochter. Proserpina und das Jesuskind. Die kleine, pausbäckige Wachspuppe als Herr und Erlöser der Welt, dieser schwindelerregende Mythos vom vernichtenden Sieg der Schwachen und Wehrlosen über Bösartigkeit, Verrat, Scham und Sünde — wollte die Mutter diesen Mythos in ihrer Tochter wiedererschaffen und bekräftigen?

2

Wie sehr sie sich danach sehnen konnte, dazuzugehören!

Schon damals in Berlin-Siemensstadt, in der Wohnung mit dem langen, finsteren Flur, dem sicheren Gefängnis des Mädchens. Hier wartete sie mit der Mutter, der Großmutter und dem Onkel. Warten worauf? »Auf das, dem du nicht entkommen kannst«, hätte die Wahrsagerin geantwortet. Warten auf den, der kommen und das Mädchen dorthin führen würde, »wo du nicht hinwillst«. Währenddessen sitzt sie in dem dunklen Flur und kurbelt an einer kleinen Spieldose, dann verstummt die Musik, sie kurbelt fester, wird wütend und kurbelt noch fester, und plötzlich kracht es. Erschrocken versteht das Mädchen, dass die Spieldose kaputt ist, sie hat sie zerstört. Wahrscheinlich macht sie auch in die Hose, wie so oft. Die Großmutter fegt heran und schimpft. Böses Balg! Die Spieldose sollte ein Geschenk für ein anderes Kind sein, und jetzt hat das Mädchen sie kaputtgemacht! Hatte sie das gewusst und die Dose deshalb kaputtgemacht? Aber sie hatte es nicht gewollt, nicht absichtlich getan. Oder?

Das wird ihre erste bewusste Erinnerung.

Die Mutter und die Großmutter veranstalten ein tägliches Tauziehen um das Mädchen; wie man es richtig erzieht und behandelt. Der Onkel hält sich wohlweislich aus dem Zweikampf dieser beiden willensstarken Frauen heraus. Schon als Kind hatte er verstanden, dass es so für ihn am besten war. Früh vaterlos, war er in die Frauenwelt der Mutter, der Schwester und verschiedener »Haustöchter« hineingesetzt worden und hatte sich ohne Proteste angepasst.

Haustöchter waren junge Frauen, die wohl eigens zum Nutzen von vornehmen, aber weniger betuchten Familien erfunden worden waren. Gegen ein kleines Taschengeld gingen sie der Dame des Hauses zur Hand und sollten dabei lernen, einen feineren Haushalt zu führen. Wie die angeschlagene Familie des Mädchens als »vornehm« gelten konnte, schien allerdings nur schwer nachvollziehbar. Zwar war der Großvater mütterlicherseits »Baurat« gewesen, doch davon gab es offenbar etliche, und außerdem war er schon lange tot. Zuvor war es ihm aber noch gelungen, zufriedenstellend seinen wesentlichen Auftrag zu erfüllen: die verlorene Ehre (und Unschuld?) der Großmutter wiederherzustellen. Als junge Frau aus gutbürgerlicher katholischer Familie war sie schwanger geworden. Wie die Familienchronik zu berichten weiß, hatte der junge Kindsvater sie zwar heiraten wollen, war jedoch nicht für standesgemäß befunden worden. So musste die Großmutter ihren ersten Sohn heimlich zur Welt bringen und zur Adoption freigeben. Der Herr Baurat muss später ein Geschenk des Himmels gewesen sein und mehr, als man zu hoffen gewagt hatte. Unter diesen Umständen konnte man, gezwungenermaßen, über die Tatsache hinwegsehen, dass er Jude war, und natürlich konvertierte er vor der Hochzeit. Als der Großvater relativ früh von der Erde schied, hatte er der Großmutter neben zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter, auch einen Platz im Hort der bürgerlichen Anständigkeit geschenkt.

Das Glück währte leider nicht lange. Die Tochter trat in die Fußstapfen der Mutter und wurde mit neunundzwanzig Jahren als unverheiratete Lehrerin schwanger, obendrein von einem verheirateten Mann und Vater dreier Kinder. Die Frauen in dieser Familie besaßen anscheinend alle kein Talent für den unbeschwerten Leichtsinn.

Das Kind, ein Mädchen, wurde damals weder abgetrieben noch abgegeben, obwohl es Möglichkeiten dafür gegeben hätte. Die Großmutter und die Mutter beschlossen, der Welt zu trotzen, der Welt der Männer, sahen jedoch ein, dass dies in der Großstadt Berlin leichter sein würde als in der rheinischen Kleinstadt, in der sie bis dahin gelebt hatten. Der Onkel, der die Familie hauptsächlich versorgte, war im Umzug inbegriffen.

Indem man flieht oder umzieht, entkommt man jedoch weder dem Schandpfahl im Fleisch (wie die Großmutter) noch dem Hades, in den man sich von Pans verführerischen Flötentönen locken ließ, jedenfalls nicht ehe sich irgendein Orpheus offenbart (wie im Falle der Mutter). Während sich die Großmutter grummelnd im eisigen Wind der gekränkten und geschändeten Bürgerlichkeit vorankämpfte, wurde die Mutter zur Schöpferin und zum Opfer der Mythen. Viele Mythen, viele Bilder; vom Gott, der seine eigenen Kinder frisst, bis hin zum Gott am Kreuz.

Das Mädchen lebte und litt im Schnitt- und Brennpunkt dieser Welten. Die Visionen der Mutter nährten die Seele und die Sinne des Kindes, während sich die Großmutter seines Körpers annahm, ihn überfütterte und in hässliche Kleider und kratzende Wollstrümpfe mit Leibchen steckte — und heimlich die vollgepinkelten Schlüpfer wusch. War das Mädchen krank, wurde sein Nachttisch von den Süßigkeiten der Großmutter überschwemmt, das Kind war ein ausgeprägtes Leckermaul, und wenn die Mutter abends nach Hause kam, schimpfte sie die Großmutter aus, warf das Naschzeug weg und gab ihrer Tochter stattdessen eine Pflaume, eine einzelne Rose. Die Vierjährige trauerte den Süßigkeiten nach, wusste aber, dass es die Rose war, die sie sich wünschen und herbeisehnen und lieben sollte — auch wenn sie stach. So lernte das Mädchen, sich sowohl die trotzigen Siege der Großmutter über einen widerspenstigen Alltag — »Iss noch was, Kind!« — als auch die Verdeutlichung und Gestaltung des Chaos durch die Mutter zu eigen zu machen und auszunutzen. Diese Lehren hatten ihren Preis, sollten später jedoch zur Rettung und Erlösung des Mädchens werden.

Sie war ein einsames und, so versteht sich, frühreifes Kind.

Für ihre Einsamkeit sorgte die Großmutter, sie wollte nicht, dass das Mädchen mit den »schmutzigen und gemeinen« Nachbarskindern spielte. Tatsächlich lag der soziale Status des Viertels nur eine Stufe über der eines gewöhnlichen Arbeiterquartiers, aber der wahre Grund war natürlich, dass beim Kontakt mit den anderen Kindern die heimliche Schwachstelle der Familie aufgedeckt und preisgegeben werden könnte. Die Großmutter wollte ihre kleine Enkelin, ihre Tochter und sich selbst vor der Verachtung und dem Hohn schützen, denen sie ihrer eigenen Überzeugung und Erfahrung nach ausgesetzt wären, wenn ihr soziales Stigma entdeckt und offen zur Schau gestellt würde.

Das Mädchen selbst fragte nie nach seinem Vater, und dessen Name und Existenz wurden auch nie erwähnt. Wenn sie überhaupt an ihn dachte, nach ihm suchte, dann in der Welt der Märchen und Mythen, in die ihn die Mutter verwiesen hatte. In einem Brief an eine Freundin beschrieb die Mutter die Umarmung, während der sie die Tochter empfangen hatte, wie Danaës Begegnung mit Zeus als Goldregen.

Man bittet wohl kaum darum, ein Foto von Zeus sehen zu dürfen.

Auch wenn sie mitunter von einem Leben fantasierte und träumte, in dem sie so war wie die anderen, eine der anderen, eine, die vom Himmel zur Hölle hüpfte und wieder zurück, eine, die Verstecken spielte und lachen konnte, anstatt sich zu fürchten, wenn sie gefunden wurde, zog sie es ganz insgeheim vor, von alledem Abstand zu nehmen, um auf ihrem Platz zu warten wie ein treuer Wachposten oder der standhafte Zinnsoldat.

Um keinen Preis wollte sie eine der leuchtenden Gelegenheiten verpassen, wenn die Mutter sich offenbarte, in ihr Leben vordrang. Im Zauberkreis der Mutter wurden die Welt und das Kind wirklich und lebendig. Das Wort wurde Fleisch in den von der Mutter erzählten Märchen, in den Versen, die sie manchmal zusammen dichteten, selbst in den Auszügen aus dem nächsten Roman der Mutter, die sie der Vier- oder Fünfjährigen vorlas. Das Kind öffnete sich, wurde überströmt, erfüllt und berauscht vom Geschmack und Duft, von der Farbe und Form der Worte. Und im späteren Leben des Mädchens wurde seine Erfahrung bestätigt, dass man von den Worten der Dichtung buchstäblich leben und sich ernähren kann.

3

Der Boden war noch immer gefroren, und es war bitterkalt, wenn sich morgens die Kommandorufe in den fiebrigen Hungerschlaf des Mädchens bohrten. »Los, los, raus, schneller!« Stöhnend erhob sie sich von ihrem Lager, setzte vorsichtig den Fuß auf den Rand der unteren Pritsche und spürte den stechenden Schmerz in ihren frostklammen Fußsohlen. Sie kratzte an den Läuse- und Flohbissen unter ihren Lumpen, die man nie auszog; weil es so kalt war, aber auch, weil nichts zu zerrissen oder schmutzig war, um gestohlen zu werden. Dann schlüpfte sie in die Überreste ihrer Schuhe, die ihr nachts als Kissen dienten, und tastete sich halbblind vor zur Barackentür.

Das heißt, sie glaubte, dies alles zu tun, sie spürte den Schmerz in den Füßen und die Bisse des Ungeziefers, sie hörte die Kommandos. Sie sah und registrierte ihre eigenen Bewegungen, langsam und gedehnt wie in Zeitlupe. Sie spürte die ungeheure Schwere in jedem Körperteil und erlebte, was es wirklich bedeutete, keinen Finger rühren zu wollen, zu können. In Wirklichkeit blieb sie meistens auf der Pritsche liegen, bis eine barmherzige Mitgefangene sie hinausscheuchte auf den Appellplatz zum Zählen. In dem eisigen Moment, als sie endgültig erwachte, nahm die Panik sie in den Würgegriff, sie würde es nicht rechtzeitig nach draußen schaffen, wo sind die Schuhe, schnell, schnell. Das Mädchen wusste, dass ihm die Gefangene, die sich die Mühe gemacht hatte, sie zu wecken, vermutlich das Leben gerettet hatte, aber es war ein Leben, das ihr zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel wert war, und sie trug es auf dieselbe unausweichliche Weise wie ihre lausigen Lumpen.

Dann begann der Marsch zur Fabrik, wo die Häftlinge für einige Wochen ihren Beitrag zur deutschen Kriegsmaschinerie leisten mussten. Sie blieben nie länger am selben Ort. Da sich die Alliierten jetzt, im Vorfrühling 1945, von allen Seiten näherten, wurden die Gefangenen ständig verlegt und, mal in Güterwaggons, mal zu Fuß, kreuz und quer durch Deutschland verfrachtet. Wo sie in diesem Moment waren, wusste das Mädchen ebenso wenig, wie sie wusste, dass die Befreiung so kurz bevorstand, und hätte es ihr jemand erzählt, sie hätte es nicht geglaubt oder zu schätzen gewusst. Sie hatte ihren eigenen Traum von der Befreiung, und der Befreier, auf den sie wartete und von dem sie wusste, dass er bald, sehr bald, zu ihr kommen würde; diesen Befreier mochten andere vielleicht fürchten, sie aber nicht. Sie sehnte sich danach, geborgen in seinen Armen schlafen zu dürfen, schlafen, SCHLAFEN. Die Mutter hatte sie mit diesem seltsamen Liebesmärchen von Matthias Claudius vertraut gemacht, »Der Tod und das Mädchen«.

Das Mädchen:

Vorüber! Ach vorüber!

Geh wilder Knochenmann!

Ich bin noch jung, geh Lieber!

Und rühre mich nicht an.

Der Tod:

Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!

Bin Freund, und komme nicht, zu strafen:

Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild,

Sollst sanft in meinen Armen schlafen.

O ja, schlafen zu dürfen, geborgen und sanft, in den Armen des Todes, der Mutter.

Doch noch nicht jetzt. Jetzt marschierten sie zur Fabrik, wo sie ihr tägliches Pensum an dünnen Metalldrähten in Glühbirnen zu montieren hatten. Wer die Quote nicht erfüllte oder mangelhaft arbeitete, wurde der Sabotage angeklagt und auf der Stelle erschossen — im besten Fall kam man mit geschorenem Haar davon. Letzteres erschien ihr schlimmer; wie die endgültige Demütigung. Sie wollte ihrem Befreier mit Haar entgegentreten, auch wenn es voller Läuse war. »Du schön und zart Gebild!«

Doch sie war schrecklich ungeschickt, besaß zwei linke Hände, wie es zu Hause immer hieß, ihre Handarbeiten waren heimlich von der Großmutter vollendet worden. Das Mädchen erinnerte sich an einen Kreuzstich, den sie in der zweiten Klasse anfertigen sollten, der kleine Stofflappen wurde unter ihren linkischen Bemühungen immer schmuddeliger, bis die Großmutter kam und eine gelbe Ente mit rotem Schnabel herbeizauberte. Hier konnte ihr die Großmutter nicht helfen, doch das Mädchen hatte einen Schutzengel, der ihr beistand, sie wusste, dass er (sie?) da war. Denn niemand kam auf die Idee, die zerstörten Glühbirnen, die sie ablieferte, für den Versuch einer heroischen Widerstandskämpferin zu halten, den deutschen Sieg zu sabotieren. Niemand zweifelte an ihren ehrlichen Versuchen, ihr Bestes zu geben (was später ebenfalls auf ihr umfangreiches Schuldkonto geschrieben werden würde). Und so passierte nie etwas Schlimmeres, als dass sie den Abort schrubben musste. Damit war sie vollkommen zufrieden und erledigte ihren Auftrag gewissenhaft.

4

Beim Schrubben der Toiletten lernte das Mädchen auch Anna kennen. Anna gehörte zu den zivilen deutschen Arbeiterinnen in der Fabrik und kam aus Berlin, war jetzt aber in der Rüstungsindustrie »dienstverpflichtet«. Die dunkellockige, grell geschminkte Anna erinnerte sie an die Haushälterin der Familie, die immer so nett zu ihr gewesen war, sie roch sogar nach dem gleichen, intensiven, leicht aufdringlichen Maiglöckchen-Parfüm. Anna war anscheinend keine ganz so feine junge Dame, und genau deshalb, und wegen des heftigen Heimwehs, das sie in ihm weckte, wagte es das Mädchen, sich ihr zu nähern. (In Wahrheit war Anna bei ihrer Berufsausübung auf den Straßen Berlins von der Polizei aufgegriffen und zu dieser etwas milderen Form der Zwangsarbeit verschickt worden.)

Flüsternd, und vorsichtshalber berlinernd, sprach das Mädchen Anna an — und Anna antwortete! Wollte wissen, wie das Mädchen heiße, wo in Berlin es gewohnt und wann es ihre gemeinsame Heimatstadt verlassen habe. Zum ersten Mal seit Langem wurde das Mädchen gesehen und bei seinem Namen genannt, wurde wieder Cordelia, Dela, aus Berlin-Eichkamp, abgegrenzt und gegenwärtig. Dank Anna.

Jemand betrat den Abort, und die beiden verabredeten sich hastig für den nächsten Tag. An diesem Tag schenkte Anna ihr ein Stück Brot und ein kariertes Flanelltuch. Das Mädchen stand lange vor der fleckigen Spiegelscherbe in der Toilette und streichelte und arrangierte den weichen Stoff; Anna hatte gesagt, die dunkelblauen Farbtöne würden zu ihren Augen passen.

Auf alle Kontakte zwischen Häftlingen und zivilen Arbeitern stand natürlich die Todesstrafe, doch Anna war nicht ängstlich; vorsichtig und verschlagen war sie, aber nicht ängstlich. »Die können mich mal …«, sagte sie übermütig lachend. Das Mädchen war umso ängstlicher, und als ihr Transport nach einigen Tagen weiterging, empfand sie es, obwohl sie Anna vermisste, fast als Erleichterung. Eine Zeit lang wurde sie vom Bild der lachenden Anna begleitet, vom Duft ihres Maiglöckchen-Parfüms und dem weichen Stoff um den Hals.

5

Das Zählen beim Morgenappell geschah im grellen, unbarmherzigen Licht der Bogenlampen, doch beim Marsch zur Fabrik, eine weitere Fabrik, ein weiteres Lager, aber keine Veränderung, umschloss ein barmherziges Dunkel die Frauen. Ihr Weg führte entlang silberfrostgrauer Wiesen und Felder, begrenzt und beschützt vom dunklen Waldrand; Adalbert Stifters »schöner, deutscher Wald«. Das Mädchen hielt den Marschtakt, mechanisch wie alle anderen, links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei, vier, links, links … Innerlich wurde sie jedoch im vertrauten Rhythmus ihrer eigenen Zauberformel gewiegt, auch diese ein Geschenk von der Mutter und Matthias Claudius. Hier war sie unsichtbar und unerreichbar, hier fand sie Ruhe.

Der Mond ist aufgegangen,

(Links, zwei, drei, vier)

Die goldnen Sternlein prangen

Am Himmel hell und klar;

(Links, zwei, drei, vier)

Der Wald steht schwarz und schweiget,

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.

Alles war da, direkt vor den Augen des Mädchens, der Mond, die Sterne, der dunkle Wald und der geheimnisvolle Morgennebel, sie musste es nur annehmen. Sie ging und ging, vergaß den nagenden Hunger und die schmerzende Müdigkeit, sie ging geradewegs hinein und ließ sich vom Ewigkeitslicht des Gedichts erfüllen.

Sie erinnerte sich auch an andere Bruchstücke desselben Gedichts, die alles sagten, was noch gesagt werden musste und konnte.

Wollst endlich sonder Grämen

Aus dieser Welt uns nehmen

Durch einen sanften Tod!

Verschon’ uns, Gott! mit Strafen,

Und laß uns ruhig schlafen!

Und unsern kranken Nachbar auch!

Das Gebet für den kranken Nachbarn gefiel ihr besonders. Sie wusste nicht, warum.

Als sie in die kleine Stadt kamen, an deren Rand die Fabrik lag, brannte hinter den meisten Fenstern noch kein Licht, aber in der Bäckerei wurde bereits das täglich Brot für die braven Bürger gebacken. Was für ein unbeschreiblich lieblicher Duft strömte durch die offene Tür heraus! Sie sog ihn tief in die Lunge und in den Magen hinab und fühlte sich gleich weniger hungrig.

An diesen Morgen konnte es sich auch noch so anfühlen, als hätten die Mutter und die Großmutter endlich ihren Frieden miteinander geschlossen und sich zusammengetan, verschworen, um mit ihrem starken Willen das Mädchen zu beschützen und zu bewahren.

6