Gefährliche Provence - Pierre Lagrange - E-Book

Gefährliche Provence E-Book

Pierre Lagrange

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Beschreibung

***Die ersten beiden Fälle für Commissaire Albin Leclerc in einem E-Book*** »Blutrote Provence«: Drei Leichen liegen an einem Waldparkplatz bei Caromb. Die Feriengäste wurden mit einer seltenen Waffe hingerichtet. Die Polizei steht vor einem rätselhaften Fall, in den sich zu allem Übel Ex-Commissaire Albin Leclerc einmischt. War es das Werk eines Auftragsmörders? Geht ein Killer in der Provence um, der Touristen tötet? Leclerc erkennt Parallelen zu einem früheren Fall - und sticht in Begleitung von Mops Tyson in ein Wespennest... »Tod in der Provence«: Carpentras, ein malerischer Ort in der Provence. Das Hamburger Ehepaar Hanna und Niklas erbt dort ein halb verfallenes Chateau. Doch der Traum wird zum Albtraum. In der Nähe des Chateaus findet man eine Frauenleiche – und ihr fehlen die Füße. Hanna erfährt, dass schon früher in der Gegend Frauen verschwunden sind – Frauen mit roten Haaren wie sie. Geht in der Provence ein Serienmörder um, der Körperteile sammelt? Commissaire Albin Leclerc nimmt die Ermittlungen auf.

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Seitenzahl: 906

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Pierre Lagrange

Gefährliche Provence

Die ersten beiden Fälle für Commissaire Albin Leclerc in einem E-Book

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Inhalt

Tod in der ProvenceProlog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061Blutrote ProvenceProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465

Tod in der Provence

Prolog

Ich bin das Licht. Ich bin die Sonne, die in der Finsternis erstrahlt und dem Toten Geist einhaucht. Ich bin die Inspiration. Der Same und Quell. Das Leben. Der Schöpfer. Im Dunkel der Agonie, in der qualvollen Umnachtung, bin ich der Funke. Ich leuchte hell wie ein Feuer. Wie eine Supernova. Ich bin das Licht.

Der Mann stand inmitten des Gewölbes und breitete die Arme aus. Es war kühl, und der Raum war in den harten Schein zweier Halogenlampen getaucht. Die Fugen des alten Bruchsteinmauerwerks krochen wie schwarze Adern über die Wände. Winzige dunkle Flüsse voller Schatten, die auch auf dem Fußboden ein wirres Geflecht bildeten. Die Luft hier unten war feucht, schal und verbraucht. Sie roch schwach nach Moder, nach Chemie und nach Elektrizität. Der betörende Duft des mannshohen Lorbeerbaumes jedoch überlagerte alles andere.

Der Mann schloss die Augen. Er atmete tief ein. Er atmete tief wieder aus. Für einen Moment begann die Welt um ihn herum zu taumeln. Er dachte an die weiße Haut. Weiß wie Milch und Marmor und die blassblauen Venen darunter. Er stellte sich die Bewegung vor, voller Anmut und Grazie. Unter den schlanken Füßen und den leichten Schritten würde man das Wispern des Laubes hören. Bei dem Gedanken daran erfasste ihn ein so heftiges Schaudern, dass er sich an der Tischkante festhalten und danach tasten musste wie ein Blinder. Dann öffnete er die Augen wieder. Was er sah, versetzte seinem Herzen einen Stich und erfüllte es blitzartig mit tiefer Liebe, Demut und heißem Verlangen. Er spürte, wie der Schweiß von innen gegen die Poren drängte, ohne einen Weg hinaus zu finden. Der Puls wühlte wie ein lebendiges Wesen in seinen Adern. Doch dann war der Augenblick vorüber. In ihm breitete sich wieder die traurige Leere aus, denn das Knistern des Laubes und das Brechen kleiner Äste würde er niemals hören können, wenn sich nicht endlich etwas ergab.

Langsam drangen die Umgebungsgeräusche zurück in sein Bewusstsein. Das leise Summen der Generatoren. Das Plätschern. Er betrachtete die zuckende Form vor sich. In dem kalten Licht wirkte sie noch weißer als in seiner Vorstellung. Wie nicht von dieser Welt. Er griff nach vorne, bewegte den Drehregler des Trafos, um die Spannung der Impulse zu verringern. Das Plätschern wurde leiser, weil die Bewegungen der Form schwächer wurden. Eine Form, die ein Michelangelo aus dem Stein befreit haben könnte. Schmal und elegant, dennoch kraftvoll. Wunderschön, nahezu perfekt – und doch so unvollständig. Der Mann seufzte und stellte den Strom ganz aus, worauf die Bewegungen wie bei einer an Land gezogenen Forelle nachließen und schließlich erstarben.

Er zog die Gummihandschuhe über und griff in den Glastank. Mit Daumen und Zeigefinger entfernte er die Krokodilklemmen aus dem Fleisch, in dem kleine Metalldrähte steckten. Sie würden später mit den anderen verknüpft, aber es war noch nicht an der Zeit dazu. Das Material war noch unvollständig. Erneut dachte der Mann an das Knistern des Waldbodens, als er die anderen Klemmen unterhalb des Knöchels löste, wo sich ebenfalls Kupferdraht befand – und wo eindeutig noch etwas fehlte.

1

Die Sommerluft der Provence lag an diesem Juniabend schwer und duftend auf dem noch glühenden Land. Die Felsen am Col de Murs strahlten die Hitze des Tages ab. Der graue Stein, an dem sich Bäume, Büsche und Flechten festklammerten, schoss links und rechts der Straße schroff in die Höhe. Der Himmel darüber hatte beinahe die Farbe der blühenden Lavendelfelder angenommen, die Nicole und Pierre eben an der Abbaye de Sénanque kurz hinter Gordes passiert hatten. Bald würde ein klarer Mond aufgehen. An einem Tag wie heute und einem Abend wie diesem dachte jeder nur ans Leben, das man genießen, aufsaugen, einatmen musste. Aber, wie immer, gab es Ausnahmen – denn Pierre war wütend. Richtig wütend. Er fuhr mit seinem kleinen Peugeot in einem irren Tempo durch die engen Serpentinen des Höhenzuges, der wie ein kleiner Bruder des einige Kilometer südlich verlaufenden Luberon wirkte. Ein Glück, dass die alte verbeulte Karre überhaupt noch fuhr. In jeder scharfen Kurve quietschten die Reifen, und die Türverkleidungen klapperten.

Nicole schwieg. Sie hielt ihre nackten Füße nach draußen, um sie vom Fahrtwind kühlen zu lassen, denn der Peugeot hatte keine Klimaanlage. Durch das offene Fenster strömte der Geruch von Pinien herein. Nicht ein Auto war ihnen bislang entgegengekommen. An Wochenenden herrschte hier weitaus mehr Verkehr. Auf der Hochebene gab es viele Möglichkeiten zum Picknicken an fest installierten Tischen und Bänken, die gerne von großen Familien genutzt wurden. Es waren Touristen und Hobbyfotografen unterwegs, die sich an der pittoresken Landschaft erfreuten oder die rätselhaften Steinhaussiedlungen bei Gordes, die Bories, besichtigen wollten. Oder natürlich die Abtei von Sénanque, wo man zu den Mittagsmessen gregorianischen Gesängen in der Sonnenglut lauschen und Lavendelhonig kaufen konnte, den die Mönche selbst herstellten. Aber an einem ganz normalen Wochentag wie heute hatten alle etwas Besseres zu tun, als durch die provenzalische Landschaft zu rasen und sich dabei zu streiten. Überhaupt fuhren Nicole und Pierre nur deswegen hier entlang statt auf der Bundesstraße, weil Pierre in seinem Wutausbruch vorhin im Kreisverkehr falsch abgebogen war.

»Du kannst mich mal«, brüllte er jetzt und quälte sich mit dem Zigarettenanzünder ab. Es gelang ihm nicht, sich eine weitere Zigarette anzustecken. Also drehte er stattdessen die Musik ohrenbetäubend laut an. Basslastiger Raggamuffin von Raggasonic.

Nicole gab ein genervtes Murren von sich und fuhr sich durch das feuerrote Haar, in das einige Strähnen geflochten waren.

»Ich kann dich mal?« Nicole verdrehte die Augen und spreizte die Zehen. An zweien steckten Ringe. »Du kannst mich mal! Oder besser gesagt: Du kannst mich überhaupt nicht mehr, du Idiot!«

»Verfickte Schlampe!«

Pierre hieb mit der Faust aufs Lenkrad. Der Peugeot machte in der langgestreckten Kurve einen Satz nach links. Brach beinahe aus. Die Reifen quietschten noch lauter als bisher. Nach zwei hektischen Lenkbewegungen war der Wagen wieder in der Spur. Pierre starrte Nicole aus wütenden Augen an, anstatt auf die Straße zu achten. Sie bemerkte Schweißtropfen in seinem Bart und an seinen Schläfen.

Männer wie Pierre hatten ihren bescheuerten Stolz, so war das eben. Er war der Mann, sie war die Frau. Er sagte, was lief. Fertig. Und da konnte er sich noch so sehr als Freigeist darstellen, als Vagabund, der sein Geld mit Straßentheaterprojekten und als Jongleur auf dem Platz vor dem Papstpalast in Avignon verdiente. Er konnte sich mit weiteren hippen Tätowierungen und Piercings pflastern, um sein Anderssein zu unterstreichen, und noch mehr kiffen und von morgens bis abends mit weltoffenen Leuten in den alternativen Studentenclubs abhängen und über Freiheit dozieren. All das würde nichts daran ändern, dass er sich manchmal wie ein idiotischer Macho benahm und Nicole als sein persönliches Eigentum ansah.

Was sie natürlich nicht mit sich machen ließ. Deswegen fauchte sie: »Fick dich selber und guck auf die Straße, statt mich anzuglotzen!«

»Aha.« Er nickte vor sich hin. »Soso. Weißt du was? Ich sage dir was.«

Verdammt, er sollte lieber die Klappe halten, dachte Nicole. Jedes Mal diese blöde Tour. Heute regte er sich so auf, weil sie bei Benedicte und Josie in Gordes zum Grillen gewesen waren. Benedicte arbeitet dort in einer kleinen Galerie, wo sie allen möglichen Schnickschnack an die Touristen verkaufte. Vor allem an die Amerikaner, die alle Stationen aus sämtlichen Peter-Mayle-Büchern über die Provence abklapperten und unbedingt in dem Restaurant essen wollten, in dem Russell Crowe in Ridley Scotts Film »Ein gutes Jahr« gegessen hatte. Dem Ridley Scott von »Alien« und »Gladiator«, der im Luberon lebte. Wie so ein paar weitere Hollywoodleute.

Jedenfalls hatte sich Benedicte damit verplappert, dass Nicole ihr für ein paar Aktbilder Modell gestanden hatte, weil sie fand, dass Nicoles Körper perfekt dafür geeignet war. Wie der einer Elfe, was wiederum Nicole sehr geschmeichelt hatte. Pierre wusste von alledem aus gutem Grunde nichts – von den Aktbildern nicht und nicht von den Komplimenten. Denn Nicole war klar, dass ihm das ganz und gar nicht passen würde. Und damit sollte sie recht behalten. Denn Benedicte stand auf Frauen. Sie war zwar im Prinzip mit Lilou verheiratet, aber für Pierre schien das keine Rolle zu spielen. Er regte sich also darüber auf, dass Nicole ihn hintergangen hatte. Er regte sich darüber auf, dass Nicole sich für Benedicte ausgezogen und ihn vielleicht mit Benedicte oder Josie oder womöglich sogar mit beiden zusammen betrogen haben könnte. Er regte sich erst recht darüber auf, dass eventuell Nicoles nackter Körper in Rötel und Acryl in Dutzenden Haushalten in Arizona oder sonst wo von fetten amerikanischen Kapitalisten angestarrt werden würde. In der Folge war er beim Grillen ausgerastet, nicht mehr zu beruhigen gewesen, aufgesprungen und zum Auto gerannt. Nicole, wie so oft, war mit den Achseln zuckend und einem entschuldigenden Blick hinter ihm hergelaufen.

Jetzt brüllte er: »Ich sage dir was! Du kannst selbst auf die beschissene Straße achten!«

Und damit trat er auf die Bremse. Der Wagen machte einen plötzlichen Ruck – Nicole ebenfalls. Die Sicherheitsgurte schnitten ihr ins Fleisch. Pressten ihren Brustkorb zusammen. Sie keuchte, zog schnell die Beine ins Innere, als der Wagen stand.

»Raus«, sagte Pierre.

»Was?«

»Raus!«

Er beugte sich vor, drückte auf den Auslöser des Sicherheitsgurtes auf Nicoles Seite, löste ihn. Er schnauzte: »Raus aus meinem Wagen. Geh von mir aus zu Fuß, mir egal, aber ich fahre kein Stück mit dir weiter!«

»Spinnst du jetzt völlig?«

Nicole starrte ihn fassungslos an und wartete darauf, dass er sagte, das sei alles nur ein Spaß. Was er aber nicht tat. Stattdessen löste er seinen eigenen Gurt, beugte sich über Nicole hinweg und öffnete die Beifahrertür. Er stieß sie umständlich auf und versuchte dann, Nicole nach draußen zu bugsieren. Er roch nach Schweiß. Nach bitterer Wut. Nicole widersetzte sich. Pierre griff nach ihr. Seine Hand umklammerte Nicoles Oberarm wie ein Schraubstock.

»Lass mich los!« Sie kreischte, denn so hatte sie ihn noch nie erlebt. Er wirkte regelrecht gewalttätig. Er machte ihr Angst. Große Angst.

Pierre brüllte wieder: »Raus!«

Nun stemmte er sich mit allem Gewicht gegen sie. Nicole wollte sich mit der einen Hand irgendwo festhalten, fand aber keine Möglichkeit dazu. Mit der anderen wollte sie sich aus Pierres Griff lösen. Was ihr nicht gelang. Schließlich purzelte sie auf die Straße. Fiel aufs Knie und den Ellenbogen. Hörte die Engel singen, weil sie mit dem Musikantenknochen aufgeschlagen war. Schließlich versuchte sie, sich aufzurappeln, halb im Straßengraben in einem großen Rosmarinbusch, halb auf der Straße. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Pierre die Tür wieder zuzog und durch das offene Fenster auf der Beifahrerseite brüllte: »Schön auf die Straße achten! Schlampe!«

Dann gab er Vollgas und fuhr mit durchdrehenden Reifen davon. Im nächsten Moment war der Peugeot ausgangs der Schlucht am Col de Murs in einer Kurve verschwunden.

»Verdammt!«, rief Nicole mit sich überschlagender Stimme und stand umständlich auf.

Der blöde Idiot hatte sie wirklich aus dem Wagen geworfen. Hier, mitten im Nirgendwo. Das war kein Albtraum, das stimmte wirklich – und das verdeutlichten ihr nicht nur der singende Ellenbogen und das blutige Knie. Das signalisierte ihr auch das sich entfernende Motorengeräusch, das nach kurzer Zeit mit dem Zirpen von unzähligen Grillen verschmolz. Um sie herum gab es nichts als Natur und das sich dahinschlängelnde Band der Straße, der D4, die wie ein Flickenteppich aussah und deren Oberfläche sich warm und rau unter ihren Füßen anfühlte. Die D4 führte entweder eine ganze Menge von Kilometern zurück nach Gordes und zur Abtei von Sénanque – oder nach Venasque, einem kleinen Bergdorf, in der anderen Richtung. Was ebenfalls einige Kilometer waren.

Scheiße, dachte Nicole. Diesen langen Weg? Das würde ja Stunden dauern. Und dann keine Schuhe, nur in Shorts und ihrem Batik-T-Shirt, denn alles andere befand sich in ihrer Umhängetasche. Handy, Schlüssel, Zigaretten. Geldbörse. Ein Pullover. Eine angebrochene Flasche Wasser. Und die Tasche war noch im Wagen. Vor allem das Handy fehlte, denn damit hätte sie aus dieser verdammten Einöde irgendwen anrufen können, um abgeholt zu werden. So ein Mist! Und Autos kamen hier keine vorbei. Ihr blieb nur eines übrig: zu laufen. Nach Gordes, Sénanque oder Venasque – in einen Ort, wo sie telefonieren konnte. Vielleicht in einem Bistro, oder in einem Café.

»Ich hasse dich, Pierre!«, schrie Nicole in den Abendhimmel. Sie schluchzte vor Wut. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihre Nase lief.

»Mistkerl!«

Nicole ballte die Fäuste. Schnaufte. Lauschte. Überlegte und hoffte. Vielleicht hatte Pierre es sich doch wieder anders überlegt. Wollte ihr nur auf seine Art zeigen, wo es langging und wer der Chef war. Vielleicht würde er zurückkommen und sie wieder aufsammeln, weil sich sein schlechtes Gewissen meldete und ihm klarwurde, dass er das nicht bringen konnte, sie allen Ernstes hier allein zurückzulassen.

Aber es kam niemand. Es zirpten nur die Grillen. Kein sich näherndes Motorengeräusch. Kein Pierre. Niemand. Es passierte überhaupt nichts. Gar nichts. Und schließlich entschied Nicole, sich in Bewegung zu setzen und in die Richtung zu gehen, in der auch der Peugeot verschwunden war. In Richtung Venasque.

2

Nach einer Weile wurde das Land flacher, die Straße gerader, und das verbleibende Tageslicht wandelte sich zu einem dunklen, samtenen Schwarz. Der Mond verbarg sich hinter einigen Schleierwolken und konnte die Straße nur schwach erhellen. Nicole trottete vor sich hin und beschloss, dass es mit Pierre nun ein für alle Mal vorbei war. Diese Entscheidung beflügelte ihren Schritt. Nur ab und zu blieb sie stehen, strich ein paar kleine Steine unter den Füßen fort, die sich schmerzhaft in die Sohlen gegraben hatten. Und ging weiter.

Halb rechts sah sie nun das dunkle Massiv des Mont Ventoux, der die wildromantische Landschaft der Provence wie ein Götterolymp dominierte. Nicole wusste, dass er den Kelten als heiliger Berg gegolten hatte. Heute war er etwas Ähnliches für Radsportler und Tour-de-France-Anhänger. Nicole musste an den vernarbten Rücken eines gigantischen urzeitlichen Wesens denken, dessen Buckel aus dem Meer auftauchte. Unter dem fast zweitausend Meter hohen Gipfel lag ein riesiges Schotterfeld, das auch in diesem Licht noch zu erkennen war. Es sah stets ein wenig so aus, als habe es dort gerade geschneit.

Mit Erleichterung erkannte sie schließlich links die Lichter von Venasque, das wie ein Schwalbennest an einem riesigen Felsen zu kleben schien. Irgendwo vor ihr müsste sich bald die Straße gabeln, dachte sie. Und dann näherte sich ein Motorengeräusch.

Nicole blieb stehen, spähte nach vorn und nach hinten, um zu verorten, aus welcher Richtung es kam. Eine Minute verstrich, bis zwei Abblendlichter zu erkennen waren. Sie kamen rasch näher und gehörten zu einem Wagen, der allerdings nicht der von Pierre zu sein schien. Er war größer und neuer. Aber immerhin war es ein Auto, und in diesem Auto saß ein Fahrer, der ihr vielleicht helfen würde. Sie ein Stück mitnehmen, denn ihre Beine fühlten sich inzwischen reichlich schwer an, und ihre Füße taten weh. Also stellte sie sich halb auf die Fahrbahn und gestikulierte mit den Armen, um auf sich aufmerksam zu machen. Mit Erfolg. Der Wagen verlangsamte sein Tempo. Fuhr rechts ran und hielt mit laufendem Motor. Nicole lief hin.

»Brauchen Sie Hilfe? Hatten Sie einen Unfall?«, fragte der Fahrer durch die zur Hälfte geöffnete Seitenscheibe. Daraus schlug Nicole ein Schwall eiskalter Luft entgegen. Die Klimaanlage musste auf Anschlag stehen.

»Sie schickt der Himmel«, sagte Nicole mit einem glücklichen Lächeln, beugte sich vor und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Es gab keinen Unfall. Mein Freund und ich hatten einen Streit. Der Idiot hat mich einfach aus dem Wagen geworfen …«

Der Fahrer blickte Nicole ausdruckslos an. Musterte sie. Warf einen Blick nach unten.

»… und vielleicht könnten Sie mich ein Stück mitnehmen. Bis nach Venasque oder Carpentras, je nachdem. Das würde mir sehr helfen. Ich laufe schon seit fast einer Stunde zu Fuß.«

»Sie tragen gar keine Schuhe.«

»Nein. Leider nicht. Und es ist bald Nacht, und …«

»… und Ihr Freund ist fort, der Schuft. Sie sind ganz allein, und der Weg ist weit.«

Nicole nickte.

»Es hat noch niemand für Sie angehalten?«

»Nein, hier kam bisher niemand entlang. Und mein Handy und alles sind noch im Wagen meines Freundes – Ex-Freundes, muss ich wohl sagen …« Sie seufzte. »Es ist fürchterlich.«

»Woher kommen Sie?«

»Aus Avignon.«

Der Mann schien zu überlegen. Sah sie schließlich wieder an. »Aber natürlich«, sagte er und machte eine Geste. »Steigen Sie bitte ein. Ich fahre zwar nicht nach Avignon, aber ich helfe Ihnen.«

Nicole fiel ein Stein vom Herzen. Es gab doch noch gute Menschen. Sie sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank.«

Der Mann nickte und ließ das Fenster wieder nach oben surren. Nicole lief um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Drinnen war es wirklich eiskalt.

»Vielen Dank«, wiederholte sie, schloss die Tür und griff nach dem Sicherheitsgurt.

»Keine Ursache«, erwiderte der Mann.

Er wartete, bis Nicole angeschnallt war, sah zwischendurch immer wieder in den Rückspiegel und nach vorne, als wolle er sich vergewissern, dass er gefahrlos wieder auf die Straße einscheren konnte.

Der Mann fragte: »Möchten Sie einen Schluck trinken? Etwas Mineralwasser?«

Nicole nickte und fröstelte ein wenig. »Das wäre himmlisch. Meine Kehle fühlt sich an wie die Wüste Gobi.«

»Dagegen sollten wir etwas tun.« Mit der rechten Hand öffnete der Mann ein Fach in der Mittelkonsole zwischen den Sitzen, griff hinein und schien in dem Fach nach einer Flasche zu suchen. »Ihr Haar hat eine beeindruckende Farbe. Ist sie echt, wenn ich fragen darf?«

Nicole zögerte ein wenig mit der Antwort. Es erschien ihr merkwürdig, dass der Mann danach fragte. »Ja«, antwortete sie schließlich. »Da ist nichts gefärbt.«

Der Mann nickte. Sah noch einmal in den Rückspiegel. Dann schien er gefunden zu haben, wonach er suchte, und nahm es aus der Mittelkonsole. Es sah aber nicht nach einer Flasche Wasser aus. Es ähnelte viel mehr einer Fernbedienung, die er nun mit einem Ruck hochnahm und Nicole gegen die Halsschlagader presste.

Sie hatte keine Zeit zu reagieren oder nachzudenken. Ein heftiger Schlag ließ ihren Körper zucken. Alle Muskeln schienen sich gleichzeitig zu verkrampfen. Sie biss sich auf die Zunge – und verlor das Bewusstsein.

 

Sie kam erst wieder zu sich, als sie einen heftigen Schmerz im Rücken wahrnahm. Eine Tigerpranke schien ihr das Fleisch von den Knochen zu reißen. Sie wollte aufschreien, aber das ging nicht. Etwas steckte in ihrem Mund. Sie bekam einen Erstickungsanfall, musste husten, würgen, sich beinahe erbrechen. Aber auch das war nicht möglich, weil etwas ihre Mundhöhle wie mit einem Korken verschloss. Nicole atmete hektisch durch die Nase, riss die Augen weit auf und starrte in den schwarzen Nachthimmel. Bäume oder Büsche glitten an ihr vorbei. Sie hörte ein Ächzen oder Schnaufen, Schaben. Sie wollte nach irgendetwas greifen, um sich daran festzuhalten. Aber auch das war nicht möglich. Anscheinend waren ihre Hände gefesselt.

Wieder war da dieses Gefühl am Rücken. Als hätte ihr jemand einen Topf mit kochendem Wasser über die Haut gegossen. Und nun wurde Nicole klar, dass sie auf dem Rücken liegend über den Boden gezogen wurde. Scharfe Steine schnitten ihr die Haut auf. Das Leben schoss in sie zurück. Sie wollte sich winden, drehen, wegrennen. Doch sie musste feststellen, dass nichts davon machbar war, denn ihre Beine waren an etwas fixiert. Sie verdrehte die Augen. Ihr gelang der Blick auf einen dicken Holzbalken. An dem Balken waren ihre Knöchel festgebunden. Keine Chance, sich zu bewegen. Und dort unten sah sie im Mondlicht den Mann. Den Mann, in dessen Auto sie gestiegen war, der sie mit einem Elektroschocker betäubt, gefesselt und hierhergeschleppt haben musste.

Er hockte neben dem Balken. Nicole spürte seine Hände an ihren Fußsohlen. Er schien dort Schmutz fortzustreichen. Dann sah er zu ihr hin, während sie mit aller Kraft an dem schweren Holz ruckte. Sie gab erstickte Schreie von sich und starrte panisch zu dem Kerl, der sich nun aufrichtete. Er hielt etwas in der Hand.

»Sie haben sehr schöne Füße«, sagte der Mann und atmete schwer. »Ich werde sie mitnehmen.«

Bevor sie seine Worte verarbeiten konnte, verstand Nicole, was er in der Hand hielt. Der blanke Kopf aus poliertem Edelstahl blitzte im Mondschein hell auf, als der Mann mit der langstieligen Axt weit ausholte und sie in Richtung des Balkens niedersausen ließ.

3

Es krachte laut. Ein abscheuliches Geräusch. Einen Moment später breitete sich eine rote Pfütze aus. Klebrige Spritzer verteilten sich überall. Hanna keuchte genervt. Da stand sie nun in der Küche ihrer Etagenwohnung in Hamburg-Eppendorf, hatte das Chaos endlich besiegt, und jetzt das. Also stellte sie die randvolle Tüte mit den Resten von verschmierten Servietten, Luftschlangen und Geschenkpapier zur Seite, statt sie zum Müll zu bringen. Sie hob den Topf mit der restlichen Tomatensoße wieder auf, den sie gerade mit einer unbedachten Bewegung von der Anrichte gestoßen hatte, und nahm einen Lappen, um die Bolognese vom Boden aufzuwischen.

Es war inzwischen fast elf Uhr abends. Alle Fenster standen offen, denn es war heiß. Auch in der Nacht noch. Von draußen summte das Lied der Straße ins Innere des Altbaus mit seinen hohen Räumen und stuckverzierten Decken. In der Küche summte das Lied des Geschirrspülers, den Hanna eben zum zweiten Mal mit den Hinterlassenschaften der Party zu Lillys sechstem Geburtstag gefüllt hatte.

Sechs Jahre – wie schnell war nur die Zeit verflogen? Gestern noch ein Baby, heute eine naseweise kleine Prinzessin mit lackierten Fingernägeln, die eben erst eingeschlafen war, weil die Aufregung über die Feier und die vielen Geschenke noch anhielt. Okay, und natürlich hatte sie auf ihren Vater gewartet, klar – und war darüber so müde geworden, dass sie endlich die Kurve bekommen hatte. Während Mama alles aufräumte und putzte.

Als Hanna die Soße vom Boden gewischt hatte, stand sie auf, streckte den Rücken durch, warf den Lappen in die Spüle, wusch ihn aus und hängte ihn über den Wasserhahn.

Fertig. Sie auch, und zwar total.

Hanna atmete tief durch, nahm die Flasche Wein und ein Glas und ging ins Wohnzimmer, das heute Nachmittag und am frühen Abend noch der Schauplatz des Prinzessinnen-Geburtstags mit sechs entfesselten Mädchen in rosa Kleidchen und Glitzer-Diademen gewesen war – Lilly eingeschlossen. Sie hatte für jedes vollendete Lebensjahr eine Freundin einladen dürfen. Wie sollte das bloß erst mit zehn Jahren werden, dachte Hanna und ließ sich auf das Sofa fallen, wo sie sich das Glas vollgoss und einen großen Schluck trank. Von einem Moment auf den nächsten spürte sie, wie kaputt sie tatsächlich war. Die Kissen wollten sie beinahe in sich aufsaugen. Gerade als sie die Beine ausstreckte, hörte sie, wie der Schlüssel in der Wohnungstür herumgedreht wurde. Die Tür öffnete und schloss sich wieder. Eine schwere Tasche wurde abgestellt. Dann Schritte auf den Holzdielen. Und schließlich erschien Niklas im Eingang zum Wohnzimmer. Ein entschuldigendes und trauriges Lächeln auf den Lippen. Er machte mit beiden Armen eine Geste, die Hanna wohl bedeuten sollte, dass er machtlos gegen die Umstände gewesen war.

Was Hanna anders sah und deswegen nichts weiter sagte als: »Na?«

Niklas kam herüber. Beugte sich runter, um Hanna einen Kuss zu geben. Sie wich aus, so dass er nur ihre Wange erwischte. Setzte sich mit einem Ächzen neben sie, wischte sich durchs Gesicht und sagte: »Es tut mir wirklich leid.«

Hanna sagte nichts. Ihr tat es ebenfalls leid. Leid, dass Niklas den sechsten Geburtstag seiner Tochter verpasst hatte. Leid, dass Lilly auf Papa warten musste, der nicht kam. Leid, dass sie mit der ganzen Arbeit und der Ausrichtung der Party alleingelassen war. Leid, dass Niklas sein Job inzwischen über alles ging, der längst über ihn hinauswuchs, ihn auffraß und alle mit verschlang, die ihm nahestanden.

Niklas erklärte: »Auf der Baustelle hat es länger gedauert. Die Abnahme eines solchen Gebäudes ist sehr komplex, und man muss hier und da nachbessern.«

Niklas war Architekt und arbeitete seit einigen Jahren selbständig. Er wurde von größeren Büros angeheuert, um umfangreiche Projekte zu unterstützen oder sie komplett zu leiten und zu planen. Manchmal war er mit mehreren Aufträgen gleichzeitig beschäftigt und arbeitete oft auch von zu Hause aus. Das war jedoch nicht immer möglich, und wenn es in die Umsetzungsphasen kam, war Niklas oft viel unterwegs. Das Architekturbüro, für das er im Moment arbeitete, baute gerade einen gigantischen Glaspalast in Berlin. Eine Shopping-Mall. Niklas war die ganze Woche über dort gewesen. Heute war nun Freitag.

Er redete weiter: »Das Flugzeug hatte Verspätung. Ich musste noch mal in die Firma …«

»Ich weiß, das hast du mir alles gemailt.« Hanna trank noch einen Schluck und starrte an Niklas vorbei.

»Es ist ein wirklich wichtiges Projekt.«

»Deine Familie ebenfalls, nicht?«

»Ihr seid doch kein Projekt.«

Hanna schwieg.

Niklas ebenfalls. Dann sagte er: »Du bist sauer.«

»Nein, enttäuscht.«

»Es war eine Ausnahmesituation.«

Hanna sagte nichts.

»Hey, es ist ein Zwanzig-Millionen-Euro-Bau, und wenn das Projekt abgeschlossen wird, dann muss ich als Architekt da hin. Da gibt es kein Wenn und kein Aber.«

»Du hättest auch wen anders schicken können.«

»Zur Bauabnahme und für Nachbesserungen kann ich niemanden schicken. Das weißt du doch ganz genau.«

»Pff.«

Das mochte vielleicht stimmen. Andererseits sagte er das andauernd. Musste alles persönlich machen, konnte und mochte nichts delegieren. Arbeitete bis in die Nacht, kam völlig erledigt nach Hause oder gar nicht erst aus seinem Arbeitszimmer heraus. War gedanklich frühmorgens schon wieder bei der Arbeit, mailte am Wochenende hin und her, war dauernd gereizt, hatte Schlafstörungen und dabei ständig das Gefühl, trotz aller Arbeit nichts zu schaffen.

Als es vor einiger Zeit immer schlimmer damit geworden war, hatte Hanna darüber mit Henry telefoniert, der sagte, das seien Symptome eines Burn-outs und dass es sogar noch schlimmer damit werden könne. Henry war Hannas Bruder. Er lebte in Frankfurt und hatte eine Praxis für Psychotherapie. Niklas mochte ihn nicht, hatte sich aber von Hanna dazu überreden lassen, mit Henry zu reden. Und Henry hatte ihn davon überzeugt, wenn nicht mit einem Facharzt, dann wenigstens einmal mit seinem Hausarzt wegen der Schlafstörungen und Überlastungen zu sprechen. Der Arzt hatte Niklas gesagt, es gebe ambulante Therapien, und verschrieb ihm ein Antidepressivum. Niklas’ Antwort war gewesen, dass er das für Unsinn halte, denn jeder in der Firma arbeite so viel wie er, und die Schachtel mit den Tabletten hatte einige Wochen lang ungeöffnet im Küchenschrank gelegen. So lange, bis Hanna eine Pillendose mit Fächern für jeden Tag gekauft, die Tabletten einsortiert und sie im Badezimmer am Waschbecken auf Niklas’ Seite gestellt hatte. Dann hatte sie erklärt, dass sie ab jetzt jeden Tag nachprüfen werde, ob er sie auch nehme – und er sich andernfalls auf etwas gefasst machen konnte. Es klappte leidlich. Wenigstens nahm er inzwischen ab und an mal eine, damit Hanna Ruhe gab. Was besser war als gar nichts.

Bei alledem machte sich Hanna manchmal insgeheim Gedanken darüber, ob Niklas sich in Bezug auf Henry und Ärzte, Tabletten und eine Therapie vielleicht deswegen so stur anstellte, weil mit ihm tatsächlich alles in Ordnung war. Weil er die viele Arbeit nur vorgab und in Wahrheit eine Affäre hatte, aber nun sprichwörtlich bittere Pillen schluckte, damit seine Tarnung nicht aufflog. Hanna hatte sich sogar schon dabei erwischt, dass sie heimlich an seinen Hemden roch, bevor sie in die Waschmaschine wanderten. Dass sie in seine Sakkotaschen fasste, um zu sehen, ob sie dort zum Beispiel zwei Theaterkarten fände. Einmal starrte sie sogar fünf Minuten auf sein Handy, während er in der Badewanne lag – unentschlossen, seine SMS zu lesen oder den Rufnummernspeicher zu überprüfen. Dabei war es nur ein vager Verdacht. Ein unbestimmtes Gefühl, als ob man manchmal glaubt, möglicherweise eine Erkältung zu bekommen. An anderen Tagen hasste sie sich dafür und hielt das alles nur für Blödsinn und sich selbst für hysterisch.

»Wie war die Party?«, fragte Niklas. »Alles gut?«

Hanna schob ihm kommentarlos den kleinen Fotoapparat hin, der auf dem Wohnzimmertisch lag. Er griff danach, schaltete ihn ein und betrachtete auf dem Display Hannas fotografische Dokumente. Lilly mit Geburtstagskuchen. Grinsend und mit Zahnlücke. Lilly mit Geschenk. Mit Freundinnen. Das ganze Zimmer voller Kinder und Mütter. Lilly beim Auspacken von Geschenken. Lilly beim Sackhüpfen und mit von Bolognesesoße verschmiertem Mund …

Aus den Augenwinkeln sah Hanna Niklas schmunzeln. Seine Gesichtszüge waren weich, liebevoll und immer noch etwas traurig. Sicher wäre er sehr gerne dabei gewesen. Und sie hatte vielleicht etwas zu hart reagiert. Aber dennoch …

Er fragte: »Hat sie sich über das Geschenk gefreut?«

Hanna nickte. »Hängt schon über ihrem Bett. Kannst du dir ja morgen früh ansehen.«

Es handelte sich um ein großes Bild. Ein Gemälde. Ein eher ungewöhnliches Geschenk für ein kleines Mädchen – allerdings hatte sie es sich unbedingt gewünscht, und Hanna hatte es für sie gemalt. Lilly hatte gesagt: Mama, immer zeichnest du etwas für andere Kinder, mal doch auch mal was für mich. Daraufhin hatte Hannas Herz zunächst geblutet, und schließlich hatte sie eine riesige Leinwand gekauft und losgelegt. Zugegeben, das Ergebnis war auf fast zwei Quadratmetern etwas übertrieben und entsprach wohl eher dem Format ihres schlechten Gewissens. Denn es stimmte, Hanna malte in der Regel eher Bilder für andere. Sie illustrierte Kinderbücher, und zwar recht erfolgreich. Ihr Pseudonym war »Hanna Henna« – eine Anspielung auf ihre roten Haare, die Lilly von ihr geerbt hatte. Auf dem Bild war eine grüne Wiese zu sehen, auf der sich sämtliche von Lillys Lieblingstieren zu einem Fest trafen und zusammen tanzten: Pinguine mit Bären, Schmetterlinge mit Bienen, Katzen mit Mäusen. Lilly hatte sich beinahe ein Loch in den Bauch gefreut und, stolz wie Oskar, all ihren Geburtstagsgästen erklärt: »Das hat meine Mama gemalt. Sie ist nämlich Künstlerin.«

Hanna spürte Niklas’ Blicke auf sich, trank noch etwas Wein. Dann sagte er völlig unvermittelt: »Onkel Justin ist tot.«

Hanna verschluckte sich und hustete. »Wie bitte?«

Justin. Hanna hatte ihn nie persönlich kennengelernt. Sie kannte ihn lediglich aus Niklas’ Erzählungen. Von Bildern oder aus Büchern, und sie wusste, dass Niklas, trotz der Distanz der letzten Jahre, eine enge emotionale Bindung zu ihm gehabt hatte. Justin lebte in Südfrankreich in einem großen alten Haus bei Avignon. Niklas war in seiner Kindheit und Jugend sehr oft zu Besuch bei seinem Onkel gewesen, der zeitweise die Rolle eines Ersatzvaters übernommen hatte. Soweit Hanna wusste, war Justin als Literaturwissenschaftler eine Koryphäe auf seinem Spezialgebiet des Mittelalters. Gewesen.

»Tja«, machte Niklas, klatschte mit den Händen und ergänzte nach einer Pause: »So schnell geht das. Herzinfarkt mit gerade mal siebzig Jahren. Sein Notar und Anwalt hat mich heute angerufen. Die Putzfrau hat Justin im Sessel sitzend tot aufgefunden. Als sei er eingeschlafen. Jetzt gibt es natürlich einige Dinge zu klären.«

Niklas griff nach Hannas Glas, füllte es neu auf und trank es dann zur Hälfte aus.

Hanna sagte: »Das tut mir sehr leid. Vielleicht …« Sie dachte einen Moment nach. »Es ist schade, dass du ihn in den letzten Jahren nicht mehr gesehen hast. Ihr habt ja nur gelegentlich telefoniert. Zu Geburtstagen, Weihnachten …«

Niklas nickte und drehte das Weinglas in den Händen herum.

»Die Sache ist die, Hanna«, sagte er dann, »dass Justin außer mir keine Verwandten hatte. Irgendjemand muss sich nun um ein paar Dinge kümmern. Und ich denke, dass ich das sein werde. So viel bin ich ihm schuldig.«

Hanna formte den Mund zu einer Antwort, sagte aber nichts, sondern nickte nur. Mit anderen Worten, Niklas würde für ein paar Tage fort sein. Wieder etwas weniger Zeit, die er bei seiner Familie verbrachte, dachte Hanna und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass sie so dachte.

»Es gibt auch beim Notar etwas zu klären«, fuhr Niklas fort. »Justin hat ein Testament aufgesetzt, und ich habe das Gefühl …« Er trank das Glas leer. »Ich vermute, dass er mir tatsächlich das Château vermacht hat.«

»Das Château?«

»Sein Anwesen, das große Haus.«

Natürlich wusste sie, worum es ging. Sie hatten immer wieder einmal darüber gesprochen, dass früher oder später etwas mit dem Haus geschehen müsste. Wenn Justin in ein betreutes Wohnen müsste, ins Alters- oder Pflegeheim. Früher oder später, das war immer klar, wäre das ein Thema geworden. Und damit auch das Château. Sie erinnerte sich, dass Niklas oft davon gesprochen hatte, wie wunderbar es wäre, einfach alles hinzuwerfen und ein kleines Hotel in der Provence bei Onkel Justin zu eröffnen. Beiläufig, wie man manchmal eben solche Dinge sagt. Eine Vorstellung, die Hanna stets begeistert und sie regelrecht infiziert hatte – doch Träume waren nur Träume und außerdem kaum umsetzbar: Sie hatten nicht viel Geld. Aber nun, falls das mit dem Château wirklich eintreten sollte und damit vielleicht auch eine gewisse Geldsumme als Erbe verbunden wäre …

Mit einem Schlag war Hanna wieder hellwach, setzte sich aufrecht hin und schlug die Beine unter.

»Mein Gott«, sie legte die Hand vor den Mund, »du meinst – wir erben ein Château in Südfrankreich? Ein Château, das ein kleines Hotel werden könnte?«

»Gut möglich.« Niklas zuckte mit den Achseln.

»Wow«, sagte Hanna zwischen den Fingern hindurch.

»Zunächst«, sagte Niklas und massierte sich den Nasenrücken, »muss natürlich die Beerdigung organisiert werden. Und verschiedene andere Dinge. Ich werde mich darum kümmern müssen.«

»Niklas – gibt es da nicht irgendeine andere Möglichkeit? Du halst dir immer mehr auf, und …«

»Ich möchte, dass wir zusammen nach Frankreich fahren.«

»Wir?«

»Du, Lilly und ich. Ich hatte dir eben gesagt, dass ich noch etwas im Büro regeln musste. Aber letztlich haben wir die Bauabnahme bekommen. Das Projekt ist damit abgeschlossen. Das Wochenende steht vor der Tür, und ich werde mir eine gewisse Zeit freinehmen. Zeichnen kannst du auch in Frankreich – und wenn irgendwas sein sollte, bin ich für das Büro dort ebenfalls erreichbar und kann alles Mögliche vom Laptop aus steuern. Ich glaube, ich brauche das. Ihr braucht es. Wir brauchen das.«

Hanna lächelte. Beugte sich vor und nahm Niklas’ Gesicht in beide Hände, um ihm einen Kuss zu geben. Da war er wieder, ihr echter, einziger und wahrer Niklas. Sie fragte sich, wie sie manchmal so dumm sein konnte zu glauben, er habe eine andere. »Da hast du sehr recht«, erwiderte sie.

»Außerdem sind Sommerferien. Der Kindergarten hat zu. Also dachte ich mir: Warum soll ich alleine nach Frankreich fahren? Ich glaube nicht, dass ich alles, was zu regeln ist, übers Wochenende hinbekomme. Das wird sicher einige Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem habe ich dir schon so viel von Justins Haus erzählt – spätestens jetzt solltest du es einmal zu Gesicht bekommen, was auch immer nach Justins letztem Willen damit geschehen wird. Im Übrigen sprichst du fließend Französisch, viel besser als ich.«

Das stimmte. Hanna arbeitete als »Hanna Henna« auch mit Verlagen aus Frankreich zusammen, hatte während ihres Studiums an der Frankfurter Kunsthochschule zwei Auslandssemester in Paris an der Sorbonne Kunst studiert und zur Schulzeit ein Au-Pair-Jahr in Bordeaux verbracht.

Niklas ergänzte: »Ich hätte dich zudem einfach gerne dabei, wenn ich Justin beerdige. Ich wäre nicht gerne allein, weißt du.«

»Wann willst du fahren?«

»Am besten schon morgen. Spätestens übermorgen. Ich hoffe, ich bekomme kurzfristig einen Flug nach Marseille. Dort mieten wir einen Wagen und sind in einer Stunde vor Ort.«

»Fliegen wäre sicher angenehmer für Lilly, als sechzehn Stunden lang im Auto zu sitzen.«

Niklas nickte. »Genau das war mein Gedanke.«

»Natürlich kommen wir mit«, flüsterte Hanna und strich ihrem Mann über die unrasierte Wange.

Er sagte leise: »Übrigens – danke, dass du Lilly geboren hast.«

Hanna hauchte: »Immer wieder gerne.«

Dann küssten sie sich erneut – und dieses Mal richtig.

4

Ein Morgen in der Provence. Was sollte er nur mit diesem Tag anfangen? Wahrscheinlich dasselbe wie mit jedem anderen Tag. Albin fummelte eine zerknautschte Schachtel Gitanes aus der Hosentasche und steckte sich im Gehen eine an. Wie jeden Morgen. Tyson hechelte ihm voraus, sah sich ab und zu mal um, als ob er sich vergewissern wollte, dass Albin noch hinterherkam. Albin sah wie jeden Morgen mit einem Blick zurück, der sagte: Mach das noch einmal, blöder Köter, und ich trete dir in den Hintern, dass du bis nach Marseille fliegst. Dabei war beiden klar: Dazu würde es nie kommen.

Einerseits hatte Albin mit seinen fünfundsechzig Jahren keinen so festen Tritt mehr wie noch mit fünfunddreißig, als er die Polizeimannschaft ins Pokalfinale gekickt hatte. Andererseits war Tyson zwar bloß ein Mops, aber ein recht schwerer, und würde es allenfalls bis nach Aix schaffen. Drittens mochten sich die beiden irgendwie. So sehr wie man eben jemanden mögen konnte, dachte Albin, dessen warme Kackhaufen man jeden Morgen mit einer hauchdünnen Plastiktüte aus der Gemüseabteilung vom Auchan aufsammeln musste.

Albin schob die Gitanes in die rechte Hosentasche zurück. In der linken steckten die zusammengeknüllten Tüten für Tysons Hinterlassenschaften. Er paffte eine Wolke in den strahlend blauen Himmel, die sich rasch zwischen den im Wind wispernden Blättern der Platanen an der Route de Carpentras verlor. Ein pensionierter Bulle auf täglichem Routinegang mit seinem Mops, den sie ihm zum Abschied geschenkt und ausgerechnet Tyson getauft hatten. Nach Mike Tyson, dem Boxer, weil der Hund so eine platte Nase hatte. Andere bekamen eine Armbanduhr mit Gravur. Er einen Mops. »Damit du was zu tun hast und uns nicht mehr auf die Nerven gehst«, hatten sie gesagt. Und sich köstlich amüsiert. Albin, der aussah wie ein in die Länge gezogener Jean Gabin vom Format eines Kleiderschranks. Dazu das O-beinige sabbernde Vieh, dessen Gesicht so aussah, als habe sich ein Elefant drei Tage lang darauf ausgeruht. Was für ein Paar!

Nun, etwas zu tun hatten sie ihm verschafft, das stimmte. Das andere, das klappte nicht so ganz – denn was tat ein Bulle, der noch eine Rechnung offen hatte und vor seiner Zeit in Rente gehen musste? Natürlich sich über Neuigkeiten informieren und den Kollegen in der Gendarmerie und im Kommissariat auf die Nerven gehen.

Tyson hechelte quer über die Straße. Er kannte die Strecke, die jeden Tag dieselbe war. Ihre Route. Erster Wegpunkt war das Café du Midi. Ein kleines, zentrales Café mit einer Bar Tabac, drei Tischen vor der Tür und einer Boulebahn nebenan. Seine Fassade war verwittert. Die Fenster waren stumpf, die Markise verblichen wie der Schriftzug über dem Eingang und die Ricard-Werbung auf den Aschenbechern. Es wirkte so, als habe es das Café du Midi hier schon immer gegeben. Und als habe es schon immer so ausgesehen. Was vielleicht sogar stimmte. Die alten Dinge waren doch immer noch die besten.

Vor dem Café stand ein Postauto. Und heute kein Fahrzeug der Polizei, was Albin sofort auffiel. Denn jeden Morgen um diese Zeit hielten hier die Kollegen, um einen Kaffee zu trinken oder ein paar Zigaretten zu kaufen und ein bisschen zu schwatzen und sich mit Fragen löchern zu lassen.

Albin folgte Tyson, der bereits die ausgetretenen drei Stufen des Cafés hinaufsprang. Drinnen empfing Albin ein Halbdunkel mit vergilbten Wänden und alten Fotos von Tour-de-France-Profis, der Geruch nach Zigaretten, starkem Kaffee und schalem Bier. Und natürlich Matteo. Er putzte ein paar Gläser mit einem speckigen Tuch. In etwa so speckig wie das Poloshirt, das sich über seinem gewaltigen Bauch spannte. Seine Halbglatze glänzte ein wenig.

Er murmelte, ohne aufzublicken: »Womit habe ich das verdient? Albin schon wieder! Willst du mir die Gäste vergraulen?«

»Welche Gäste kommen schon in einen miesen Schuppen wie diesen?«

»Alte Kerle, die nichts Besseres zu tun haben, als die arbeitende Bevölkerung dabei zu stören, gegen die Staatsverschuldung zu kämpfen.«

»Als ob du jemals in deinem Leben gearbeitet hättest.«

Matteo lachte kurz auf, was mehr wie ein Husten klang, und stellte ungefragt eine dickwandige weiße Tasse unter den riesigen Kaffeeautomaten, der noch aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts stammen musste. Ein riesiges, verchromtes Teil vom Format eines V8-Motors, das zu fauchen und zu spucken begann, als Matteo irgendwelche Hebel bediente. Schließlich kam er mit der vollen Tasse zurück, stellte sie Albin auf den Tresen, neben dem, eine Etage tiefer, Tyson aus einer Schale lautstark Wasser schlabberte, die Matteo ihm schon hingestellt hatte, bevor sie hereingekommen waren. Wie jeden Morgen.

Albin schnüffelte am Kaffee. Er roch, wie immer, phantastisch. Er fragte: »Ist in der Brühe wieder Polonium, um mich zu vergiften?«

»Die doppelte Dosis heute für dich, Albin. Arafat-Mischung.«

»Ausgezeichnet.«

Albin schlürfte einen Schluck, blickte dann auf und beobachtete Matteo, der sich wieder den Gläsern widmete und das gerahmte Bild von Marine Le Pen an der Wand geraderückte. Darauf befand sich sogar ein Autogramm von Marine. Matteo hatte es bei irgendeinem Parteitag der Front National ergattert. Oder bei einem Wahlkampfbesuch. Er stand auf die Rechten, wie so viele hier im Süden. Wie so viele bei der Polizei. Bis auf Albin, denn dem war Politik vollkommen egal. Und Matteo stand auf Marine, die er für eine attraktive und aufrechte bürgerliche Dame mit den richtigen Zielen hielt. Matteo hatte sogar einmal überlegt, für die Front National zu kandidieren und das Kommunalparlament aufzumischen, es dann aber sein gelassen und sich weiter über die – nach seiner Meinung – unfähigen Politiker geärgert. Er schimpfte über den Euro, die Deutschen und die Steuern. Er schimpfte auf die Liberalen, die Algerier, die Marokkaner und Libyer. Er hatte so lange auf die Nigerianer geschimpft, bis Albin mal anmerkte: »Was glaubst du Idiot eigentlich, wer deinen Kaffee anbaut?«

Jetzt deutete Albin nach draußen und fragte Matteo in Anspielung auf den fehlenden Wagen der Polizei: »Wo sind die heute?«

Matteo lachte wieder hustend. Tyson schlabberte mit tropfenden Leffzen, stand in einer Wasserpfütze und starrte Albin dann fragend an.

»Weißt du das nicht?«, erwiderte Matteo. »Hast du über Nacht deinen siebten Sinn verloren?«

Albin schob die Tasse zur Seite. Irgendetwas war also los. Sein Interesse war geweckt.

Matteo fuhr fort: »Na, sie sind alle unterwegs. Alles ist in Aufruhr. Sie haben ein Mädchen gefunden.«

»Wo?«

»In den Obstbaumfeldern unten bei Venasque.«

»Sagt wer?«

»Sagt Louis, der mir heute Morgen die Zeitungen gebracht hat und einen Umweg fahren musste wegen der Straßensperrung. An der Sperre hat er Dodo getroffen.«

Dodo, der Kollege mit diesem blöden Spitznamen. Er ging auf einen ausgestorbenen Vogel zurück, der ziemlich dämlich und leicht zu fangen war, weswegen portugiesische Seefahrer ihn Doudo getauft hatten, was Einfaltspinsel bedeutete. Sicher hatte Dodo keinen Schimmer davon.

Matteo redete weiter: »Dodo hat es Louis erzählt. Louis hat es mir erzählt. Ziemlich üble Geschichte.«

»Also kein Unfall.« Albin ließ die Frage wie eine Feststellung klingen. Alte Gewohnheit aus zahllosen Vernehmungen.

Matteo blähte die Backen und sah Albin an, als habe er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Nein, natürlich kein Unfall. Einer hat dort ein Mädchen umgelegt. Louis sagt, Dodo sagt, ein paar von den Erntehelfern hätten sie gefunden. War wahrscheinlich einer von den Erntehelfern selbst, wenn du mich fragst. Sicher irgendein beschissener Algerier, der sie auf dem Gewissen hat. Oder einer von den Roma, die hier wieder unterwegs sind. Vielleicht hat sich die Kleine ihrem Mörder sogar an den Hals geschmissen, weiß man es? Diesen kleinen rothaarigen Teufeln ist alles zuzutrauen …«

»Rothaarig?« Albin schoss wie elektrisiert von seinem Hocker hoch.

»Louis sagt, Dodo sagt …«

»Sie hatte rote Haare?«

»Ja, lange, rote Haare.«

5

Keine fünf Minuten später saß Albin im Wagen und raste mit Tyson im Kofferraum in Richtung Venasque. Es war ein Wagen mit reichlich Ladefläche. Ein allradgetriebener SUV von Kia. Albin hatte den Wagen vom Erlös seiner Lebensversicherung gekauft, die zur Pensionierung fällig geworden war. Weil er meinte, wenn er jetzt schon einen Hund habe, dann müsse er diesen auch transportieren können. Gut, der Wagen war sehr groß und Tyson sehr klein. Albin hatte die Karre dennoch gekauft und redete sich ein, dass der Allradantrieb sicher irgendwann einmal nützlich sein würde.

Jetzt jedenfalls war er nutzlos. Genau wie der Hubraum und die vielen PS. Weil ein dämlicher Trecker vor ihm herzuckelte. Einer von den ganz alten mit einem verrosteten Anhänger, der früher vielleicht einmal die Farbe von Lavendel hatte, damit jeder Idiot kapierte, dass Lavendel drin war. Hunderte Kilos von Lavendel, die nach zig tausend Tonnen rochen. Albin verzog das Gesicht und stellte die Belüftung auf Umluft, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. In Maßen war der Duft ja okay, aber so komprimiert unerträglich. Er scherte leicht nach links aus. Die Straße war verdammt schmal und der Anhänger verdammt breit. Grauenhaft, dachte Albin und traktierte die Hupe. Jeden Sommer zur Erntezeit der gleiche Mist. Ausgerechnet jetzt und hier konnte er den verfluchten Trecker ganz und gar nicht gebrauchen. Und natürlich fuhr der Kerl vor ihm kein Stück zur Seite. Egal, dachte Albin, scherte nochmals aus, um sich an dem Traktor vorbeizudrängeln. Kein Gegenverkehr. Die Gelegenheit war günstig und Präzision gefragt. Zentimeter für Zentimeter schob sich Albin voran. Er erreichte die Zugmaschine und warf einen Blick durchs Fenster auf der Beifahrerseite. Der Fahrer rief Albin irgendetwas zu und machte eine eindeutige Geste mit der Hand.

»Ja, du mich auch. Erstick doch an deinem Dreckszeug«, brummte Albin und drückte aufs Gas. Wenige Sekunden später sah er den Trecker im Rückspiegel kleiner werden.

Nach weiteren fünf Minuten hatte er die Straßensperre erreicht und dort Dodo und einer jungen Polizistin, die er nicht kannte, erklärt, wer er war und was er hier wolle. Nach einigem Hin und Her und einem Funkspruch zur Einsatzleitung hatten sie ihn endlich durchgelassen. Schließlich dauerte es noch drei zusätzliche Minuten, bis Albin am Straßenrand geparkt, Tyson angeleint und zur Tatort-Absperrung marschiert war. Dort stand neben dem Wagen der Gerichtsmedizin Alain Theroux von der Kripo, verdrehte die Augen und sagte: »Das kann doch wohl nicht wahr sein! Albin!«

»Was genau ist passiert?«

»Was, zum Teufel, hast du hier zu suchen?«

Albin blickte um Theroux herum, was nicht so leicht war, denn er stand mitten in seiner Sichtachse. Außerdem war der Polizist ziemlich breit gebaut. Fast so breit wie Albin. Seine Haare hatte er mit Gel zurückgekämmt, trug eine zerschossene Jeans und Turnschuhe und ein T-Shirt mit dem Aufdruck von irgendeiner Rockband. Wie eine Kette hatte er seinen Dienstausweis um den Hals hängen. Am Nietengürtel klemmte ein Pistolenhalfter. In der Hand hielt er sein Handy.

Albin fragte: »Es ist wirklich eine Rothaarige?«

»Oh, Mann …« Theroux seufzte und suchte mit der freien Hand nach einer Schachtel Zigaretten. Albin zog schneller und bot ihm eine Gitanes an. Gab ihm Feuer.

»Albin«, sagte Theroux im Ausatmen und stieß eine weiße Wolke Qualm aus, »das geht so nicht. Du bist raus. Im Ruhestand. Genieß deine Rente. Spiel Boule. Besuch deine Tochter und deine Enkelin in Paris …«

»Die spricht seit knapp drei Jahren nicht mit mir.«

»… fahr mit deinem Hund ans Meer, aber geh uns hier nicht auf den Geist!«

»Sie ist rothaarig?«

»Ja, verdammt.« Theroux machte eine hilflose Geste. »Woher auch immer du das weißt.«

»Was ist passiert?«

»Geht dich nichts an.«

»Halt mal«, sagte Albin und drückte Theroux Tysons Leine in die Hand. Reflexartig nahm der Polizist sie an, starrte auf den Mops, dann auf Albin, der bereits unter der Absperrung hindurchschlüpfte.

»Albin!«

Aber Albin reagierte nicht, und Theroux musste dort stehen bleiben, wo er war – mit dem Hund an der Leine konnte er schließlich nicht zum Tatort. Vielleicht tat er auch aus Respekt nichts, weil er Albin noch etwas schuldig war und weil ihm klar sein musste, wie wichtig das hier für den Exkommissar war. Für alle war es wichtig. Immens wichtig. Es stand außer Zweifel, dass irgendjemand hier vor Ort das nicht verstand, dachte Albin.

Er drängte sich an den Forensikern in ihren weißen Overalls vorbei, stapfte entlang eines von der Spurensicherung freigegeben Weges durch die Obstbaumplantage, deren Bäume voller Pfirsiche und Kirschen hingen. Blieb dann stehen und sog in sich auf, was er sah.

Der Boden war gefurcht. Braune Erde. Steine. Dort lag die Leiche der Frau. Ihr Alter war schwer zu schätzen, wahrscheinlich zwischen zwanzig und dreißig. Die roten Haare rahmten das bleiche Gesicht wie ein Kranz lodernder Flammen ein. Eine Korona aus den Strahlen der untergehenden Sonne. Ihre toten Augen starrten in den Himmel. Die Hände waren auf den Rücken gefesselt. Sie trug ein T-Shirt. Shorts. Keine Schuhe, denn … ihre Füße fehlten.

Albin sah eine Schnittkante knapp oberhalb der Fußknöchel. Darüber befanden sich links und rechts Stränge von Kabelbindern, mit denen die Unterschenkel an einen Eichenbalken befestigt worden waren. Der Balken war etwa einen Meter lang. Ein Hackbrett, dachte Albin. Überall war getrocknetes Blut – auf dem Balken, dem Boden, an den Blättern von Büschen, an Baumrinde. Was bedeutete: Der Frau waren die Füße bei lebendigem Leib abgehackt worden. Ihr Herz musste noch geschlagen haben. Das Blut war wie aus einem Schlauch herausgespritzt. Fundort gleich Tatort, und es stank erbärmlich. Ein Geruch, den man niemals wieder vergaß. Überall schwirrten Insekten herum. Fliegen auf der Leiche, Fliegen auf den Wundrändern, Fliegen …

»Was machst du denn hier, Albin?«

Berthe hockte neben der Leiche, blickte hoch zu ihm und zeigte ihrem Assistenten gleichzeitig, wovon sie noch weitere Fotos haben wollte. Berthe war die für die Region zuständige Rechtsmedizinerin. Sie hatte raspelkurze blonde Haare und trug eine rote Brille mit dickem Rand. Damit sah sie mehr aus wie eine Künstlerin als eine Pathologin.

Albin fragte: »Ist sie verblutet?«

Berthe machte eine abschätzende Geste. »Eher nicht. Es ist viel Blut ausgetreten, wie du siehst. Aber gleichzeitig haben die Kabelbinder die Arterien abgebunden. Sie hat Würgemale unterhalb des Kehlkopfes und geplatzte Äderchen in den Augen … Und siehst du hier?« Berthe deutete auf den Hals des Opfers. Dorthin, wo die Hauptschlagader verlief. »Hier ist eine Druckstelle. Die Haut sieht verbrannt aus. Ich würde auf den Einsatz eines Elektroschockers tippen. Und die Füße … Es sind glatte Schnitte, aber es gibt Quetschungen an den Wundrändern. Das lässt mich an kräftige Hiebe denken. Vielleicht mit einem Beil. Zwei kräftige Schläge mit einer sehr scharfen Axt.«

Albin betrachtete den Körper. Verscheuchte ein paar Insekten mit der Hand. »Wie lange ist das her?«

»Zwei bis vier Tage mindestens«, meinte Berthe.

»Albin Leclerc!«

Albin fuhr herum, und im nächsten Moment wusste er, dass die Tatort- und Leichenschau für ihn beendet war.

Staatsanwalt Luc Bonnieux kam mit forschen Schritten heran. Seine eleganten schwarzen Lederschuhe waren staubig. Ebenfalls der Saum seiner Anzughose, zu der er ein hellblaues Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln trug. Das Sakko hielt er in der Hand. Zwischen seinem schütteren Haar glänzten Schweißperlen.

»Sie haben eine Minute«, sagte Bonnieux schlechtgelaunt, »um den Ort zu verlassen. Sie sind Privatier, Menschenskind!«

Albin machte mit beiden Händen eine abwehrende Geste. Gerne hätte er eine Hand zur Faust geballt und Bonnieux in den Magen gerammt. Der Kerl hatte es aus verschiedenen Gründen verdient. »Man sollte Bonnieux den Wecker wegnehmen«, hatte Albin einmal im Kommissariat gesagt, »und ihn jeden Morgen mit ein paar Ohrfeigen aus dem Schlaf reißen.«

»Leclerc, wer hat Sie überhaupt durchgelassen?«

»Der liebe Gott persönlich.«

»Nun werden Sie nicht frech.«

»Frech möchten Sie mich nicht erleben.«

»Was treiben Sie hier?«

»Das wissen Sie doch ganz genau.«

Bonnieux sparte sich die Antwort. Blickte auf die Uhr und sagte: »Jetzt sind es nur noch dreißig Sekunden.«

Albin schluckte seinen Kommentar hinunter und ging. Er nickte Berthe einen Abschiedsgruß zu, die in Richtung von Bonnieux die Augen verdrehte. Er passierte den Staatsanwalt und rempelte ihn im Gehen leicht am Oberarm an. Schließlich kam er wieder zur Absperrung, wo Theroux mit Tyson an der Leine stand und versuchte, den Mops von seinem Bein abzuschütteln.

»Scheiße«, fluchte Theroux, »dein Köter ist pervers, Albin!«

»Freu dich doch! Wenigstens einer, der dich attraktiv findet.«

Theroux schwieg und drückte Albin die Leine wieder in die Hand. Sofort nahm Tyson Platz, hechelte und starrte sein Herrchen an.

»Was wisst ihr schon?«, fragte Albin.

»Dass der Himmel blau ist.« Theroux machte ein genervtes Geräusch. »Du weißt genau, wie es läuft, Albin. Du bist raus, und ich darf dir nichts sagen. Niemand darf das.«

»Papperlapapp.«

Theroux legte eine Kunstpause ein. Dann sagte er: »Nichts wissen wir. Gar nichts. Die Kleine hatte keine Papiere dabei. Der Täter hat sie irgendwo aufgelesen, fährt mit ihr hierhin. Schleift sie in die Plantage. Er hackt ihr die Füße ab, bringt sie um und verschwindet wieder. Die Füße nimmt er mit. Hat nur Interesse an ihren Körperteilen.«

Und er war vorbereitet, dachte Albin. Hatte ein Beil dabei, einen Balken, Kabelbinder …

»Ist vielleicht wirklich ein Fetischist mit komischen Vorlieben«, sagte Theroux.

Albin glaubte das nicht. Er war sicher, dass die Sache viel komplizierter war. Aber es war ein Anfang. »Endlich«, sagte er, »haben wir ein Opfer und Spuren. Endlich wissen wir, was er tut und wie er es tut. Er sammelt Körperteile. Als Trophäen, oder weil er sie benötigt.«

»Kann sein«, meinte Theroux. »Vielleicht ist das aber auch bloß ein Zufall.«

»Niemand hackt jemandem zufällig die Füße ab.«

»Ich meine das mit den roten Haaren.«

Albin warf Theroux einen Blick zu. Theroux winkte ab, als habe er das nur so gesagt. Natürlich glaubte niemand an einen Zufall, auch nicht Theroux.

Albin sagte: »Wir haben bislang nicht eine gefunden. Und jetzt liegt diese hier da wie auf dem Silbertablett. Es muss etwas passiert sein. Er wurde gestört.«

»Möglich«, antwortete Theroux. »Aber vielleicht wird er einfach unvorsichtig. Oder alt. Genau wie du.« Theroux grinste schief.

Albin sagte nichts. Dachte nur nach. Dachte daran, dass in den vergangenen sechs Jahren in der Region rund um Avignon acht junge Frauen verschwunden waren. Alle in etwa im gleichen Alter. Und wenn man die Vermisstenbilder nebeneinanderhielt, fiel einem auf, dass sie sich vom Typ her sehr ähnelten. Die markanteste Gemeinsamkeit war natürlich das rote Haar. Das hatten sie alle. Manche blasser, manche kräftiger. Manche kurz, manche lang. Aber keine von ihnen hatte die Polizei bislang gefunden. Sie waren einfach von der Bildfläche verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Es gab nur die Vermisstenmeldungen und die Fotos.

Alle hingen an einer Pinnwand hinter Albins Schreibtisch, als er ihn am letzten Arbeitstag aufräumte. Vor dem Schließen der Bürotür hatte er einen letzten Blick auf die Bilder geworfen und den jungen Frauen ein Versprechen zugemurmelt. Dann hatte er, einer spontanen Eingebung folgend, die Fotos abgenommen und in einer Mappe verstaut, die nun bei ihm zu Hause lag.

Jetzt also dieser Ort an der Straße nach Venasque. Eine Rothaarige, die exakt ins Schema passte. Das erste Mal, dass sie eine Leiche fanden. Eine Tote, die für Albin keinen Zweifel mehr daran ließ, dass die Theorie stimmte. Dass ein Mörder in den Départements Vaucluse und Gard unterwegs war und sich die Rothaarigen holte. Der sie irgendwo verschwinden ließ, wo sie niemand fand – und der jetzt entweder einen Fehler gemacht hatte, bei der Tat gestört worden oder größenwahnsinnig geworden und bewusst an die Öffentlichkeit getreten war. Seht her, ich bin Gott, keiner kann mir was.

»Theroux«, sagte Albin und steckte sich eine Zigarette an. »Jetzt haben wir Spuren. Jetzt kriegen wir das Schwein.«

»Wir?«

»Dreht jeden Stein zehnmal um. Wenn ihr denkt, es ist genug, dreht ihn noch mal um. Ich rufe dich an.«

Damit ging Albin mit Tyson zum Wagen zurück. Er hob den Mops in den Kofferraum – es hatte sich in der Praxis herausgestellt, dass der SUV recht hoch und ein Mops aus physiologischen Gründen nicht in der Lage war, in den Kofferraum zu springen –, setzte sich ans Steuer und fuhr davon, wobei er den großen Motor aufröhren ließ. Er drückte die Gitanes im Aschenbecher aus und starrte auf das schnurgerade Band der Straße, die auch der Killer benutzt haben musste.

Ich bin dir auf der Spur, dachte Albin und erinnerte sich an das Versprechen, das er sich selbst und den verschwundenen jungen Frauen gegeben hatte. »Dich Schweinhund mache ich fertig«, murmelte er und fuhr davon.

6

Hanna schloss die Augen und streckte ihren Kopf aus dem Seitenfenster. Der Fahrtwind zerrte an ihren Haaren und ließ sie flattern wie rote Banner. Die helle Sonne wärmte ihr Gesicht. Die Luft roch weich und würzig, abwechselnd nach wildem Thymian, Rosmarin und Lavendel. Hanna nahm einen tiefen Atemzug und stieß einen Freudenschrei aus. Sie hörte Niklas am Steuer leise lachen. Dann sagte er, dass sie wegen der Klimaanlage das Fenster besser wieder schließen sollte, und Hanna beugte sich zurück in das Wageninnere, setzte eine Spielverderber-Miene auf und schloss das Fenster.

»Warum hast du denn so geschrien?«, fragte Lilly, die im Kindersitz auf der Rückbank des Mietwagens mit ihrer Barbie spielte. »Hast du eine Mücke ins Auge bekommen?«

Hanna lächelte und schüttelte mit dem Kopf. »Nein, Mama freut sich nur darüber, wie schön es hier ist.«

Genau das war es. Wunderschön. Betörend. Links und rechts der Straße wechselten sich Weinfelder und Obstbaumplantagen mit Kirschen, Pfirsichen und Aprikosen ab. Dazwischen standen Pinien, Oliven- und Lorbeerbäume, vereinzelt wuchsen wilder Lavendel und mannshohe Sonnenblumen aus dem steinigen Boden. Hier und da waren Höfe oder Scheunen zu erkennen, erbaut aus rohem rotbraunem oder grauem Stein. Der Himmel darüber war wolkenlos und knallblau. Darunter lag die zerklüftete Landschaft in glühender Hitze, die vom Massiv des Mont Ventoux dominiert wurde.

Der Berg war mit seiner vom Mistral leergefegten Spitze schon zu erkennen gewesen, als sie aus Richtung Marseille kommend von der Autobahn bei Avignon abgefahren waren und an der Mautstelle ihre Péage entrichtet hatten. Fast erschien es Hanna, als habe man dort nicht die Nutzungsgebühr für die Autobahn entrichten müssen, sondern vielmehr den Eintritt in den Garten Eden, wo sich ein gutgelaunter Gott mit der üppigen Palette eines impressionistischen Malers ausgetobt hatte.

Je mehr Kilometer sie auf den schmalen Landstraßen zurückgelegt hatten, desto klarer war Hanna geworden, warum es so viele Künstler hierhergezogen hatte. Vincent van Gogh im Rausch der provenzalischen Farben – Hanna konnte schlagartig nachvollziehen, wie er sich gefühlt haben musste. Überwältigt und hingerissen.

»Am Fuße des Ventoux entspringt übrigens die Sorgue«, hatte Niklas im Fahren erzählt, »in einem Ort namens Fontaine-de-Vaucluse. Das Haus liegt direkt an der Sorgue, aber in einem anderen Ort.«

»Warum hat das Haus denn Sorgen?«, fragte Lilly von hinten, was Niklas grinsen ließ.

»Sorgue. So heißt der Fluss«, erklärte er. »Wo sie aus dem Berg entspringt, hat ein berühmter Dichter lange Jahre in einem Schloss gewohnt – ein Italiener namens Petrarca.«

»Sorge ist ein komischer Name für einen Fluss«, beharrte Lilly, während sie ihrer Puppe weiter die Haare kämmte. »Hat in dem Schloss auch eine Prinzessin gewohnt?«

»Nein, aber der Dichter war in eine verliebt und hat ihr viele Gedichte geschrieben.«

Lilly schien mit der Antwort zufrieden zu sein. Sie gähnte und fragte: »Wann sind wir endlich da?«

»Bald, mein Schatz«, antwortete Niklas, und Hanna hatte lächelnd zu ihm herübergesehen und gedacht, dass vielleicht doch noch alles gut werden könne. Dass die Provence genau das war, was sie alle brauchten, und dass sie Niklas schon lange nicht mehr so gelöst erlebt hatte –, wenngleich er am Flughafen in Hamburg und später in Marseille einige Male mit ernstem Gesichtsausdruck telefoniert hatte, statt das blöde Handy einfach auszuschalten.

Jetzt bog er nach rechts ab, und sie fuhren auf eine noch schmalere und von Zypressen gesäumte Straße, über der die heiße Luft flirrte. Auf der rechten Seite sah Hanna das grünbraune Band eines Flusslaufs, und schließlich deutete Niklas mit einem Nicken nach vorne.

»Dort«, sagte er.

In einiger Entfernung erkannte Hanna eine bewaldete Insel, die von zwei Seitenarmen des Flusses eingefasst wurde. Es schien einerseits, als widersetze sie sich dem Strom – oder als würde das Wasser der Insel ausweichen und sie gleichzeitig vom Rest der Landschaft abtrennen wollen. Dann entdeckte Hanna zwischen den grünen Baumkronen verblichene rote Dachziegel.

»Voilà, le Château Ledrome«, sagte Niklas und grinste über das ganze Gesicht.