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Spannend und voller neuer Ideen präsentiert Autor Hardy Richard sein Erstlingswerk "Gedankenpiraten - in fremden Körpern" Der erste Teil einer Buch-Reihe. Ohne Leerlauf erzählt er in dem Realfantasy Roman über Paul Schwarz, einem jungen Mann der erkennt, dass er über ein ganz besonderes Talent verfügt - er kann andere Körper und Menschen übernehmen. Doch dieser Urwunsch eines jeden Menschen entpuppt sich immer mehr als Albtraum.
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Seitenzahl: 662
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Gedankenpiraten – In fremden Körpern
Gedankenpiraten – In fremden KörpernRomanHardy RichardISBN 978-3-7380-5161-2Neobooks, Ersterscheinung 2015
Gedankenpiraten – In fremden Körpern© 2015 Hardy RichardAlle Rechte vorbehalten.Ohne schriftliche Genehmigung des Autors darf dieses Werkweder ganz noch teilweise in irgendeiner Formreproduziert oder weitergegeben werden.ISBN 978-3-7380-5161-2Satz & Layout: Hardy RichardErsterscheinung: 12. Dezember 2015Überarbeitete Ausgabe: 2025
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Schmerzen
Kapitel 2 – Das fremde Spiegelbild
Kapitel 3 – Gefangen im Körpertausch
Kapitel 4 – Der Schaffner ohne Fahrkarte
Kapitel 5 – Zwischen Schulbank und Schattenwelt
Kapitel 6 – Die Stimmen im Dunkel
Kapitel 7 – Freundschaft im Schatten der Schmerzen
Kapitel 8 – Die Schauspielerin im Café
Kapitel 9 – Die Stimmen der Versuchung
Kapitel 10 – Das Trommeln der Jäger
Kapitel 11 – Nahtoderfahrung
Kapitel 12 – Verlorene Heimat
Kapitel 13 – Elli im Rampenlicht
Kapitel 14 – Frau Fuchs – die rechte Hand
Kapitel 15 – Maskenspiel
Kapitel 16 – Verlockung und Verrat
Kapitel 17 – Die schwarze Gestalt
Kapitel 18 – Gefährliche Nähe
Kapitel 19 – Spielball der Jäger
Kapitel 20 – Zwischen zwei Frauen
Kapitel 21 – Die Maskerade der Wahrheit
Kapitel 22 – Der letzte Blick
Kapitel 23 – Die Fremde im schwarzen Tuch
Kapitel 24 – Lena ohne Maske
Kapitel 25 – Gerettet und doch verloren
Kapitel 26 – Gefangen im fremden Körper
Kapitel 27 – Der Rollstuhl-Plan
Kapitel 28 – Die Jagd im Krankenhaus
Kapitel 29 – Das Erbe des Gasser
Kapitel 30 – Der Schatten auf der Straße
Kapitel 31 – Aufbruch ins Ungewisse
Kapitel 32 – Gefährliches Erbe
Kapitel 33 – Der Kreis der Verbündeten
Kapitel 34 – Helmuts letzter Atemzug
Kapitel 35 – Die Prüfung der Stärke
Kapitel 36 – Das Vermächtnis des Notars
Kapitel 37 – Die Fäden der Manipulation
Kapitel 38 – Verborgene Wahrheiten
Kapitel 39 – Der Sprung zu Susanne
Kapitel 40 – Die Nacht der Entscheidung
Kapitel 41 – Neue Wege, alte Schuld
Kapitel 42 – Die Bibliothek der Erkenntnis
Kapitel 43 – Gefangene der Jäger
Kapitel 44 – Der Weg in die Freiheit
Kapitel 45 – Zwischen Zweifel und Vertrauen
Kapitel 46 – Die Jagd beginnt von Neuem
Kapitel 47 – Der Sturm im Herrenhaus
Kapitel 48 – Der Kreis der Auserwählten
Kapitel 49 – Blut und Schwur
Kapitel 50 – Der Verrat im Verborgenen
Kapitel 51 – Gefährliche Bande
Kapitel 52 – Der rote Mond
Kapitel 53 – Im Schatten der Wölfe
Kapitel 54 – Blaue Augen
Kapitel 55 – Schmeichelstein und Hoffnung
Kapitel 56 – Das Treffen der Auserwählten
Kapitel 57 – Zwischen Liebe und Gefahr
Kapitel 58 – Im Bann des Feuers
Kapitel 59 – Die Prüfung der Treue
Kapitel 60 – Rowenas Geheimnis
Kapitel 61 – Die Schlacht der Gedanken
Kapitel 62 – Die Entscheidung der Herzen
Kapitel 63 – Der letzte Verrat
Kapitel 64 – Tod und Wiedergeburt
Kapitel 65 – In fremden Körpern
Paul sah zwei grelle Lichter, die sich rasend schnell auf ihn zubewegten. Unfähig nur einen Muskel zu rühren oder zumindest um Hilfe zu schreien, riss er geschockt die Augen auf. Wie gelähmt lag er auf der Straße und hatte wieder diese hämmernden, bohrenden Kopfschmerzen. Sein Fahrrad sah er nur unweit entfernt neben ihm auf dem Bürgersteig liegen. Und plötzlich schien sich Alles um ihn herum zu verändern. Details, die ihm sonst entgangen wären, wurden klarer. Wie die Superzeitlupe bei einem Dokumentarfilm, wo man auf einmal erkennen kann wie sich die Zähne einer Schlange in ihr Opfer bohren. Und während seine Umwelt immer träger wurde und langsam einzufrieren drohte fühlte er sich, als ob er seinen eigenen Körper verlassen würde und gar nicht mehr der Junge war, der blutend und gekrümmt auf der Straße lag, sondern alles von einem Fenster eines nahen Hauses aus sehen konnte. Er sah sich selbst auf der Straße liegen und nur wenige Meter von ihm entfernt raste, unendlich langsam, ein LKW auf ihn zu.
Es war wie in einem Film, bei dem von einer Kamera auf eine andere geschnitten wurde und sich so die Perspektive veränderte. Doch der befreiende, schmerzfreie Zustand hielt nicht einmal einen Herzschlag lang an und sofort fühlte er wieder den kalten Asphalt unter seinen Händen und den rauen Rollsplitt, der ihm die Wange aufgerissen hatte. Der Lastwagen war nun schon so nah, dass er den Mann im Führerhaus deutlich erkennen konnte. Mit weit aufgerissenen Augen saß er hinter dem Lenkrad und versuchte dieses panisch herumzureißen. Das alles dauerte nur Bruchteile von Sekunden, doch für Paul fühlte es sich wie eine Ewigkeit an.
Ohne an seiner Situation etwas verändern zu können, lag er mit diesen zerschmetternden Kopfschmerzen auf der Straße und sah wie einer der Vorderreifen, nur noch wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt, unaufhaltsam immer näherkam. Dann wurde es schwarz um ihn herum und mit dem Licht verschwanden auch die Schmerzen.
Seit er denken konnte hatte Paul diese stechenden, unerträglichen Kopfschmerzen. Nicht durchgehend, aber immer wieder und wenn sie kamen, dann meist in den unpassendsten Situationen und ohne jegliche Vorankündigung. Einige seiner Mitschüler klagten zwar auch immer wieder über Kopfschmerzen und manche von ihnen hatte sogar Migräne, doch für Paul war klar, dass es bei ihm anders war. Wo genau der Unterschied lag wusste er nicht und das war ihm im Grunde auch ziemlich egal. Er wusste nur, dass dieses Ziehen und Pochen im Hinterkopf irgendwann sein Tod sein würde. Und einige Male wäre es tatsächlich schon fast so weit gekommen. So wie jetzt. Ohnmachtsanfälle hatte er schon öfter gehabt und auch immer wieder diese unerträglichen Schmerzen. Doch irgendetwas schien ihn in letzter Sekunde immer wieder zu beschützen.
In dem kleinen Dorf, vor den Toren Münchens, in dem er wohnte, blieb sowas natürlich nicht unkommentiert. Jeder kannte hier Jeden und naturgemäß wurde viel spekuliert, was mit Paul los sein könnte. Von Epilepsie bis zum Drogenmissbrauch wurde gemutmaßt. Doch wie man dem Jungen helfen könnte, darüber wollte sich niemand den Kopf zerbrechen.
Paul lebte, zusammen mit seinem Vater Hannes, in einer Dreizimmerwohnung im dritten Stock eines 6-Familienhauses. Hannes Schwarz war seit 10 Jahren Witwer.
Als Paul gerade drei Jahre alt war, hatte seine Mutter Ines einen Autounfall bei dem sie frontal gegen einen Baum gefahren war. Die ankommende Feuerwehr konnte sie nur noch tot aus dem Wrack bergen. Auch hier wurde viel spekuliert. Einige Nachbarn meinten, sie wollte sich das Leben nehmen, andere waren sich sicher, dass sie, übermüdet von der Arbeit als Krankenschwester, am Steuer eingeschlafen war.
Pauls Vater sprach nie darüber. Für ihn war es schwer Gefühle zu zeigen.
So gut es ging musste er von diesem Zeitpunkt an alleine für den kleinen Paul sorgen. Und er erledigte diesen Job, soweit es ihm möglich war, wirklich sehr gut. Als Schlossermeister war sein Verdienst nicht schlecht. So konnten sie sich weiter die geräumige Wohnung, die sie schon zusammen mit Pauls Mutter bewohnten, und dazu auch ein Auto, leisten. Sogar Urlaube wären eventuell noch möglich gewesen, doch dazu hatte Hannes Schwarz keine Lust. Also blieben sie meist zu Hause oder gingen zusammen in die Berge. Doch seit Paul fast einmal abgestürzt wäre, als er wieder einen Schmerzanfall bekam, wollte sein Vater das auch nicht mehr.
Paul war verwirrt. War er nun tot? Hatten seine Kopfschmerzen gewonnen und ihn schließlich geschafft? Aber wenigstens wären sie dann endlich vorüber. Nie wieder diese Anfälle. Der Gedanke war nicht so schlecht und Paul grinste und versuchte ganz langsam und vorsichtig seine Augen zu öffnen. Ein gleißendes Licht blendete ihn und er musste blinzeln um seine Umgebung vorsichtig, wie durch einen Schleier, wahrnehmen zu können. Und als sich der Dunst vor seinen Augen langsam lichtete, sah er, dass ihn zwei riesengroße blaue Augen verwundert ansahen. Das war das Erste, was er sah. Also war er nun doch im Himmel! Der LKW hatte ihn überfahren und jetzt war er tot.
Paul überlegte. Hatten Engel solche blauen Augen? Auf vielen Bildern hatte er es so gesehen. Also ja, es war ein Engel. Aber soweit er sich erinnern konnte, hatten sie keine Sommersprossen und auch keine Zahnlücken. Irgendetwas passte hier nicht.
Mit noch halb zusammengekniffenen Augen sah Paul sich weiter um und erkannte langsam, wo er war. Er lag in einem Krankenzimmer. Neben seinem Bett stand ein Nachtkästchen mit Blumen in einer Vase und mit einem Glas Wasser darauf. Das Kissen, auf dem er lag, war blutverschmiert und so ganz gemächlich kam die Erinnerung an das Geschehene wieder. Jetzt erkannte er auch wer ihn so neugierig anblickte. Es war die Nachbarstochter Susanne. Sie saß auf seinem Bett und hielt seine Hand. „Ich dachte schon, du bist tot“ lispelte die Kleine ängstlich, aber mit einer hörbaren Erleichterung, wie man sie sonst nur von Erwachsenen kannte.
Paul war einfach noch zu schwach, um zu antworten. Er knurrte nur etwas vor sich hin und schloss dann wieder seine Augen.
Sofort übermannte ihn ein tiefer Schlaf. Er träumte, er wäre jemand ganz anderes. Er saß in einem kleinen Raum in dem nur ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl standen. Auf dem Tisch waren ein Becher und ein Blechteller auf dem ein Stück Brot, etwas Wurst und Käse lagen. Paul war gerade dabei etwas Butter auf eine Scheibe Brot zu schmieren, als er das Knacken eines Schlosses und das Quietschen eines Scharniers hörte. Er drehte sich um und sah, dass sich hinter ihm tatsächlich eine dicke, eiserne Tür öffnete. Ein Mann in Uniform trat ein und sah ihn an. „Was ist los mit dir? Warum antwortest du nicht, wenn ich dich anspreche?“ fauchte der Uniformierte ihn an. „Ich habe nichts gehört“ antwortete Paul. Aber es war nicht seine eigene Stimme, die er da hörte. Sie klang irgendwie fremd und tief – männlich. „Ich habe dich gefragt, ob du etwas zu lesen willst“ meinte der Mann ein klein wenig freundlicher. Und plötzlich wurde es Paul schlagartig klar. Er träumte er wäre im Gefängnis. Aber wie war er hier reingekommen? Was hatte er angestellt? Und irgendwie fühlte es sich auch ganz anders an als in seinen bisherigen Träumen. Alles war auf einmal ganz real für ihn. Er fühlte den harten Stuhl unter seinem Hintern, sogar der beißende Geruch von Schweiß und Urin war abstoßend echt. Doch noch bevor Paul weiter darüber nachdenken konnte, ob ihm in diesem Traum von all den Eindrücken übel werden würde, kam ein dunkler Schleier über ihn und er erwachte wieder aus diesem schrägen Traum. Und wieder war das Erste, was er sah Susanne, die nun neben ihm auf seinem Bett lag und schlief. Er sah sich weiter in dem Zimmer um und erblickte seinen Vater, der auf einem Stuhl in der Ecke saß und aus dem Fenster stierte.
„Papa“ rief Paul leise. Schließlich wollte er nicht das Risiko eingehen, dass Susanne aufwachen und ihn gleich wieder zulabern würde. Paul sah, dass sein Vater wie in Trance reagierte und ihm seinen Kopf langsam zudrehte. Paul zuckte zusammen. Sein Vater musste geweint haben. Jedenfalls hatte er ganz rote, feuchte Augen. So hatte er ihn noch nie gesehen. „Paul“ schluchzte er. „Ach mein Paul. Ich dachte schon nun habe ich dich auch noch verloren. Was machst du denn immer für Sachen?“ „Das waren wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen, Papa. Ich kann mich kaum erinnern.“
Das Gehämmer in dieser blöden Röhre nervte ihn. Also stellte sich Paul einfach vor, dass er Gast auf einem Techno-Konzert wäre. Auch wenn er mit seinen 13 Jahren noch nie auf einem solchen Event gewesen war, so stellte er es sich in seiner Fantasie wenigstens so vor. Abwechselnde Beats, vom sonoren Klopfen bis zu einem schrillen Hämmern, das sich direkt in die Zahnwurzeln bohrt. Etwa eine viertel Stunde lag er nun schon in dem Kernspintomographen und seit dieser Zeit wurde er durchgehend mit nervendem Getöse beschallt. Was das bringen sollte, wusste er zwar nicht, aber wenn es gegen seine Kopfschmerzen helfen konnte, dann wäre es den Aufwand auch wert. Endlich ertönte eine sanfte Stimme aus dem Lautsprecher in der Maschine, dass die Untersuchung fertig sei. Langsam fuhr der Schlitten des Gerätes wieder heraus und die Tür zum Kontrollraum öffnete sich. Die nette Radiologie- Assistentin kam zu Paul und half ihm auf die Beine. „Der Arzt wird gleich mit dir und deinem Vater sprechen. Bitte bleibt so lange noch im Wartezimmer sitzen.“
„Organisch können wir nichts finden, aber es könnte durchaus noch andere Gründe für die ständigen Schmerzen von Paul geben“ meinte der Arzt zu Pauls Vater, wobei er sprach, als ob Paul gar nicht anwesend wäre. Und das, wo er die Bilder nicht mal wirklich angesehen hatte. Anscheinend sind Ärzte heute so gut ausgebildet, dass sie so etwas Banales wie Kopfschmerzen sofort erkennen können. So als wäre auf den kryptischen Bildern so etwas wie ein großer roter Punkt zu sehen. Paul spürte, wie sein Vater ganz langsam alle Muskeln anspannte. Hatte er genau den gleichen Gedanken wie Paul? Und dann donnerte er auch schon los: „Vielleicht könnten Sie sich etwas mehr Zeit nehmen und die Bilder auch mal richtig ansehen. Glauben Sie vielleicht, dass mein Sohn sich diese Schmerzen nur einbildet? Haben Sie miterlebt, wie er sich vor Schmerzen krümmt, bis er fast bewusstlos wird und nicht mehr ansprechbar ist?“ Der Arzt sah über die Gläser seiner Brille Pauls Vater an, lächelte kurz, dieses Lächeln erinnerte Paul an einen Film, in dem es um die spanische Inquisition ging, und meinte dann ganz ruhig „Herr Schwarz, Sie müssen mir nicht sagen, wie ich meine Arbeit zu tun habe. Ihrem Sohn geht es organisch gut. Das bedeutet, dass es keinen Hinweis auf Tumoren oder entzündliche Prozesse in seinem Kopf gibt. Vielleicht sollten sie sich psychologische Hilfe holen. Sind Sie nicht alleinerziehender Vater?“
Wortlos stand Hannes Schwarz auf, nahm Paul bei der Hand und machte sich auf das Sprechzimmer zu verlassen. Doch beim Hinausgehen drehte er sich noch einmal um, sah den Arzt kurz an und fragte ihn „Haben Sie Kinder?“ „Ja.“ kam die Antwort „Dann wünsche ich Ihnen und Ihren Kindern, dass sie nie Hilfe von einem Menschen wie Ihnen benötigen. Ihren Beruf sollte man mit Würde und Anstand ausführen. Sie hingegen sind eine echte Schande für ihre Kollegen.“ Mit diesen Worten verließ er, Paul an der Hand, das Sprechzimmer. Beim Verlassen schlug er die Türe zu und sie durchschritten, ohne nach links oder rechts zu sehen, den Rest der Praxis. „Sie müssen noch ihren Arztbrief mitnehmen“ rief eine Helferin hinterher. So aufgebracht hatte Paul seinen Vater noch nie gesehen. Kaum waren sie in den grünen Opel Astra Combi eingestiegen, den Herr Schwarz auch beruflich nutzte und der deshalb immer etwas nach Öl roch, fragte er seinen Vater „Papa, ist es denn nicht gut, wenn mir nichts fehlt? Vielleicht bin ich wirklich nicht ganz normal?!“ Sein Vater, der gerade dabei war loszufahren, trat auf die Bremse, dass es die Beiden in die Sicherheitsgurte drückte. „Paul, du bist auch nicht normal, Du bist super!“ Dabei sah er Paul ernst an und sprach mit einer Stimme wie ein Pfarrer in einem Beichtstuhl. Die beiden sahen sich einen kurzen Moment an und dann fingen sie an zu lachen, wie schon seit Wochen nicht mehr. „Ich bin so müde“, meinte Paul, „ich werde ein wenig schlafen“. Pauls Vater nickte und fuhr los. Die Fahrt würde sicher etwas dauern, so dass es sich auch lohnte etwas zu schlafen.
„Irgendwann werde ich mich bei dem Arzt rächen“ grinste Paul seinen Vater an. Doch der war gerade zu beschäftigt mit dem Straßenverkehr, dass er nicht antwortete. Also machte Paul die Augen zu.
Ganz langsam, wie ein Nebel, der vom Wind weggeblasen wird, wurden Pauls Gefühle wieder realer. Vor wenigen Sekunden fühlte er sich noch wie in Watte gepackt. Alles war irgendwie gedämpft. Die Dunkelheit um ihn herum schien langsam wieder dem Tag zu weichen und auch sein Geruchs- und Gefühlssinn nahmen wieder ihre Arbeit auf. Und obwohl er, so fühlte er sich jetzt zumindest, wieder wach wurde, kannte er sich nicht aus. Er war wieder in der Arztpraxis, die er gerade mit seinem Vater verlassen hatte, nur saß er jetzt auf dem Stuhl des Radiologen, der sie gerade so arrogant behandelt hatte. Ihm gegenüber saß eine Frau, die ihn nur mit erschrockenen, weit aufgerissenen Augen ansah und wie aus weiter Ferne hörte Paul sie rufen „Herr Doktor, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich Hilfe holen?“ Paul schüttelte sich. Was war denn das jetzt wieder für ein schräger Traum? War es möglich, dass man es bewusst merkte, wenn man träumte und somit das Geschehen beeinflussen konnte? Aber der Gedanke gefiel Paul. Sich auf den Stuhl eines anderen setzen, wollte das nicht jeder einmal ausprobieren? Aber irgendwie war Alles um ihn herum seltsam fassbar. Er hatte einmal gehört, dass, wenn man nicht wusste, ob man träume oder nicht, man sich einfach zwicken musste. Im Traum sollte man angeblich keine Schmerzen spüren können. Also zwickte sich Paul in den Arm. „Autsch“, hörte er eine tiefe Stimme, die ganz offensichtlich aus seinem Mund kam, aber nicht von ihm sein konnte. Das musste ein ziemlich bizarrer Traum sein. Die Dame, die ihn immer noch besorgt ansah, fächerte ihm mittlerweile Luft mit einem Röntgenbild zu. „Soll ich Hilfe holen?“ wiederholte sie sich. „Nein, es ist alles in Ordnung“ meinte Paul und war wieder über die unbekannte Stimme, die dies zu sagen schien, erschrocken. Es musste ein Traum sein, aber ein ziemlich durchgeknallter! Vielleicht hatte der Arzt ja auch Recht und Paul war nicht normal. Vielleicht hatte er deshalb auch diese seltsamen Träume. Naja, dann konnte er das Ganze ja auch genießen und seinen Traum so gestalten wie er das wollte. In seine eigene Welt eintauchen und das normale Leben hinter sich lassen. „Gute Frau“ sagte er. „Wo waren wir stehen geblieben?“ „Wir sprachen gerade über meine Bewerbung“ lächelte die Frau ihn an. Dabei grinste sie mit einem breiten Lächeln und blinzelte Paul, also dem Arzt, zu.
Der Traum gefiel Paul. Immerhin befand er sich schon in der Pubertät und er fand Mädchen nicht mehr nur blöde, sondern durchaus auch interessant. Auch wenn er das nie zugeben würde. Aber im Traum war ja alles erlaubt. Aus verschiedenen Fernsehfilmen wusste Paul, dass es sich in seinem Traum jetzt wohl um ein Bewerbungs-gespräch handelte. Er hatte einmal heimlich, als sein Vater wieder einmal im Esszimmer eingeschlafen war und er verstohlen alle Programme nach etwas spannendem durchgezappt hatte, einen kurzen Ausschnitt aus einem Erotikfilm gesehen, in dem sich eine Frau als Sekretären beworben hatte. Und von seinem Vater wusste er, dass man in Träumen das Erlebte des Tages noch einmal verarbeitet. Also kreuzte sich jetzt der Arztbesuch mit dem Erotikfilm. „Coole Sache“ grinste Paul. „Bitte?“ meinte die junge Frau. „Dann stehen Sie doch mal auf und lassen sich ansehen, junge Frau“ Die Frau machte, was Paul von ihr verlangte, und stellte sich etwas unbeholfen hin. Paul war etwas verwirrt, da sie bestimmt schon Mitte Zwanzig war und an sich als Freundin nie in Frage kommen würde. Aber trotzdem gefiel sie ihm, wie sie mit ihren schwarzen Haaren und den blauen Augen vor ihm stand. Sie hatte ein hübsches Sommerkleid mit einem Blumenmuster und hochhackige Schuhe an. Für so etwas hatte er sich bis jetzt noch nie interessiert,
aber jetzt fand er es sehr spannend. Paul kam sich auf einmal ziemlich alt und erwachsen vor. Auch die junge Frau schien sichtlich irritiert. Aber es war ja schließlich sein Traum und der machte ihm jetzt auch langsam Spaß. Es war wohl gar nicht so schlecht Arzt zu werden. „Haben sie meine Zeugnisse gesehen?“ fragte die junge Frau. „Ja klar“ lachte Paul. „Nur in Mathe könnten Sie etwas besser sein.“ „In Mathe? Ich meinte meine Approbation und meine Prüfungsergebnisse der Ärzteprüfung.“ „Jaja, natürlich, da ist ja nur das Betragen nicht ganz so gut gewesen. Sie sind wohl ein böses Mädchen“ flachste Paul sie an. „Ich verstehe nicht ganz“ meinte die Frau und drehte dabei den Kopf fragend zur Seite. Doch Paul gefiel seine Rolle und so machte er weiter. Schließlich sollte es ja wie in diesem Film enden. „Na dann zeigen Sie mir doch mal, was Sie drunter anhaben“ befahl er ihr und versuchte dabei cool zu wirken. „Bitte? Ich soll was?“ „Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt, Sie sollen sich etwas ausziehen, schließlich wollen wir doch beide, dass sie den Job bekommen.“ Und gerade, als es spannend wurde, spürte Paul wieder dieses seltsame Gefühl. Und dann kam auch wieder die Dunkelheit über ihn. Er spürte, wie seine Ohren zu summen begannen und plötzlich fühlte es sich an, als ob er in einen Strudel gesogen würde. Alles drehte sich um ihn herum. Er sah nur noch, wie die junge Frau wild gestikulierend auf ihn zukam und dann war der Traum auch schon zu Ende.
Paul ging zu der Zeit in die 7. Klasse des Erasmus-Grasser-Gymnasiums in München. Das bedeutete für ihn jeden Tag um 6 Uhr aufstehen, damit er rechtzeitig um 8 Uhr in der Schule ankam. Und obwohl sein Vater erst später aufstehen musste, saß er jeden Tag bei ihm am Frühstückstisch. Auch wenn sie nur wenig oder gar nichts redeten, war es ein Ritual, das für beide außerordentlich wichtig war. So saß keiner ganz alleine beim Frühstück und der Tag begann gemeinsam. Es war nur ein kleines Stück im großen Puzzle der Beziehung zwischen Vater und Sohn, doch jedes dieser Teilchen trug dazu bei, dass Paul eine großartige Kindheit in einer wohligen Atmosphäre erleben durfte. Auch wenn er immer wieder an seine Mutter denken musste, an die er sich kaum erinnern konnte. Gerne nahm er sich dann eines der Fotoalben, die sein Vater nach dem Tod der Mutter angelegt hatte und blätterte darin. Dann fühlte er sich, als ob die Familie wieder ganz komplett war. Seine Eltern hätten noch ein zweites Kind haben wollen. Doch dies war ihnen leider nicht mehr vergönnt gewesen.
Und wieder klingelte der alte Blechwecker, der auf dem Nachtkästchen stand, um Punkt 6 Uhr. Paul hatte schlecht geschlafen und die letzten Minuten, die sich endlos hinzogen, wartete er schon auf das schrille Weckgeräusch. Die ganze Nacht hatte er sich hin und her gewälzt und keinen richtigen Schlaf finden können. Völlig gerädert schleppte er sich ins Bad, unterzog sich einer kurzen Katzenwäsche, schließlich hatte er vor zwei Tagen erst geduscht, und zog sich an. Sein Vater wartete auch diesmal im Esszimmer, vor einer aufgeschlagenen Zeitung, mit einer Tasse Zitronentee und einem Toast mit Honig. Sie wechselten ein paar Worte über Pauls Kopfweh. Doch das war seit der Untersuchung im Kernspin, vor gut einer Woche, ruhig geblieben. Solche Phasen kannte Paul aber schon. Es schien immer, als ob der Schmerz sich nur zurückgezogen hatte, um neue Kraft zu tanken und dann, mit neuer Energie und Schwung, aus tiefen Startlöchern in Pauls Kopf zu rasen. Meist waren die Schmerzen nach einer ruhigen Phase noch schlimmer. Deshalb konnte Paul sich auch schon lange nicht mehr über die schmerzfreien Intervalle freuen, sondern wartete nur auf eine neue quälende Zeit der Schmerzen.
Pauls Vater brachte den Jungen, wie jeden Tag, mit dem Auto zum Bahnhof. Seit er auf das Gymnasium wechselte, gab es keinen Tag, an dem Herr Schwarz ihn nicht gefahren hätte.
Am Bahnhof warteten schon, wie jeden Tag, seine Kumpels, die zum größten Teil mit in seine Klasse gingen. Und wie jeden Tag vollzogen sie das übliche Begrüßungszeremoniell. Jeder seiner Clique, die aus insgesamt 5 Personen bestand, wurde mit Handschlag und einer Kopfnuss begrüßt. Wie dieses Ritual entstand und warum sie damit nicht aufhörten, wusste schon lange keiner mehr. Doch seit der 5. Klasse erhielt es Einzug und da sie sich damit von den anderen abgrenzten hielt es sich hartnäckig.
Dann kam auch schon die S-Bahn in den kleinen Provinzbahnhof eingefahren und alle Kinder und die Leute, die von dem lauten Geschrei der Kinder genervt auch die Bahn nutzen mussten, um in die Arbeit zu kommen, strömten in den Zug. Wie üblich drängten die Pubertierenden sich frech vor und bekamen so meist noch einen der begehrten Sitzplätze. So saßen sie zu sechst in einem Viererabteil und sprachen über die Hausaufgaben. Paul sah aus dem Fenster und die Landschaft flog an ihm vorbei, als er plötzlich wieder dieses nervende Surren in den Ohren bemerkte. Um ihn herum schien auf einmal die Welt zu versinken und es wurde immer dunkler, bis tiefe Nacht in seinem Kopf einzog. Als er vorsichtig versuchte die Augen zu öffnete war er, so schien es ihm, wieder in einem seiner irren Träume. Er sah an sich hinab, um zu erkennen, wer oder was er diesmal sein mochte. Er hatte eine Uniform an, war aber kein Polizist und auch kein Soldat. Es war irgendetwas anderes. Dann blickte er sich um und bemerkte, dass er immer noch in der S-Bahn war. Aber er saß nicht mehr. Er stand inmitten des Ganges und hatte einen seltsamen Apparat in der Hand. Viele Augenpaare starrten ihn abwartend an und hielten ihm Fahrkarten entgegen. Ein junges Mädchen, das etwa genauso alt war wie er selbst, saß mit einen knallroten Kopf und Tränen in den Augen vor ihm. Langsam wurden auch die Geräusche um ihn herum wieder deutlicher und er hörte, wie das Mädchen mit weinerlicher Stimme erklärte: „Ich habe meine Fahrkarte nur zu Hause vergessen. Aber ich versichere Ihnen, ich habe wirklich eine. Bitte glauben Sie mir doch.“ Paul sah das Mädchen und sofort wurde ihm klar um was es in diesem Traum ging. Er war ein Kartenkontrolleur in der S-Bahn. Er sah das Mädchen an und hörte wieder eine fremde Stimme, die die Worte in seinem Kopf wiedergab: „Kein Problem – heute ist jede Fahrt frei. Ist ein Service der Bahn.“ Dabei grinste er breit und sah in die verdutzen Gesichter der Fahrgäste, die ihn ansahen, als ob die Regierung gerade erklärt hätte, die Steuern würden abgeschafft. Grinsend, unter lautem Gejohle der jugendlichen Fahrgäste, die diesen Service klasse fanden, marschierte er weiter durch den Gang und rief laut „Heute keine Fahrkartenkontrolle – Heute ist jede Fahrt eine Freifahrt.“ Bis er auf einmal mitten im Satz abbrach und mit offenem Mund stehenblieb. Er stand vor einem Viererabteil, in dem sechs Schüler saßen. Einer davon schien tief und fest zu schlafen, obwohl er die Augen offen hatte. Die Augen waren aber seltsam leer und wirkten fast wie tot. Es waren seine eigenen Augen.
Hey Paul, aufwachen, wir müssen aussteigen“ dröhnte Finleys Stimme in Pauls Ohren. Immer noch benommen von dem wirren Traum ließ er sich von seinem Kumpel, der neben ihm saß, aus dem Zug ziehen. Wie eine Kuh, die man zur Schlachtbank führt, zog Fin an Pauls Jacke, um ihn schließlich durch die Menschenmenge ins Bahnhofsgebäude zu führen. „Was ist denn mit dir los, hast du wieder diese Kopfschmerzen?“ wollte Finley wissen. Paul sah seinen Freund nur mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. „Ich glaube ich werde langsam irre, Fin. Ich habe so seltsame Träume.“ „Die hab ich auch oft“ meinte Finley nur trocken zu Paul. „Mein Vater meint, das sei in unserem Alter ganz normal. Hängt wohl mit der Pubertät und den Hormonen zusammen.“
Als sie nach etwa 10 Minuten das Klassenzimmer erreichten, kam Paul wieder langsam zu sich. Auch wenn er versuchte den Traum aus dem Zug zu verdrängen, wollten die Bilder nicht aus seinem Kopf verschwinden. Immer wieder sah er seine eigenen Augen vor sich, die ausdruckslos und leer durch ihn hindurchsahen. Doch dann wurden seine Gedanken jäh unterbrochen – Frau Neumann, sein schlimmster Albtraum, betrat das Klassenzimmer. Sie war seit 2 Jahren seine Englischlehrerin und Paul hatte schon Tage zuvor Magenschmerzen, wenn er wusste, dass er auf sie traf. Frau Neumann war etwa Mitte 40, hatte halblange, braune Haare und einen Hüftschaden. Paul wäre es gar nicht aufgefallen und den meisten anderen Schülern war das sicher auch völlig egal. Doch Frau Neumann ließ keine Möglichkeit aus, um Schüler dafür zu bestrafen, dass sie sich über den Makel, wie sie es selbst nannte, lustig machten. Paul machte den Fehler sie danach zu fragen, ob sie sich verletzt hätte und ob er ihr helfen könnte. Dabei meinte er es genauso wie er es gesagt hatte. Von seinem Vater hatte er gelernt, dass man, wenn jemand offensichtlich in Schwierigkeiten steckte, helfen muss. Frau Neumann sah das anders – seit diesem Zeitpunkt war Paul ein rotes Tuch für sie.
Pauls Glück war es nur, dass er ein außergewöhnlich begabter Schüler war. Um gute Noten zu bekommen, musste er nicht viel tun. Das meiste fiel ihm einfach so in den Schoß. Viele beneideten ihn darum, aber da Paul eher bescheiden war, was seine Noten anging, verflog auch der Neid, der bei einigen anfangs aufkam, sehr schnell wieder. Jedenfalls konnte Frau Neumann ihre Drohung, dass sie Paul durchfallen lassen würde, nicht durchsetzen. Doch das stachelte die Lehrerin umso mehr an Paul das Leben schwer zu machen. Sobald sie bemerkte, dass Paul wieder von Kopfschmerzen geplagt wurde und abwesend war, fragte sie ihn aus. Kam er eine Minute zu spät in die Klasse bekam er sofort eine Strafarbeit, die ihn dann meist für den Rest des Tages beschäftigte. Pauls Vater versuchte mit der Lehrerin zu reden – leider ohne Erfolg.
Pauls Magen verkrampfte sich. Dieser Tag würde sicher nicht unter den „schönsten in seinem Leben“ verbucht werden. Und wie bestellt merkte Paul, dass sich ein neuer Schub Kopfschmerzen, wie ein rollender Güterzug, unaufhaltsam hinter seine Stirn schob. Sicher würde es Frau Neumann sofort merken und ihn nach Vokabeln abfragen. Doch das war Paul jetzt im Moment egal. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an seine Kopfschmerzen und die schreckliche Frau Neumann, die er sich jetzt am liebsten auf den Mond wünschen würde. Und dann geschah es – Paul übermannte eine tiefschwarze Ohnmacht wie er es noch nie erlebt hatte. Erst schoss ihm der Schmerz mit einem hellen Blitz in die Schläfen und dann hörte er seinen Puls dröhnend in seinen Ohren rauschen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass jemand alle Lichter um ihn herum ausgeschaltet hätte und eine Eiseskälte seinen Körper in einen gefrorenen Panzer zwang. Und dann zog es ihn wieder in diesen Strudel aus Licht und Schatten. Begleitet von einem sonoren Summen, das sich mit der Geschwindigkeit in dem entstehenden Tunnel, in den es ihn riss, steigerte. Paul verlor jegliches Verhältnis zu Raum und Zeit. Bis er langsam wieder ins Leben zurückfand und sein Bewusstsein ein helles Licht hinter einem dichten Schleier aus Nebel sah. Er versuchte sich diesem Licht zu nähern und wie ein Schwimmer, der seine Rettung aus hoher See bei einem Leuchtturm sucht, fand er zu dem Licht. Und als er langsam seine Augen öffnete und erwartete, dass ihm die Kopfschmerzen gleich wieder das Bewusstsein rauben würden, stellte er erstaunt fest, dass er keinerlei Schmerz spürte. Zumindest nicht im Kopf. Er spürte einen unterschwelligen, dumpfen Schmerz in seiner Hüfte. Reflexartig fasste er sich ans Bein, um nach der Ursache zu forschen, als er erschrocken feststellen musste, dass er nicht, wie kurz zuvor noch, eine Jeans anhatte. Er fühlte ein Stück Stoff an seinem Oberschenkel, dass da so nicht hingehörte. Also tastete er weiter nach unten und bemerkte, dass kurz oberhalb von seinem Knie der Stoff endete. Er hatte einen Rock an. Was zur Hölle war denn nun schon wieder mit ihm los? Träumte er schon wieder? Sollte Frau Neumann ihm ruhig eine Sechs geben. Aber aus diesem Albtraum wollte er unbedingt wieder fliehen. Doch anstatt den Traum zu beenden, wurde dieser immer realer. Er sah sich vor seiner eigenen Klasse stehen. Seine Mitschüler nahmen wenig Notiz von ihm, da sie mit Reden beschäftigt waren. Paul stand neben dem Waschbecken im Klassenzimmer und sah geschockt in den darüber hängenden Spiegel.
Er war Frau Neumann! Das konnte doch nicht sein? Warum spann sich sein Hirn solche Träume zusammen? Er kniff sich kurz in die Nase und tatsächlich – er war seine eigene Lehrerin. Verwirrt ging er auf Finley zu, und fragte ihn: „Wer bin ich?“ „ Äh, Frau Neumann? Unsere Englischlehrerin?“ kam es von Pauls Freund zurück. Paul sah auf den Platz neben Finley. Und da sah er, wie zuvor in der S-Bahn, sich selbst schlafend liegen. Wieder mit diesen offenen, kalten Augen. Paul bekam weiche Knie. Langsam merkte er, wie ihm schlecht wurde und er versuchte sich nach hinten abzustützen, um nicht umzufallen. Er konnte sich gerade noch an einer Bank festhalten, warf dabei allerdings ungeschickt sämtliche Sachen, die darauf lagen, auf den Boden. Er taumelte und fiel auf den Po. Schlagartig wurden auch seine Schmerzen in der Hüfte stärker. So musste sich also Frau Neumann fühlen, wenn ihre Hüfte Probleme machte. Paul hatte erwartet, dass die ganze Klasse in ein lautes Gelächter einstimmen würde, doch das Gegenteil war der Fall. Es wurde auf einen Schlag so still, dass man keinen Laut mehr hörte. Langsam fand Paul wieder seine Fassung und stand auf. Er schüttelte sich kurz und schaute dann in die Klasse. Jetzt wiederholte er seine Frage von vorher. Diesmal aber an alle seine Mitschüler. „Wer bin ich?“ und dann fügte er noch hinzu „Verdammt nochmal was ist das hier nur für ein verschissener Albtraum?“ Keiner in der Klasse gab ihm Antwort. Also versuchte es Paul anders. „Wo waren wir in der letzten Stunde stehengeblieben?“ Er versuchte die Frage genauso zu stellen, wie es Frau Neumann zu Beginn jeder Stunde tat. Dabei deutete er auf Karin, eine Mitschülerin von Paul, die immer sofort, schon bevor eine Frage gestellt wurde, die Finger hob. „Wir hatten mit der Übersetzung von Huckleberry Finn begonnen.“ „Dann machen wir heute mal etwas ganz anderes“, meinte Paul mit einem diebischen Grinsen. „Was haltet Ihr davon, wenn wir uns MTV ansehen, und ihr erzählt mir dann hinterher, über was die Lieder handeln?“ Er nahm die Fernbedienung und schaltete den Klassen-Fernseher ein. Dann zappte er durch die Kanäle, bis er auf dem Musiksender ankam und den Ton laut aufdrehte. „Ihr merkt euch jetzt die Lieder und die Texte und ich geh so lange raus, damit ihr in Ruhe arbeiten könnt.“ Paul blickte in eine Herde von Schafen, die nur das Mähen verlernt hatte. Mit großen ungläubigen Augen sahen seine Mitschüler ihn an. Keiner sagte nur ein Wort. Dann verließ er das Klassenzimmer, ging in den Schulhof und setzte sich auf eine Bank. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz darauf wieder Paul zu sein. Er wollte diesen Traum nun endlich verlassen und wach werden. Je fester er diesen Gedanken zu fassen, bekam umso mehr merkte er, dass er aus Frau Neumann wieder verschwand. Wie zuvor zog es ihn zurück in den Strudel, bis er schließlich die harte Schulbank unter seiner rechten Wange spürte. Er öffnete die Augen und schloss diese aber sofort wieder. Was er sah, war noch schlimmer als sein Traum von eben.
Er sah einen Teil seiner Mitschüler, wie sie in den Fernseher starrten und dabei versuchten irgendwelche Texte mitzuschreiben. Der andere Teil redete lautstark. Dabei ging es um Frau Neumann, die offensichtlich den Verstand verloren haben musste. Paul sah zu Finley „Fin, was ist hier los?“ „Du hast ja mal wieder alles verpennt, Paul. Frau Neumann hat sich zuerst auf den Arsch gesetzt und dann ist sie völlig durchgedreht und lässt uns MTV schauen“. Paul wurde schlecht.
Paul stand, frisch geduscht und rasiert, vor dem Badspiegel, stütze sich am Marmorwaschbecken seines Bades ab und musterte sich. Dass er gut aussah, wusste er. Die strahlenden grünen Augen und die dazu im Kontrast stehenden dunklen Haare machten es ihm leicht bei Frauen zu landen. Langsam fuhr er sich mit den Fingern durch die struppig gestylten Haare und schüttelte den Kopf. Susanne lag noch im Bett und schlief. Seit er denken konnte kannte er Susanne. Mit ihren 22 Jahren war sie zwar 5 Jahre jünger als er selbst, aber immer schon war sie diejenige, die vernünftiger war und ihn stets auf den Boden zurückbrachte. Seit ihrer Kindheit war sie immer an seiner Seite. Als sich seine Freunde von ihm abwendeten und er überall als Freak beschimpft wurde, ließ sie ihn nicht im Stich. Sie war immer seine beste Freundin, sein Kumpel, sein Vertrauter. Susanne war die Konstante in seinem Leben. Auch wenn sein Vater immer versucht, hatte für ihn dazu sein, so war ihm Susanne doch näher. Allerdings, wie es im Leben oft so läuft, hatten sie sich irgendwann aus den Augen verloren. Das begann, als Paul anfing sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Da war die kleine Susanne zwar noch die nette Nachbarstochter, aber wenn er den Mädchen in seinem Alter gefallen wollte, dann konnte er sich nicht mehr mit der Kleinen abgeben. Aber Susanne war hartnäckig. Immer wieder stand sie vor der Wohnungstür der Familie Schwarz, legte den Kopf zur Seite, blinzelte Paul mit ihren strahlend blauen Augen an und fragte, ob er nicht mit ihr spielen wolle. Paul sah sich dann meist erst um, um sich zu vergewissern, dass ihn auch wirklich niemand sah. Und oft ließ er sich erweichen und spielte mit Susanne Lego oder Monopoly. Doch ganz langsam verlor auch Susanne das Interesse an diesen Spielen und auch an Paul.
Paul hatte einige Freundinnen und machte so langsam seine ersten Erfahrungen. Während dieser Zeit lernte er mit seiner Gabe umzugehen und sie zu steuern. So langsam fand er Spaß daran, sich in, wie er es nannte, andere Köpfe einzuloggen. Das Ereignis mit seiner Lehrerin, Frau Neumann, zeigte ihm zu was er imstande war. Doch welche Macht er auf einmal hatte, mit der er sogar das Schicksal anderer Menschen beeinflussen konnte, wurde ihm erst nach dem Arztbesuch richtig bewusst.
Es war etwa eine Woche nach der Kernspinuntersuchung. Wie so oft saß Paul mit seinem Vater beim Frühstück. Während Paul an seinem Toast knabberte, verschaffte sich sein Vater einen kurzen Überblick in der Tageszeitung. Und wenn jemand eine Zeitung liest und man ihm gegenübersitzt, so muss man, ob man will oder nicht, automatisch mitlesen. So ging es auch Paul. Gedankenverloren las er in der aufgeschlagenen Seite, bis sein Blick bei einer Schlagzeile hängen blieb: „Arzt wegen sexueller Nötigung angezeigt“. Paul stutzte – dann las er weiter: „Wegen sexueller Nötigung ist ein bekannter Radiologe aus München von der Tochter des Star-Anwaltes Heiner Hold, angezeigt worden. Bei einem Vorstellungsgespräch in den Praxisräumen des Dr. W. wollte er eine Anstellung der jungen Ärztin davon abhängig machen, wie freizügig sie sei. Dabei habe er ihr eindeutige Anweisungen gegeben, was sie zu machen habe. Unter anderem sollte sie ihm zeigen, welche Unterwäsche sie trägt. Die Polizei hat nun die Ermittlungen aufgenommen“. Paul wurde es schlagartig übel.
Er konnte also in den Kopf von anderen Menschen einsteigen und den Körper übernehmen. Das war es also, warum er diese Kopfschmerzen und die irren Träume hatte. Er musste also nur noch lernen damit umzugehen. Er versuchte zwar mit seinem Vater und ein paar Freunden darüber zu reden, doch keiner wollte ihm glauben. Die meistens grinsten ihn dann nur mitleidig an und klopften ihm auf die Schulter. Sie dachten, dass er da irgendwie einen coolen Hypnose-Trick erlernt hatte. Vielleicht hatten sie auch einfach nur Angst vor ihm. Paul bekam es nie heraus. Jedenfalls sprach er nicht mehr darüber und versuchte alles in den Griff zu bekommen. Doch je mehr er sich gegen sein Talent sträubte, umso öfter kamen die Kopfschmerzen. Und die gingen dann meist darin über, dass er in irgendwelchen Köpfen landete. Manchmal machte es ihm dann Spaß als Fremder Dinge zu erleben, die ihm sonst verwehrt geblieben wären. So konnte er Kino-Filme sehen, ohne sich eine Karte kaufen zu müssen. Eintritt brauchte er von da ab nicht mehr zu bezahlen. Auch gab es für ihn keine Altersbeschränkungen mehr. Anfangs landete er auch in Personen, zu denen er keinerlei Verbindung hatte. Es geschah einfach. Mit der Zeit aber lernte er es zu steuern. Und wenn er sich nur genug konzentrierte, dann hatte er dabei auch keine Schmerzen mehr.
Eines Tages, Paul stand kurz vor dem Abschluss an der Universität, war Paul mit ein paar Freunden in einer In-Disco mitten in München. Sie waren dort Stammkunden und feierten immer lange und ausgiebig an der Bar und auf der Tanzfläche. Paul war gerade damit beschäftigt eine hübsche Blondine auf einen Drink einzuladen, als er Susanne sah. Sie tanzte ausgelassen mit einer Freundin und schien dabei rund um sich herum alles zu vergessen. Paul konnte seine Augen nicht mehr von Ihr lassen. Beleidigt zog die blonde Schönheit mit ihrem Drink ab – Paul war nicht mehr ansprechbar und sie vergessen. Es saß auf seinem Hocker an der Bar, hielt seine Cola in der Hand und war fasziniert, was aus dem kleinen Mädchen von nebenan geworden ist. Jetzt war sie eine attraktive verführerische Frau. Sie hatte ein schwarzes, kurzes Kleid an, das sich um ihren schlanken Körper wie eine zweite Haut schmiegte. Beim Tanzen warf sie wild ihr langes rotes Haar zum Takt der Musik hin und her. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen auf der Tanzfläche war es Susanne egal, ob sie cool wirkte. Sie hatte einfach nur Spaß daran sich zur Musik zu bewegen und das sah man ihr auch an. Paul konnte nicht anderes, er musste sie ansprechen. Und obwohl sie sich schon ewig kannten und Paul auch schon tausende Male Hallo zu ihr gesagt hatte, war er jetzt irgendwie nervös. Auf einmal schien alles anders zu sein. Sein Magen krampfte sich zusammen und seine Hände wurden unangenehm feucht. Was war denn nur mit ihm los? Sonst war er immer der Coole, der alles im Griff hatte und dem die Frauen zu Füßen lagen. Und jetzt, wo er doch nur einer alten Freundin schnell Hallo sagen wollte, wurde er nervös? Paul war verwirrt und zugleich freudig erregt. Also stellte er sein Glas auf dem Tresen ab und ging langsam auf die Tanzfläche ohne Susanne dabei aus den Augen zu verlieren. Er stellte sich hinter Susanne, nickte ihrer Freundin zum Gruß zu, die Paul noch nicht kannte, und klopfte Susanne auf die Schulter. Wie in Zeitlupe drehte sie sich zu ihm um. Und da stand sie vor ihm und sah ihm für einen unendlich langen Augenblick in die Augen. In diesem Moment schien für die beiden die Welt stehen zu bleiben. Sie standen sich gegenüber und vielen sich wortlos in die Arme. Alles um sie herum schien im Nichts zu versinken. Es gab weder laute Musik noch irgendwelche Menschen. Paul spürte Susannes aufregenden Körper. Sie war nun wirklich kein Mädchen mehr. Ihre weiblichen, sanften Rundungen und der betörende Duft ihres Parfums raubten ihm fast die Sinne. Dann – nach einer weiteren Unendlichkeit, nahm Susanne ihn bei der Hand und zog ihn von der Tanzfläche nach draußen. Hier konnten sie sich wenigstens unterhalten. „Paul“ hauchte sie, „wie schön dich hier zu treffen. Gut siehst du aus.“ Paul wurde etwas verlegen, trat von einem Fuß auf den anderen und fixierte dabei den Boden. „Was machst du denn so, wir haben uns ja seit Jahren nicht mehr gesehen“ sprudelte es weiter aus Susanne, die seinen Kopf in die Hände nahm, um ihm in die Augen sehen zu können. „Ich studiere noch und wollte einfach mit ein paar Kumpels etwas abhängen“ stammelte Paul. Susanne strahlte ihn an, umarmte ihn mit einer Heftigkeit die Paul fast die Sinne raubte. Dann, Paul war völlig überfahren, sah sie ihm tief in die Augen und sagte mit fast schmollender Stimme „Ich habe dich so vermisst. Warum hast du dich nicht mehr gemeldet?“ „Ich weiß es nicht – ich wusste ja nicht…“ Paul stockte. „Was?“ grinste Susanne und legte dabei den Kopf neckisch zur Seite. „Dass du so …“ „Also Paul, du musst deine Sätze schon beenden, sonst können wir ja nie heiraten“ feixte Susanne jetzt und grinste Paul breit an. Ihr Lächeln raubte Paul fast den Verstand. Die strahlend blauen Augen, ihre Sommersprossen, alles das kannte er, seit er ein Kind war. Doch jetzt stand nicht mehr das zahnlückige Mädchen vor ihm, sondern ein Traum von Frau. Er konnte nicht anders, er nahm vorsichtig ihren Kopf in seine Hände und küsste sie sanft auf ihre samtig weichen Lippen. Susanne lächelte, strich ihm sanft durch die Haare und hauchte ihm leise „endlich“ ins Ohr. Paul nahm sie bei der Hand und meinte nur „Lass uns von hier verschwinden“. Susanne nickte wortlos.
„Wie bist du hier?“ fragte er. „Mit einem Taxi“. „Willst du mit zu mir kommen?“ hörte Paul sich sagen. Wie blöd, dachte er sich, noch plumper geht es wohl nicht. Doch auch dieses Mal nickte Susanne wieder, ohne etwas zu sagen. Paul kam es vor, als ob sie sich nie aus den Augen verloren hätten. Es gab nie einen anderen Menschen im seinen Leben, der ihm so nah war. Und zu dem Gefühl dieser tiefen Freundschaft gesellte sich jetzt eine große Menge an Testosteron, was ihn alle seine Zweifel schnell vergessen ließ. Er wollte diese tolle Frau jetzt haben, sie riechen, ihre Erregung spüren und den wundervollen Körper erkunden. „Da vorne steht mein Auto, wollen wir fahren?“ Susanne grinste jetzt nicht mehr, sie sah Paul mit einem tiefen, leidenschaftlichen Blick an und sagte mit leiser, erotischer Stimme „Ja Paul, das will ich sehr gerne“.
Pauls Wohnung war vielleicht 10 Minuten von der Disco entfernt. Doch diese kurze Zeit kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Susanne hatte es sich in dem SUV-Porsche bequem gemacht und beim Hinsetzen schob sie das kurze Kleid ein wenig nach oben, dass Paul sehen konnte, dass sie halterlose Strümpfe trug. „Nicht schlecht, die Kiste“ grinste Susanne und legte den Kopf in den Nacken. Paul konnte nichts anderes, er musste jetzt ihren Oberschenkel streicheln. Susanne rutsche noch tiefer in den ledernen Sitz und öffnete dabei leicht, fast unmerklich, ihre Beine ohne Paul dabei anzusehen. Paul schluckte. Er spürte, wie sein Hormonspiegel stieg.
„Konzentrier dich aber jetzt erst mal aufs Fahren“ gluckste Susanne, die genau wusste, wie sie auf den jungen Mann wirkte. „Für den Rest haben wir später noch viel Zeit“.
Von diesem Tag an waren Paul und Susanne ein unzertrennliches Paar. Und obwohl sie jede freie Minuten zusammen verbrachen und auch die Nächte ohne den anderen öde und leer waren, wollte Susanne nicht ganz zu Paul ziehen. „Erst, wenn du dein Leben wirklich lebst“ war dann immer ihre Antwort, wenn Paul sie wieder davon überzeugen wollte, dass eine gemeinsame Wohnung doch viel schöner und auch günstiger wäre. Er fragte dann immer, was sie damit meine. Schließlich lebe er doch schon lange sein Leben. Immerhin war er mit 18 Jahren von zu Hause ausgezogen, studierte erfolgreich und auch sonst hatte er deutlich mehr erreicht als die meisten Jungs in seinem Alter. Doch Susanne sagte dann nichts weiter und lenkte sofort vom Thema ab.
Jetzt war Paul 27 Jahre und hatte so ziemlich alles, was man sich nur wünschen konnte. Er besaß eine geräumige 5 Zimmer-Eigentumswohnungen mitten in München, in bester Lage, am Englischen Garten. In der Doppelgarage standen sein Porsche Cayenne und wenn Susanne bei ihm war dann auch ihr VW Polo. Paul wollte ihr zwar schon öfter etwas Schnittigeres kaufen, doch Susanne lehnte immer wieder ab. Inzwischen hatte Paul seinen Abschluss in Medienwissenschaften gemacht und arbeitete bei einem privaten TV-Sender als Programmchef. Susanne hatte eine kleine Mietwohnung in Schwabing, vielleicht eine viertel Stunde von Pauls Wohnung entfernt. Dort lebte sie zwar kaum noch, aber sie wollte die Wohnung nicht aufgeben solange Paul nicht sein Leben lebte. Ihre Arbeit als Arzthelferin machte ihr zwar Spaß, aber leider war der Verdienst nicht gerade berauschend. Und um in einer Stadt wie München leben zu können suchte sie sich einen Nebenjob als Verkäuferin in einem Sportgeschäft. Dort arbeitete sie dann ab und zu an Samstagen, um sich etwas mehr leisten zu können.
Jetzt stand Paul in seinem Luxusbad und irgendwie war ihm nicht wohl bei der Sache. Sollte er Susanne nicht einweihen? Wie lange wollte er dieses Spiel noch treiben und wie lange würde er es noch aushalten ein solches Doppelleben zu führen? Wieder schüttelte er den Kopf. Er konnte es ihr nicht sagen. Sicher würde Susanne ihn sofort verlassen.
Er ging aus dem Bad ins angrenzende Schlafzimmer, beugte sich über Susanne und küsste sie zärtlich auf den Mund. Susanne lächelte mit geschlossenen Augen und knarzte mit verschlafener Stimme „Musst du wirklich schon los? Lass uns doch einfach noch ein wenig kuscheln.“ Zu gerne wäre Paul dieser Aufforderung nachgekommen, doch das konnte er jetzt nicht. Schließlich hatte er einen Plan und der begann eben schon in der Früh. Also küsste er sie noch einmal und antwortete „Ich muss leider zur Arbeit. Wir haben heute viele Meetings und ich muss noch einiges vorbereiten. Bleib ruhig noch liegen. Ich hab dir schon einen Kaffee gemacht und frische Semmeln stehen auch auf dem Esstisch. Bis heute Abend“ „Schade, bis heute Abend, Schatz“ antwortete Susanne und zog dabei einen Schmollmund.
Dann setzte Paul sich in seinen Sportwagen und fuhr los. Im Gedanken ging er alles noch einmal durch. Aber warum sollte es diesmal nicht klappen? So oft hatte er schon ähnliche Coups gelandet und nie war etwas dabei passiert. Immerhin war er, seit er einmal fast erwischt worden wäre, sehr vorsichtig geworden. Lieber hatte er sein Vorhaben vorher abgebrochen, als dieses Risiko noch einmal einzugehen. Damals hatte ihn eine Überwachungskamera aufgezeichnet und die Polizei stellte ihm unangenehme Fragen. Als man ihm aber schließlich nichts nachweisen konnte, wurde er wieder freigelassen. Zu der Zeit war er gerade 17 Jahre alt und noch viel zu unreif.
Nach dem Vorfall beschloss Paul aus der Wohnung seines Vaters auszuziehen. Hannes Schwarz wurde damals sehr misstrauisch und fragte Paul immer wieder, wo er das Geld für die ganzen Sachen herhatte, die er sich als Jugendlicher schon leisten konnte. Paul wollte seinen Vater nicht immer anlügen und auch nicht in seine Machenschaften mit reinziehen. Deshalb beschloss er, ab diesem Zeitraum ein eigenes, unabhängiges Leben zu führen. Anfangs war Pauls Vater strikt gegen diesen Plan. Wie sollte Paul sich das leisten können? Eine eigene Wohnung – und das noch als Schüler. So etwas ist undenkbar. Doch Paul erklärte ihm, dass er neben der Schule arbeiten und es sich alleine verdienen würde. Schließlich, schweren Herzens, willigte Pauls Vater ein. Aber nur unter der Bedingung, dass er nicht so weit wegziehen dürfte und sich mindestens einmal pro Woche bei seinem Vater sehen lassen müsste. Paul versprach es ihm und er hielt sein Versprechen. Zumindest das erste Jahr.
Seine erste eigene Wohnung war nicht weit von der seines Vaters gelegen, das hatte er ihm schließlich versprochen. Inzwischen war Paul jedoch noch einmal umgezogen und jetzt war der Abstand zumindest so groß, dass Paul seine Vorhaben in Ruhe und ohne schlechtes Gewissen planen konnte.
Susanne schlief noch weiter als Paul sich auf den Weg machte. Er war circa eine halbe Stunde unterwegs, bis er in dem westlich von München gelegenen Ort Fürstenfeldbruck angekommen war. Hier lag sein Ziel. Seinen Wagen parkte er in einer kleinen Nebenstraße, schließlich wollte er jetzt nicht auffallen. Alles sollte sehr diskret ablaufen. Nur so war sichergestellt, dass er unentdeckt bleiben würde. Keiner sollte sich später an ihn erinnern. Paul hatte sich extra unauffällige dunkle Kleidung angezogen. Er vermied es ein auffälliges Parfum zu tragen, oder besonders gut gestylt zu wirken. Er trug eine unauffällige, getönte Brille die perfekt in jede Fielmannwerbung passen würde. Er trug einen schwarzen, dezenten Koffer bei sich. Zu Fuß ging er zielstrebig zum BMW-Händler im nahegelegenen Gewerbegebiet. Dort lag heute sein Ziel. Er ging in das Autohaus und sah sich nur kurz um. Dabei vermied er Augenkontakt zu Mitarbeitern. Niemand sollte ihn wahrnehmen oder sogar ansprechen. Den Koffer stellte er unauffällig hinter einem Werbeplakat des neuesten 7er. Dann verließ er schnell wieder das Geschäft. Etwa 50 Meter vor dem Autohaus blieb er stehen und beobachtete unauffällig wer dort ein- und ausging. Dann setzte er sich in ein Buswartehäuschen direkt an der Straße vor dem Geschäft. Vorher vergewisserte er sich am Fahrplan, dass in der nächsten halben Stunde kein Bus hier ankommen würde. Schließlich würde er sonst Gefahr laufen, dass jemand versuchen könnte den schlafenden Mann zu wecken damit er seinen Bus nicht verpasst. Er zog sich den Kragen seiner Jacke hoch und lehnte sich bequem auf der Wartebank zurück. Der Rest war für ihn mittlerweile Routine.
Paul konzentrierte sich kurz und dann sog ihn der wohlbekannte Wirbel aus seinem Körper. Einen kurzen Moment später sah er sich im Autohaus wieder. Er blickte an sich hinunter und sah zufrieden, dass er ein Kleid mit großem floralem Druck trug. Er befand sich in einem neuen Auto. Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, saß ein freundlicher junger Mann, der im Moment damit beschäftigt war, ihm die Funktionen des Autos zu erklären. Genau diesen Moment wollte er abpassen. Er entschuldigte sich bei dem Verkäufer, dass er für einen Moment ins Badezimmer müsste, aber gleich wieder kommen würde. Er stieg aus dem Wagen, ging kurz auf die Kundentoilette und blickte in den Spiegel. Dort sah er eine knapp 60 Jahre alte, gepflegte Frau, die etwas zu viel Makeup aufgetragen hatte. Ansonsten war alles recht geschmackvoll durchgestylt. Die Dame hatte sicher genug Geld zur Verfügung, um sich eine größere Limousine leisten zu können. Doch das wusste Paul bereits alles. Schließlich hatte er seine Hausaufgaben erledigt und schon im Vorfeld recherchiert. Er besuchte im Laufe der Zeit immer wieder verschiedene Geschäfte in unterschiedlichen Gegenden und suchte sich professionell und beharrlich seine neuen Opfer aus. So belauschte er vor einer Woche, wie die Dame, in deren Körper er jetzt steckte, in dem Autohaus mit einem freundlichen Verkäufer über den Kauf eines BMW X6 mit Vollausstattung sprach. Heute sollte die Übergabe des Autos sein. Die Dame wollte den Betrag in bar bezahlen. So sollte sie nochmal einen guten Preisnachlass bekommen.
Von der Bushaltestelle aus hatte Paul, bevor er sich in die Dame umloggte, genau den Zeitpunkt abgewartet, bis die Kundin dem Verkäufer eine Geldtasche übergeben hatte. Der ging mit einer Sekretärin zum Tresor und gemeinsam sperrten sie die Tasche weg. Jetzt waren also mindestens 120.000 Euro im Geldschrank. Paul, der jetzt im Körper der Kundin eingeloggt war, sah sich kurz um und checkte die Lage. Alles lief nach Plan. Er setzte sich wieder in das neue Auto der Dame und machte es sich im Sitz bequem. Sie sollte gar nicht merken, dass sie für kurze Zeit „übernommen“ wurde. Er bat den Verkäufer mit der Erklärung weiterzumachen. Dann gab Paul den Körper wieder frei, um sogleich in die Sekretärin umzusteigen. Etwas benommen fand er sich auf einem Bürodrehstuhl wieder. Eine Mitarbeiterin der Verkaufsabteilung bemerkte jedoch sofort, dass mit ihrer Kollegin etwas nicht stimmte.
Sie ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter „Ist mit dir alles in Ordnung?“ fragte sie mitfühlend. „Ja, ich habe heute nur etwas Kopfschmerzen“ antwortet Paul als Sekretärin. „Liegt wohl am Wetter“ meinte die freundliche Kollegin und ging zurück zu ihrem Arbeitsplatz.
Paul atmete tief durch. Solche Situationen hasste er. Leicht konnte er sich so verraten. Keiner würde zwar darauf kommen, dass er diesen Körper übernommen hatte, doch trotzdem war es riskant für ihn. Und schließlich musste alles ganz schnell gehen. Er hatte nur wenig Zeit, sonst würde sein Plan nicht funktionieren. Er wusste aus seinem vorhergehenden Besuch, dass der Tresor bis zum Abend nicht mehr verschlossen würde, da er nur mit zwei Schlüsseln – mit dem vom Geschäftsführer und der Sekretärin zusammen, geöffnet werden konnte. Das war im Alltag unpraktisch und so schlich es sich ein, dass er zwar zugemacht, aber nicht verschlossen wurde. Für einen Laien war dies nicht zu erkennen. Doch Paul hatte sich seit einigen Jahren genau auf dieses Gebiet spezialisiert. Fachmännisch hatte er es sofort erkannt, dass der Verschlussmechanismus nicht eingerastet war.
Er wusste genau, dass, sobald er einen Körper verlassen hatte und das Bewusstsein des ursprünglichen Besitzers wieder Einzug erhielt, der Körper sich im ersten Moment wehren und mit Kreislaufproblemen und Übelkeit reagieren würde. Natürlich bemerkte der einweisende Verkäufer, dass es der Kundin in ihrem neuen Fahrzeug nicht gut ging. Paul sah, dass die Dame benommen im Auto saß und kaum antworten konnte. Der Verkäufer rief um Hilfe und natürlich war er innerhalb kurzer Zeit von sämtlichen Mitarbeitern, die im Verkaufsraum anwesend waren, umringt. Auf diesen Moment hatte Paul gewartet. Er ging langsam und unauffällig zum Tresor, öffnete ihn und nahm die Geldtasche heraus. Er nahm sie an sich und legte sie in den bereitgestellten Koffer. Dann holte er schnell ein Glas Wasser vom nahegelegenen Wasserspender und gesellte sich zur leicht panischen Kollegschaft am X6 der Kundin. Er verließ wieder den Körper der Sekretärin, die daraufhin in sich zusammensank. Jetzt wurde die Aufregung im Autohaus noch größer. Zuerst wurde es der Kundin schlecht und nun kollabierte auch noch die Sekretärin. Paul übernahm sofort den Körper des Lagerverwalters, der hinter seinem Schalter stand und vertieft einen Prospekte wälzte. Er verließ den Schalter, nahm den Koffer an sich und marschierte langsam und bedacht aus dem Autohaus. Er ging nicht über den großen Platz vor dem Autohaus, sondern bewegte sich geschickt zwischen den geparkten Autos direkt in Richtung Bushaltestelle. Er überzeugte sich, dass ihn niemand sah, stellte den Koffer hinter dem Wartehäuschen ab und ging sofort wieder zu seinem Schalter, nahm den Prospekt, den er gelesen hatte, zur Hand und setzte sich so hin, dass es aussah, als ob er eingeschlafen wäre. Dann verließ er auch diesen Körper und landete schließlich wieder als Paul auf der Bank der Haltestelle. Sofort machte er sich auf den Weg, nahm den Koffer an sich und ging direkt, ohne Umweg zurück zu seinem Auto. Er warf den Koffer in den Kofferraum, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Paul grinste sich selbst im Rückspiegel an. Kein schlechter Schnitt, dachte er sich. In nicht einmal einer halben Stunde 120.000 Euro zu verdienen, lohnt sich doch immer wieder. Dann gab er Gas und machte sich auf den Weg zum Sender.
Er hatte noch etwas Zeit, da es im Autohaus so gut gelaufen war. Also fuhr er noch kurz in ein Café, das nicht weit von seinem Arbeitsplatz gelegen war. Er parkte seinen Porsche davor auf dem Parkplatz. Den Koffer mit dem Geld ließ er im Wagen liegen. Hier war er dank Alarmanlage und GPS-Fahrzeugortung am besten aufgehoben. Dann ging er ins Café und gönnte sich eine Latte-Macchiato und ein Mandelhörnchen. Die Verkäuferin am Tresen begrüßte ihn, wie fast jeden Morgen, überschwänglich freundlich. Sogar ein im Koma Liegender hätte bemerkt, dass die junge blonde Frau von Paul mehr als angetan war. Paul setzte sich an einen kleinen runden Tisch in einer Ecke und die Bedienung brachte ihm seine Bestellung. Sie stellte ihm den Kaffee auf den Tisch, grinste ihn mit einem breiten Lächeln an und fragte „Haben Sie heute gut geschlafen? Sie sehen so fröhlich aus.“ „Alles bestens“ war die kurze Antwort. Doch die Blondine wollte sich nicht so schnell geschlagen geben. „Arbeiten Sie hier in der Nähe?“ bohrte sie weiter. Paul merkte, dass er hier keine Chance auf Ruhe hatte, ohne ein kurzes Gespräch mit der Schönheit zu führen. Also legte er seine Zeitung, die er gerade zu lesen begonnen hatte, zu Seite und wandte sich der Bedienung zu. Zum ersten Mal, seit er in dem Café verkehrte, sah er sie bewusst an. Sie war eine hübsche Erscheinung. Strubbelige, halblange blonde Haare, eine nette Figur und lustige Sommersprossen rund um ihre Stupsnase. An sich fiel sie genau in Pauls „Beuteschema“, doch seit er mit Susanne zusammen war, hatte er sich auf kein Abenteuer mehr eingelassen. Und was das Beste war, er vermisste nichts und fühlte sich sogar gut dabei. Doch die fast schon aufdringliche Art dieser Frau weckte seinen Jagdinstinkt. Zwar hatte er kein echtes Interesse, dennoch war es für ihn schmeichelhaft, dass sich sein Marktwert anscheinend noch nicht verschlechtert hatte. „Wollen Sie sich nicht einen kurzen Moment zu mir setzen“ fragte er sie. Dabei deutete er auf den freien Stuhl neben sich. „Das darf ich leider nicht, da flippt der Chef gleich aus“ war die kleinlaute Antwort. „Sie können ja eine Bestellung aufnehmen, während wir uns ein wenig unterhalten“ schlug Paul vor. „Auf ihre Verantwortung“ lächelte sie ihn an und setzte sich neben Paul. „Ich bin die Elli“ hauchte sie und streckte Paul die Hand entgegen. Elli erzählte Paul, dass sie eigentlich Schauspielerin war und nur, solange sie keine Engagements hatte, sich ihren Lebensunterhalt als Aushilfskellnerin verdiente.
