Gebrauchsanweisung für Südkorea - Martin Hyun - E-Book

Gebrauchsanweisung für Südkorea E-Book

Martin Hyun

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Beschreibung

Willkommen im »Land der Morgenstille«! Wer schon immer wissen wollte, wie Südkorea wirklich tickt, sollte diesen besonderen Reiseführer von Martin Hyun lesen.   Als Sohn zweier in Deutschland lebender Südkoreaner, erkundet er für uns die Heimat seiner Vorfahren.   Dabei stößt er auf jahrhundertealte Tempel und weiße Sandstrände ebenso wie auf pulsierende Millionenmetropolen und eine ausgeprägte Popkultur, die derzeit als koreanische Welle »Hallyu« über Europa schwappt. Dass Südkorea aber mehr ist als nur Kimchi und K-Pop, beschreibt Martin Hyun ebenso ehrlich wie humorvoll.   Hyun lässt den Leser tief in den Alltag der Südkoreaner eintauchen und verbindet seine Familiengeschichte auf kluge und unterhaltsame Weise mit persönlichen Anekdoten und Beobachtungen.    Wie lassen sich Fettnäpfchen im Urlaub oder auf Geschäftsreise vermeiden? Spannende und unterhaltsame Einblicke eines deutsch-koreanischen Grenzgängers .   Als Deutscher mit koreanischen Wurzeln hat Martin Hyun einen ganz besonderen Bezug sowohl zu Südkorea als auch zu Deutschland. Das sorgt für überraschende Vorfälle, von denen Hyun mit viel Witz und Verve berichtet.  »Überzeugt mit humorvoll-unbestechlichem Blick.« ― FAZ Ob als Einstimmung für den Urlaub oder gedankliche Fernreise: Dieses Buch ist ein absolutes Muss für alle, die Südkorea schon immer von seiner ganz eigenen Seite kennenlernen wollten.   

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deWhen in Korea, do like the Koreans!At the end of hardship comes happiness!ISBN 978-3-492-99185-8© Piper Verlag GmbH, München 2018Redaktion: Ulrike Gallwitz, FreiburgKarte: cartomedia, KarlsruheCovergestaltung: Birgit KohlhaasCovermotiv: Mlenny/iStockDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Karte Südkorea

Als Alien in Korea

Die Italiener Asiens

Die Koreanische Welle

Essen für die Seele

Kultur und Bräuche im Land der Morgenstille

Lost in Translation

Standhaft im Alltag

Eine bewegte Geschichte

Losing My Religion

Immer eine Reise wert

Der Nachbar Nordkorea

Daedani Gamsahamnida!

Als Alien in Korea

Marzahn mit Bergen

Im Januar 2015 landete ich mit zehn Gepäckstücken und einem Gesamtgewicht von über 150 Kilogramm im Heimatland meiner Eltern. Von Frankfurt war es nonstop nach Seoul Incheon gegangen. Elf Stunden in einem Flugzeug voller Landsleute und mit einem Piloten namens Kim Jong-un – bei seiner Ansprache war allerdings scheinbar nur ich kurzzeitig irritiert gewesen. Bald sollte ich also, als einer der wenigen Eishockeyspieler mit koreanischen Wurzeln weltweit, meine Stelle als Deputy Sport Manager für Eishockey und Para-Eishockey beim koreanischen Organisationskomitee der Olympischen und Paralympischen Spiele antreten. Denn nach langem Ringen war es den Koreanern endlich geglückt, die Winterspiele in ihr Land zu holen. Bis zu deren Eröffnung 2018 lag aber noch ein langer Weg vor mir.

Meine Eltern hatten 1969 und 1971 den entgegengesetzten Weg auf sich genommen und kamen als Gastarbeiter nach Deutschland. Im Zuge eines Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Südkorea wurden damals koreanische Bergarbeiter und Krankenschwestern in das Land der Dichter und Denker entsandt. Mein Vater wuchs in Daegu auf, einer Stadt in der Provinz Gyeongsangbuk-do. Geburtsstadt der koreanischen Folk-Rock-Legende Kim Kwang-seok. Meine Mutter verbrachte ihr Leben bis 1971 in Hadong, einer Stadt in der Provinz Gyeongsangnam-do.

Mein neuer Arbeitsplatz lag zweieinhalb Stunden von Seoul entfernt im Landkreis Pyeongchang in der Provinz Gangwon-do. Ich hatte mich für eine Wohnung in Gangneung entschieden. Dort sieht es in etwa so aus wie in Berlin-Marzahn, nur dass die Plattenbauten sich zwischen Bergen in die Lüfte recken. Meine Frau Dani, eine Berliner Pflanze, und ich lebten also fortan in einem solchen sozialistischen Architekturwunder inmitten malerischer Gebirgshänge. Zudem liegt Gangneung direkt am Japanischen Meer, das die Koreaner aber lieber Ostmeer nennen. Schuld ist die koloniale Vergangenheit Japans in Korea (1910–1945), eine Zeit, in der die Koreaner unter den Japanern sehr leiden mussten. Der Namensstreit um das Japanische Meer beziehungsweise Ostmeer dauert seit 1992 an. Die Nordkoreaner plädieren sogar für den Namen Koreanisches Ostmeer, geben sich aber auch mit Ostmeer zufrieden.

In Gangneung leben rund 230.000 Einwohner. Es gibt hier keine nennenswerte Industrie, dafür aber die Fußballmanschaft Gangwon FC, die in der K-League, der südkoreanischen Profiliga, spielt. Seit der Saison 2017 trägt die Mannschaft ihre Spiele auf dem Rasen aus, der bei den Olympischen Winterspielen 2018 als Auslauf der Skisprungschanze dienen sollte. Die meisten Menschen in dieser Gegend arbeiten als Landwirte, Fischer oder Taxifahrer. Ein recht beschaulicher Ort also, obwohl es durchaus vorkommen kann, dass an der Küste nordkoreanische U-Boote auf Grund laufen, die sich bei ihrer Spionagemission zu weit in feindliche Gewässer vorgewagt haben, wie es im Jahr 1996 geschah. Das betreffende nordkoreanische U-Boot ist im »Gangneung Unification Park« ausgestellt.

Anfänglich lag unser Büro im »Alpensia Resort«, dessen Name für Alpen in Asien (Alps in Asia) steht, in der Nähe findet sich auch das Restaurant »Alpenliebe«. Die Koreaner sind verrückt nach »Made in Germany«-Produkten und lieben den deutschen Wortschatz. Wenn ich mich Koreanern vorstelle, dann sage ich meist: »Ich heiße Martin. Ihr könnt es nicht sehen, aber ich bin ›Made in Germany‹ mit Korean engineering.« Damit löse ich eine Lawine an Komplimenten aus. Alle deutschen Automarken werden mir genannt, so als würde ich die Autos selbst bauen, und mir wird der Wunsch vorgetragen, man wolle so gern einmal auf der deutschen Autobahn fahren. Wie aus der Kanone geschossen wird zudem der gesamte Kader der deutschen Fußballnationalmannschaft aufgesagt. In gebrochenem Deutsch ruft man mir entgegen: »Iche liebe diche!«, deutsche Personalpronomen werden mir aufgesagt und Passagen eines Rammstein-Songs vorgesungen. Das deutsche Bier wird für sein Reinheitsgebot und seine Qualität in höchsten Tönen gelobt.

Deutsches Bier gilt als das Nonplusultra in Korea. Bei der koreanischen Biermarke OB Premier Pilsner wird auf den Bierdosen mit »Rich Taste with German Noble Hop« geworben, womit man dem Konsumenten ein koreanisches Bier mit deutscher Qualität offerieren will. Auch die koreanische Biermarke Kloud wirbt damit, deutsche Technik und Qualitätshopfen zu verwenden.

Manchmal bin ich verblüfft, wenn ich Menschen in T-Shirts mit deutscher Aufschrift wie »Bundeseigentum« sehe oder sich Firmen deutsche Namen geben wie »Klarwind«, »Autobahn« oder »Karl Max«. In unserer Wohngegend in Gangneung gab es Kneipen mit den Namen »Einen Heben« oder »Zum Wohl«, und fast alle Bierkneipen in Südkorea tragen den Beinamen »Hof« (koreanisch ausgesprochen »hopeu«), abgeleitet von »Hofbräuhaus«. Bei einem Abendessen im »Seoji Chogadael«-Restaurant in Gangneung sang die Besitzerin einmal für meine Frau und mich in bestem Deutsch »Am Brunnen vor dem Tore«, als sie erfuhr, dass wir aus Deutschland kamen. Wir waren peinlich berührt, weil wir nur die erste Zeile in der ersten Strophe wiedergeben konnten.

Als ich 2015 für dreieinhalb Jahre nach Korea kam, ahnte ich bereits, worauf ich mich in der nächsten Zeit würde einstellen müssen – denn 2005 hatte ich bereits ein Jahr im koreanischen Parlament gearbeitet und viele merkwürdige Arbeitssitten kennengelernt. Zum Beispiel die Kampftrinkabende mit Arbeitskollegen (Haeshik). Und nicht nur das, auch unzählige Überstunden würden wieder auf mich zukommen. Meine Frau sollte in der nächsten Zeit besser lernen, auf mich zu verzichten. Denn laut einer Studie der OECD arbeiten die Koreaner mit 2113 Stunden im Jahr (Stand: 2015) nach den Mexikanern (2246 Stunden) und Costa Ricanern (2230 Stunden) am meisten. Die Deutschen gelten dagegen fast als faul – mit ihren mickrigen 1371 Stunden arbeiten sie ganze 742 Stunden weniger als die Koreaner. Während die Italiener das Wort domani kultivieren, was übersetzt »morgen« bedeutet, nutzen die Koreaner ständig ihr bballi, bballi (schnell, schnell). Und trotzdem gelten die Koreaner als die Italiener Asiens, vor allem wegen ihres fast südländischen Temperaments. Laut Weltglücksberichts 2017 belegt Südkorea den 55. Platz von insgesamt 155 aufgelisteten Ländern. Deutschland liegt hier auf Platz 16.

Wenn man es einmal geschafft hat, das Gemüt eines Koreaners zum Kochen zu bringen, dann kann man sich auf ein Feuerwerk gefasst machen. Da kann es schon mal vorkommen, dass sich Demonstranten mit Benzin übergießen und selbst anzünden, um ihren politischen Standpunkt zu zementieren. Oder sich den kleinen Finger mit einem Messer abschneiden, wie es einmal zwanzig junge koreanische Männer vor der japanischen Botschaft in Seoul gemacht haben, um auf das Schicksal der koreanischen Trostfrauen, die von der japanischen Armee als Zwangsprostituierte missbraucht wurden, aufmerksam zu machen. Ein anderer versuchte, die japanische Flagge mit seinen Zähnen zu zerreißen. Und nachdem die südkoreanische Fußballnationalmannschaft bei der Fußball-WM in Deutschland in der letzten Runde der Gruppenphase unglücklich 2:0 gegen die Schweiz verloren hatte, legten aufgeregte koreanische Fans die World-Cup-Webseite lahm, indem sie über drei Millionen E-Mails schrieben.

Was bedeutet das also? Ein Koreaner sollte immer bei guter Laune gehalten und seine Wünsche sollten stets erfüllt werden. Ich erinnere mich, wie meine Arbeitskollegen im koreanischen Parlament jeweils aufstanden und sich verbeugten, wenn der Abgeordnete das Büro betrat, und sich erst dann wieder aus der Verbeugung lösten, wenn er die Tür hinter sich schloss. Solch eine fast schon dienerhafte Huldigung eines Volksvertreters wäre im Deutschen Bundestag undenkbar. Auch hatte ich erlebt, wie unser Sekretär im Monsunregen auf die Ankunft des Abgeordneten wartete, nur um ihm den Regenschirm zu halten, während er selbst bis auf die Knochen durchnässt war. In Deutschland wäre das ein Skandal und der Abgeordnete wohl die längste Zeit Abgeordneter gewesen. Und generell galt im koreanischen Parlament: Meine Kollegen und ich konnten erst dann nach Hause gehen, wenn der Abgeordnete selbst Feierabend machte. Und das geschah meist nicht vor 23 Uhr. Immerhin: Mit gutem Beispiel geht das koreanische Gesundheitsministerium mittlerweile voran. Nachdem eine Studie der Oxford University prophezeit hat, dass die Südkoreaner das erste Volk sein werden, das vom Aussterben bedroht ist, sind die Mitarbeiter der Regierung nun dazu verpflichtet, zumindest einmal im Monat frühzeitig nach Hause zu gehen – um was zu tun? Genau: um Nachwuchs zu zeugen und der niedrigen Geburtenrate entgegenzuwirken. Das nenne ich einmal eine ausgewogene Work-Sex-Balance. Aber vielleicht hilft nur ein Stromausfall wie damals 1965 in New York.

1987: Meine erste Reise nach Korea

Im Jahr 1987, ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen in Seoul, besuchte ich gemeinsam mit meinen Eltern Korea. 1987 gilt in Südkorea als bedeutender Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie. Im Juni kam es zu landesweiten prodemokratischen Massenprotesten, die in Südkorea als »6.10 Minju Hwangjaeng« (Juni-Demokratie-Bewegung) bekannt sind. Aufgrund der Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele stand Korea im Fokus der Aufmerksamkeit der gesamten Welt. Der Zeitpunkt war also günstig, den Diktator Chun Doo-hwan vor den Augen der Öffentlichkeit in die Knie zu zwingen. Er galt als »Schlächter von Gwangju«, seitdem er im Mai 1980 den Gwangju-Aufstand blutig niedergeschlagen hatte. Nun verlangten die Menschen erstmals freie und faire Wahlen.

Den Protesten vorausgegangen war der Tod Park Chong-chols im Januar 1987. Der Linguistikstudent der Seoul National University starb an den Folgen der schweren Folter, der er bei einem polizeilichen Verhör ausgesetzt war. Sein Tod goss Öl ins bereits entfachte Feuer der protestierenden Menschen. Die Stimmung war extrem aufgeheizt und hochexplosiv. Die Todesursache sollte vertuscht werden. Lokale Autoritäten waren darauf bedacht, den Leichnam Park Chong-chols wenige Stunden nach seinem Tod einzuäschern, um alle Spuren zu verwischen, doch die Wahrheit kam trotzdem ans Licht. Schlüsselfiguren des Prozesses waren der Staatsanwalt Hwan Choi und der Pathologe Hwang Juck-joon, die sich den Befehlen ihrer Vorgesetzten widersetzten und für die Aufklärung des Falles kämpften. Der Pathologe Hwang sah es als seine moralische und berufliche Pflicht, die wahre Todesursache Park Chong-chols der Öffentlichkeit mitzuteilen.

Nach dem Tod des Studenten Park, waren die öffentlichen Proteste gegen die Herrschaft Chun Doo-hwans kaum mehr einzudämmen. Es kam zu Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei und zahlreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Im Juni 1987 verunglückte schließlich der 21-jährige Lee Han-yeol, Student der Yonsei University, als er bei einer Straßenschlacht mit der Polizei von einem Tränengaskanister tödlich am Kopf getroffen wurde. Lee war nur einer unter vielen Tausenden Demonstranten, doch er wurde zum Symbol und Märtyrer der prodemokratischen Juni-Bewegung in Südkorea. Das Bild Lees, der blutend in den Armen seines Freundes liegt, hat sich in die Köpfe der Koreaner eingebrannt.

In dieses politisch aufgerüttelte Korea reiste ich also mit meinen Eltern. Ich war acht Jahre alt, und es war die erste Reise in das Land ihrer Herkunft, die ich bewusst wahrnahm. Wir landeten am Gimpo Flughafen, jenem Ort, der im Dezember 1963 die ersten 247 koreanischen Bergarbeiter nach Westdeutschland verabschiedete. Mit einem Hyundai-Pony-Taxi der zweiten Generation fuhren wir weiter nach Seoul. Ich erinnere mich an die weißen Handschuhe des Taxifahrers, die heute kaum noch einer trägt. Die Reise vom Gimpo Flughafen bis Seoul fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit. Bei unserer Ankunft in Seoul am Abend waren die Straßen wie leer gefegt. Die Gegend wirkte komplett verlassen, und keine Menschenseele war zu sehen. Selbst meine Eltern waren darüber verwundert, war die Ausgangssperre zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens doch bereits im Januar 1982 gelockert worden.

Die ersten Nächte verbrachten wir in der kleinen Wohnung meiner Tante und meiner beiden Cousins Huni und Seung-hun. Der Vater war früh verstorben, und so zog meine Tante meine beiden Cousins allein groß. Mit Huni hyung (hyung steht für »älterer Bruder«) erkundete ich die Gegend und besuchte das Kino in der Nachbarschaft. Ich war überrascht, als kurz vor Filmbeginn alle Kinobesucher im Saal aufstanden und die Nationalhymne (»Aegukga«) ertönte. Dieses Ritual wurde über die sogenannten Daehan News verbreitet, die von der Regierung gezielt zu Propagandazwecken genutzt wurden. Erst im Jahr 1994 wurde die Serie eingestellt. Die Menschen waren der Propaganda müde.

Wenn ich an den Besuch bei meiner Tante zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an die sehr ärmlichen Verhältnisse und eine viel zu kleine, abgewohnte Wohnung, die wegen ihrer Feuchtigkeit mehr an eine Tropfsteinhöhle erinnerte. Mein Vater liebte seine ältere Schwester. Sie hatte zugunsten meines Vaters auf ihre eigene Schulbildung und ihr berufliches Fortkommen verzichtet. Mein Großvater war früh verstorben, das Geld war stets knapp, und beide Kinder zur Schule gehen zu lassen hätte die Familie in den Ruin getrieben. Meine Tante hatte deshalb immer in ärmlichen Verhältnissen gelebt. Von dem Besuch bei ihr ist mir allerdings nicht nur die prekäre Wohnsituation in Erinnerung geblieben. Ich weiß noch genau, wie sie auf einem Mini-Butan-Gaskocher liebevoll »Arme Ritter« für uns zubereitete. Dazu nahm sie weißen Toast, tauchte ihn in eine Schüssel mit geschlagenem Ei, legte ihn in die Pfanne und bestreute ihn danach mit Zucker. Es waren die besten »Armen Ritter«, die ich je gegessen habe.

Für den Korea-Aufenthalt hatten meine Eltern sechs Wochen eingeplant. In den sechs Wochen haben wir jedes einzelne Familienmitglied besucht und sind für mindestens eine Nacht geblieben. Ansonsten hätten sich manche Familienmitglieder nicht genug wertgeschätzt gefühlt und wären sicherlich gekränkt gewesen. Sich ein Hotel zu nehmen kam deshalb gar nicht infrage. Es war vollkommen in Ordnung, mit zehn Personen in einem Zimmer zu schlafen – wie in einem Jugendlager. Familie ist eben Familie.

Im Gepäck hatten meine Eltern für jedes Familienmitglied ein passendes Geschenk. »Made in Germany«-Produkte sind nach wie vor sehr begehrt in Korea, insbesondere deutsche Medikamente, Multivitamintabletten und Haribo Goldbären, die mittlerweile auch viele koreanische Kinder und Erwachsene froh machen. Meine Familie liebt Gummibärchen oder Jelly, wie man hier sagt. Es war Liebe auf den ersten Biss zu einer Zeit, als man in Korea noch nicht wusste, was es mit Gummibärchen auf sich hat. Ich ärgere mich noch heute, dass ich nicht den Geschäftssinn besaß und tonnenweise Gummibärchen nach Korea exportiert habe. Sie wurden dort schnell zu einem Verkaufsschlager und sind mittlerweile in allen Kiosken und Supermärkten erhältlich. Auch deutsche Produkte wie Handcremes, Sportartikel, Schokolade und Kinderspielzeug stehen als Gastgeschenk hoch im Kurs.

2002: Meine zweite Reise nach Korea

Nach 1987 besuchte ich Korea erst wieder 15 Jahre später, im Jahr 2002. Immer wenn ich das Olympiastadion in Seoul sehe, weckt es in mir Erinnerungen von meinem ersten Koreabesuch als Achtjähriger. Innerhalb der 15 Jahre hat sich das Land rasant entwickelt und ist durch Höhen und Tiefen gegangen. Ich erinnere mich daran, dass der sympathische Eierverkäufer, der mit seinem Karren durch die Nachbarschaft zog und in bester Marktschreier-Manier seine Ware verkaufte, durch einen mobilen Transporter mit Lautsprecher ersetzt worden war. Eine riesige, nicht zu bändigende Blechlawine rollte durch die Straßen. Seoul-Onkel – so nennen meine Geschwister und ich den Onkel aus Seoul unter uns – hatte Karriere in seiner Baufirma gemacht und Preise für seine Bauten erhalten. Heute lebt Seoul-Onkel in einer der teuersten Gegenden von Gangnam in Seoul, in Daechi-dong. Nach seiner erfolgreichen Karriere bei Ssangyong Construction hat er sich mit einer eigenen Firma selbstständig gemacht. Daechi-dong eilt der Ruf voraus, Hauptstadt der Nachhilfeschulen (Hagwons) zu sein. Die Gegend gilt als Hauptproduzent zukünftiger Elitestudenten der begehrten SKY-Universitäten (Seoul National University, Korea University und Yonsei University), dem Pendant zu den amerikanischen IVY-League-Hochschulen. Unserer Familie ging es gut. Alle hatten die IMF-Krise – wie die Wirtschaftskrise von 1997 in Südkorea genannt wird – gut überstanden.

Im Dezember 1992 war Kim Young-sam in einer freien demokratischen Wahl zum neuen Präsidenten gewählt worden, womit die 32-jährige Militärherrschaft endete. Kim wurde im Februar 1993 feierlich in sein Amt eingeführt und versprach eine saubere und ehrliche Politik. Der Schlächter von Gwangju, Chun Doo-hwan, wurde drei Jahre nach Kims Amtseinführung an einem regnerischen Morgen im August für seine Rolle im Coup d’État von 1979, dem Gwangju-Massaker und der Geldannahme in Millionenhöhe von Geschäftsleuten wegen Hochverrats, Meuterei und Korruption zum Tode verurteilt. Neben Chun erhielt auch der gefallene Präsident und Mitstreiter Roh Tae-woo eine Gefängnisstrafe von 22,5 Jahren. Chuns Urteil wurde später vom obersten Gerichtshof in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt und Rohs Strafe auf 17 Jahre Gefängnis herabgesetzt. Mitgegangen, mitgefangen. Das Bild der beiden gefallenen Präsidenten in Gefängniskluft, zusammenstehend und händchenhaltend, werde ich nie vergessen. Nach nur zwei Jahren in Haft wurden der Insasse Chun mit der Nummer 3124 und Roh mit der Insassennummer 1042 im Einvernehmen mit dem scheidenden Präsidenten Kim Young-sam und dem neugewählten Kim Dae-jung begnadigt und freigelassen.

Wie schnell sich das Blatt wenden kann, erfuhr Chun Doo-hwan am eigenen Leib. Hatte Chun 1980 noch den unbeugsamen Oppositionspolitiker und Rivalen Kim Dae-jung wegen Landesverrats zum Tode verurteilt, so wurde Kim auf internationalen Druck begnadigt und seine Todesstrafe in zwanzig Jahre Haft umgewandelt, von denen Kim dann nur zwei Jahre verbüßte. Chun konnte sicherlich nicht erahnen, dass sein Feind Kim Dae-jung im Jahr 1997 das oberste politische Amt bekleiden würde. Der gefallene Präsident Chun lebt heute isoliert in einer gut überwachten Backsteinvilla, in der er seine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt. Seine Aussage während einer Gerichtsverhandlung im Jahr 2003, in deren Verlauf der Ex-Diktator zu seinem Privatvermögen befragt wurde, brachte ihm viel Spott ein. Er sagte: »Ich habe nur 290.000 Won (etwa 239 Euro) auf meinem Konto!«

Als ich Ende Juni 2002 in das Land meiner Eltern flog, neigte sich die Fußballweltmeisterschaft dem Ende zu, die Korea gemeinsam mit Japan austrug. Die koreanische Nationalelf, »Taeguk Warriors« genannt, schaffte es unter der Regie des Holländers Guus Hiddink bis ins Halbfinale. Es war das Wunder von Seoul. Der Erfolg löste einen unglaublichen Freudentaumel in der Bevölkerung aus. Am Ende belegte die Mannschaft einen unerwarteten vierten Platz, und Hiddink wurde zum Volksheld, den man mit Geschenken, wie zum Beispiel lebenslange Freiflüge und kostenlose Taxifahrten, überhäufte. Der Holländer wurde gefeiert wie ein Messias. Er durchbrach die strikte Hierarchie, die in einem Teamsport sehr hinderlich und doch im koreanischen Alltag tief verwurzelt ist.

»Die Hierarchie in Korea ist extrem vertikal!«, hatte mein Arbeitskollege Seung-ho vom Organisationskomitee für die Olympischen Winterspiele gesagt, als er versuchte, mir sämtliche Beamtenpositionen zu erklären. In Korea ist das Senioritätsprinzip Gesetz. Die ältere Person hat immer recht. Die jüngere Person hat den Anweisungen der älteren Person Folge zu leisten. Mein etwa zehn Jahre älterer Arbeitskollege im Parlament, der mir von der Position her unterstellt war, redete anfangs in der Höflichkeitssprache Jeondaemal mit mir, die dem deutschen Siezen entspricht. Er sprach mich dabei mit meinem Vornamen und Berufstitel an. Doch nach einigen Monaten sagte er zu mir: »Ich würde gern unsere Beziehung noch freundschaftlicher und enger gestalten. Zurzeit ist es ziemlich formell zwischen uns. Wenn du erlaubst, würde ich gern nicht so förmlich, sondern bequem mit dir reden wollen. Was hältst du davon?« Mit dieser Frage hatte der ältere Kollege mich völlig überrumpelt. Die Frage empfand ich als unaufrichtig und hinterhältig. Der Kollege wollte den Spieß umdrehen, sein Alter sollte die berufliche Hierarchie und Stellung nichtig machen. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass dies nicht in Ordnung war. Doch um das gute Arbeitsklima nicht zu beeinträchtigen, stimmte ich dem Kollegen zu. Fortan sprach er mit mir in der Banmal-Sprache, einer Art Duzform. Als jüngere Person war ich weiterhin verpflichtet, den Kollegen in der Jeondaemal beziehungsweise in der höflichen Sie-Form anzureden. Im Arbeitsumfeld spielt der Altersunterschied sonst eigentlich keine Rolle, so habe ich es später im Olympischen Komitee erfahren. Unabhängig von Alter und Position siezten wir uns dort alle. Duzen können sich in der Regel nur Freunde gleichen Alters.

Die strikte Hierarchie in Korea, so realisierte der holländische Fußballtrainer Guus Hiddink sehr schnell, war ein erhebliches Hindernis für die Weiterentwicklung seiner Mannschaft. Die jüngeren Spieler hatten den Anweisungen der älteren Folge zu leisten wie Soldaten beim Militär. Torchancen wurden vergeben, nur um den Ball an den Seniorspieler zu passen, der oft schlechter positioniert war. Auch ich habe beim Eishockeyspielen in Korea erlebt, wie ein älterer Spieler einen jüngeren inmitten des Spiels in die Kabine zitierte, weil dieser ihm den Puck nicht zugespielt hatte. Der jüngere Spieler nahm dies wortlos hin. Ihm blieb nichts anderes übrig. Widerworte gegenüber dem älteren Spieler wären ein Zeichen von Respektlosigkeit gewesen. Der Erfolg der koreanischen Fußballnationalmannschaft kam mit dem Aufbrechen der hierarchischen Strukturen. Hiddink brachte den Spielern bei, die mentale Barriere fallen zu lassen und das Senioritätsprinzip auf dem Feld nicht anzuwenden.

Im Jahr dieser für Korea so bedeutenden Fußballweltmeisterschaft erfüllte ich mir nun endlich den Wunsch, das Land allein zu bereisen und zu erkunden – eine Idee, von der meine Eltern nicht sonderlich begeistert waren. Sie machten sich Sorgen, dass ich durch meine deutsche und westliche Sozialisierung gegen wichtige Etiketten verstoßen und so das Gesicht meiner Eltern in Verruf bringen könnte. Zudem muss bei so einer Reise für jedes Familienmitglied zumindest ein kleines Geschenk mitgebracht werden. Was eine besondere Herausforderung ist. Denn dass ich die Familie mit leeren Händen besuche, kam für meine Eltern nicht infrage.

Ich war zu dieser Zeit Student am St. Michael’s College in Vermont und lebte bereits seit vier Jahren in Amerika. Aufgrund der gestiegenen Lohnkosten hatte der amerikanische Schuhhersteller Nike seine Produktion in Südkorea mittlerweile so gut wie eingestellt. Das Land der Morgenstille hatte sich innerhalb kürzester Zeit von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland, von einem Land, das Finanzhilfe beanspruchte, um internationale Standards zu entwickeln, zu einem Staat, der heute nach Normen einer Weltwirtschaftsmacht beurteilt wird, entwickelt. In weniger als drei Jahrzehnten hatte es die Autoindustrie aus dem Nichts unter die größten Autoproduzenten der Welt gebracht. Eine ähnliche Entwicklung vollzog die Stahlindustrie, die es sogar schaffte, zu den größten Produzenten ihrer Zunft zu gehören – Ähnliches gilt für die Schiffsindustrie.

Einunddreißig Jahre nachdem meine Mutter Korea den Rücken gekehrt hatte, hatten es meine Tanten und Onkel alle durch ihre Hilfe zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Als Erstgeborene hatte meine Mutter sich in der Pflicht gesehen, der Familie zu helfen. Meine Oma hatte als Lehrerin gearbeitet, doch das Geld reichte nicht, um die Träume ihrer Kinder zu finanzieren. Erst mit den Rücküberweisungen meiner Mutter, die in Deutschland bis zu ihrer Pensionierung als Krankenschwester arbeitete, konnten meine Onkel und Tanten in Korea studieren und einen Teil ihrer Träume verwirklichen. Während meiner Reise im Jahr 2002 verging kein Tag, an dem mein Seoul-Onkel und meine Tante sich nicht dankbar zeigten, dass sie durch die finanzielle Hilfe meiner Mutter hatten studieren können. »Wir haben immer sehnsüchtig auf den blauen Umschlag aus Deutschland gewartet, den der Postbote uns regelmäßig zustellte. Dieser hat uns immer gerettet«, sagte Seoul-Onkel einmal zu mir.

Unter der Führung von Seoul-Onkel lernte ich einen wichtigen Teil meiner Familiengeschichte kennen. Wir reisten gemeinsam nach Hadong in der Provinz Gyeongsangnam-do, wo die Familie meiner Mutter ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Hadong ist berühmt für seine Teeplantagen, und als wir den Seomjingang, den viertgrößten Fluss Koreas, entlangfuhren, erzählte Seoul-Onkel, wie meine Mutter und meine Tante als Kinder dort gespielt hatten. Er erzählte es so lebhaft, dass ich mir richtig vorstellen konnte, wie friedvoll und freudig beide am Fluss gespielt und Körbchenmuscheln gesammelt hatten. Das Familienhaus existiert noch heute und ist nicht Opfer der Sanierungswut geworden, die in den Neunzigerjahren in Südkorea um sich griff. Nur das Haus der Großmutter ist abgerissen worden.

Es war ein immenser Kontrast zwischen den Jahren 1987 und 2002. Die Spuren der Straßenkämpfe waren längst beseitigt. Doch wenn ich mir das Lied »Achimiseul« (»Morgentau«), geschrieben von dem Folk-Rock-Musiker Kim Min-gi und gesungen von Yang Hee-eun, anhörte und durch die Straßen von Seoul wanderte, dann kamen die Erinnerungen wieder hoch. Jeder Koreaner kennt dieses Lied. Selbst in Nordkorea, wo es auch heute noch verboten ist. Es war die Hymne der Menschen der prodemokratischen Bewegung.

Heute sind die Straßen so selbstverständlich mit Menschen belebt, als hätte es die vom Militär verhängte Ausgangssperre nie gegeben. Und die alte Frau, die bei meinem ersten Korea-Besuch die Kleider ihres verstorbenen Mannes in einem Ölfass auf einer leeren Straße verbrannte, hätte beim heutigen dichten Verkehr gar nicht mehr die Möglichkeit dazu.

Der Anfang ist die Hälfte des Wegs

Wie es ein koreanisches Sprichwort so schön besagt: »Schidschaki Banida«, was so viel bedeutet wie: »Der Anfang ist die Hälfte des Wegs.« Nach meinen Aufenthalten im Jahr 1987, 2002 und 2005 – wo ich im Parlament arbeitete – führte mich mein Weg im Januar 2015 wieder in das Land meiner Eltern. Diesmal mit einem olympischen Auftrag im Gepäck.

Die Region Pyeongchang, in der die Olympischen Winterspiele ausgetragen werden sollten, wird fast so geschrieben wie die nordkoreanische Hauptstadt Pyeongyang. Dazu gibt es eine nette Anekdote: So flog einmal ein Kenianer, der eine Konferenz der Vereinten Nationen in Pyeongchang besuchen sollte, aufgrund eines Buchungsfehlers seines Reisebüros nach Pyeongyang. Bei seiner Ankunft in Pyeongyang beschlich ihn das mulmige Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Natürlich dauerte es nicht lang, bis sich herausstellte, dass er nicht wie geplant in Süd-, sondern in Nordkorea gelandet war. Dies führte sowohl für den Kenianer als auch für die nordkoreanischen Einreisebehörden zu enormer Verwirrung. Glücklicherweise konnte der Kenianer letztendlich wohlbehalten in seine Heimat zurückfliegen. Mein Arbeitgeber machte aufgrund dieser Verwechslungsgefahr vorsorglich aus dem kleinen »c« in Pyeongchang ein großes. So wurde fortan mit »PyeongChang« für die Olympischen Spiele geworben.

Meine vorübergehende Unterkunft in Pyeongchang war eine Einzimmerwohnung (One-Room, wie eine solche in Korea genannt wird) in einem heruntergekommenen tristen Plattenbau mit verdreckter Außenfassade in der Nähe meines zukünftigen Büros. Ich fand heraus, dass die meisten meiner Kollegen hier lebten – und eine ganze Armee chinesischer Gastarbeiter. In der Wohnung kam die Tapete von den Wänden, es gab kein Bett, und statt Vorhängen klebte Noppenfolie an den Fenstern – dass dies in koreanischen Wohnungen nicht unüblich ist, lernte ich erst bei diesem Aufenthalt. Das Badezimmer war eine asiatische All-in-one-Variante, das heißt, der Duschkopf war über dem Waschbecken installiert, eine separate Kabine gab es nicht. Nach einer Dusche im asiatischen Badezimmer ohne Duschkabine kann man sicher sein, dass alles klitschnass ist, bis hin zum Toilettenpapier. Die luftdurchlässigen Badesandalen, die häufig in asiatischen Badezimmern vorzufinden sind und die die Füße vor Keimen schützen sollen, helfen da auch nicht mehr weiter. Einen positiven Aspekt hat die koreanische Dusche allerdings: Man muss das Bad nicht noch einmal gesondert sauber machen.

Da es kein Bett gab, schlief ich auf dem Boden, was zu starken Kopfschmerzen führte. Diese Wohnung, auch wenn sie mir kostenfrei zur Verfügung gestellt wurde, war selbst im Vergleich zu meinen Studentenzeiten ein eindeutiger Abstieg. Zum Glück wollte meine Frau Dani erst einen Monat später nachkommen, sie wäre bei diesem Anblick wohl direkt wieder zurückgeflogen. Dani und ich bekamen letztendlich eine schöne Wohnung in einem Hochhauskomplex nach westlichen Standards, obwohl wir gar nicht abgeneigt gewesen wären, in einer Villa zu wohnen. Eine Villa ist nach koreanischer Vorstellung ein Mehrfamilienhaus. Doch die Villas, die ich besucht hatte, hatten allesamt ein Feuchtigkeitsproblem, und die Wände waren voller Schimmel. Schließlich heuerte ich einen Immobilienmakler an, der dann auch schnell ein Apartment fand, das Dani und mir gefiel. Doch die Wohnung hatte einen Haken: Sie war unmöbliert. In Seoul eine möblierte Wohnung zu finden ist in der Regel kein Problem, aber in der Provinz ist es fast aussichtslos. Daher bat ich das Olympische Organisationskomitee, das Apartment trotz dieser Einschränkung bis zu meinem Vertragsende zu mieten.

Für Koreaner ist das Wohnen in einem Hochhaus-Apartment Traum und Statussymbol, ganz anders als in Deutschland. Wenn ich Koreanern erzähle, dass viele meiner deutschen Freunde das Wohnen in einer Villa, also einem kleineren Mehrfamilienhaus, bevorzugen, sind sie fassungslos.

Als ich zehn Jahre zuvor, im Jahr 2005, für eine Weile in Korea lebte, wohnte ich in einer Einzimmerwohnung in Seoul. Dafür musste ich eine Kaution von fast zwanzig Monatsmieten hinterlegen und zudem noch die monatliche Miete zahlen. Dieses System nennt sich Wolse. Es gibt auch noch die Jeonse-Variante, bei der man einen prozentualen Anteil des Verkaufswerts der Wohnung als Kaution hinterlegt und der Vermieter den Zinsertrag der Kaution einbehält, wobei man dann keine zusätzliche monatliche Miete zahlen muss. Die Summe, die man eingezahlt hat, bekommt man wieder zurück, wenn man aus der Wohnung auszieht. Leider stehen kaum noch Jeonse-Wohnungen zur Verfügung. Die regulär zu bezahlende monatliche Miete, also das Wolse-System, wird immer beliebter. Das hängt natürlich auch mit der niedrigen Zinsrate zusammen, die das System für Wohnungseigentümer unattraktiv macht.

»Weißt du, dass ein normaler Arbeiter für ein rund 109 Quadratmeter großes Apartment im Luxusviertel Gangnam fast 22 Jahre arbeiten muss, um sich dieses leisten zu können?«, fragte mich einmal ein Bekannter.

»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete ich und dachte an meinen Onkel, der im Nobelviertel Daechi-dong in Gangnam ein eigenes Apartment besitzt. Für das Geld, das er für die Wohnung bezahlt hat, hätte man sich in Deutschland ein Museum kaufen können.