Gebrüdermord - Klaus-Peter Hünnerscheidt - E-Book

Gebrüdermord E-Book

Klaus-Peter Hünnerscheidt

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Beschreibung

Im Frühsommer 2001 sind Karl Stormann und Clemens Brüwer gerade in Rente gegangen. Es fällt ihnen schwer, sich daran zu gewöhnen, denn sie waren mehr als findige Hauptkommissare bei der Kripo Hamburg. Eine zufällige Begebenheit auf dem Fischmarkt lässt sie intuitiv aufmerken, denn ein Likör, dessen fast unaussprechlicher Name aus 26 Buchstaben besteht, veränderte innerhalb einer Reederei-Familie die Erbfolge. In Stormann und Brüwer keimt der Verdacht auf, dass diese Familie durch einen Mord an ihren Besitz kam. Während ihrer Recherchen bekommen die Ex-Kriminalkommissare jedoch Zweifel, ob sie nun Verbrechen wittern wo gar keine sind. Jedoch entdecken sie eine Spur auf ihrem labyrinthischen Weg durch Raum und Zeit, denn bereits gegen Ende des Ersten Weltkriegs nahm das Unheil seinen Lauf. Die beiden Unruhe-Rentner fliegen nach Minsk, um nach einem vermissten Erben zu suchen, einem angeblich 1945 in der Seelower Schlacht gefallenen Hauptmann der Wehrmacht. Ähnlich wie im Märchen der Gebrüder Grimm kommt eine über 50 Jahre lang verborgene Wahrheit an einem klaren Sonnentag (Sonntag, dem 16.09.2001) wieder ans Licht des Tages ... und das bloß, weil Karl Stormann auf dem Fischmarkt ein altes Märchenbuch der Grimms erstand.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Gebrüdermord

Die klare Sonne bringts an den Tag

– Kriminalroman –

Impressum

© 2023 Klaus-Peter Hünnerscheidt

Vollständig überarbeitete Neuausgabe* als E-Book

Satz, Layout & Titel: Klaus-Peter Hünnerscheidt

Titelbilder: 123RF-Lizenzen erworben (3)

Internationale Standardbuchnummer: ISBN 978-3-384-10399-4

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH

Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Klaus-Peter Hünnerscheidt, Helsaer Straße 41, 34123 Kassel, Germany oder Website: www.du-lac-verlag.de

*Die Erstausgabe erschien 2020 unter dem Titel:

Die klare Sonne bringt‘s doch an den Tag

Autor: Klaus Scheidt (Pseudonym für Klaus-Peter Hünnerscheidt)

Klaus-Peter Hünnerscheidt

Gebrüdermord

Die klare Sonne bringts an den Tag

– Kriminalroman –

Слава Україні

Slawa Ukrajini

Inhaltsverzeichnis

Cover

Halbe Titelseite

Urheberrechte

Titelblatt

Erster Teil: Fundsache

Zweiter Teil: Witterung

Dritter Teil: Erkundung

Vierter Teil: Aufklärung

Fünfter Teil: Enthüllung

Sechster Teil: Genugtuung

Personalien

Gebrüdermord

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Erster Teil: Fundsache

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Die handelnden Personen existieren nur innerhalb dieses Romans. Jede Ähnlichkeit mit Menschen in der wirklichen Welt ist zufällig und unbeabsichtigt. Es ist ein Krimi-Märchen.

Für eingängige Zitate, historische Begebenheiten, bedenkliche Personen und Schilderungen von reellen Orten sowie Angaben von Tag und Zeit wird keine Gewähr gegeben.

Erster Teil

Fundsache

Freie und Hansestadt Hamburg, Bezirk Altona, Stadtteil Altona-Altstadt, Fischmarkt.

Sonntag, 26.08.2001, 6:30 Uhr.

»Ich werd noch bekloppt wegen euch!«

Karl Stormann horchte auf und reckte den Hals, um nach dem Brüllenden zu fahnden. Er sah von fern, wie Wurst-Achim beidhändig zu einer ellenlangen armdicken Salami griff und mit ihr auf den hölzernen Tresen seines Verkaufsstandes einprügelte, als habe dieser Schuld an seiner Misere.

»Darauf wartet ihr Esel doch die ganze Zeit schon, während ich mir den Mund fusselig rede. Euch zuliebe! Und jetzt bin ichs wohl, denn nur ein Bekloppter macht so was wie ich.«

Der bullige Marktschreier warf die malträtierte Salami hinter sich, raffte beidhändig zwei Handvoll Bockwürste zusammen und warf diese in hohem Bogen auf die Menschenmenge. Die ‚Esel‘, dicht an dicht vor dem Stand versammelt, erstaunten, lachten, schnappten nach den fliegenden Würsten und hatten ihren diebischen Spaß. Einmal Luft geholt setzte Wurst-Achim schon zu einer neuen Tirade an, während er in seinem mobilen Verschlag herumtobte.

Schließlich hatte er Erfolg, denn eine Gruppe asiatischer Touristen orderte haufenweise ellenlange Salami sowie armdicke Würste anderer Sorten. Ohne Punkt und Komma redend sackte er bündelweise zerknitterte DM-Banknoten ein und pries aus vollem Hals zum soundsovielten Mal die phänomenale Qualität seiner Würste an, bevor er sie in braune Kraftpapier-Tragetaschen pfefferte. Die prallen Tüten überreichte er seiner exotischen Kundschaft und nichtsdestotrotz bedachte er diese mit ‚Komplimenten‘ solcher Art, dass die deutschsprachigen Umstehenden mächtig feixten.

»Ihr machts richtig!«, schrie Wurst-Achim ihnen dann auch noch hinterher, lauter als ein Brüllaffe. »Denn Würsteesser sind die allerbesten Liebhaber. ‘Ne Dauerwurst und ordentlich Butter helfen dem Vater endlich wieder auf die Mutter.«

Während Stormann langsam umherging und das geschäftige Treiben um sich herum aufmerksam verfolgte, lächelte er gönnerhaft, denn seit einem seiner Mordfälle wusste er, wie hart die Jobs der Marktschreier waren.

Seit einigen Wochen war er Rentner und kam häufiger hierher, was ihm leichtfiel als Frühaufsteher. Außerdem blieb er hier unter Menschen und konnte deren Tun und Lassen beobachten. So schien die Zeit schneller zu vergehen und er vermisste seine anspruchsvolle Tätigkeit als Kriminalhauptkommissar weniger als allein zu Hause.

Eine Bö fegte über die Elbe und den Fischmarkt hinweg. Die meisten Besucher zogen die Köpfe ein und blickten missbilligend empor zum wolkenverhangenen Himmel, denn das Wetter war keineswegs sommerlich und die meisten Leute waren angezogen wie im Herbst.

Mit der rechten Hand fasste Stormann rasch an die Krempe seines einfachen Panamahuts – er hatte noch einen naturfarbenen aus Ecuador von der Marke Montechristi-Fedora, den er nur trug, wenn er sicher war, dass kein Hanseat ihn damit ertappen konnte. Flugs wandte er sich von der Richtung des kühlen Windes ab.

Sein stets wacher Blick erfasste eine Notlage und im Reflex eilte er zur Hilfe, gerade noch rechtzeitig, um mit seiner Linken einen Stapel loser Blätter am Davonfliegen zu hindern.

»Dankeschööön!«, bekam er zu hören, hastig gesprochen aber höflich im Ton, denn der junge Mann war beschäftigt, den Rest seines Sammelsuriums auf einem wackeligen Tapeziertisch aus Sperrholz zusammenzuhalten.

»Gern geschehen.«

Mit seiner linken Schuhspitze stieß Stormann seitlich gegen einen der beiden Unterständer, damit dieser einrastete und der Tisch stabiler stand. Mit der rechten Hand nahm er ein altes Buch von einem Stapel und pfiff anerkennend, denn es war ein richtiger Wälzer. Um dessen Gewicht zu schätzen, hielt er ihn waagerecht auf der flachen Hand, bevor er das Druckwerk auf den Stapel loser Blätter legte.

Dann entspannte er sich und sah zu, wie der junge Mann hinter dem Tisch seine Bücher, Militaria, Porzellan sowie allerlei zumeist massive Andenken auf knapp drei Meter Breite zurechtrückte.

Kein Krempel dabei. Stormann nickte anerkennend, während er die Rückentitel der längs und auf hochkant gestellten Bücher studierte. Nur gute Bücher und durchaus wertvolle Sachen.

Er musterte den schlanken Verkäufer, der ihn um etwa zehn Zentimeter überragte, folglich über einen Meter neunzig groß sein musste. Der Mittzwanziger machte einen redlichen Eindruck und stammte wohl aus der gehobenen Hamburger Bürgerschaft, obwohl seine Kleidung etwas unordentlich arrangiert war. Dies lag wohl daran, dass er sichtlich unter Zeitdruck stand und entsprechend nervös agierte; außerdem schien er erstmalig einen Stand auf einem Flohmarkt aufgebaut zu haben.

»Sie haben sich für Ihre wertvollen Sachen aber keinen guten Platz ausgesucht, mein Herr.« Stormann blickte skeptisch, während er den Kopf schüttelte. Dann richtete er seine grünen Pupillen unverwandt auf des Gegenübers seit etlichen Tagen nicht rasiertes Gesicht. »Das hier gehört nächstes Wochenende auf den Antik-Markt in den Colonnaden. Da sind Sie mit Ihren Kleinodien besser aufgehoben.«

Der junge Mann senkte seine Lider und sah verlegen lächelnd über seine Antiquitäten hinweg. Dann breitete er mit resignierender Geste die Arme aus. »Und ob ich dort besser aufgehoben wäre, da haben Sie völlig recht, mein Herr. Aber ich kann nicht so lange warten, weil es dann zu spät ist.«

»Zu spät für was?«

»Das ist viel zu spät sogar, denn meine finanzielle Deadline ist morgen schon um zehn Uhr. Bis dann muss ich in bar eingezahlt haben, sonst bekomme ich mächtig Ärger.«

»Von Seiten eines Gläubigers?«

»Nein, nicht was Sie denken, es wäre noch viel schlimmer.« Mehrmals wedelte der junge Mann mit beiden Händen, die Finger fächerförmig gespreizt, und spitzte den Mund wie zu einem stummen Pfiff. »Mein alter Herr macht mir die Hölle heiß, wenn ich morgen früh in Bremen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werde, denn er hat das Geld fürs Studium und die Prüfungsgebühren bereits vorgeschossen.«

»Dann haben Sie Ihren Etat wohl nicht eingehalten«, stellte Stormann fest, blickte jedoch verständnisvoll. »Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser. Vor allem wenn man weiß, dass es in Hamburg so einige Ecken gibt, an denen man sein Geld sehr leicht loswerden kann.«

Er bewegte den Kopf in Richtung des bergauf liegenden Viertels Sankt Pauli. »Wie zum Beispiel …«

Ohne Verständnis im Blick sah der junge Mann in die gleiche Richtung, dann riss er die Augenbrauen hoch.

»Nicht doch!« Abwehrend hob er beide Hände, jedoch rötete sich sein Teint über beide Backen hinweg sowie seitlich am Hals bis zu den Ohren. »Da gehe ich nicht hin.«

»So ists recht, denn ein echter Hanseat begibt sich lieber nach Sankt Georg.«

Noch heftiger schüttelte der Student den Kopf.

»Schon gut, das geht mich ja auch gar nichts an. Was studieren Sie denn eigentlich?«

»Seerecht.«

Stormann richtete sein sonnengebräuntes Gesicht wieder auf den Studenten. »Dann wollen Sie wohl mal ans Seegericht …«

»Nein, bloß das nicht. Ich möchte Kapitän werden, wenn es möglich ist, aber mein Alter hat darauf bestanden, dass ich erst einmal Seerecht studiere, denn das wäre gewinnbringender für unser Unternehmen.«

»Das ist zufällig eine Reederei?«

»Volltreffer!« Der junge Mann hob grinsend den rechten Daumen. »Von Jügesen & Söhne.«

»Das hört sich nach einem Familienbetrieb an.« »Richtig. Und ich bin der Junior, Malte Jügesen.« »Sehr schön für Sie, dann sind Sie ja schon im Geschäft. Aber wieso …« Verwundert zeigte Stormann auf einige der besten Stücke. »Wieso müssen Sie dann …«

»Weil ich überhaupt nichts zu melden habe, denn mein alter Herr schenkt mir kein Vertrauen.« Malte Jügesen druckste ein wenig herum, bis er mit der Begründung herausrückte. »Er ist der Meinung, ich wäre leider noch nicht soweit, denn ich sei ein … Luftikus.«

Stormann lachte herzlich, jedoch verhalten und er sprach leise, weil er nicht brüskieren wollte. »Eigentlich führen Sie gerade den Beweis für seine Einschätzung.«

Um vom unangenehm werdenden Thema abzulenken, hob er mit drei Fingern der rechten Hand eine Ecke eines vergilbten Tuchs aus weißem Leinen sacht an und beugte sich hinab, um darunter zu lugen. Sein Verdacht bestätigte sich: Er erblickte den metallenen Lauf einer Pistole. Kopfschüttelnd sah er auf, während er den zerschlissenen Zipfel losließ.

»Herr Jügesen, hat hier jemand gesehen, dass Sie eine Waffe hingelegt haben?«, flüsterte Stormann.

»Bestimmt nicht. Kaum hatte ich sie abgelegt, erfolgte schon der Windstoß.«

»Das ist gut für Sie.«

»Wieso das denn?« Ohne Verständnis im Blick sah Jügesen ebenfalls auf.

»Weil Sie von allen guten Geistern verlassen worden sind: Das ist eine Waffe!«

»Das weiß ich! Aber das ist doch bloß eine antike Waffe aus dem Zweiten Weltkrieg, eine Walther PEPEKA.«

»Bloß? Antik? Sie ahnen ja nicht im Geringsten, wie viele Ihrer Mitmenschen mit solchen ‚Antiquitäten‘ schon umgebracht wurden.« Behutsam tastete Stormann mit der flachen Rechten die Konturen der Walther PPK unter dem Tuch ab: Der Sicherungshebel befand sich in der unteren Position und der Ladestift an der Rückseite des Verschlusses war nicht zu spüren.

»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, mein Herr, dieses uralte Dingsda ist gesichert und das darin steckende Magazin ist leer.«

»Gesichert stimmt, sonst könnte ich ja den Ladestift ertasten, aber beim Magazin müsste ich nachsehen.«

»Das habe ich vorhin schon gemacht«, sagte Jügesen leise, den Tonfall des Gesprächs beibehaltend, aber der Klang seiner Stimme war nicht überzeugend.

Im Blick von Stormann funkelte sogleich der Zweifel. »Eine Waffe ist und bleibt eine Waffe und ich bin mir so gut wie sicher, dass man mit dieser Pistole noch schießen kann.«

»Und ob, bis kurz vor seinem Tod hat mein Großvater noch damit geschossen. Seit Kriegsende schon bestanden seine beiden Halbbrüder die ganzen Jahre über geradezu verbissen darauf, dass er mit ihnen um die Wette ballert – alle drei waren nämlich bei der ESES. Mein Vater jedoch fasste sie niemals an und ich will sie erst gar nicht erben. Deswegen werde ich sie heute verkaufen. Hoffentlich.«

»Sie brauchen sich nicht die geringsten Hoffnungen zu machen. Im Gegenteil. Sie können sogar heilfroh sein, dass ich Ruheständler bin, sonst hätte ich die Pistole längst konfisziert.«

»Echt jetzt?« Jügesen hielt die rechte Hand vor den Mund und blickte konsterniert.

»Also so was von unbekümmert habe ich nun schon ganz lange nicht mehr erlebt. Ich drücke aber mal beide Augen zu, wenn Sie diese Waffe sofort wieder einpacken, mit nach Hause nehmen und mir hoch und heilig versprechen, nie wieder so eine riesige Dummheit zu machen.«

Dieses Mal röteten sich auch die Ohren des jungen Mannes und er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher, so eindringlich hatte ihn sein Gegenüber angeblickt. Hastig griff er nach dem Leinenbündel und schubste es durch ein ausgestanztes Loch in die unterste Kiste eines Stapels weißer Kartons, die rundum bedruckt waren mit blauen Emblemen und gelben Bananen.

»Apropos Dummheit.« Der vor kurzem erst pensionierte Kriminalhauptkommissar blickte ein wenig milder. »Täusche ich mich oder haben Sie tatsächlich die Absicht, auch unersetzliches Familiensilber zu verscherbeln?«

»Ach was, das Ganze hier ist gar nicht der Rede wert. Sie sollten mal sehen, wie viel wir hab…« Abrupt zog Jügesen die Brauen zusammen.

»Moooment!« Er gebot sich selbst Einhalt, indem er mit beiden Handflächen eine imaginäre Barriere zu errichten schien, und blickte sein Gegenüber scharf an. »Jetzt möchte ich aber auch mal etwas erfahren. Machen Sie das immer so mit dem Ausfragen?«

»So?« Nun war es Karl Stormann, der verlegen wurde. »Mache ich das wirklich?«

Mit der rechten Hand hob er seinen Hut ein wenig an und fuhr sich mit den Fingern der Linken durch das dunkelbraun gelockte, auf Streichholzlänge frisierte Haar. »Falls ich darauf nicht geachtet habe, liegt das wohl an meinem Beruf. Bis vor Kurzem war ich noch bei der Kriminalpolizei und das Vernehmen von Verdächtigen war für mich sozusagen das Gelbe vom Ei.«

»Echt jetzt?« Malte Jügesen senkte langsam seine Hände und beugte sich vor.

»Aber Sie sind doch nicht etwa hinter mir her?« Er zwinkerte vertraulich und grinste – seine Reaktion entsprach der eines unbescholtenen Bürgers.

»Ach wo denn. Wie ich schon sagte, bin ich nun Rentner.«

»Aber wegen Ihres langen und bestimmt erfüllten Berufslebens werden Sie sich nur schwerlich an Ihre unumgängliche Freizeit gewöhnen. Nicht wahr?«

»Das ist nur zu wahr.« Bedauernd zuckte Stormann mit den Schultern und ließ seinen Blick schweifen bis zum Versteck der Pistole. »Bestimmt werden noch mehr Leute bemerken, dass es mich immer noch reizen würde.«

»Einhundert DE-Mark!« Malte Jügesen witterte seine Chance, die Waffe doch loszuwerden.

»Hören Sie sofort auf damit! Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich würde Ihnen höchstens ein nettes Geschenk abkaufen für meine erwachsenen Kinder oder die Enkel.«

»Ihre Enkel? Richtig wäre dann genau dieses Buch, welches Sie zum Beschweren genommen haben.«

Stormann blickte hinab auf den Stapel von Blättern mit dem Buch obendrauf. »Dieser schwere Wälzer? Mein ältester Enkel ist zehn Jahre jung und kann solch ein Buch kaum heben.«

»Aber das braucht er gar nicht. Er kann es auf den Fußboden legen und darin blättern – so wie ich damals. Das reicht und der Inhalt ist bestimmt das Richtige für sein Alter.«

Ein wenig übertrieben seufzend packte Stormann das Buch an der vorderen Kante und legte dafür mit der Linken ein anderes edles Druckwerk auf den Stapel loser Bögen; anschließend las er den Buchtitel auf dem Rücken halblaut vor: »Die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm.«

»Na, was habe ich Ihnen gesagt?«

»Das soll ich noch verschenken? Sie sehen doch selbst: Die Ränder des Einbands sind abgestoßen, einige Seiten sind angerissen, überall Eselsohren und sogar Spuren von Missbrauch.«

»Das war ich. Damals. Aber ich habe keine Blätter herausgerissen.« Hastig hob der junge Jügesen seine rechte Hand und streckte drei Finger. »Echt jetzt! Und ich habe auch nicht darein geschmiert.«

»Tja. Ein altes Buch ist nun mal gebraucht.« Stormann wog es mit der Rechten. »Und dieses hier ist trotz der rüden Attacken eines respektlosen Bücherwürmlings immer noch ein stattliches Exemplar.«

»Einhundert DE-Mark.« Die Backen von Malte Jügesen blieben rot, dieses Mal wegen des Eifers beim Handeln – eine Mission hatte er ja noch zu erfüllen.

»Na, na, so gut hat es Ihre exorbitante Begeisterung beim Lesen nun auch wieder nicht überstanden.«

»Neunundneunzig.«

»Zehn.« Zweimal spreizte Stormann die linken Finger.

»Achtundneunzig.«

»Einen Moment mal, lieber Herr Jügesen, wenn Sie so weitermachen, schaffen Sie Ihre Deadline nicht. Wir machen es kurz und treffen uns in der Mitte. Fünfzig.«

»Fünfundfünfzig! Sie haben bei zehn angefangen.«

»Na gut. Meinetwegen. Aber nur weil Sie es sind. Fünfundfünfzig.« Begütigend hob Stormann die linke Hand, während er mit der anderen das Buch ablegte und seine Brieftasche aus der inneren linken Brusttasche seines Jacketts holte. »Bitte gut einpacken, ich gehe noch nicht nach Hause.«

Hastig umwickelte Jügesen das Buch mit mehreren Bögen des aktuellen Abendblatts; mit seinem Handabroller zog er hellbraunes Paketklebeband ab, rundherum und kreuz und quer.

»Wetterfest!« Er beugte sich vor und legte das Werk auf den beschwerten Stapel loser Blätter.

»Na, na. Ein seriöser Paketdienst würde das ganz bestimmt nicht annehmen«, monierte Stormann leise, während er die noch sichtbare Titelzeile aus den Wirtschaftsnachrichten las: ‚Der Euro kommt – ganz sicher‘. »Aber bis zur Außenalster hält es wohl, da treffe ich meinen Kollegen.«

»Ex-Kollegen.«

»Auch daran muss ich mich erst noch gewöhnen.«

Karl Stormann reichte Malte Jügesen drei glatt gestrichene Zwanzig-Deutsche-Mark-Scheine, winkte mit der Linken gönnerhaft ab, während er die nun freie rechte Hand zum Abschied bereit hielt. Er drückte so kräftig, dass er den wesentlich Jüngeren sogar ein wenig in die Knie zwang, denn dieser war längst nicht so athletisch wie er selbst.

»Ich drücke Ihnen beide Daumen, dass Sie erfolgreich sind.«

Dann klemmte er sich den Packen unter die linke Achsel, zwinkerte aufmunternd und wandte sich ab, um sich zur Außenalster zu begeben.

Abrupt wandte er sich noch einmal um und unauffällig imitierte er mit rechtem Daumen und Zeigefinger Hahn und Lauf eines Revolvers. »Keine Dummheiten. Verstanden?«

»Ja. Echt jetzt.«

Etwas beruhigter ging er weiter.

»Ich werd noch bekloppt wegen euch! Aber dieses Mal ganz bestimmt!«

Karl Stormann beobachtete von fern, wie Wurst-Achim mit zwei armdicken Hartwürsten beidhändig seinen Verkaufsstand malträtierte, als habe dieser Schuld an seiner Misere.

Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen, während er sich vom ‚Tatort‘ entfernte.

 

Freie und Hansestadt Hamburg, Bezirk Eimsbüttel, Stadtteil Rotherbaum, Alstervorland, Westufer der Alster, nähe Fährdamm/Alsterschiffanleger.

Sonntag, 26.08.2001, 8:00 Uhr.

Clemens Brüwer, über zwei Zentner schwer, saß auf einem mit signalrotem Stoff bezogenen Klappstuhl aus Aluminium, die großen Hände umfassten das Knie seines linken Beins, welches er übers andere geschlagen hatte. Seine Blicke schweiften über die sich kräuselnde Wasserfläche der Außenalster sowie die luftigen Fassaden der gegenüber stehenden Stadtvillen.

Gelegentlich beobachtete er die leicht durchhängende Angelschnur und ersehnte das Untergehen des Schwimmers, hinabgezogen vom größten Fisch, der je in diesem Gewässer gelebt hatte. Jedoch bewegte sich das über zwanzig Meter entfernte knallrote Hütchen stets nur im Rhythmus auslaufender Wellenlinien, verursacht von der Fähre, die nach Uhlenhorst abgefahren war.

»Ich dachte, wir gehen eine flotte Runde um die Außenalster, stattdessen schlägst du hier Wurzeln.«

Diese Stimme kannte Brüwer wie keine andere; er wandte ruckartig seinen Kopf und sah den Rufer näher kommen. Sogleich fiel ihm das wirr verklebte Päckchen auf, welches unter der linken Achsel von Karl Stormann klemmte.

»Moin, Kalli! Wo bleibst du denn schon wieder?« Mit hochgezogenen Brauen sah Brüwer dem Ankömmling entgegen. Mit rechtem Zeige- und Mittelfinger schob er die Schiebermütze ein wenig nach hinten, sodass der Ansatz seiner Stirnglatze sichtbar wurde. »Du wolltest viel früher hier sein.«

»Guten Morgen, Klemmi. Ich war sogar noch früher auf wie sonst. Deswegen habe ich einen Abstecher zum Fischmarkt gemacht. Jedoch habe ich dort mehr Zeit verbracht, als ich dachte.« Verstohlen linste Stormann nach dem Packen. »Aber es scheint sich gelohnt zu haben.«

»Meinst du?« Erneut hob Brüwer die Brauen. »Das muss es! Denn mich hier einfach sitzen zu lassen …«

»Wieso nicht, was sonst noch macht denn ein Angler?«

»Er denkt über das Leben, die Welt und den Rest des Universums nach. Zum Beispiel erinnere ich mich gerade an einen unserer Mordfälle, jenen damals im Angelcenter in Schnelsen. Weißt du noch, was für ein Gesicht du gezogen hast, als wir die nackte Leiche in der riesigen Metallkiste fanden, randvoll mit satten Tauwürmern?«

»Hör sofort auf!«

»Du guckst schon wieder genau wie damals.« Brüwer lachte dermaßen, dass längs seiner Gürtellinie der Wohlstandsspeck wabbelte. »Und was hast du dich geschüttelt und noch fast noch darein gekotzt. Aber die Leiche hatte ja auch ausgesehen wie …«

»Klemmi, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst verschwinde ich auf der Stelle.«

»Ja, ja, schon gut. Nur fällt mir beim Angeln partout nichts Besseres ein.«

»Dann wird es allerhöchste Zeit, dass du auf andere Ideen kommst: Nämlich mit deiner herzallerliebsten Ehefrau endlich wieder mal etwas zu unternehmen.«

»Hör sofort auf!«

»Ja, jetzt schüttelst du dich.« Stormann blickte angriffslustig. »Ich stelle mir gerade vor, wie du mit ihr einen wundervollen Ausflug machst nach …«

»Kalli, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst werfe ich dich in die Alster. Meine Frau geht doch noch jahrelang arbeiten und hat gar keine Zeit mehr für mich, weil sie mich als Rentner erst recht nicht für voll nimmt. Das weißt du ganz genau.«

»Und du weißt haargenau, wovor ich mich ekle. Also sind wir jetzt quitt.«

»Ausnahmsweise mal«, murmelte Brüwer und winkte mit routinierter Geste ab, dann bückte er sich und nahm die Angel aus der Halterung.

»Nein, sondern stets wie gehabt.« Stormann wedelte wie üblich mit dem Zeigefinger. »Du hoffst wohl immer noch, du könntest mich jemals verbal übertrumpfen.«

»Einmal schaffe ich es. Wetten wir?«

»Wir werden sehen und ich wette nie.«

»Schon gut. Also was hast du da drin?« Mit seinem linken Daumen wies Brüwer auf das Paket. »Die erste Lieferung vom Großhändler mit zum Anbeißen verführenden Tauwürmern für mein allerneuestes Hobby?«

»Die können warten, bis ich sie auf dich kippe, wenn du in der Kiste liegst. Dann siehst du auch so aus wie …«

»Du bist ein Scheusal!« Brüwer schüttelte sich, während er begann, die Angelschnur zurück auf die Rolle zu kurbeln. »Ittigitt. Aber die würden sich an mir den Magen verderben.«

»Falls du von deiner Frau vergiftet worden wärst? Ja.«

»Ich gebe mich geschlagen. Also, was ist in dem Paket?«

Noch steckte Angriffslust in Stormann. »Zuerst wollte ich einen wunderschönen großen und ganz frisch in der Außenalster gefangenen Fisch für dich kaufen …«

»Mit deinem Getratsche schlägst du selbst Wurst-Achim aus dem Feld.« Brüwer hielt die Rute zum Schlag bereit wie eine Keule beim Baseball. »Da konntest du noch nicht wissen, dass ich ab heute Morgen meinem allerneuesten Hobby fröne.«

»… stattdessen jedoch habe ich ein wundersames antikes Buch erstanden und …«

»Was? Ein Buch auf dem Fischmarkt?« Mit scheelem Blick sah Brüwer seinen Ex-Kollegen an. »Bist du ganz sicher, du warst nicht schlafwandeln, sondern wirklich auf …«

»… werde es meinem Enkel schenken. Vorher jedoch schaue ich selber mal rein.«

»Harry Potter, Band fünf?« Die grau gewordenen buschigen Brauen hochgezogen, kurbelte Brüwer das letzte Stück der Polyamidschnur auf die Rolle.

»Ich sagte doch: antik! Eine Liebhaberausgabe der schönsten Märchen der Brüder Grimm, bestimmt wertvoll, erstanden jedoch zu einem günstigen Preis von einem sich in Geldnot befindenden Reederei-Erben, welcher neben den Außenständen einen wackeligen Tapeziertisch aufbaute, um einen Teil des Familiensilbers zu verscherbeln.«

»Erben kommt erst nach dem EstE von sterben und deswegen wird manchmal ein wenig nachgeholfen. Dies gegebenenfalls herauszubekommen haben wir ja wie aus dem Effeff beherrscht.«

Wehmütig seufzte Brüwer und winkte ergeben ab. »Na, welche Märchen sind es denn?«

»Auf jeden Fall ist die Geschichte vom armen Fischer Brüwer und sinner Fru drin.«

»Hä, hä. Sehr witzig.«

»Würde bestens passen, weil deine Frau Ilse heißt.« Stormann grinste anzüglich, aber schon einen Wimpernschlag später folgte die besänftigende Geste. »Der Buchtitel fiel mir auf, ansonsten habe ich es nur flüchtig durchgeblättert. Ich sehe es mir in Ruhe an, bevor ich es für meinen Enkel hübsch einpacke. Eigentlich könnte ich mir die Mühe sparen, denn mein ältester Enkel wickelt nichts aus, sondern zerfetzt jede Umhüllung voller Vorfreude auf das neueste Pokémon-Sammelalbum.«

»Genau deswegen wirst du ihn schwer enttäuschen. Bäääh, wird er schreien, ein altes Buch! Ich will keine blöden Märchen lesen, sondern spielen mit Pikachu und Mewtu und Bisasam, meinen Lieblingspokémons.« Brüwer lachte bollernd. »Dann schmeißt er sich auf die Erde und traktiert mit Füßen und Fäusten das frisch gebohnerte Parkett.«

»Nun mach mal halblang, mein Enkel ist schon zehn Jahre alt. Außerdem hat er sich noch nie hinfallen lassen, denn er gehört zu jenen Kindern, die redlich erzogen werden.«

»Aber losheulen wird er.« Nach einem prüfenden Blick auf das Wurfgewicht begann Brüwer, mit der Rute weit auszuholen. »Das garantierte ich dir.«

Stormann hastete außer Reichweite und duckte sich leicht. »Heulen würde meine Enkelin, wenn sie nicht den allerneuesten Harry Potter bekommt. Der Junge steht neuerdings auf Indianer und die kennen bekanntlich keinen Schmerz.«

»Du weißt ja gut Bescheid über deine Enkel. So wie ich.«

»Na klar. Wir sind doch jung gebliebene Großväter der neuesten Generation – immer noch auf dem aktuellsten Stand der Vorlieben unserer Enkel.«

»Warum willst du‘s ihm antun, wenn du schon weißt, wie er darauf reagiert?« Brüwer schüttelte den Kopf und versuchte, sich wieder auf den Wurf zu konzentrieren.

»Er liest ja eigentlich gern, nur reizen muss es ihn. Darum ist es mir einen Versuch wert. Genau wie du mit deinem Angeln ja auch noch eine klitzekleine Hoffnung hast auf …«

»Von wegen klitzekleine Hoffnung.« Empört senkte Brüwer die Rute und richtete ihre Spitze gegen seinen Ex-Kollegen. »Es ist keine klitzekleine Hoffnung, die mich heute Morgen hierher geführt hat, sondern die riesengroße Gewissheit, den dicksten Stör der Alster zu fangen.«

»Leider muss ich deine riesengroße Gewissheit wieder zu einer klitzekleinen Hoffnung machen, denn in der Außenalster gibt es keine Störe.«

»Du bist und bleibst ein Besserwessi! Reiß statt deinem Maul lieber die Augen auf, denn jetzt kommt mein exorbitanter Weitwurf bis in die Mitte der Alster, wo der dickste Wels schon auf meinen Köder wartet.«

Brüwer holte mit der Rute so weit aus, wie er es schaffte, und tatsächlich gelang ihm ein passabler Schwung. Das Wurfgewicht platschte in die Außenalster, immerhin mehrere Dutzend Meter vom Ufer entfernt. Die beiden Ex-Kommissare hätten den roten Schwimmer kaum noch erkannt, wäre er nicht von jedem Wellenkamm emporgehoben worden.

»Na, Kalli, hast dus gesehen?« Freudestrahlend blickte Brüwer über die gesamte Wasserfläche der Außenalster hinweg. »Mit meinem Schwung könnte ich glatt bei der Weltmeisterschaft im Weitwerfen mitmachen.«

Dann rammte er das Ende der Rute schräg ins Erdreich unter hohem Gras und legte den golden glänzenden Griff am Stiel in die bereits steckende Gabel der Halterung.

Mit feinem Lächeln verfolgte Stormann die ungelenken Bemühungen und verbalen Übertreibungen seines Ex-Kollegen; längst hatte er sich an dessen Schrullen und keineswegs ernst gemeinte Sprüche gewöhnt.

»Ich schätze mal, bis zur Pose sind es gute fünfundzwanzig Meter«, murmelte Stormann und nachdenklich blickend zwickte er sein rechtes Ohrläppchen, »und soviel ich weiß, wirft ein Weltklasse-Angler mindestens vier Mal so weit.«

»So?« Brüwer wiegte den Kopf und kniff das rechte Auge zu. »Aber wahrscheinlich nur mit einem acht Mal so langen Anlauf. Mindestens.« Dann winkte er ab und wies mit dem Daumen über die Schulter. »Jetzt pack doch mal aus, wir haben ja nun etwas Zeit bis …«

»… der Riesenwels anbeißt.«

»Du hast das jetzt gesagt.«

»Ist ja schon gut. Ich zeige dir liebend gerne das Buch, denn die Verpackung trete ich ohnehin gleich in die Tonne, nachdem ich zuhause bin.«

Nach einigem Ratschen und Geraschel zog Stormann das wuchtige Druckwerk aus der seitlich offenen Verpackung, trotz aller Sorgfalt jedoch glitt es ihm aus der linken Hand.

»Vorsicht!«, rief Brüwer und erwischte das beim Fallen aufklappende Buch gerade noch an einer Ecke. Nachdem er zugepackt hatte, rutschte ein etwa DIN-A5-großer Zettel heraus und schwebte hinab auf die breitgetretenen Grashalme der flachen Uferböschung.

Hastig bückte sich Stormann danach, fasste den Wisch mit drei spitzen Fingern und richtete sich wieder auf. Ein Blick auf die verblasste Tinte genügte ihm.

»Aha«, murmelte er und ahmte unwillkürlich den Schauspieler Erich Ponto nach, denn die ‚Feuerzangenbowle‘ von 1944 war ein Film, den er sehr gern sah, »das ist auch aus einem Schoolheft gerissen …«

Mit beiden Händen hielt Brüwer das aufgeschlagene Buch und musterte die zwei offenen Seiten. Auf der linken stand nach einigen Zeilen schon ‚Ende‘, aber auf der rechten fing ein neues Märchen an, dessen Überschrift es ihm sogleich angetan hatte; halblaut las er sie vor: »Die klare Sonne bringts an den Tag.«

Voller Eifer stellte er sich dicht neben seinen Ex-Kollegen, griff mit der Linken unter das Buch und tippte mit dem nun freien rechten Zeigefinger auf die in Fraktur fett gedruckte Überschrift. »Das passt ja zu uns wie die Faust aufs Auge, Kalli. Wir haben ja auch immer alles herausbekommen.«

»Fast alles.«

»Nun sei mal nicht so pingelig.« Brüwer meinte es todernst. »Unsere Erfolgsquote war die allerbeste überhaupt.«

»Kunststück, wir waren ja auch im richtigen Dezernat. Bei Mord und Totschlag ist die Aufklärungsquote ohnehin die höchste.«

»Weil da waren wir.« Mehrmals tippte Brüwer den rechten Daumen gegen sein Brustbein, drückte die Lendenwirbel durch und erreichte sein Gardemaß von einem Meter achtundachtzig.

»Nun ja, wir waren schon nicht schlecht.« Stormann mühte sich, mit Hilfe des anderen Arms die Verpackung unter der linken Achsel zusammenzustauchen.

»Abgesehen von der Leiche in der Kiste mit den …«

»Hör bloß auf, sonst werfe ich deine Angel in die Alster.«

»Schon gut, was steht denn nun auf dem Wisch?«

Stormann wedelte mit dem Zettel. «Das hier scheint ein Corpus Delicti zu sein oder sogar ein Geständnis. Bei einem Kommentar zu solch einem Titel erahne ich schon den letzten Satz, ohne die Story zu kennen: Und die Moral von der Geschicht, erwischt wird jeder Bösewicht.«

»Was steht denn nun da drauf?«

Nun fasste Stormann auch mit der rechten Hand das Papier und hielt das Blatt nah vor seine Augen. »Das scheint tatsächlich ein Stück aus einem Schulaufsatz zu sein … wohl geschrieben von meinem Buchverkäufer von vorhin. Als Krakelloge, ähm, Graphologe würde ich diese wackelige Schrift sowie den Ausdrucksstil einem elf- oder zwölfjährigen Jungen zuordnen.

Also, der hat geschrieben: Gestern Abend habe ich als Vorleseübung meiner Familie das Märchen ‚Die klare Sonne bringts an den Tag‘ von den Brüder Grimm vorgelesen. Das Märchen, das ich lesen üben soll, hat mein Opa ausgesucht, er hat einen Fingernagel in das Buch reingesteckt und aufgeklappt und gelacht und gesagt ‚Nun lies mal schön vor‘. Ich habe das Märchen vorgelesen und alle haben gut zugehört, nur mein Opa regte sich auf und sagte ‚Das kommt nicht alles raus, nee, nee. So was gibts, Gott sei Dank, nur im Märchen, so was.‘ ,Opa, was kommt nicht raus?‘, habe ich gefragt und meine Eltern haben sich nur angeschaut. Und mein Opa hat sich noch mehr aufgeregt und ist weggegangen und Papa hat gesagt ‚Dein Opa hat was, was ihn bedrückt, ich weiß nicht was, aber er stöhnt nur und sagt nichts und ich soll ihn nie mehr fragen danach und nicht mehr daran denken‘ und es geht mir aber immer noch im Kopf rum und ich schreibe das auch hier und frage nicht weiter. ‚Malte, komm mal her!‘, rief mein Großvater einige Tage später und ich …«

Stormann ließ mit der Linken das Blatt los und wedelte damit hin und her. »… und der Rest des Aufsatzes fehlt leider.«

Brüwer sah vom Buch auf. »Wohl mit einer schlechten Note bewertet und darum abgerissen und verbrannt worden.« Die Stirn in Runzeln legend schlug er ein Blatt um. »Tja. Dieser Opa scheint ordentlich Dreck am Stecken zu haben. Vielleicht ‘ne alte Jugendsünde. Was meinst du? Wieder reinlegen und das Buch zuklappen?«

»Ich glaube ja auch nicht, dass etwas Besonderes daran ist.« Stormann ließ den rechten Arm sinken und schaute lange auf den Zettel hinab. »Mir geht es eher darum, ob es für unseren Studenten ein Erinnerungsstück sein könnte. Darum würde ich es ihm gerne wiedergeben.«

Ohne das Buch loszulassen, blickte Brüwer auf seine Armbanduhr. »Noch würdest du ihn auf dem Fischmarkt antreffen, ansonsten kannst du ihn suchen wie eine Nadel in einem Heuhaufen namens Hamburg.«

»Es gibt einen Anhaltspunkt: Reederei Jügesen und Sohn. Die darf er eines Tages erben.«

»So? Dann bist du ja schon auf dem richtigen Weg.« Schräg über den Wasserspiegel der Außenalster hinweg zeigte Brüwer auf einige Uhlenhorster Stadtvillen. »Dieser Schifffahrtsgesellschaft gehört weiter hinten am Kanal ein rötliches höheres Haus; von hier aus siehst du noch das Glasdach. Das ist der Stammsitz der Firma, und die Familie des Inhabers wohnt oben im Loft. Das weiß ich, dort war ich nämlich mal wegen mehrerer Zeugenbefragungen. Da hast du sogar heute noch eine Chance, obwohl Sonntag ist.«

Stormann schob die Seite des Schulhefts zwischen die nächsten beiden Blätter der märchenhaft geschriebenen Parabel über höhere Gerechtigkeit, nahm Brüwer das Buch ab, klappte es zu und schob den Wälzer wieder in die Umhüllung.

Entschlossen wandte er sich um. »Dann gehe ich erst mal weiter statt zurück. Kommst du mit oder willst du hier Wurzeln schlagen?«

»Falls du die Fähre nimmst …«

»Das dauert mir viel zu lange, bis die wieder hier ist, außerdem war ein Spaziergang um die ganze Außenalster abgemacht. Aber bleib getrost hier, denn ich komme auf meiner Runde sowieso bei ‚Fisch Böttcher‘ vorbei und werfe einen Bestellzettel in den Briefkasten ein. Als Spende von mir an dich sollen sie am Dienstagmorgen einen wunderschönen riesengroßen und erst montags frisch in diesem Gewässer gefangenen Fisch zu dir nach Hause bringen.«

»Jetzt reichts!« Mit solcher Wucht riss Brüwer die Angelrute aus dem Rasen, dass ein Stück Soden am Griff hängen blieb. »Mach dich jetzt auf deine Altherrensocken, sonst gibts einen fangfrischen Stormann-Stör.«

»Störe gibt es hier nicht. Das habe ich dir schon gesagt. Welse erst recht nicht.«

Mit beiden Händen packte Brüwer die Rute wie einen Spieß und versuchte, seinen Ex-Kollegen mit dem stumpfen Ende ins Wasser zu stupsen. »Dann sorge ich jetzt dafür, das es endlich hier einen gibt.«

Jedoch wich Stormann geschickt aus und schmunzelnd deutete er einen Salut an, indem er mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger an die Krempe seines Panamahuts tippte.

Bereits im Gehen wandte er sich noch einmal um. »Übrigens ist Angeln ohne Schein hier verboten. Pack ein und komm mit, wenn du dein ganzes Anglerzubehör nicht gleich wieder loswerden willst.«

»Zisch endlich ab, du Besserwessi.« Langsam ließ sich Brüwer auf seinem Klappstuhl nieder und widmete sich wieder mit Hingabe seinem Hobby. »Bah! Das wird schon gut gehen.«

Abrupt wandte er sich noch einmal um und rief Stormann hinterher: »Übrigens wird dein Enkel diese Schrift gar nicht lesen können, der Text ist nämlich in Fraktur gesetzt. Mach dich schon mal darauf gefasst, was du anrichtest.«

*

 

Schleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg, Herrenhaus von Jügesen im Billetal am Nordrand des Sachsenwaldes.

Freitag, 3. Mai 1918 – nachmittags.

Banner- und Reichsfreiherr Otto von Jügesen nähert sich zu Fuß der Einfahrt zum Gutshof seiner Familie. Er keucht unter der Last seines Seesacks und der großen Umhängetasche, außerdem trägt er einen wetterfesten Ledermantel über seiner Offiziersuniform. Am gusseisernen, haushohen Torgitter angelangt, stellt er sein Gepäck ab und verschnauft. Zum wiederholten Mal verflucht er in Gedanken seinen Wagen, dessen Motor nur drei Kilometer vor dem Ziel elendig verreckt ist. In der freien Natur, mitten auf dem einsamen Weg nachhause, ist an eine Reparatur nicht zu denken; die ‚Karre‘ samt hilflosem Chauffeur lässt er einfach stehen. ‚Popel-Kiste‘ tauft er seinen nagelneuen ‚Opel 9/25 PS Doppelphaeton‘ sogleich und tritt vorm Fortgehen mit Wucht gegen das linke Vorderrad.

Der 26 Jahre alte Oberleutnant zur See zieht einen handspannenlangen, eisernen Schlüssel mit breitem Bart aus der rechten Manteltasche und steckt ihn ins metallisch glänzende Schloss. Er öffnet, zieht sein Gepäck hinein und schließt hinter sich wieder ab. Ein letztes Mal schultert und hebt er seinen Ballast. Aber das Schreiten auf der knapp einen Kilometer langen Allee zum Herrenhaus fällt ihm bei jedem Ausholen leichter, denn er ist sicher, seine Ehefrau wartet auf ihn – Gertrud von Jügesen ist erst seit vier Monaten mit ihm verheiratet.

Eine Überraschung will er ihr nun bereiten, schleicht sich hinein in die gute Stube und sieht sie nebenan nahe dem Fenster sitzen. Sie beugt sich über eine Stickerei und schaut nicht hinaus, denn sie geht davon aus, das Knattern des Motors zu hören, bevor der Wagen über die viertelbogenförmige Rampe hinauf bis vor die weit geschwungene Steintreppe des Haupteingangs gelenkt wird. Eine Strähne ihres blonden Haars hat sich aus dem Dutt gelöst und reicht hinab bis auf den Rahmen der Stickerei. Sie schwingt ihren Kopf zur Seite, damit die Strähne nicht bei der Arbeit stört. Ottos Herz schlägt schneller und er würde sich am liebsten zu ihren Füßen niederstürzen.

Jedoch besinnt er sich, geht rücklings bis zum Haupteingang zurück, schließt von außen und klopft ans hölzerne Gebälk, erst sacht, dann fester; klingeln will er nicht, denn der Ton der Schelle ist ihm zu schrill. Jedoch ist ein Dienstbote zuerst an der Tür, verbeugt sich tief und gebückt bleibend nimmt er die vor der Tür abgestellten Mitbringsel an sich. Eilends zieht er sich zurück, als Gertrud von Jügesen, geborene von Reinern, ihrem Ehemann entgegenkommt und ihn so innig, wie der Anstand es zulässt, in die Arme schließt.

Die junge Baronesse hätte einen Mann von noch höherem Stand heiraten können, ihre Familie jedoch drängte sie zur Verbindung mit dem einzigen Sohn der steinreichen Reedereifamilie von Jügesen. Außerdem erhoffte sich ihr Vater, ein mit finanziellen Widrigkeiten ringender Baron, eine nützliche Beziehung zur Familie von Bismarck. Denn Otto von Bismarck, der ehemalige Reichskanzler, und Ottos Großvater, Tormud von Jügesen, waren seit ihrer Studentenzeit in Göttingen Korpsbrüder und blieben freundschaftlich verbunden bis zu ihrem Lebensabend.