Gefährliche Freundinnen - Cat Clarke - E-Book

Gefährliche Freundinnen E-Book

Cat Clarke

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Beschreibung

Die 17-jährige Harper ist glücklich, als sie nach dem Tod ihrer Schwester in das exklusive Mädcheninternat Duncraggan Castle aufgenommen wird und direkt Anschluss an eine nette Vierer-Clique findet. Als ein neues Mädchen ins Internat kommt, freundet sich Harper mit ihr an. Kirsty, die auch eine Schwester verlorenen hat, scheint sie mehr als jede andere zu verstehen. Aber ihr Verhalten ist auch sonderbar. Warum ist Kirstys Leben das perfekte Spiegelbild von Harpers? Als ihre Verbindung zu Kirsty die Freundschaft zu den anderen Mädchen zu bedrohen beginnt, fängt Harper schließlich an, Fragen zu stellen. Eine lebensnahe packende Geschichte über Wahrheit, Freundschaft und das Erwachsenwerden im Schatten der Trauer.

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Seitenzahl: 370

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Cat Clarke

Gefährliche Freundinnen

Roman

Aus dem Englischen von Elisabeth Müller

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253NACHWORT

Für Cate, Ciara & Caro

Keine Party ist wie eine C-Club-Party …

1

Wenn wir wieder zurück sind, veranstalten wir in der ersten Nacht immer ein Mitternachtsgelage. Weil man das im Internat eben so macht, stimmt’s?

Früher waren Jenna und ich ganz versessen auf Internatsbücher gewesen. Wir wollten unbedingt die Zwillinge von St. Clare’s sein. Fast jeden Abend bin ich zu ihr ins Bett geschlüpft, sobald Mum das Licht ausgemacht hatte, dann haben wir uns die Decke über die Köpfe gezogen und uns mit der Taschenlampe gegenseitig vorgelesen. Zwei Erbsen in einer gemütlichen Schote.

Und dann bin ich schließlich in Duncraggan Castle gelandet, wie in den Geschichten.

Aber Jenna ist nicht dabei. Ich musste alleine herkommen.

Allerdings bin ich nicht lange alleine geblieben.

 

»Hättet ihr lieber … Muffins als Hände oder Eichhörnchen als Füße?«, Rowan lehnt sich zurück und verschränkt selbstgefällig die Arme.

Lily prustet los, während Ama mit Rowans Becher anstößt.

»Also, kommt drauf an«, sagt Ama mit gespieltem Ernst. »Wachsen die Muffins nach? Kann ich mir die Sorte aussuchen? Kann ich jeden Tag eine andere Sorte nehmen? Ach so, und sind die Eichhörnchen rot oder grau?«

Rowan antwortet augenblicklich: »Sie wachsen einmal am Tag nach. Du kannst dir die Sorte aussuchen. Graue Eichhörnchen. Diese armen Viecher haben so einen schlechten Ruf.«

Lily setzt zu einem Vortrag über die Misere der roten Eichhörnchen an, aber ich lege ihr eine Hand auf den Mund, damit sie still ist.

Ich glaube, ich habe mich entschieden, aber ich habe noch eine Frage, die vorher geklärt werden muss: »Kann man die Eichhörnchen denn führen? Also mit winzigen Zügeln oder so?«

Rowan denkt einen Augenblick nach: »Ja, aber sie sind noch nicht trainiert. Das ist eine Menge Arbeit. Eichhörnchen zu trainieren, ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.«

»Dann weiß ich, was ich will! Ich entscheide mich für die Eichörnchen-Fraktion. Ama? Lil?«

Lil ist für die Muffins (vorausgesetzt sie sind mit Biomehl gebacken). Ama wählt die Eichhörnchen: »Weil man dann ÜBERALL seine Haustiere dabeihat.«

Ich frage Rowan, was sie nehmen würde. »Keine Ahnung«, sagt sie und zuckt mit den Schultern. »Das ist eine total bescheuerte Frage!« Dafür bekommt sie von mir ein Kissen an den Kopf.

»Ich habe eine!«, meldet sich Lily zu Wort. »Die ist für Ama.«

»Puh«, macht Ama. »Klingt nicht gut.«

Lily stellt sich zwischen die beiden Betten. Sie hustet, als wollte sie sich räuspern. »Ich werde erst mal die Szene beschreiben … Es ist am Abend unseres Weihnachtskonzerts. Im vollbesetzten Zuschauerraum ist es still. Das Publikum hat unter Geigengequietsche und verstimmten Oboen seine Plätze eingenommen, aber jetzt geht es los. Ama ist bereit, die Bühne zu betreten und die Anwesenden mit ihrem unvergleichlichen Klavierspiel zu blenden und zu bezaubern …«

»Ziemlich alliterationslastig, wenn du mich fragst«, flüstert Rowan, so dass alle es hören können.

»Psst!« Lily geht vor Ama auf die Knie und ergreift deren Hand. »Ama, meine liebe, allerbeste Freundin in der ganzen Welt, würdest du lieber … A, dein Klavierstück spielen, während deine Eltern auf dem Flügel Sex haben …«

Wir prusten los, so dass ich kaum hören kann, wie Ama angeekelt würgt.

»… oder würdest du lieber, B, mit einer Person deiner Wahl auf der Bühne Sex haben, während deine Mutter am Flügel sitzt?« Wenn Lily ›würdest du lieber‹ sagt, geht es immer um Sex.

Unser Gelächter wird lauter, und ich fürchte insgeheim, dass Miss Renner gleich an die Tür klopft. Aber Rowan hat letztes Jahr irgendwie herausbekommen, dass Miss Renner beim Einschlafen Kopfhörer trägt und dem Regenwald Sound lauscht. Die Maddox wäre bestimmt nicht besonders erfreut, wenn sie das wüsste.

»Du bist widerlich, Lily Carter. Widerlich und verdorben.«

»Kann schon sein, aber du bist mir trotzdem eine Antwort schuldig. Du kennst die Regeln.«

»Das kann ich nicht!«, jammert Ama, weiß aber genau, dass wir sie nicht davonkommen lassen. »Ja, okay, okay … Es ist nur … igitt!«

»Gibt es dazu noch irgendwelche Fragen, Adebayo?«, fragt Rowan mit hochgezogenen Brauen.

»Na gut, zunächst einmal bin ich ziemlich sicher, dass meine Eltern überhaupt gar nie Sex haben«, verzieht Ama das Gesicht. »Aber ich muss mich trotzdem für A entscheiden. Weil mich nichts und wieder nichts auf der Welt dazu bringen könnte, vor irgendjemandem, IRGENDJEMANDEM Sex zu haben.«

»Aber dass deine Eltern wie die Karnickel loslegen, während du Rachmaninow spielst, das wäre ganz okay für dich, oder?«, grinse ich süffisant. Ich habe den Bogen überspannt: Ama hasst Rachmaninow.

 

Unser Mitternachtsgelage bestreiten wir nicht mit ›haufenweise Ginger-Beer, sondern mit jedem Stoff, den wir einschleusen können‹. Manchmal – wenn jemand dran denkt – gibt es sogar etwas zu Essen. Heute Abend haben wir eine ganze Dose Yakgwa-Honigkekse von Rowans Mum gefuttert. Wer auch immer frittierte Kekse erfunden hat, war ein Genie, keine Frage.

Lily zieht jedes Mal eine Grimasse, wenn sie einen Schluck aus ihrer winzigen Flasche nimmt. »Ich hasse Whisky!«

»Besser als nichts!«, schmollt Ama. Sie war es nämlich, der es gelungen ist, auf dem Rückflug von Lagos zwanzig Mini-Fläschchen mitgehen zu lassen.

»Dann solltest du lernen, ihn zu mögen. Wir sind schließlich in Schottland.« Ich kann das Zeug auch nicht ausstehen, aber die Loyalität zu meiner Heimat ist stärker.

»Ich werde anfangen Whisky zu mögen, wenn Ama anfängt Haggis zu essen«, sagt Lily und grinst.

»Oh, na komm schon, Lil! Das ist nun wirklich nicht das Gleiche! Die Innereien eines Schafs sollten auch im selben bleiben, finde ich. Und ich weiß genau, dass du mir da recht gibst, kleine Miss Ich-war-schon-Vegetarierin-bevor-ich-das-Wort-aussprechen-konnte.« Ama lallt zwar noch nicht, aber ein weiteres Fläschchen, dann ist es so weit.

»Ich bin sicher, dass das Schaf der gleichen Ansicht ist wie du«, sagt Rowan und neigt sich zu Ama, um sich eine Flasche zu angeln. Sie öffnet sie und atmet den Geruch ein. »Ah, seht ihr auch das lila Heidekraut in den Tälern? Und den edlen Hirsch, der sein Revier überblickt …«

»Unmittelbar bevor er von irgendeinem idiotischen Banker erschossen wird, der glaubt, dass er nur ein echter Mann ist, wenn er wehrlose Tiere tötet.« Lilys Stimme trieft vor Verachtung, wie immer, wenn sie von ihrem Dad spricht.

»Ich wette, unsere Scharfschützin Kent könnte deinem Vater noch ein paar Kleinigkeiten beibringen. Denn sie ist verdammt treffsicher.« Dabei stupst Rowan mich mit der Schulter an.

»Tontaubenschießen ist wahrhaftig nicht dasselbe, Rowan. Und ich bin darin eher scheiße.« Obwohl, eigentlich stimmt das nicht. Ich erklimme gerade die schwindelnden Höhen von ›mittelmäßig‹, auch wenn Miss Whaite meine Fertigkeiten als ›solide‹ bezeichnen würde. Dad war entsetzt, als er herausbekam, für welche Kurse ich mich in Duncraggan eingeschrieben habe. Schießen? Wieso muss es unbedingt Schießen sein? Und Klettern? Was soll denn das? Machen die da auch was Normales? Wie … Schlagball? Er hat eigentlich recht, aber als ich herkam, habe ich mir eins geschworen: Ich wollte all das verrückte Zeug machen, was es nur im Internat gibt. Das Klettern habe ich nach ein paar Monaten aufgegeben, aber schießen tue ich immer noch einmal die Woche.

Gegen zwei Uhr früh ist der Whisky alle und Rowan fallen alle paar Minuten die Augen zu. »Komm jetzt, lass uns ins Bett gehen.« Ich ziehe sie in eine sitzende Stellung hoch. »Das wird brutal morgen.«

Wir sagen Lily und Ama gute Nacht und schleichen rüber ins Nachbarzimmer. Der Flur ist nur schwach beleuchtet – gerade ausreichend, damit man mitten in der Nacht den Weg zum Klo findet. Das grüne Leuchtschild »Notausgang« über der Tür zum Treppenhaus passt überhaupt nicht. Ich wünschte, sie bräuchten das alles hier nicht – Brandschutztüren, offizielle Schilder und Neonleuchten haben in Gemäuern wie diesem eigentlich nichts zu suchen. Im Laufe der Jahre wurden hier so viele Um- und Anbauten vorgenommen, dass das Internatsgebäude nur noch an manchen Stellen wie ein echtes Schloss aussieht. Diese Teile werden natürlich ohne Ende fotografiert, um die Webseite damit zuzupflastern. Die Teile waren es auch, die mich dazu verlockt hatten, hierherzukommen.

»Home sweet home«, rufe ich und knipse die Nachttischlampen an. Unser Zimmer ist etwas kleiner – Lily durfte sich eins aussuchen, nachdem sie voriges Jahr zur Schulsprecherin gewählt wurde. Und Rowan hat es geschafft, Hozzie und Sylvana zu einem Zimmertausch zu überreden, so dass wir in unserem letzten Jahr in Duncraggan neben Lily und Ama wohnen. Das hat sich richtig gut angefühlt. Weil wir vier eine kleine Einheit bilden, seit Rowan mich nach meiner Ankunft unter ihre Fittiche genommen hat.

An den Tag muss ich oft zurückdenken. Wie ich mich gefühlt habe, als das Auto langsam näher fuhr und knirschend auf dem Schotter vor dem Schloss zum Stehen kam. Wie Dad mir aufs Bein klopfte und sagte: »Na, das wird ein Abenteuer, was?«, und sein Gesicht eine ganz andere Sprache sprach. Wie mir alles so neu und fremd erschienen war, jedenfalls nicht wie etwas, was ein Mensch wie ich je erleben würde.

In der ersten Nacht lag ich wach und hörte den Wind am Fenster rütteln. Ich fragte mich, ob ich nicht einen Riesenfehler gemacht hatte. Ich starrte im Dunkeln zum anderen Bett hinüber, aber die Umrisse kamen mir total falsch vor.

Jenna hätte eigentlich hier sein und alles mit mir teilen sollen, so wie es immer gewesen war. Das ist so bei Zwillingen. Wir sind so.

 

Wir haben alle unsere Gründe, in Duncraggan zu sein, manche sind interessanter als andere. Die meisten Leute sind nur hier, weil sie stinkreiche Eltern haben. Und wenn man stinkreich ist, sorgt man anscheinend als Erstes dafür, seine Kinder loszuwerden und möglichst weit weg zu schicken. Das ist ein Pluspunkt für abgelegene Standorte in der schottischen Wildnis. Schlechtes Wetter formt offenbar den Charakter.

Ama wollte wegen des guten Rufs des musikalischen Zweigs hierher, Lily dagegen hatte keine andere Wahl. Rowan, Lily und Ama haben reiche Eltern, aber darüber reden wir nicht. Wenn man aufmerksam ist, sieht man es von selbst. Zum Beispiel an den Marken, die sie tragen, und, wenn man genau hinhört, an Worten wie ›Treuhandfonds‹ und ›Fahrer‹ und ›Jacht‹. Ich gebe mir Mühe, ihnen das nicht zum Vorwurf zu machen – die Tatsache, dass Geld für sie keine Rolle spielt, sosehr sie sich auch das Gegenteil einreden. Geld ist für sie kein Thema, einfach weil sie sich nie Gedanken darüber machen mussten.

Rowans Eltern sind nach Südkorea gezogen, als sie acht Jahre alt war. Die meisten Kinder würde das ziemlich fertigmachen, aber ihr war das scheißegal. Sie ist schon in London aufs Internat gegangen, bevor sie für die Oberstufe hierherkam. Und als ihre Eltern letztes Jahr nach Surrey zurückgezogen sind, ist sie freiwillig hiergeblieben und sagte, sie käme nicht im Traum darauf, uns zu verlassen. »Gemeinsam bis zum bitteren Ende«, war ihre Begründung.

Nur mit Rowan habe ich darüber geredet, weshalb ich nach Duncraggan gekommen bin. Ich habe sie gebeten, es Ama und Lily zu erzählen, weil ich fand, dass sie es wissen sollten, aber ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, es ihnen selbst zu sagen. Es strengt mich zu sehr an, die Geschichte immer wieder aufzurollen. Und dabei die ganze Wahrheit mit aller Kraft zu verheimlichen.

Ich hasse es, darüber zu reden, und die Mädchen verstehen mich. Wenn eine von ihnen im Gespräch in gefährliche Gewässer abdriftet, dann ziehen die anderen sie zurück ans sichere Ufer. Normalerweise ist Rowan diejenige, die das merkt. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie täte. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr nicht alles erzählt habe. Das Schlimmste weiß sie nicht.

Das Schlimmste ist ganz einfach. Man braucht die Geschichte nur vom überflüssigen Fleisch zu befreien und bis auf die blanken Knochen auszudünnen. Man braucht sie nur zusammenzuschrumpfen und auszuhungern, bis fast nichts mehr übrig ist.

Genau das ist mit ihr passiert.

Jenna ist an Herzversagen gestorben. Und an anderen Dingen: einem perforierten Ulkus, einem Lungenkollaps. Aber letztlich hat das Herz aufgegeben. Es konnte seine Aufgabe nicht mehr erfüllen; es hatte nicht mehr genug Treibstoff.

Meine Zwillingsschwester war fünfzehn Jahre alt, als sie starb. Sie wog etwas mehr als 30 Kilogramm.

Das Ganze fing mit einer Diät nach Weihnachten an.

Und die war meine Idee.

2

Es war meine Schuld, dass sie gestorben ist.

Die Leute sagen, einen Zwilling zu verlieren sei so, als würde man sich selbst zur Hälfte verlieren, seine halbe Seele. Das stimmt nicht. Man verliert sich ganz. Man verliert alles, was einen zu der macht, die man ist. Man verliert alles, was man jemals als richtig und wahr kennengelernt hat.

Aber Jennas Tod ist nicht die ganze Geschichte. Er ist der Teil, von dem die anderen wissen, weil es in der Zeitung stand. Mum und Dad haben darauf bestanden, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, damit die Leute aus unserer tragischen Geschichte lernen und andere Eltern die Gefahr erkennen, ehe es zu spät ist. Ich war von Anfang an dagegen. Es war meine Jenna. Und ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, sie mit der Welt zu teilen. Meine Eltern haben sich meine Argumente angehört, geduldig, manchmal unter Tränen, aber sie haben es trotzdem gemacht. Mum hat zu mir gesagt, dass es ihr leidtäte, aber sie wüsste, dass das richtig sei.

Kann ja sein, dass es für sie richtig war und für all die Eltern da draußen auch – ein abschreckendes Beispiel, von dem sie morgens beim Frühstück lesen, während sie ihre Toastkrümel auf der Zeitung verteilen, um dann die Seite umzublättern.

Und was war mit mir? Ich konnte die Seite nicht umblättern. Niemals. Und was war mit Jenna? Meine Schwester hätte es gehasst, dass man ihren Namen googeln und all die reißerischen Einzelheiten über sie lesen kann. Sie hätte es gehasst, ihr Schulfoto in allen Zeitungen zu sehen –, um zu veranschaulichen, wie süß und normal und gesund sie vorher aussah. Auf dem Bild lächelt sie, obwohl sie es eigentlich hasste, fotografiert zu werden. Als wir damals unsere Schulfotos mit nach Hause brachten, hat meine Mutter gemeckert, weil ich auf meinem nicht lächle. Aber Jennas Foto fand sie einfach reizend. Sie hat gar nicht gesehen, dass Jennas Lächeln aufgesetzt war. Aber ich habe es gesehen, natürlich, weil unser aufgesetztes Lächeln das gleiche ist.

Das Foto danach haben sie auf ihrem Handy entdeckt. Sie hat es einer ihrer Anorexie-Freundinnen ein paar Monate vor ihrem Tod geschickt, und diese sogenannte Freundin hat ihr zu ihrem tollen Aussehen gratuliert, und ihr ein Foto von sich selbst geschickt, so dass sich die zwei vergleichen konnten. Die beiden waren unfassbar dünn.

Man kann dieses Foto nicht anschauen, ohne schockiert zu sein, und die Vorstellung, dass Millionen Leute das taten, wenn sie die Zeitung lasen oder ins Internet schauten, war für mich wie Gift. Sie würden sie nie kennen, wie ich sie kannte. Sie würden nie das Mädchen kennen, das, einfach aufgrund der Tatsache, dass sie 23 Minuten älter war als ich, davon überzeugt war, unendlich viel weiser zu sein. Das Mädchen, das vergeblich versucht hatte, einen jungen Spatz zu retten, nachdem er aus dem Nest gefallen war. Das Mädchen, das auf der anschließend von uns veranstalteten Beerdigungsfeier weinte und dem Spatz ihren besten Schuhkarton als Sarg opferte. Das Mädchen, das ein Jahr später in ihrer ›Ich-will-Archäologin-werden‹-Phase den Schuhkarton wieder ausgrub, um die sterblichen Vogelüberreste zu untersuchen.

Jenna war eine Person – ein wunderbarer, unordentlicher Mensch mit Fehlern und Hoffnungen und Ängsten –, aber sie wurde auf eine Moralgeschichte reduziert.

Das einzig Gute war, dass meine Eltern es geschafft haben, mich da rauszuhalten. Sie haben insgesamt vier Interviews gegeben. Dafür sind die Journalisten zu uns nach Hause gekommen, haben auf unserem alten Sofa gesessen und zweifellos mit wachen Augen die Familienfotos auf dem Kaminsims, die Flecken auf dem Teppich und den uralten Fernseher inspiziert. Meine Eltern haben ihnen erzählt, dass Jenna eine Zwillingsschwester hatte, aber das war auch schon alles. Natürlich baten die Journalisten darum, mich sprechen zu dürfen, das lehnten meine Eltern jedoch ab. Meine tote Schwester war Freiwild, aber ich war tabu.

In den Zeitungsgeschichten stand, dass die Magersucht meiner Schwester offenbar mit dem harmlosen Neujahrsvorsatz begonnen habe, gesünder zu essen und mehr Sport zu treiben. Keiner weiß, dass das meine Idee war, und dass ich Jenna unter Druck gesetzt habe, mitzumachen. Mir war nämlich klar, dass ich alleine schon nach wenigen Tagen aufgeben würde. Deshalb habe ich sie motiviert; es würde Spaß machen, habe ich zu ihr gesagt, und dass wir es zusammen machen sollten. Sie war keineswegs übergewichtig, nicht einmal annähernd. Auch ich war das nicht, aber ich war ein kleines bisschen schwerer als sie und konnte das nicht ertragen. Eineiige Zwillinge sollten immer gleich aussehen.

Mum weiß, dass es meine Schuld war. Sie war dabei, als ich Jenna an Neujahr überredete, vom Sofa aufzustehen und mit mir eine Runde zu laufen. Sie war dabei, wenn ich missbilligend die Brauen hob, weil Jenna morgens ihre Müslischüssel bis zum Rand füllte.

Wir haben nie darüber geredet. Mum hat das Thema nie angeschnitten oder mir Vorwürfe gemacht. Vielleicht weil sie selbst mit angesehen hat, wie ich das alles getan habe, und mich nicht ausgebremst hat.

Als die Sache bei Jenna wirklich schlimm wurde, habe ich angefangen, Nachforschungen anzustellen. Ich hatte schon seit Monaten das Interesse daran verloren, mein Gewicht zu beobachten, aber meine Schwester wurde immer dünner. Ich bekam Angst. Vor allem, als ich erfuhr, dass Zwillinge eine größere Neigung zur Anorexie haben als andere Leute. Ich brauchte keinen weiteren Beweis für meine Schuld, denn da stand es, auf dem Bildschirm meines Laptops. Meine bloße Existenz war schuld an Jennas Krankheit.

 

Der Rest der Geschichte ist sozusagen das Yin zum Yang von Jennas Tod. Es ist so lächerlich und schmerzhaft ironisch, dass die Leute nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, wenn man es ihnen erzählt. Man kann sehen, wie ihre Augen panikartig aufflackern, weil sie nicht so reagieren können, wie sie es normalerweise bei solchen Neuigkeiten tun würden.

Es geschah am Tag, nachdem meine Schwester gestorben ist, aber wir haben es erst am nächsten Morgen erfahren. Dad hatte sein Handy aus, weil er es nicht ertragen konnte, mit irgendwem zu reden. Mum musste alles alleine regeln, Leute anrufen, um ihnen Bescheid zu sagen, das Jenna tot war, und so. Sie sagte allerdings nicht ›tot‹, sondern ›gegangen‹ oder ›verschieden‹. ›Tot‹ klingt in meinen Ohren ehrlicher. Das Wort klingt endgültig, wie ein Schlusspunkt.

Wir saßen beim Frühstück – oder eher am Frühstückstisch, tranken Kaffee, ohne etwas zu essen –, als Mums Handy klingelte. »Kenne die Nummer nicht«, murmelte sie vor sich hin. Dad sagte, sie solle nicht antworten, aber dann ging sie doch dran.

Kurz darauf hielt sie Dad das Telefon hin. »Jan«, sagte sie. Jan war eine Arbeitskollegin von Dad. In der Sortierstelle wusste noch niemand über Jenna Bescheid. Er hatte sich eine Woche freigenommen, als klar war, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.

Er richtete sich auf, räusperte sich und atmete tief durch, so als müsste er Kräfte sammeln. »Hi, Jan. Was gibt es?« Seine Stimme klang unecht.

Dann sprach Jan – lange. Dad sagte ein paar Mal »okay« und »verstehe«, ehe er auflegte. Sein Gesichtsausdruck hatte sich während des Gesprächs kein bisschen verändert.

Er legte das Telefon auf den Tisch zurück und nahm einen Schluck von seinem lauwarmen Kaffee.

»Was wollte sie? Du hättest es ihr sagen sollen, finde ich. Du musst heute auch deinen Chef anrufen. Ich glaube, wir sollten versuchen, die Beerdigung auf nächsten Freitag zu legen. Dann können die Leute über Nacht bleiben und am Samstag zurückfahren. Was meinst du?«

Dads Finger fuhren die Maserung des abgenutzten Küchentischs nach. Sein Daumen strich über die Stelle, wo Jenna ihre Initialen eingeritzt hatte, als sie zehn war. Ich habe meine auch eingeritzt, aber auf der Unterseite vom Tisch. Mum war stinksauer und schimpfte Jenna zehn Minuten lang aus, dann hat sie sie auf unser Zimmer geschickt. Meine Schwester hat trotzdem nie verraten, dass ich dasselbe gemacht hatte, nur raffinierter. Sie hat mich nie verpetzt.

»Sam?«

»Was?« Er hob den Kopf und sah Mum in die Augen. Da muss sie gemerkt haben, dass es etwas Größeres war. Aber das Schlimmste, was jemals passieren konnte, war ja schon passiert, und es gab uns immer noch; wir saßen am Tisch und versuchten, den leeren Stuhl am Fenster zu ignorieren.

»Wir haben gewonnen«, sagte er.

»Wovon redest du? Was gewonnen?« Mum war eindeutig sauer, und ich hatte plötzlich den schrecklichen Gedanken – eine Vorahnung? –, dass sie nicht mit ihm zusammenbleiben würde. Sie würden sich scheiden lassen. Vielleicht nicht sofort, aber eines Tages.

»Die Tippgemeinschaft.«

Mum seufzte und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wie viel ist es diesmal? Hundert Pfund? Denn, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, wir müssen uns gerade um wichtigere Dinge kümmern, und ich bräuchte wirklich deine Hilfe.« Sie stand auf und räumte ihren Becher ab und meinen. Ich hatte nur ein paar Schlucke getrunken, so dass der Kaffee über den Rand schwappte und dicke braune Flecken auf dem Tisch hinterließ. »Scheiße! SCHEISSE!«

Mum verlor gerade die Fassung, das war nicht zu übersehen.

»Einundzwanzig Millionen. Etwas mehr.«

Er musste die Zahl noch drei Mal wiederholen, ehe Mum endlich begriff. Sie setzte sich wieder an den Tisch, ohne darauf zu achten, dass ihr der verschüttete Kaffee auf die Schuhe tropfte.

»Oh«, sagte sie.

Er war seit acht Jahren mit sechs weiteren Postleuten Mitglied in der Tippgemeinschaft. Die hatte Jan vor Jahren gegründet. Der höchste Betrag, den sie je gewonnen hatten, waren 144 Pfund. Diesmal hatten sie 21,2 Millionen Pfund gewonnen. Dads Anteil waren etwas mehr als drei Millionen.

Mein Vater wurde Millionär. Einen Tag, nachdem seine Tochter gestorben war.

3

Der Kater vom Whisky ist fast so schlimm wie erwartet, aber ein Kater der Sorte, der nach Futter verlangt, also laufe ich, die Haare noch nass vom Duschen, schnell zum Frühstück hinunter.

»Wie viel Bacon ist zu viel?«, frage ich Rowan.

»Heute morgen kann es gar nicht genug Bacon sein. So wie ich mich fühle, würde mir noch nicht mal der Speck der ganzen Welt reichen.«

Die Schlange bewegt sich viel zu langsam vorwärts; für Notfälle wie diesen sollte es eine Express-Schlange geben. Ich habe es fast bis nach vorne geschafft, als Rowan mich anstupst und flüstert: »Sieht aus, als hätten wir dieses Jahr doch einen Neuzugang.« Ich drehe mich um und folge ihren Blicken bis zu einem Mädchen, das ich nicht kenne. Sie sitzt bei der Sorte Mädchen, die gestern Abend früh ins Bett gegangen sind, weil heute der Unterricht beginnt und dieses Schuljahr WICHTIG ist.

Ich checke die Neue unauffällig ab. Sieht ziemlich normal aus. Damit meine ich: Sie sitzt genau an dem richtigen Tisch mit genau den richtigen Leuten. Aber man kann nie wissen. Allein vom Äußeren kann man nicht unbedingt beurteilen, wo jemand hingehört. Lily, Ama, Rowan und ich sind nicht besonders einheitlich. Ama findet, dass wir aussehen wie die schlimmste Mädchenbande der Welt.

Im Laufe des Frühstücks erzählt uns Lily, dass das neue Mädchen Kirsty Connor heißt. Sie ist gestern Abend angekommen, nachdem ihr Flug Verspätung hatte. Sie ist unser Jahrgang und wohnt im gleichen Haus wie wir, das heißt, dass sie auf unserem Flur ist.

»Und, Lil, was hast du dir für dein erstes Opfer ausgedacht? Glaubst du, dass sie das packt?«, frage ich Lily, die zu glauben scheint, dass sich ihr Kater allein mit Müsli und Naturjoghurt vertreiben lässt.

Lily starrt das neue Mädchen ungeniert an. »Schwer zu sagen. Es ist jedenfalls gut, wenn wir jemanden zum Üben haben, ehe wir im nächsten Schuljahr offiziell loslegen. Antonia hat mir ein paar Notizen hinterlassen, aber ich schätze, ich werde den Laden mal ein bisschen aufmischen. Mir selbst was einfallen lassen, weißt du?«

Rowan, Ama und ich wechseln amüsierte Blicke. Das ist typisch Lily: Bei der wichtigsten Aufgabe der Schulsprecherin macht sie ihr eigenes Ding. »Keine Sorge, ich verspreche euch, dass es genauso traumatisch wird wie für uns alle.« Sie mustert die Neue noch einmal. »Lasst es uns heute Nacht machen.«

Wir versuchen ihr das auszureden – vor allem Rowan, die die ganze Sache für barbarisch hält –, aber Lily findet, Regeln sind Regeln. Es ist merkwürdig, solche Worte aus ihrem Mund zu hören. Vielleicht wandelt sie sich in der Rolle als Schulsprecherin von der anarchischen Öko-Kämpferin zu … Gott weiß was. Macht verändert die Menschen oft unerwartet.

»Helft ihr mir, du und Ama? Dann bringen wir es gleich hinter uns!«

Ama zuckt die Schultern, aber ich schwanke ein, zwei Sekunden. Irgendwann muss ich ohnehin mitmachen, also kann es auch gleich heute Nacht sein. Bei jemanden, den ich nicht kenne. Sicher ginge es mir schlechter, wenn ich bei einem Mädchen in dem Jahrgang unter uns dabei sein müsste. Wenn ein neues Halbjahr beginnt, werden jährlich zwölf Mädchen reihum gequält. Es ist nur gerecht, dass Neuzugänge in unserem Jahrgang die gleiche Behandlung erfahren.

Die Schulsprecherin bestimmt, wer die Sache durchziehen muss. Wenn das Jahr um ist, hat jede aus unserem Jahrgang einmal mitgemacht, und einige waren sogar zweimal dabei. Das bedeutet, dass alle sich mitschuldig machen. Jede trägt die gleiche Verantwortung. Wenn die Lehrer also jemals dahinterkommen sollten, können sie nie eine einzelne Schülerin zur Rechenschaft ziehen.

Als sie den Speisesaal verlässt, geht das neue Mädchen an unserem Tisch vorbei. Ihr Blick trifft meinen, aber ich wende mich schnell ab. Ich fühle mich schrecklich; sie hat keine Ahnung, was diese Nacht auf sie zukommt.

 

Die Nachricht vom Lotteriegewinn haben wir natürlich nicht publik gemacht. Keiner der Journalisten, die kamen, um meine Eltern zu Jenna zu befragen, wusste davon. Keine Pelzmäntel, keine Kronleuchter, keine gigantischen Flachbildfernseher in unserem kleinen Reihenhaus. Wenn sie das erfahren hätten, wäre das ihre Riesenstory gewesen: Tragische Ironie … Schicksalhafte Wendung … Familie Kent gäbe jeden Penny her, wenn sie ihre Tochter wiederbekäme.

Es lief nicht gut, nachdem Jenna gestorben war. Ganz und gar nicht. Das Geld änderte daran auch nichts. Das lag unberührt auf einem Extrakonto, dazu hatte Dads Finanzberater ihm geraten. Die Tatsache, dass Dad jetzt einen Finanzberater hatte, war die einzige Veränderung. Er behielt als einziges Mitglied der Tippgemeinschaft seine Stelle bei der Post. Jan buchte eine dreimonatige Weltreise, noch bevor ihr die Kohle auf das Konto überwiesen worden war. Dad trottete dagegen immer noch jeden Morgen um fünf Uhr zur Arbeit.

Auch Mum kündigte ihren Job nicht. Im Gegenteil, sie war plötzlich ganz versessen darauf, ›etwas zu tun zu haben‹. Sie wurde von diesem merkwürdigen Rausch erfasst, immerzu etwas zu tun. Vorher hatte sie ihr kleines Morgenritual mit einer Tasse Kaffee auf der Bank im Hintergarten gepflegt – bei jedem Wetter. Dann hatte sie draußen unterm Regenschirm in einem von Dads großen Mänteln gekauert. Sie nannte das ihre ›Denkzeit‹. Nachdem Jenna gestorben war, gab es die nicht mehr. Jegliche Denkzeit musste ab nun vermieden werden, um jeden Preis, weil es nur noch traurige Gedanken gab und die drohten, einen zu überfallen, wenn man am wenigsten damit rechnete.

Als ich irgendwann wieder zur Schule ging, habe ich auch meinen Freunden nichts von dem Lottogewinn erzählt. Ich hatte eh keine beste Freundin wie scheinbar alle anderen Mädchen. Ein Zwilling braucht keine beste Freundin, weil man etwas viel, viel Besseres, Näheres und Unzerbrechliches hat. Bis sich herausstellt, dass nichts unzerbrechlich ist.

Es ist mir noch nicht einmal schwergefallen, die große Neuigkeit für mich zu behalten. Sollten die Leute doch denken, dass es nichts anderes in meinem Leben mehr gab als Trauer. Die einzigen Fragen, die sie mir stellten, waren: »Wie geht es dir?« und »Möchtest du darüber reden?« (Die Antworten lauteten: »Verdammt beschissen, danke!« und: »Nicht mit dir.«) Ich wollte mit Jenna darüber reden, ihr sagen, wie bescheuert ich es fand, dass Mädchen, die nie etwas mit ihr zu tun hatten, behaupteten, ihre Freundinnen gewesen zu sein. Ich glaube, dass sie das lustig gefunden hätte. Sie hätte gelacht und gesagt, dass das nichts machte, nicht wirklich. Wir kannten ja die Wahrheit. Sie hätte mir empfohlen, sie einfach erzählen zu lassen, was sie wollten, wenn es ihnen damit besserging. Jenna hat immer ein größeres Herz gehabt als ich. Es hätte niemals versagen dürfen.

Schule war ohne Jenna unvorstellbar und unerträglich. Ich brauchte meine ganze Kraft, durch den Tag zu kommen, ohne laut loszuschreien. Ich malte mir aus, es zu tun: Im Mathe- oder Englischunterricht aufstehen, den Mund aufreißen und losschreien, schreien und schreien, bis ich mir die Kehle blutig geschrien hätte.

Zu Hause war es noch schlimmer als in der Schule. Sobald ich den Schlüssel in die Tür steckte, spürte ich es: eine Schwere, als hinge drinnen eine dichte Giftwolke.

Man bekam in unserem Haus fast keine Luft mehr, aber irgendwie atmeten wir drei trotzdem weiter ein und aus, und unsere Herzen pumpten das Blut durch den Körper. Wir lebten weiter, obwohl es uns falsch vorkam. Wie konnten wir in einer Welt ohne meine Schwester leben?

Dads Kollegen zogen alle in schicke neue Häuser, weil die Leute das eben so machen, wenn sie im Lotto gewinnen. Nur meine Eltern wollten nichts davon wissen. Als erwarteten sie, dass Jenna eines Tages zu uns zurückkäme und dann in der Lage sein sollte, den Heimweg zu finden. Sie fragten mich nicht nach meiner Meinung. Sie fragten nicht, wie es mir damit ging, nachts wach zu liegen und an die Decke zu starren, weil ich den Blick zum leeren Bett auf der anderen Zimmerseite vermied. Das Bett war ordentlich gemacht und eine Ecke von der Zudecke war immer aufgeschlagen. Ich weiß nicht, wer die aufschlug, und auch nicht, warum, ich wünschte nur, sie würden es nicht tun. Es war so, als würde das Bett auf sie warten.

Vier Monate nachdem Jenna gestorben war, bat ich meine Eltern, sich zu mir an den Küchentisch zu setzen, und eröffnete ihnen, dass ich in ein Internat wollte. Diesen Plan hatte ich schon eine Weile im Kopf hin- und hergewendet, aber ich wollte zunächst abwarten, ob sich die Lage irgendwie besserte. Ich erwartete keine Wunder – einfach nur ein kleines Zeichen, dass das Leben nicht ewig so ätzend bleiben würde, für alle Zeiten. Aber wenn es ein Zeichen gab, dann muss ich es wohl übersehen haben. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sich meine Eltern überhaupt keine Mühe gaben. Ich versuchte, nicht so zu denken, und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, doch es half nichts. Sie hatten zwar noch eine Tochter übrig, aber es kam mir vor, als hätten sie aufgegeben. Als wäre jeder Versuch, weiter eine Familie zu sein, vergeblich.

Mum traf meine Eröffnung härter als Dad, vor allem als sie merkte, dass ich mich schon eine ganze Weile damit beschäftigt hatte. Alle Fakten und Zahlen waren in Reichweite meiner Fingerspitzen, die Antworten auf jede beliebige Frage. Sie hatten eine Menge Fragen, aber nur eine, auf die es wirklich ankam: Warum?

Wenn ich ihnen ehrlich geantwortet hätte, wäre ihnen das Herz gebrochen: Ich hielt es nicht mehr aus, mit ihnen zusammenzuleben. Ohne Jenna konnte ich nicht in diesem Haus bleiben – nicht, wenn sie es sich leisten konnten, mich wegzuschicken.

Stattdessen redete ich über die Chancen, die mir ein Ort wie Duncraggan Castle zu bieten hatte. Die Freizeitangebote, das akademische Niveau. Ich sagte, ich wolle mein ganzes Potential nutzen, was auch immer das war. Ich redete über meine Zukunft.

Dad brauchte eine Weile, bis er kapierte: »Internat also? Warum denn ein Internat? Hier im Umkreis gibt es doch lauter gute Schulen.«

Das stimmte, und ich geriet ins Stocken. Mum kam mir zu Hilfe, was mich wunderte. »Oh, kannst du dich nicht erinnern, Sam … als sie kleiner waren, haben die Mädchen doch diese Internatsgeschichten geliebt, weißt du noch? Upper-class-Jugend und so.« Bei dieser Erinnerung huschte ihr der Anflug eines Lächelns übers Gesicht.

Dad schüttelte den Kopf. »Aber es geht doch hier um die Realität und nicht um irgendwelche Kinderbücher. Ich weiß nicht, warum du … ich will dich nicht auch noch …« Er schüttelte wieder den Kopf, und ich war froh, dass er den Satz nicht beendete.

Mum tätschelte ihm die Hand, schaute aber mich an. »Willst du das denn wirklich, Harper?«

Ich ignorierte den Zweifel, der wie eine Welle in mir aufstieg, und sagte ja. Dann holte ich aus zum letzten Schlag: »Ich will es für Jenna tun. Neue Erfahrungen sammeln, neue Leute treffen und alles machen, was sie nicht mehr machen kann.« Dad schrak zusammen, als hätte ich ihn getroffen. »Ich glaube, das bin ich ihr schuldig.«

Für einen Moment hatte ich Angst, zu weit gegangen zu sein, dass sie mir das nicht abnahmen. Aber Mum nickte nachdenklich. »Du musst aber tun, was für dich richtig ist.«

Ich schwieg. Die falschen Worte konnten jetzt alles kaputt machen.

Mum sagte, sie wollten noch mal darüber reden und sich genauer über Duncraggan erkundigen. Sie sagte, dass es weit weg wäre und sie überrascht sei, aber dass sie jetzt schließlich das Geld hätten, nicht wahr?

Da wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Wenige Monate später brachen wir nach Duncraggan auf. Wir hielten zum Mittagessen an einer Raststätte und Mum weinte. Das war das einzige Mal, dass ich unsicher wurde und mich fragte, ob ich wirklich das Richtige tat. Plötzlich kam es mir vor, als würde ich das sinkende Schiff verlassen und sie in ihrer Traurigkeit untergehen lassen.

»Wird es euch zweien trotzdem gutgehen?«, flüsterte ich und drückte sie noch fester an mich.

»Mach dir um uns keine Sorgen, Liebes.«

Damit beantwortete sie eigentlich nicht meine Frage, aber ich hakte nicht noch mal nach. Es war jetzt eh zu spät. Und ich wollte nicht untergehen.

4

Das Loch ist nicht so schlimm, wie es klingt. Im Großen und Ganzen ist es wirklich keine große Sache. Aber es ist eine Tradition, und an Orten wie diesem sind Traditionen eine große Sache.

Und wenn es einem Außenseiter vorkommt wie Folter, dann kann ich nur sagen: Das Internatsleben kann ganz schön scheiße sein.

Die Lehrer würden durchdrehen, wenn sie es jemals herausbekämen, aber das wird nicht passieren. Selbst wenn etwas schiefgeht, wird über das Loch tiefstes Stillschweigen gewahrt. Von uns traf es Ama als Erste, und sie hat uns haargenau erzählt, was uns erwartete – jedes quälende Detail. Das hat uns allerdings nicht wirklich beruhigt.

Ein paar Tage später war ich an der Reihe. Unter Internatsleben hatte ich mir einen Becher heißen Kakao vorm Zubettgehen vorgestellt und Hockeyspiele an frostigen Wintermorgen. Ich hätte es besser wissen sollen. Ich hätte wissen sollen, dass Mädchen, wenn sie sieben Tage die Woche 24 Stunden Hunderte von Meilen von zu Hause entfernt zusammenhocken, ihre Grausamkeit erheblich steigern können. Da wird alles intensiver, wie Orangensaftkonzentrat ohne Wasser.

 

Es ist kurz vor Mitternacht, als mir Rowan eine kleine Taschenlampe zusteckt.

»Danke, aber ich habe schon eine.«

»Die ist nicht für dich, die ist für die Neue.«

Ich brauche eine Sekunde, um zu kapieren. »Aber wie soll ich ihr …?«

»Du wirst das schon hinbekommen. Du musst nur aufpassen, dass Lily es nicht mitkriegt. Oder in diesem Fall Ama. Ich habe neue Batterien reingetan, die werden also sicher die Nacht über halten.«

»Ich verstehe nicht, warum es ihr leichter gemacht werden soll. Uns hat doch auch keiner geholfen.«

»Quäl sie doch nicht so, Harper. Schließlich hat sie niemand warnen können.«

Ich seufze und nehme die Taschenlampe. Ich weiß, dass es richtig ist. Rowan macht immer das Richtige; das ist total nervig.

 

Als mir Miss Renner am ersten Abend mein Zimmer gezeigt hat, hatte ich keine Ahnung, was mich erwartete. Die Schülerinnen in Duncraggan sind auf drei Häuser verteilt: Fairclough, Balmedie und Roundhouse. Mich brachte man in Fairclough unter, was hieß, dass mein Zimmer im Schloss lag und nicht in einem der moderneren Nebengebäude. Miss Renner erläuterte mir ihre Rolle als Hausmutter und zeigte mir ihre Wohnung am Ende vom Flur im dritten Stock. Sie hat ihr eigenes kleines Wohnzimmer mit zwei gemütlichen Sofas und einem schäbigen alten Polstersessel, der mich an den von Dad erinnerte. Miss Renner erzählte von den Pizzapartys, die sie einmal im Monat für die Fairclough-Mädchen veranstaltet.

»Ich mag Pizza«, sagte ich und hätte gerne etwas Schlaueres gesagt.

»Da bist du nicht die Einzige«, lachte sie. Aber dann nahm ihr Gesicht diesen gewissen Ausdruck an, und ich wusste, was jetzt kam. »Wenn du, egal wann, reden willst, über irgendwas, oder wenn du irgendwelche Probleme oder Schwierigkeiten hast, meine Tür ist immer offen. Ich möchte, dass du das weißt.« Sie kam mir fast geknickt vor, als wüsste sie ganz genau, dass ich mit bestimmten Dingen niemals auf sie zukommen würde. Jedenfalls war ich jetzt sicher, dass sie über Jenna Bescheid wusste.

Ich mochte Miss Renner von Anfang an. Mit ihrer Omabrille sah sie einfach sympathisch aus. Sie war locker gekleidet und trug Jeans, Flipflops und einen Oversized-Pullover. Als sie mich anschließend den Flur entlang begleitete, spähte ich durch offene Zimmertüren und sah Mädchen zwischen Bücherstapeln an Schreibtischen sitzen. Miss Renner erklärte mir, dass dies die Zeit für die Hausaufgaben sei, auch ›Banko‹ genannt. Sie lachte über meine Verwirrung. »Entschuldige, aber wir haben hier in Duncraggan unsere eigene Sprache. Es braucht eine Weile, bis man sich daran gewöhnt hat.« Damit hatte sie wirklich recht, denn ich habe mich bis heute nicht dran gewöhnt.

Jedes Mädchen wandte den Kopf nach uns um, als wir vorbeigingen, außer einer, die riesige Kopfhörer trug. Ich fühlte mich taxiert. Beurteilt.

Über meine neue Zimmergenossin wusste ich nur, dass sie Rowan Chung-Black hieß und ihre vorherige Mitbewohnerin im Sommer in die Schweiz umgezogen war. Meine Hoffnungen waren vernünftigerweise gering: Ich wollte, dass mich meine Mitbewohnerin nicht hasst, und ich wollte sie nicht hassen.

Sie stand vor dem Fenster, mit dem Rücken zur Tür, und war eindeutig nicht am Lernen oder Bankdrücken oder was auch immer. Miss Renner musste sich räuspern, um sie auf uns aufmerksam zu machen. Als sie sich umdrehte, sah ich, dass sie durch ein Fernglas geschaut hatte.

»Arktische Seeschwalben«, sagte sie, als ob ich damit irgendetwas anfangen könnte. Sie war Asiatin und hatte kurze schwarze Haare, die man auf höfliche Weise als abstehend bezeichnen würde. Sie war etwas kleiner als ich und unter dem Star-Wars-T-Shirt und den Boardshorts rundlicher. Sie trug grüne Pelzpantoffeln, die aussahen wie Monsterfüße. Schwer beeindruckend. »Sie ziehen für den Winter nach Süden. Zur Antarktis. Ich frage mich, warum sie eigentlich nicht Antarktische Seeschwalben heißen, findet ihr das nicht auch?«

Miss Renner stellte uns vor. »Rowan ist unsere Ornithologin und abgesehen davon die Besitzerin der ausgefallensten Pantoffelsammlung von Fairclough.«

»Oh, Miss, ich wette das sagen Sie zu allen Mädchen.«

Ich lachte aus Versehen auf, und Rowan lächelte mich an. Miss Renner schaute von Rowan zu mir und wieder zurück und meinte dann, sie würde uns jetzt lieber allein lassen. »Ich habe den Eindruck, dass ihr beiden gut miteinander auskommen werdet.«

Als sich die Tür hinter ihr schloss, setzte sich Rowan auf eins der Betten. Die rechte Zimmerseite war mit Postern, Flugblättern und Fotos tapeziert, die linke war nackt.

»Wir können die Seiten tauschen, wenn du willst.«

»Alles gut. Aber danke«, sagte ich, obwohl ich eigentlich lieber getauscht hätte. Ich hatte immer auf der linken Seite geschlafen und Jenna auf der rechten. Ich wollte, dass sich hier etwas änderte.

Ich bahnte mir einen Weg durch mein Gepäck und setzte mich auf das leere Bett.

»Okay, ein paar Sachen solltest du von vornherein wissen: Ich mache so oft wie möglich das Fenster auf – frische Luft hilft mir beim klaren Denken. Ich höre nur über meine Kopfhörer Musik. Man hat mir gesagt, dass ich schnarche wie ein Säuger von beträchtlichen Ausmaßen – aber das mache ich nur, wenn meine Allergien verrücktspielen. Was noch? Ach so, ich bin lesbisch, wenn du damit ein Problem hast, dann sag es lieber gleich.«

Ich antwortete auf das interessanteste Detail: »Sehe ich aus wie jemand, der damit ein Problem hat?«

Sie kniff die Augen zusammen, als wollte ich ihr was vormachen. »Ich weiß noch nicht, wie du aussiehst«, sagte sie. Dann machte sie eine Pause. »Die Leute können Arschlöcher sein, auch wenn sie nicht wie Arschlöcher aussehen. Meine letzte Mitbewohnerin ist ausgerastet, als sie das erfahren hat – sie dachte, ich würde mitten in der Nacht über sie herfallen … Dazu fällt mir nur eins ein: Wahrscheinlich hat sie sich’s gewünscht! Egal, deshalb dachte ich halt, dass ich diesmal auf totale Offenheit setzen will. Weißt du, so was kann man nicht so nebenbei in einer Unterhaltung fallenlassen.« Sie unterbrach sich und holte Luft: »Sorry, zu viel und zu schnell?«

»Totale Offenheit, da bin ich dabei. Ich bin bi.« Es war erst das dritte Mal, dass ich mich ermutigt fühlte, es laut auszusprechen. Als Rowan sagte, so was könne man nicht so nebenbei in einer Unterhaltung fallenlassen.

Rowans Augen strahlten auf, und sie machte eine Armbewegung mit der geballten Faust: »Super! Duncraggans Queer-Quote musste dringend gesteigert werden. Ich bin die Vorsitzende des LGBTQIA+-Vereins, falls du Mitglied werden willst. Kein Druck. Nein, scheiß auf ›kein Druck‹. Du musst Mitglied vom Queer-Verein werden. Das bist du unserer Zimmergemeinschaft schuldig.«

»Ich weiß nicht … ehrlich gesagt war ich noch nie in irgendeinem Verein, Club oder sonst was.«

»Wie wäre es, wenn du einfach nur Mitglied wirst, damit ich Miss Maddox beweisen kann, dass mein Verein keine sinnlose Zeitverschwendung ist? Du brauchst auch nicht zu den Treffen zu kommen.«

»Abgemacht.«

»Und wenn du ab und zu regenbogenfarbige Schnürsenkel tragen könntest, wäre das perfekt. Und einen Button.«

»Gibt es Buttons?«

Rowan zeigte auf ihre Brust, aber ich war nicht dicht genug dran, um es zu lesen, dazu musste ich mich vorbeugen: »Sehe ich etwa hetero aus?« stand da in Regenbogenschrift.

Ich lachte und Rowan lächelte. »Und wenn du den nicht magst, gibt es noch ein paar andere … Ich war vielleicht ein bisschen zu begeistert, als ich die Webseite entdeckt habe«, sagte sie verlegen.

Sie langte unter ihr Bett und zog einen Pappkarton hervor, bis zum Rand mit runden Ansteckern gefüllt. Nach langer Überlegung wählte ich den mit der Flagge der Bisexuellen. »Du kannst auch den mit dem Einhorn nehmen, wenn du willst. Ich glaube, es sind noch ein paar da – alle mögen diese blöden Einhörner.«

»Wirklich? Ich finde immer, dass das Horn im Weg ist. Daran kann man sich die Augen ausstechen, wenn man nicht aufpasst.«

Rowan lachte länger, als es der Witz verdiente. Ich war überrascht; gewöhnlich dauerte es eine ganze Weile, ehe ich mich Unbekannten gegenüber so natürlich geben konnte. Aber Rowan war so offenherzig und verrückt, wie mir noch niemand im Leben begegnet war. Ich wusste es noch nicht, aber sie würde sich als genau die erweisen, die ich brauchte.

5

Um zehn vor zwölf mache ich mich, mit der Taschenlampe in der Gesäßtasche meiner Jeans, auf den Weg zu Lilys und Amas Zimmer. Ich öffne die Tür und unterdrücke einen Aufschrei, als ich in ein fies grinsendes Clownsgesicht schaue. »Zieh deine Maske an, Kent. Ich will ein Foto machen … für die Nachwelt«, fordert mich Lily mit gedämpfter Stimme hinter dem Plastik auf.

Wir stellen uns alle drei für das gruseligste Selfie aller Zeiten auf: ein Clown, ein Zombie und der Schrecklichste von allen – Donald Trump! Allerdings war ich froh, dass ich die Trump-Maske bekam, weil ich sie dann wenigstens nicht anschauen musste.

Wir schleichen über den Flur zum Turmzimmer – dem einzigen Einzelzimmer auf unserer Etage. Die Tür knarrt, als Lily sie öffnet. Wir gehen auf Zehenspitzen zum Bett und schauen auf unser Opfer herab, das eng zusammengerollt wie eine Haselmaus daliegt. Kirsty Connor legt im Schlaf die Stirn in Falten und gibt leise gequälte Laute von sich. Vielleicht ist sie sogar froh darüber, geweckt zu werden.

Lily knipst ihre Taschenlampe an und richtet sie auf das Gesicht des Mädchens. Sie tippt ihr auf die Schulter und in Erwartung, dass sie jeden Moment die Augen aufschlägt. Ich habe die anderen nie gefragt, aber ich bin davon ausgegangen, dass die meisten reagieren, indem sie laut aufschreien oder es zumindest versuchen. Ich jedenfalls habe das getan, als ich an der Reihe war. Worauf mir jemand die Hand auf den Mund legte, um mich zum Schweigen zu bringen. Die Hand roch nach irgendeiner Creme – Kokos und Limone. Komisch, was man alles wahrnimmt, wenn man vor Angst fast stirbt. Kirsty schreit nicht, obwohl ihr vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf fallen.