Gefährliche Mittsommernacht - Christoffer Holst - E-Book
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Gefährliche Mittsommernacht E-Book

Christoffer Holst

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Beschreibung

Mord und ein Glas Wein gefällig? Der erste von vier Fällen für Cilla Storm – Ein Schären-Krimi für jede Jahreszeit

Endlich entspannen und ihren Liebeskummer vergessen, denkt Journalistin Cilla Storm, als sie auf Bullholmen ankommt. Und wo sollte das besser gehen als auf einer idyllischen Schäreninsel, die nach den leckeren Zimtschnecken benannt ist? Doch als ein junges Mädchen am Morgen nach dem Mittsommerfest tot im Meer treibt, ist es vorbei mit der Urlaubsstimmung. Denn Cilla war die Letzte, die das Mädchen lebend gesehen hat. Dass ausgerechnet der attraktive Sohn ihrer Nachbarin die Ermittlungen leitet, macht die Sache auch nicht leichter. Dann erschüttert ein zweiter Mord die beschauliche Insel.

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Seitenzahl: 336

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Das Buch

Cilla Storm kann ihr Glück kaum fassen: In den Schären vor Stockholm, auf der kleinen Insel Bullholmen, hat sie ein günstiges Häuschen in einer Schrebergartenkolonie ergattern können. Dort angekommen, will die 30-jährige Journalistin die Gedanken an ihren Ex-Freund mit einem Glas Chardonnay vertreiben und die laue Mittsommernacht genießen. Doch dann wird sie Zeugin eines Streits zwischen einem jungen Pärchen. Am nächsten Morgen ist das Mädchen tot. Cillas neue Nachbarin Rosie, die resolute ältere Dame mit dem untrüglichen Gespür für Verbrechen, ist überzeugt, dass Cilla etwas Entscheidendes beobachtet hat. Wie praktisch, dass Rosies Sohn die Ermittlungen leitet und noch dazu unfassbar gut aussieht. Damit hatte Cilla nicht gerechnet: einem Sommer in den Schären mit Herzklopfen und ihrem ersten Mordfall.

Der Autor

Christoffer Holst ist Jahrgang 1990, er arbeitet als Lektor und ist Autor mehrerer Romane. Wenn er nicht gerade schreibt, genießt er gern ein Glas Chardonnay oder guckt romantische Komödien. Als unverbesserlicher Romantiker findet er, dass das Leben mehr wie ein Film oder ein Buch sein sollte. Er lebt in Stockholm. »Gefährliche Mittsommernacht« ist der erste von vier Fällen für Cilla Storm.

Christoffer Holst

GEFÄHRLICHEMITTSOMMERNACHT

EIN SCHÄREN KRIMI

Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Söta, Röda Sommardrömmar erschien erstmals 2018 bei Lovereads, Bokförlaget Forum, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 06/2021

Copyright © 2018 by Christoffer Holst

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Janine Malz

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26773-5V003www.heyne.de

1

Mittsommer, 2017

Es ist herrlich warm, als ich die Fähre in mein neues Leben besteige. Das Schiff, das mich ganz weit weg bringen soll. Auf zu neuen Ufern! Endlich all das hinter mir lassen, was in den letzten Monaten passiert ist: die unzähligen Tränen, die schlaflosen Nächte vor dem Fernseher, den Löffel tief vergraben in den Eisbechern von Ben & Jerry’s. Oder sagen wir lieber: So hätte es jedenfalls aussehen sollen. Zumindest habe ich mir früher immer vorgestellt, dass ich genau das tun würde, wenn mein Freund plötzlich Schluss mit mir machen sollte. Schon klar, manche fahren natürlich auch nach Australien, andere machen Bungeejumping oder paddeln auf einem Krokodil den Nil hinunter, um sich selbst zu finden. Aber es gibt doch eigentlich nur eine filmreife Form, mit einer Trennung umzugehen, so viele Tränen zu vergießen, bis keine mehr übrig sind, und so viel Eis zu essen, wie man nur kann. Also eine ganze Menge.

Und ich habe es wirklich versucht. Ich habe mir unfassbar viel Eis gekauft. Aber mein Magen hat schon nach zwei Bechern gestreikt. Die Laktose hat mir in puncto filmreife Trauer einen Strich durch die Rechnung gemacht. Also bin ich einfach auf meinem Sofa liegen geblieben. Allein. Habe die Welt angeglotzt, die sich auf dem Fernseher vor mir abspielte. Eine Welt, die mir auf einmal außerirdisch und fremd vorkam.

Der Tag, an dem Danne, mit dem ich drei Jahre zusammen war, mit mir Schluss gemacht hat, begann schon mit denkbar schlechten Vorzeichen: mit einer Blasenentzündung. Irgendwie scheint mein Körper immer zu spüren, wenn sich etwas Schlimmes ankündigt. Man könnte es auch als die seltsamste Superkraft der Welt bezeichnen. So war es auch, als meine Mutter mir an Weihnachten vor etwa fünfundzwanzig Jahren erzählte, dass sie krank sei. Sehr krank. Eine Blasenentzündung bedeutet schlechte Neuigkeiten. Die irrt sich nie.

Ich muss allerdings zugeben, dass Dannes Schlussmach-Monolog mich ebenso kalt erwischte wie die Verkündung der unheilbaren Krankheit meiner Mutter. Denn es gab überhaupt keinen Grund dafür. Außer dem Umstand, dass er mich nicht mehr liebte. Zumindest erklärte er mir das so, während ich ihn an diesem Abend im April von der anderen Seite des Tisches im Texas Longhorn anstarrte. Er sagte eben nicht Ich habe jemanden kennengelernt oder Wir haben zu wenig Sex. Er sagte einfach nur, dass er mich nicht mehr liebt.

Was soll man darauf antworten?

Nichts.

Noch am selben Abend sah ich ihm dabei zu, wie er seine Sachen packte und ging. Eine Woche später kam ein Umzugswagen und nahm neben ein paar Umzugskisten unser Sofa mit, das streng genommen ihm gehörte.

Dann herrschte nur noch Stille. Es flossen Tränen. Und natürlich führte ich unzählige aufbauende Telefonate mit Zacke, meinem allerbesten Freund.

Und jetzt bin ich plötzlich hier. An einem Junimorgen auf dem Weg über das glitzernde Wasser der Ostsee. Es ist schon sonderbar, welche Wege das Leben manchmal einschlägt.

Es ist Sommer in Stockholm. Niedliche Segelboote und protzige, dröhnende Motorboote schaukeln neben meiner Fähre, der S/S Silberpfeil, im Wasser. Der Boden des Fährdecks vibriert unter meinen Füßen, und der kühle Wind streichelt sanft über meine Wangen.

In meinen Ohren wird Wanted Man von NEEDTOBREATHE gespielt. Come and get me singt Bear Rineheart mit seiner wunderbar kratzigen Stimme, und vor mir taucht die grüne Schäreninsel auf: Bullholmen. Die Insel, die für die kommenden Monate mein Zuhause sein wird.

Mein Puls steigt, als ich sehe, wie der Landungssteg vorbereitet wird. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich bin angekommen. Verdammt.

Mein überdimensionaler Rollkoffer rattert über den Kiesweg. Ich laufe an Eisläden und kleinen Geschäften vorbei, die gebratenen Hering und frische Krabben verkaufen. Hinter mir liegt der Gästehafen, in dem alle Besucher, die zum Mittsommerfest auf die Insel gekommen sind, mit ihren Booten angelegt haben. Ich habe gelesen, dass es hier auch ein uriges Lokal geben soll. Und sogar einen kleinen Supermarkt und ein Restaurant, in dem man Pizza und Burger mit eingelegten roten Zwiebeln bekommt (ich habe die Speisekarte mehrmals gegoogelt – ich liebe eingelegte rote Zwiebeln.) Da taucht auch schon das Schild über dem Eingang zur Schrebergartenkolonie von Bullholmen auf. Ich bleibe vor der blumenberankten Pforte stehen, die in das wilde Durcheinander von Schrebergärten führt, und lehne mich gegen meinen Rollkoffer. Dann hole ich mein Handy aus der Tasche und mache ein Foto, das ich Zacke mit den Worten schicke: Angekommen!

Sekunden später habe ich seine Antwort.

Nichts als Büsche und Bäume. Gruselig. Sei vorsichtig!

Hinter der Pforte erwarten mich unzählige Häuschen und Gärten. Ein Potpourri aus Pastellfarben, blühenden Apfelbäumen und Pumpen, an denen die Mitglieder des Kleingartenvereins Wasser für ihre Pflanzen holen können. Ich laufe die Gurkengasse hinunter, mein Häuschen steht im Radieschenweg. Ich weiß, das klingt total verrückt. Und es ist auch verrückt. Und damit meine ich die Tatsache, dass ich jetzt hier bin. Vor wenigen Wochen noch war ich ein ganz normales Stockholmer Mädchen ohne Pläne für den Sommer. Mit einer Mietwohnung in Södermalm, einem Vollzeitjob und dreihunderttausend Kronen auf dem Konto. Nein, das Geld habe ich nicht von einem Raubüberfall oder so. Versprochen! Hoch und heilig! Ich habe gespart. Das hat zwar ein paar Jahre gedauert, aber das war ja der Plan. Dass Danne und ich beide was ansparen und uns davon dann ein Sommerhaus kaufen. Ein Sommerhaus irgendwo am Wasser.

An dem bereits erwähnten Abend im Texas Longhorn hatte ich sogar eine Anzeige dabei, die ich im Netz gefunden und ausgedruckt hatte. Ein Häuschen in Östhammar. An diesem Abend wollte ich Danne meinen Fund zeigen. Mir war klar, dass die letzten Monate nicht optimal gelaufen waren. Ich hatte viel zu viele Überstunden gemacht, um bei meinem Chef zu punkten, nachdem einige meiner Kollegen gefeuert worden waren und die Aufträge für die Freien stark reduziert worden waren. Mir war auch nicht entgangen, dass Danne häufiger lange im Büro blieb und sich viel öfter als sonst abends mit seinen Kumpeln traf. Aber wir waren ja schließlich auch schon eine ganze Weile zusammen. Kein Paar trifft sich nach so langer Zeit jeden Abend zu einem romantischen Dinner, oder? Und es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass man nicht jeden Tag Lust darauf hat, aufwendige italienische Gerichte zu kochen? Nein, hatte ich mir gesagt. Es ist vollkommen in Ordnung, dass es nach ein paar Jahren Beziehung öfter mal asiatisches Lieferessen, Falafel oder Tütensuppen gibt. Und es ist ja wohl auch nicht komisch, dass man nicht jede Nacht in einem Bett schläft. Wer ist schon so ein Superheld?

Das kleine Häuschen in Östhammar hatte sogar einen Holzfußboden. Dazu eine Wandvertäfelung, eine Küche im Landhausstil und im Wind flatternde Gardinen. Das alles stand in der Annonce, die in meiner Stofftasche lag. Aber dann sagte er diesen einen Satz.

Cilla, wir müssen reden.

Ich wusste sofort, was das bedeutete. Der Inhalt meiner Tasche gefror zu Eis. Die Blumenbeete verwelkten auf der Stelle, die Sommersonne verschwand hinter den Wolken, und die weißen Spitzengardinen fielen von ihren Stangen.

An dem Tag, als der Umzugswagen vorfuhr, habe ich also nicht nur Daniel für immer verloren, sondern auch meinen Traum. Den Traum von einem eigenen Häuschen auf dem Land. Wo ich Gemüse anbauen, im Liegestuhl Bücher verschlingen und zu ausgedehntem Brunch einladen wollte. Nach mehreren Tagen intensiver Recherche auf den einschlägigen Immobilienportalen musste ich schließlich einsehen, dass ich mit meinen dreihunderttausend Kronen allein nicht weit kommen würde. Dabei fühlten sie sich für mich wie ein kleines Vermögen an.

Mir kamen die Tränen, und ich heulte mich bei Zacke am Telefon über mein vollkommen misslungenes Leben aus. Da sagte er: Hör auf zu jammern und kauf dir verdammt noch mal einen Schrebergarten!

Auf diesen Gedanken wäre ich im Leben nicht gekommen. Aber plötzlich googelte ich wie eine Verrückte alles Wissenswerte über Schrebergärten. Schnell begriff ich, dass die meisten der Ansicht waren, dass ein Schrebergarten ein Verlustgeschäft ist. Denn er kostet Geld, und da man den Boden, auf dem er steht, technisch gesehen gar nicht besitzt, sondern nur pachtet, kann man keinen großen Gewinn erzielen, wenn man ihn wieder verkauft. Ich fand auch viele Kommentare, die darauf hinwiesen, dass so ein Schrebergarten eine Heidenarbeit macht. Man muss ihn pflegen, wässern, Unkraut jäten und in Ordnung halten.

Ehrlich gesagt, war ich schon kurz davor, meinen Traum endgültig zu begraben, als ich in einer weiteren schlaflosen Nacht in meiner Wohnung in der Bastugatan auf eine Annonce in den Kleinanzeigen stieß.

Kleiner Schrebergarten in Schärenidylle zu verkaufen!

Die Stockholmer Schären waren für mich bis dahin ein völlig unbekanntes Gebiet. Ich bin mal auf der Inselgruppe Fjäderholmerna und auf Sandhamn gewesen. Aber von Bullholmen zum Beispiel hatte ich noch nie gehört. Eine kleine, hübsche Insel, auf der nur wenige Menschen das ganze Jahr über dauerhaft wohnen, die aber in den Sommermonaten bei den Touristen sehr beliebt ist. Und auf ihr befindet sich eine Kleingartenkolonie mit zweiundsechzig Schrebergärten.

Mein Schrebergarten – ich spürte bereits in jener Nacht, dass er zu mir gehört – befindet sich also im Radieschenweg 14. Ich habe mich beim Ansehen der Fotos sofort in das Häuschen verliebt. Zwanzig Quadratmeter groß mit einer winzigen Küche, einem Schlafboden unterm Dach und einer Toilette mit fließend Wasser (aber ohne Dusche). Die Monatsmiete liegt bei knapp tausend Kronen und die Ablösesumme bei zweihundertneunzigtausend Kronen. Das war einfach Schicksal.

Ich biege in den Radieschenweg ein und mustere die Häuschen, an denen ich vorbeikomme. Dort liegen ältere Herrschaften in ihren Liegestühlen, sonnen sich und hören das Sommerprogramm im Radio. Kinder hüpfen durch Rasensprenger und lachen. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und knallrotem Nacken mäht den Rasen. Und dann bin ich da. Vor der Hausnummer vierzehn.

O Gott, ich bin wirklich da. Zum ersten Mal sehe ich meinen Garten in echt. Ich schlucke. Das Häuschen ist winzig. Ich wusste ja, dass es nicht besonders groß ist, aber Mannomann, es ist tatsächlich winzig. Petite. Passe ich da überhaupt rein? Oder wurde dieses Haus nur für Schneewittchen und die sieben Zwerge gebaut?

Unentschlossen bleibe ich an der Gartentür stehen. Ich nehme mein Handy und wechsle von der Musik aus meiner Playlist zu meiner jüngsten Obsession: dem Hörbuch Auf eigenen Füßen von einer angeblich superbekannten TV-Psychologin, von der ich allerdings noch nie gehört habe. Zacke hatte es mir empfohlen. Die Schauspielerin Babben Larsson liest es, und ihr gotländischer Dialekt sorgt dafür, dass die Botschaft des Buches direkt in mein Herz trifft. Wenn die Angst dich übermannt – lass sie zu. Jag sie nicht weg, lauf nicht davon. Lass dich von ihr überfluten. Denn sie wird wieder weichen.

Das Eisentor quietscht, als ich es langsam aufschiebe. Zu meiner Rechten ist ein Rasenstück, auf dem ein großer Apfelbaum steht, ein paar Büsche sowie ein kreisrundes Beet, in dem in Reih und Glied verwelkte Blumen stehen. Zu meiner Linken findet sich ein ehemaliges Gemüsebeet, in dessen Reihen grüne, aber ziemlich schlappe Triebe aus der schwarzen Erde wachsen. Und ich sehe die Außenküche. Zumindest war in der Anzeige von einer Außenküche die Rede. In Wirklichkeit steht dort eine Bank. Und davor ein Wassereimer.

Ich habe die Haustür erreicht und hole den Schlüssel aus der Tasche, den mir die ehemalige Besitzerin des Schrebergartens, Anita Larsson, im Hauptbahnhof von Stockholm überreicht hatte. Dann schließe ich für einen Moment die Augen und atme die Gerüche von Sommer und Erde ein. Umarme deine Angst, sie ist deine Freundin, sagt Babben.

Vielleicht sollte ich mir neue Freunde suchen, denke ich. Dann stecke ich den Schlüssel ins Schlüsselloch.

2

Später am Abend

Caroline Axén trägt ihr neues Kleid. Es ist weiß, eng anliegend und hat einen tiefen, V-förmigen Rückenausschnitt, der von lila Spitze gesäumt ist. Es hat fast sechstausend Kronen gekostet, und sie war beim Kauf fest davon überzeugt, dass es sein Geld wert sei. Ihrer Familie fehlt es nicht an Geld, im Gegenteil, aber Caroline ist erst neunzehn. Sie ist gerade erst mit der Schule fertig geworden und hat keinen Job, kein eigenes Geld und muss deshalb bei allem, was sie kaufen will, ihren Vater um Erlaubnis fragen.

Und bei diesem weißen Kleid von der angesagten Designerin Nathalie Schuterman war es nicht anders gewesen. Schließlich brauchte sie ein Kleid für Mittsommer. Ihre Familie feierte dieses Fest seit ihrem siebten Lebensjahr auf der Insel Bullholmen, und jedes Jahr hatte sie ein besonders schönes Kleid bekommen, nur für diesen einen Abend. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass sie sich das Kleid heute selbst aussucht.

Vor einer Woche hatte sie in dem Laden gestanden und ihre Finger über den weichen weißen Stoff gleiten lassen. Die seelenlose Loungemusik in der Boutique summte in ihren Ohren, und sie hatte sich erträumt, wie Mittsommer dieses Jahr werden würde. Sie würde in der milden Sommernacht tanzen – mit Benjamin, ihn küssen und dann mit ihm hinunter ans Wasser rennen, und gemeinsam würden sie nackt schwimmen gehen.

Mittsommer auf Bullholmen ist immer fantastisch. Und da sie jetzt auch einen Freund hat, kann es dieses Jahr ja eigentlich nur magisch werden, oder?

Obwohl, irgendetwas stimmt nicht. Etwas fühltsich nicht richtig an.

Aber Caroline kann nicht sagen, was es ist.

Sie haben wie immer unten am Steg zu Abend gegessen. Caroline, ihr Vater Ludvig, seine neue Frau Lena und ihre Tochter Jenny. Obwohl, so richtig neu war Lena auch nicht mehr. Die beiden hatten vor zwei Jahren geheiratet.

Sie hatten wie immer allen alten Bekannten Hallo gesagt. Dann waren sie ins Lokal hochgegangen und hatten sich Champagner bestellt, so wie jedes Jahr.

Aus dem Speisesaal ist inzwischen eine Tanzfläche geworden. Es ist kurz vor zehn, und aus den Lautsprechern dröhnt der Partyhit Sommerzeit. Ihre sogenannte Stiefmutter tanzt, und es sieht ziemlich peinlich aus. Auch das ist nicht anders als sonst. Aber Benjamin ist nicht da. Zumindest nicht so, wie sie es sich in ihren Tagträumen ausgemalt hatte.

Er steht draußen. Und raucht, obwohl er genau weiß, dass Carolines Vater das hasst. Außerdem redet er mit ihr. Mit Ina. Ina trägt ein Kleid, das sie unverkennbar bei Gina Tricot von der Stange gekauft hat. Ina, die keine Ahnung davon hat, wie man Mascara richtig aufträgt, und aussieht wie der Joker bei Batman. Ina, die Caroline seit ihrem zehnten Lebensjahr kennt. Die sie früher ihre beste Freundin genannt hat.

Die beiden stehen viel zu nah beieinander. Caroline weiß, dass es dumm von ihr ist. Aber sie fühlt sich wie eine eifersüchtige Loserin. In Wirklichkeit versteht sie Benjamin nicht. Warum unterhält sich dieser Typ, mit dem sie seit fast einem halben Jahr zusammen ist, mit Ina, anstatt hier mit ihr zu tanzen? Wahrscheinlich, weil Ina auch raucht. Scheiß Zigaretten.

»Carro!«

Ihre Stiefmutter kommt von hinten auf sie zugetanzt. Sie hat einen neongelben Drink in der Hand, der aussieht wie ein Glas mit Nasenschleim.

»Warum tanzt du denn gar nicht, Carro?«

»Mach ich gleich.«

»Bist du traurig?«

»Nein.«

»Bist du wütend?«

Caroline seufzt.

»Nein, mir geht es gut, lass mich in Ruhe.«

Ihre Stiefmutter hebt ihre Hand in einer ironischen Geste der Entschuldigung.

»Sorry! Ich wollte nur helfen.«

»Danke, aber das musst du nicht.«

»Dann geh doch runter zu deiner Schwester aufs Boot, wenn dir langweilig ist. Sie freut sich bestimmt über ein bisschen Gesellschaft. Sie liegt ja nur auf dem Bett und liest die ganze Zeit.«

Caroline verdreht die Augen, und Lena tanzt zurück zu den anderen, zum nächsten Song, dem schwedischen Achtzigerjahre-Klassiker Sommer in der City. Als würde Caroline jemals zu Jenny aufs Boot gehen. Zu Jenny, die den ganzen Tag in ihrer Kabine verbringt und komplizierte Bücher liest, deren Rückseitentexte Caroline noch nicht einmal versteht. Außerdem kann Caroline es nicht leiden, wenn Lena sie ihre Schwester nennt. Sie beide verbindet kein einziger Blutstropfen. Sie sind von zwei verschiedenen Planeten. Nein, Sonnensystemen. Galaxien. Aber vor allem passt Jenny nicht hierher, nach Bullholmen. Das ist Carolines Welt. Nicht Jennys.

Aber ein bisschen frische Luft kann nicht schaden. Es stinkt sowieso nur nach Alte-Leute-Schweiß, weil jetzt alle tanzen.

Caroline trippelt auf ihren hohen Absätzen die Steintreppe vor dem Eingang hinunter und geht an der dichten Mentholrauchwolke vorbei, die Benjamin und Ina umgibt.

»Ich gehe«, sagt sie kurz angebunden. »Bis dann.«

Benjamin unterbricht sein Gespräch auf der Stelle.

»Hey, Carro, wo willst du denn hin?«

»Ich mache einen Spaziergang.«

»Aber Süße, jetzt warte doch …«

Aber Caroline wartet nicht. Sie hat nicht vor, jemals auf irgendjemanden zu warten. Niemals. Weder auf Benji noch auf Ina noch auf irgendjemanden sonst. Sie wird jetzt spazieren gehen. Und sie wird auch ihren Plan, in dieser Sommernacht nackt baden zu gehen, in die Tat umsetzen. Wenn nicht mit Benjamin, dann eben allein.

3

Ein schöner Sommerabend ist wie ein Chardonnay aus dem Eichenfass. Mild, weich und mit einer süßen Fruchtnote. Daran muss ich denken, als ich mich in meinen Gartenstuhl in meinem neuen Schrebergarten sinken lasse. Es ist warm und wunderbar, und ein lieblicher Wind streicht mir über Gesicht und Haare.

Ich bin da. Ich bin wirklich hier.

Ich habe mein altes Leben hinter mir gelassen, habe noch mal ganz von vorn angefangen. Genauso wie es diese Frauen in den Büchern machen, die ich immer lese. Meistens haben ihre Ehemänner sie betrogen oder sind bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen (nicht, dass Autounfälle nicht per se schrecklich sind). Danach sind sie am Boden zerstört, aber sie rappeln sich wieder auf, kaufen sich ein pflaumenblaues, renovierungsbedürftiges Haus in der Toskana, ziehen dorthin und verlieben sich in einen italienischen Handwerker. Ich liebe solche Geschichten einfach.

Diese Frauen wirken immer so wahnsinnig mutig. Und auch wenn sie das am Anfang noch nicht sind, sind sie es dann am Ende. Im Laufe der Geschichte lernen sie, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Ich sollte mich an Babben Larssons weise Worte halten. Dann schaffe ich das vielleicht auch. Wenn das Leben nur nicht so schrecklich … unheimlich wäre.

Ich nehme einen Schluck von meinem Chardonnay (aus Kalifornien – richtig feines Zeug) und sehe mich um. Wie viele italienische Handwerker hier wohl in der Gegend wohnen? Wenn ich meine Situation mit den Szenarien in den Romanen vergleiche, fällt natürlich auf, dass Danne mich weder betrogen hat noch bei einem schrecklichen Autounfall umgekommen ist. Er ist einfach nur verschwunden. Einfach so aus meinem Leben verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Als hätte es ihn nie gegeben. Als hätte ich ihn mir ausgedacht, und als hätte er nur in meinem Kopf existiert.

Ich beiße mir auf die Lippe. Atme tief durch die Nase ein. Ich werde nicht weinen. Das hier ist der erste Abend von meinem neuen Leben, und ich werde ihn NICHT damit verplempern, in meinem Garten zu sitzen und zu flennen.

Neben mir steht meine tragbare rosa Boom-Box und spielt leise The Killers. Der Rest der Insel feiert Mittsommer. Ich habe die Leute schon seit heute Nachmittag singen hören. Es riecht nach gekochten Kartoffeln und Dill. Alle feiern Mittsommer. Außer mir.

Ich habe mir schon vorgenommen, eine Runde durch die Kolonie zu drehen und mich bei meinen neuen Nachbarn vorzustellen. Aber nicht heute. Das wäre ein bisschen distanzlos. Tachchen, ich heiße Cilla und bin gerade verlassen worden und eine einsame Seele in dieser grausamen Welt. Ich werde den Sommer hier auf der Insel verbringen. Toll, oder? Habt ihr noch was zu essen übrig? DARF ICH MICH DAZUGESELLEN?

O Gott, wie schrecklich. Damit warte ich bis morgen. Oder übermorgen. Oder noch länger.

Ich nehme einen Schluck von meinem Wein und greife nach meinem Handy.

Zwei neue Nachrichten. Für einen Moment spüre ich ein Flattern in meiner Brust. Die eine ist (keine Überraschung) von Zacke, der wie immer in seiner Weinbar arbeitet, und die andere ist … von meinem Vater. Mein Puls beruhigt sich wieder.

Hallo, Cilla. Mir fiel ein, dass wir ganz vergessen haben, über Impfungen zu sprechen. Die Schären sind ein ausgewiesenes Zeckengebiet. Erinnerst du dich an Amelie? Die Tochter von Barbro, Sussies Freundin, die hat Borreliose bekommen. Heute kann sie ihr Baby nicht hochheben, ohne danach einen Schwächeanfall zu bekommen. Sie sieht aus wie eine lebende Tote. Bist du geimpft? LASS DICH BLOSS NICHT VON EINER ZECKE BEISSEN, MEIN HERZCHEN! Wie ist dein Häuschen?

Papa

Ich seufze. Mein süßer, besorgter Papa. Wie immer geht er vom Schlimmsten aus.

Eine Eule heult in der Nähe, und plötzlich fühlt sich meine Einsamkeit noch schlimmer an. Hier sitze ich also, eine frischgebackene Dreißigjährige, und trinke allein Wein und höre Musik, während alle anderen feiern.

Ist das tragisch?

Bin ich tragisch?

Ich lege das Handy wieder weg, stelle die Musik etwas lauter und nehme den letzten Schluck Wein. Dann lehne ich mich gemütlich in meinem Liegestuhl zurück und schließe die Augen.

*

Ich wache auf, weil ich einen Schrei gehört habe. Zumindest glaube ich das. Das Echo des Schreis hängt in der Luft. Ich setze mich auf, neben mir zersplittert etwas. Mein Weinglas. Shit. Verwirrt sehe ich mich um. Ich befinde mich noch auf meinem Liegestuhl in meinem Garten. Wie spät ist es? Es muss schon mitten in der Nacht sein. Eine durchgedrehte Fliege hüpft auf meinem Bein herum. Um Gottes willen, die Alkitante ist schon wieder auf dem Sofa eingeschlafen.

Ich stehe auf, vermeide es, auf die Scherben zu treten, die sich auf den Schieferplatten verteilt haben. Ich schwanke leicht und bleibe auf dem kühlen Rasen stehen. Es ist dunkel, aber nicht so, dass man gar nichts mehr sehen könnte. So dunkel wie Mittsommernächte in Schweden eben sind. Ich kann den Himmel sehen, und wenn ich über die Hecke und den Weg hinuntergucke, der zum Ausgang der Kolonie führt, kann ich sogar das Meer sehen. Es glitzert spiegelglatt in der Stille.

Da höre ich es ein zweites Mal. Benji, nein!

Das ist die Stimme eines Mädchens, das schreit. Sie klingt jung. Ich erstarre, kann nicht mal meinen kleinen Finger rühren.

Verdammt.

Was soll ich jetzt tun?

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich schon immer Angst davor, dass mir so etwas eines Tages passiert. Denn ich besitze keine Zivilcourage. Ich wünschte, ich hätte sie. Man muss Zivilcourage haben. Gute Menschen haben Zivilcourage. Aber ich bin viel zu konfliktscheu. Ich wäre der Traum eines jeden Mafiabosses. Wäre ich Zeugin eines Mordes, würde ich nur atemlos keuchen »Wir vergessen einfach, was da eben passiert ist, okay?«, ihm ein Lächeln schenken und dann seine schwarzen Lackschuhe ablecken.

Leise schleiche ich zur Tür meines Häuschens, öffne sie, schiebe mich lautlos hinein, schließe sie so leise wie möglich hinter mir und verriegele sie. Dann lehne ich mich von innen dagegen und bleibe eine ganze Weile reglos so stehen.

Ich lausche, hoffe aber tief in meinem Inneren, dass ich nichts mehr hören werde. Eine Reihe von angsteinflößenden Worten schießt mir durch den Kopf. Räuber. Vergewaltiger.Serienmörder. Verschwinde. Bitte verschwinde einfach.

Mein Handy liegt noch draußen. Auch die Boom-Box ist noch an und spielt leise Musik. Das kann ich ausgezeichnet hören. Marianne Faithful. The morning sun touched lightly on the eyes of Lucy Jordan.

Ich schlucke.

Ich will einfach nur, dass das alles schnell vorbeigeht.

Es sind doch bestimmt noch andere Nachbarn wach? Kann nicht jemand anderes hinlaufen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist?

Plötzlich meldet sich eine Erinnerung.

Es war vor etwa einem Monat, Ende Mai. Zacke hatte mich überredet, mich vom Sofa aufzuraffen, zu duschen und mit ihm einen trinken zu gehen. Wir waren in der Folkbaren in der Hornsgatan, wo ein Glas Cava nur neunundfünfzig Kronen kostet. Deswegen wurde es dann auch mehr als ein Glas an diesem Abend, und als ich mich gegen ein Uhr von Zacke verabschiedete, war ich ziemlich angeschickert.

Die Hornsgatan war ungewöhnlich leer. Und als ich an dem Einrichtungshaus am Bysistorget vorbeikam, hörte ich jemanden hinter mir husten. Ein Mann. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn, nur wenige Meter von mir entfernt.

Er trug einen Kapuzenpulli. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber ich wusste sofort, was er vorhatte.

Ich bog in eine Seitenstraße, er folgte mir. Ich bog erneut ab, er tat es mir nach. Ich lief schneller und hörte, dass auch er seine Schritte beschleunigte.

Ich hatte mich auf Stockholms Straßen noch nie zuvor unsicher gefühlt. Vielleicht hat das auch an Danne gelegen, der mich immer begleitet hat. Jetzt war ich plötzlich auf mich allein gestellt. Ganz allein.

Die letzten Meter bis zu meiner Haustür in der Bastugatan rannte ich, so schnell ich konnte. Ich schloss mit zitternden Händen auf, sprang rein und knallte die Tür hinter mir zu. Als ich mich umdrehte, sah ich sein Gesicht vor mir. Wir sahen uns durch die Glasscheibe an. Ich werde seinen Blick niemals vergessen. Seine Augen waren so unerbittlich dunkel. Ich konnte in ihnen sehen, was er alles mit mir vorgehabt hatte. Und bei dieser Erkenntnis blieb mir fast das Herz stehen.

Ich stürzte hoch in meine Wohnung, schloss die Tür hinter mir ab und zitterte am ganzen Körper. Ich wusste, dass ich diese Nacht kein Auge zutun würde. Aber viel schlimmer war, dass ich wusste, dass Zacke wie immer schon längst tief und fest schlief.

Also verbrachte ich die Nacht vor dem Fernseher. Mit dem Telefon in der Hand, unter Hochspannung und mit gespitzten Ohren. Ich wartete darauf, dass jemand am Türgriff rüttelte. Oder mit der Faust gegen die Tür hämmerte. Oder im Treppenhaus flüsterte. Aber nichts dergleichen geschah. Gott sei Dank.

Eine Stimme aus der Gegenwart holt mich zurück in die milde Sommernacht. Es ist wieder die Stimme des Mädchens. Benji, lass es einfach! Hör auf damit!

Ich würde am liebsten heulen. Gleichzeitig aber passiert etwas mit mir. Vielleicht liegt es an der Erinnerung an jene Mainacht und an meiner Enttäuschung, dass offenbar keiner bemerkt hat, dass ich verfolgt wurde und mir niemand zu Hilfe gekommen war.

Als würde mein Körper die Führung übernehmen und sich nicht dafür interessieren, was mein Kopf davon hielt. Ich muss ja nicht gleich mit meinem Pfefferspray im Anschlag dorthin stürmen, ich kann einfach in Ruhe mal … nach dem Rechten sehen?

Also öffne ich meine Tür wieder und schleiche hinaus. Eine Waffe! Sollte ich eine Waffe mitnehmen? Vielleicht zur Sicherheit. Ich schnappe mir mein Handy und den abgebrochenen Fuß meines Weinglases. Ich verlasse meinen sicheren Garten und schleiche weiter über den Weg zum Ausgang. Du wirst das hier bitter bereuen, Cilla. Dein Vater wird dich dafür umbringen.

Ich passiere den dunklen Supermarkt, der in Wirklichkeit nicht mehr ist als ein kleines rotes Häuschen, und folge dem Weg, der hinunter zum Hafen führt. Das nächtliche Bullholmen ist relativ trostlos, trotz Mittsommer. Aber ich höre die Musik oben vom Lokal.

Und dann sehe ich die beiden.

Ein junges Mädchen in einem weißen Kleid, das in der Nacht förmlich funkelt.

Hinter ihr läuft ein junger Kerl mit einem Cappy her, der etwa im selben Alter ist wie sie.

Ich spüre, wie sich eine unglaubliche Dankbarkeit in mir ausbreitet.

Sie liegt also nicht hilflos zappelnd im Graben.

Ich verstecke den abgebrochenen Glasfuß hinter meinem Rücken und verlasse den Weg, damit mich das junge Paar nicht sieht. An der Ecke eines roten Gebäudes verharre ich und sehe, dass sie die Straße vom Lokal hinunter zum Hafen laufen. Am Hauptsteg bleibt das Mädchen stehen und dreht sich so schwungvoll um, dass ihre blonden Haare durch die Luft fliegen.

»Kannst du bitte aufhören, mich zu verfolgen?!«

»Ja, wenn du aufhörst wegzurennen!«

Schweigend stehen sie sich gegenüber. Ich wage es kaum, Luft zu holen.

»Ich habe doch gar nichts getan«, sagt der Junge. »Warum sollte mich Ina interessieren?«

»Mir doch egal!«

»Natürlich ist dir das nicht egal, sonst würdest du ja nicht weglaufen!«

»Ich will ALLEIN sein. Kapierst du das nicht?«

»Aber ich will mit dir reden, Carro. Du bist immer so verdammt dramatisch. Ich … ich liebe …«

»Hör doch auf. Du liebst gar nichts. Und schon gar nicht mich. Und ich habe keinen Bock mehr darauf. Was ist das mit dir und den Frauen. Du bist wie ein Tier. Ein Tier, Benji!«

Dann wirft das Mädchen ihre Haare ein zweites Mal über die Schulter und geht. Am Bootshafen entlang und auf die Straße zu, die auf die andere Seite der Insel führt. Der Junge mit Namen Benji bleibt stehen und kratzt sich im Nacken.

»Carro, Mann! Jetzt beruhig dich mal.«

»Wir können morgen reden. Ich gehe jetzt schwimmen.«

Und kurz darauf ist sie verschwunden. Der Junge bleibt unschlüssig stehen, dann hebt er den Kopf, sieht in den Himmel. Ich will nur, dass er geht, damit auch ich mein Versteck verlassen und in mein neues Zuhause zurückkehren kann. Nach einer gefühlten Ewigkeit geht er den Hügel zum Lokal hoch. Und ich kann zum ersten Mal seit mehreren Minuten endlich wieder richtig Luft holen.

*

Kurz darauf liege ich in meinem neuen Bett. Es ist nicht so weich wie mein Bett zu Hause. Genau genommen handelt es sich gar nicht um ein Bett im technischen Sinne. Es ist eine dünne Matratze, die auf dem Schlafboden liegt. Aber es reicht.

Ich habe mich davon überzeugt, dass die Tür auch ordentlich verschlossen ist. Mehrmals. Schon irgendwie verrückt. Das war doch nur ein Streit zwischen Teenagern. Nichts weiter. Aber ich bin von Natur aus ängstlich und schreckhaft. So ist das nun einmal. So ist es schon mein ganzes Leben lang und wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch immer so bleiben.

Bevor ich einschlafe, werfe ich einen letzten Blick auf das Display meines Handys. 02:44. Und keine neue SMS. Ich öffne den Messenger. Auch dort keine neue Nachricht. Ich aktualisiere. Dann noch ein zweites Mal. O Gott, Cilla, er wird sich nicht mehr melden, komm endlich damit klar.

Ich lege das Handy neben mich und schließe die Augen.

Es wird alles gut.

Umarme die Angst, Cilla. Sie ist deine Freundin.

Irgendwann bestimmt.

4

Mittsommernacht

Der Schlag trifft sie von hinten, sie fällt vornüber. Ihre Knie und Handflächen schaben über den Boden und fangen sofort an, zu bluten. So wie früher als kleines Kind, wenn sie mit dem Fahrrad gestürzt ist. Aber Caroline ist kein kleines Kind mehr. Trotzdem tut es so weh wie damals. Fast so weh wie die große Wunde an ihrem Hinterkopf.

Alles dreht sich, ihre Kopfhaut brennt wie Feuer, und etwas Rotes läuft ihr den Nacken hinunter auf das Kleid, das sie extra für diesen Anlass gekauft hatte. Weil sie in dieser Mittsommernacht schön aussehen wollte.

Sie krabbelt auf allen vieren über den Felsen, dreht sich um und starrt mit weit aufgerissenen Augen hoch.

»Aber … warum tust du das?«

Sie kennt die Person, die sie von hinten angegriffen hat, aber versteht nicht, warum sie es getan hat. Über ihnen explodiert ein Feuerwerk. Jemand muss es oben beim Lokal gezündet haben. Der Himmel ist grün erleuchtet, und das Licht spiegelt sich in dem spitzen, scharfen Gegenstand, der sie getroffen hat. Aber es war kein Messer, kein Hammer, sondern ein … Eiffelturm. Aus Eisen. Ein wahnsinnig hässliches Exemplar von einem Flohmarkt in Paris. Sie hat ihn sofort erkannt.

Caroline kriecht rückwärts weiter. Sie hört das Meer hinter sich. Sie hatte vorgehabt, schwimmen zu gehen. Um ihren Rausch abzukühlen und danach schlafen zu gehen. Aber sie war nicht weiter gekommen als bis zu den Felsen, als der Angriff kam. Ihr Hinterkopf brannte so sehr, dass sie sich am liebsten übergeben hätte.

Ihre Ellenbogen tun weh, aber sie hat keine Wahl. Sie muss so schnell wie möglich vor diesem Eiffelturm fliehen. Aber was soll sie tun, wenn sie den Rand des Felsens erreicht hat? Sich ins Meer stürzen? In Sicherheit schwimmen?

Weiter kommt sie nicht, denn plötzlich packt eine Hand ihr Bein. Sie spürt, wie etwas um ihren Knöchel gewickelt wird. Ein Seil? Panik überfällt sie und erfasst ihren ganzen Körper. Werde ich jetzt sterben?

»Was machst du da? Hör auf damit. Nein, nein!«

Aber das Seil wickelt sich unerbittlich um ihr Bein. Und wird fest zugezogen. Da sieht Caroline, woran das Seil befestigt ist. Ein großer, durchsichtiger Wasserkanister. Zehn Liter. In diesen Kanistern transportieren Segler ihr Trinkwasser, für den Fall, dass sie außerhalb eines Hafens anlegen oder ihr Wassertank zu klein ist. Und dieser Kanister ist bis obenhin voll. O Gott, ist das Benzin? Werde ich bei lebendigem Leib verbrennen?

Caroline laufen die Tränen übers Gesicht, vor ihrem inneren Auge sieht sie, wie ihr Körper in den Flammen schmort. Sie stellt sich vor, wie ihre Haut aufplatzt und wie es zischt, wie die Haut einer Bratwurst. Ihr platzt der Kopf vor Schmerz, ihre Hände bluten. Sie hat kaum noch Kraft, die Worte herauszupressen.

»B… bitte, bitte nicht!«

Aber es kommt keine Antwort. Der Wasserkanister wird an den Felsenrand getragen. Sein Inhalt schwappt gluckernd hin und her. Vielleicht ist es doch nur Wasser. Zehn Liter Wasser.

Eine Hand drückt Carolines Hals zu und wird von ihren warmen Tränen benetzt.

»Hast du mir noch was zu sagen?«

Caroline keucht.

»Und? Hast du?«

Caroline sammelt alle Kraft, es muss funktionieren. Sie versteht zwar nicht, warum sie es sagen soll, aber es ist das Einzige, was ihr einfällt. Das muss die Rettung sein.

»Verzeih … verzeih mir, bitte.«

Die Reaktion ist nicht wie erwartet. Sie hört nur ein höhnisches Lachen.

»Zu spät. Viel zu spät.«

Es sind die letzten Worte, die Caroline hört, bevor sie einen Tritt gegen die Brust bekommt und rücklings ins Meer stürzt, gefolgt von dem schweren Wasserkanister.

Das Meer verschlingt sie augenblicklich. Der schwere Kanister sinkt mit ihr in rasendem Tempo auf den Meeresgrund. Sie strampelt panisch mit dem freien Bein, versucht, nach oben zu schwimmen, aber der Kanister ist viel zu schwer.

Es rauscht in ihren Ohren, das Wasser schießt in Mund und Hals. Ihre Lunge fühlt sich an, als würde sie gleich platzen. Sie verschluckt sich. Hustet und hustet, aber hört kein Geräusch. Sie befindet sich in einer lautlosen Welt. Wie ein Schleier breitet sich ihr blondes Haar über ihr aus, und das fahle Licht der Mittsommernacht verschwindet immer mehr, je tiefer sie sinkt.

Und dann stirbt Caroline Axén.

5

Der Tag nach Mittsommer

Ich wache davon auf, dass jemand gegen die Tür hämmert. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, dass ich nicht mehr träume. Wo bin ich? In meiner Wohnung in Södermalm? Ist das der Müllwagen, der vor dem Haus steht, klappert und piept?

Nein, jemand klopft gegen die Tür. Ich setze mich kerzengerade im Bett auf und knalle mit dem Kopf gegen die Dachschräge. Aua, tut das weh! Der Dachboden – richtig, ich schlafe zurzeit auf einem Schlafboden unterm Dach. Wie konnte ich das vergessen. Das Klopfen lässt nicht nach, und ich klettere, so schnell ich kann, die Leiter hinunter. Da fällt mir siedend heiß ein, dass ich nur eine Unterhose anhabe. Also werfe ich mir schnell meinen heiß geliebten seidenen Morgenmantel über – das Kleidungsstück, das in den vergangenen Monaten, nachdem Schluss war, meine Depression buchstäblich eingehüllt hat. Mit wenigen Schritten stehe ich an der Tür und öffne diese.

»Oh, Hallöchen! Camilla, stimmt’s?«

Vor mir steht eine ältere Dame. Sie hat kurzes weißes Haar und trägt eine große türkiseTunika.

»Äh … ja?«

»Ich bin Rosie! Deine Nachbarin von nebenan. Da rechts.«

Sie zeigt auf den Schrebergarten, der an meinen mit einer etwa taillenhohen Hecke grenzt. Ich strecke ihr die Hand entgegen.

»Hallo, ich heiße Cilla.«

»Aber eigentlich doch Camilla?«

»Ja, stimmt genau.«

»Wie schön. Die vorherige Besitzerin hat mir schon erzählt, dass du hier einziehst. Und dass du Camilla heißt. Ich wollte sichergehen, dass alles seine Richtigkeit hat. Anita und ich waren gut befreundet.«

Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und hoffe, dass ihre Enttäuschung sich in Grenzen hält, weil ihre beste Freundin weggezogen ist und durch eine Dreißigjährige ersetzt wurde. Ich habe nur einen kurzen Eindruck von Anita gewinnen können, als sie mir am Bahnhof die Schlüssel übergeben hat. Sie war eine elegante Frau in rotem Blazer mit einem schwarzen Pagenkopf. Ganz leise hatte sie gesprochen, so, dass man sich ganz weit vorbeugen und total anstrengen musste, um alles zu verstehen. Vielleicht war sie einfach schüchtern oder vorsichtig. So wie ich.

»Oh, das tut mir leid, dass sie weggezogen ist.«

»Ach was, es ist, wie es ist. Sie hatte den Garten fast dreißig Jahre lang und ist wohl zu dem Schluss gekommen, dass es höchste Zeit war, die Geranien hinter sich zu lassen und ein bisschen öfter ins Kino zu gehen.«

Rosie lächelt. Ich schiele rüber zu meinen Beeten, in denen die Blumen schlapp und farblos auf der Erde liegen. Um die muss ich mich schnellstens kümmern. Ein bisschen aufräumen, mich als tatkräftige und geschickte Gärtnerin beweisen. Obwohl ich praktisch nicht einmal weiß, wie Geranien aussehen, geschweige denn wie man sie pflegt.

»Schläfst du immer so lange?«, fragt Rosie.

»Äh, warum, wie spät ist es denn?«

»Halb zwölf.«

»O Gott! Ich konnte gestern nicht einschlafen, normalerweise schlafe ich nicht … meistens stehe ich sogar ziemlich …«

Rosie unterbricht mich: »Klar, das geht mich ja auch gar nichts an. Ich wollte dich nur wecken und dir mitteilen, was hier gerade los ist.«

Ich runzele die Stirn. Verdammt. Habe ich was verpasst? Ein kollektiver Putztag? Der alljährliche Flohmarkt auf Bullholmen? Hassen mich jetzt alle Nachbarn? Werden sie mich aus dem Verein werfen? Ich spüre, wie mir unter dem Morgenmantel der Schweiß ausbricht.

»Entschuldige, habe ich was verpasst?«

Da lehnt sich Rosie vor. Ihr Atem riecht nach Kaffee. Ihre Stimme ist zu einem Flüstern geworden.

»Es ist etwas ganz Entsetzliches geschehen.«

Ich werde innerlich ganz ruhig, schüttele nur fassungslos den Kopf.

»Was ist passiert?«

»Sie haben auf der anderen Seite der Insel eine Tote gefunden, ein junges Mädchen.«

»Hier? Auf der Insel?«

»Japp. Sie wurde heute früh entdeckt, ist also aller Wahrscheinlichkeit nach gestern Nacht gestorben. Das war eine von den Austernbräuten.«

Ich starre Rosie sprachlos an. Es ist, als hätte sie mich ohne Vorwarnung in einen stockfinsteren Raum gestoßen, ohne Taschenlampe, und ich muss jetzt versuchen, aus eigener Kraft den Ausweg zu finden.

»Austern…«

»’Tschuldige, ich rede immer so einen Schwachsinn. Das ist mein Problem, musst du wissen. Zwischendurch muss man mir den Mund verbieten. Das ist vollkommen in Ordnung, ich nehme das nicht persönlich, Ehrenwort. Austernbräute nennen wir die Luxusgören, die unten im Hafen einlaufen. Teenager, die jeden Sommer mit ihren Familien hier einfallen. Sie haben die dicksten Boote und grölen nachts am lautesten.«

»Aha. Okay.«

»Und jetzt ist eine von ihnen tot. Ist das nicht schrecklich?«

»Doch, furchtbar, aber …«

»Neunzehn, stell dir das mal vor. Sie hatte doch das ganze Leben noch vor sich. Und dann ausgerechnet an Mittsommer. Das ist wie in so einem Thriller oder Horrorfilm! Die Familie ist am Boden zerstört. Was nicht weiter verwunderlich ist, das würde ja jedem so gehen. Aber …«