Gefährliche Wette auf Paris - Petra Coltat-Gran - E-Book

Gefährliche Wette auf Paris E-Book

Petra Coltat-Gran

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Beschreibung

Alba triumphiert. Endlich hat sie ihre Entscheidung in die Tat umgesetzt: Weg von Deutschland, hinein ins traumhafte Paris. Sie fiebert der Stadt mit Eiffelturm hohen Erwartungen entgegen. Aber als Alba an einem kalten Septembermorgen aufbricht und alles hinter sich lässt, ahnt sie nicht, welche Gefahren und Fallen auf sie warten. Erste Erfolge belohnen Alba für ihre Kühnheit. Sie entdeckt berühmte Orte, begegnet faszinierenden Menschen und freundet sich mit jungen, temperamentvollen Frauen an. Sogar exotische Liebschaften bahnen sich an. Schnell jedoch zeigt Paris seine gnadenlose Seite. Nach und nach gerät Alba in unerträgliche Situationen, die sich dramatisch zuspitzen. Zu allem Unglück befindet sie sich auf einmal inmitten krimineller Machenschaften.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-947-6

ISBN e-book: 978-3-99146-948-3

Lektorat:Lucas Drebenstedt

Umschlagabbildungen:Ekaterina Pokrovsky, Pavel Shlykov, Michal Sanca | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Einleitung

Petra Coltat-Gran wurde in Deutschland geboren. Im jungen Erwachsenenalter entschloss sie sich, nach Paris zu ziehen. Dort absolvierte sie Studiengänge in französischer Literatur, Betriebswirtschaft und Management. Ihre beruflichen Erfahrungen liegen auf deutsch-französischen sowie internationalen Ebenen. Seit mehr als zwanzig Jahren widmet sie sich der Ausbildung an Pariser Universitäten und Wirtschaftsschulen. Sie unterrichtet die Studienfächer „internationaler Handel“ und „interkulturelles Management“ und agiert als Leiterin verschiedener Ausbildungsprogramme. Ihr Roman „Gefährliche Wette auf Paris“ gibt einen Einblick in das authentische Pariser Leben, mit seinen Dramen, extravaganten Schauplätzen und eigenartigen Menschen. Eine junge Frau verlässt ihre deutsche Heimat und versucht ihr Glück in Paris. Kaum sind erste Hürden überwunden, verfängt sie sich in einem von dunklen Typen gesponnenen Netz, das sie in eine kriminelle Angelegenheit verwickelt. Die Situation spitzt sich bis zur Hoffnungslosigkeit zu. Im Verlauf der Auseinandersetzungen lernt sie Menschen aus verschiedenen Ländern kennen, darunter eine temperamentvolle „Kölsch“ und eine selbstbewusste Italienerin aus Verona. Gemeinsam durchleben sie Höhen und Tiefen, wobei jeder seine persönlichen Ziele verfolgt und sich unglaublichen Herausforderungen stellen muss. Manche scheitern auf bittere, dramatische Weise. Der Leser verfolgt die Schicksale der Hauptfiguren und wird Zeuge des Anpassungsvermögens Fremder, die sich in einer Weltstadt behaupten wollen, die ihnen nicht immer freundlich gesinnt ist.

Information

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. In diesem Roman werden Themen wie sexuelle Belästigung und Suizid behandelt.

Zitat

„In dem Augenblick, indem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung. Auch alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu deinen Gunsten für zahlreiche, unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und Hilfen, die sich kein Mensch je so erträumt haben könnte. Was auch immer du tun kannst, beginne es. Kühne trägt Genius, Macht und Magie. Beginne jetzt.“

Johann Wolfgang von Goethe1

1 https://quozio.com/quote/2f81d90d/1025-2fd0f/in-dem-augenblick-in-dem-man-sich-endg%C3%BCltig-einer-aufgabe. 04/04/2024

Widmung

Für alle, die von Paris träumen. Für Menschen, die aus irgendwelchen Gründen ihre Heimat verlassen, für Schwester Fidelis und meine Mutter.

Prolog

Heute durchqueren wieder Tausende von Menschen die Metrostation „Chatelet“, ein zentraler Knotenpunkt im Pariser U-Bahn-Netzwerk. Ein endlos scheinendes Labyrinth! Drei dunkle Burschen sind bestens mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut. Wie Fische im Wasser schlängeln sie sich durch das unterirdische Gewirr mit dem Ziel, täglich einen erfolgreichen Angriff durchzuführen. Durch zwei Jahre Erfahrung in diesem schändlichen Geschäft sind sie zu wahren Experten geworden. Ihre bevorzugte Technik, den „Drängeltrick“, beherrschen sie meisterhaft, wodurch ihnen das mühelose Entwenden von kostbaren Gegenständen wie Geldbörsen, Schmuck, Kameras, Mobiltelefonen oder Personalausweisen ermöglicht wird. Heute ist eine Attacke in einem schmalen Durchgang zur Linie vierzehn vorgesehen. Die drei Taschendiebe haben beschlossen, nicht mehr in den Abteilen oder auf Bahnsteigen zu agieren. In den Medien wurde zu häufig vor solchen Vorgehensweisen gewarnt, was zu einer erhöhten Aufmerksamkeit der Metrobenutzer führte. Vor kurzem mussten sie es selbst erleben: Der Versuch, einer Frau die Tasche zu entreißen, als sie in die Bahn einstieg und das Signal zur Weiterfahrt ertönte, scheiterte. Dieser Moment gilt allgemein als ideal für Blitzangriffe. Das Schließen der Tür erfolgt so schnell, dass die Opfer kaum die Möglichkeit haben, in letzter Sekunde auszusteigen und den Dieben nachzurennen. Die Frau, auf die sie es abgesehen hatten, spürte die Gefahr. Bevor die Attacke sie erreichte, konnte sie ihre Tasche schnell eng an sich ziehen.

„Zeit zum Eintauchen! Und denkt dran, wir greifen im Gang an. Bleibt cool! Die da unten wollen so schnell wie möglich zum Bahnsteig und haben nichts anderes im Kopf“, lauten die Anweisungen des Bandenchefs. „Ich sag’s euch, die bemerken uns gar nicht. Aber trotzdem, seid vorsichtig!“, mahnt er noch. Es ist mittlerweile sechs Uhr abends. Das Gedränge ist so heftig, dass kaum Lücken in der Menschenmenge zu erkennen sind. Die Kerle zwängen sich in sie hinein und gehen arbeitsteilig vor: Der „Kleine“, wie er genannt wird, muss den Angriff von hinten durchführen, die beiden anderen, korpulent und breitschultrig, übernehmen die Schubsaktion. Ein Mann Mitte vierzig ist das ausgewählte Opfer. Er trägt Kleider mit Aufschriften bekannter Sportmarken. Auf seinem Rücken hängt ein grün-schwarzer, robuster Rucksack. Alles deutet darauf hin, dass es sich um eine finanziell gut gestellte Person handelt. Dazu verspricht seine kleine, schmächtige Gestalt wenig Widerstand. Nebeneinanderlaufend nähern sich die Kriminellen dem Touristen. Die Menschenmasse schiebt sie mechanisch vorwärts bis hin zu ihm. Die Attacke kann beginnen. Der Tourist wird von den beiden massiven Goliath-Typen knallhart angerempelt, was ihn vor Schreck wie versteinert stehen lässt. In diesem Augenblick weicht einer der Bullen zur Seite aus, während der andere sich vor das Opfer stellt und es fest an den Schultern packt. Mit aufgerissenen Augen schaut der Tourist seinen Angreifer an, der ihn jetzt auch noch anschreit:

„Hoppla! Nicht so schnell, mein Herr! Das kommt davon, wenn man nicht aufpasst.“ Die Stimmbänder des Kolosses scheinen dabei zu reißen und sein Gesicht zeigt ein aufgezwungenes Lächeln. Das Ablenkungsmanöver ist erfolgreich. Der Tourist starrt ihn nach wie vor vollkommen verwirrt an und versucht, die Situation zu begreifen. Währenddessen öffnet der Dritte von hinten den Rucksack und entnimmt ihm eine schwarze Brieftasche aus Leder, sowie ein Smartphone in seiner Schutzhülle. Der Überfallene bemerkt etwas, dreht sich blitzschnell um, erkennt die Lage und greift den Übeltäter sofort an, indem er ihm einen gewaltigen Faustschlag auf die Nase verpasst. Der Tourist ringt und kämpft, bis es ihm gelingt, seine Wertgegenstände zurückzuerobern. Enttäuscht muss er feststellen, dass ihm keiner der Vorbeilaufenden zu Hilfe kommt. „Polizei, Polizei!“, schreit er am Boden liegend und krümmt sich vor Schmerzen. Den Banditen bleibt keine andere Wahl, als eiligst durch den nächstgelegenen Ausgang nach draußen zu fliehen. „Wir müssen uns etwas Neues ausdenken“, murmelt der Kleine, völlig außer Atem, während er die Hände durch seine schwarzen, strubbeligen Haare streift. Gestresst bläst er seine Pausbacken auf. Dabei dehnt sich eine lange Narbe auf seiner linken Gesichtshälfte, ein stummes Zeugnis eines kürzlich überstandenen Messerkampfes gegen einen rivalisierenden Räuberclan. Danach pustet er langsam den Atem aus, während sein verklärter Blick auf seine Komplizen fällt. „In der U-Bahn wird das definitiv zu kompliziert“, fügt er mit letzten Kräften hinzu, bevor er wieder tief Luft holt. Es folgen einige Minuten Stille, in der jeder überlegt.

„Moment mal! Wow! Ich hab’s! Eine Bombenidee hat gerade bei mir eingeschlagen“, ruft der Bandenführer plötzlich wie besessen aus. Seine Augen leuchten dabei hell auf, während er angespannt ins Leere starrt. „Kommt, Brüder!“, kommandiert er in scharfem Ton. Prompt drehen sich die keuchenden Burschen um und eilen zu ihrem Stammcafé namens „Annexe“. Bequem auf einem breiten Stuhl sitzend, die Beine entspannt vor sich ausgestreckt, enthüllt der Bandenchef seinen Kameraden die Details einer profitableren und risikofreieren Unternehmung. Seine Komplizen lauschen gespannt und bemühen sich die Darlegung zu verstehen. „Wie steht ihr dazu? Es muss uns nur gelingen, junge Schätzchen in unser Netz zu locken“, schließt er seine Ausführungen ab.

„Genial!“, rufen ihm seine beiden Zuhörer wie aus einem Mund zu. Ihr Boss wirft einen Blick auf das Gebäude der gegenüberliegenden Sprachuni und überlegt laut: „Wimmelt es dort nicht von naiven Püppchen? Ausländerinnen auch noch! Und in unserem ‚Annexe‘ tauchen mehr als genug von denen auf. Ehrlich, Brüder, das Jagdgebiet bietet sich doch von selbst an!“ Kaum sind drei Flaschen Mineralwasser bestellt (als Muslims trinken sie keinen Alkohol), machen sich die Männer an ihren ersten Schlachtplan.

ABSCHIED IM MORGENGRAUEN

Eiffelturm, Louvre, Moulin Rouge … mein kleiner Reiseführer, den ich neugierig durchblättere, ist faszinierend. „Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, der dieses einzigartige Flair in sich trägt. Ein Hauch von Romantik und Verführung“, verspricht der Autor. Ich kann es kaum erwarten, diese Sehenswürdigkeiten live zu erleben. Die beeindruckenden Farbbilder im Buch kann ich in aller Ruhe betrachten, da der Schnellzug nach Paris, in dem ich mich gerade befinde, fast menschenleer ist. In meinem Abteil sitzen lediglich zwei ältere Personen. Nach einer schlaflosen Nacht bin ich heute Morgen um sieben Uhr im Saarbrücker Bahnhof eingestiegen. Da ich keine Freundin früher Morgenstunden bin, übermannte mich unmittelbar nach der Abfahrt die Müdigkeit. Die Aufregung vom Vorabend – das Packen der letzten Klamotten, Überprüfen der Adressen und erneute Betrachtung des Pariser Metroplans –, gefolgt von einem Weckerklingeln um fünf Uhr, verwandelten mich in einen regelrechten Zombie. Zumindest fühlte ich mich so, als ich allein, mit zugekniffenen Augen, kurz vor sieben auf dem Bahnsteig Nr. 5 auf meinen ICE wartete. Keiner aus meiner Familie vergeudete seine Zeit, mich zu begleiten. Der Abschied von meiner Mutter verlief wortkarg und lieblos. Sie lag noch im Bett, als ich ein knappes „tschüss“ ausrief, bevor ich die Tür hinter mir zuschlug. Ich glaubte, in diesem Augenblick ihre Stimme gehört zu haben. Vielleicht war es ein „auf Wiedersehen“ oder ein „adieu“. Dieser Septembermorgen war verdammt kalt und neblig. Während ich auf dem Bahnsteig ausharrte, widerstand ich zitternd dem kräftigen Wind, der durch meine dünne Jeansjacke wehte. Trotz morgendlicher Gelenkstarre und Gepäck gelang es mir, schnell in den endlich eingefahrenen Zug zu springen. Fast hätte ich dabei einen französischen Schaffner umgerannt. An meinem Sitzplatz angelangt, verwandelte ich mich in einen Sack Zement und landete dementsprechend plump auf meinem Allerwertesten. Abteil Nummer 22, Drehtür in ein neues Leben, dachte ich. Die Wärm im Inneren hatte die Wirkung einer Schlaftablette. Kurz bevor ich in einen Dämmerzustand überging, erreichte mich ein Anruf. Trotz finsterer Blicke meiner Mitfahrer nahm ich ihn mit gedämpfter Stimme entgegen.

„Hallo Laura, bist du aus dem Bett gefallen? Super, dass du an mich denkst. Und das noch in aller Herrgottsfrühe!“, empfang ich sie gähnend.

„Natürlich denke ich an dich! Mensch! Mit neunzehn Jahren nach Paris flüchten – und auch noch ganz allein. Ist heute Morgen alles gut gelaufen?“ Lauras Stimme hörte sich bebend an.

„Es lief nach Plan. Mach dir keine Gedanken um mich.“

„Was denkst du denn? Natürlich mache ich mir Gedanken. Pass gut auf dich auf. Und lass dich bloß nicht unterkriegen!“

„Versprochen.“

„Und bitte … halte mich auf dem Laufenden“, lauteten die abschließenden Worte meiner Schulfreundin, ohne deren Hilfe ich im Fach Mathematik abgesackt wäre. In meinem Terminkalender warf ich rasch einen Blick auf mein erstes Datum an der Sprachuni, an der ich Französischkurse belegen möchte. Erst danach versank ich in den Tiefschlaf.

Ein lautes „Fahrkarten bitte“ zwang mich nach ungefähr zwanzig Minuten Koma ins Leben und in mein Buch zurück.

Also wach und in meine Lektüre vertieft, vernehme ich plötzlich das Vibrieren meines Handys. Eine knapp formulierte SMS lässt mich perplex zurück:

„Hi Alba? Unterwegs nach Paris? Bin gestern in Plön angekommen.“ Bei diesen Zeilen kann ich die Wut, die in mir aufsteigt, nicht aufhalten. Mein Freund Tom – oder, genauer gesagt, mein ehemaliger Freund Tom! Wie kann er es wagen, sich zu melden? Das ist die Härte! Glaubt er tatsächlich, dass ich ihm nach dem, was er mir angetan hat, eine Antwort gebe? Genervt wende ich mich wieder meinem Reiseführer zu und lasse mich von dem Kapitel „Versteckte Juwelen der Stadt“ ablenken. Nach einigen Minuten hält die Müdigkeit erneut Einzug und mein Reiseführer gleitet aus meinen Händen hinüber zum Nebensitz.

„Issimess, Issimess“, schallt es plötzlich in meine Ohren. Wiederholt ertönen diese Worte. Da ich vor mich hin döse und mein Geist im Nebel schwebt, kann ich nur im Schneckentempo überlegen. Hm … was könnte das bedeuten? „Issimess?“ Ich merke, es geht nun langsamer voran. Ein Blick aus dem Fenster verrät, dass wir in einen Bahnhof einfahren. Am rechten oberen Teil des Hauptgebäudes erkenne ich ein dunkelblaues Schild mit dem Namen „Metz“, der in großen weißen Buchstaben absticht. Eine erneute Ansage bestätigt: „Ici Metz.“ Die Stadt weckt Erinnerungen an meine Französischlehrerin, Schwester Teresa: eine junge Frau, Anfang dreißig, ein ovales, feinzügiges Gesicht, braune Augen, strahlend weiße Zähne und ein warmes, gutmütiges Lächeln. Sie ist eine hübsche Person. Ihr Auftreten im Unterricht ließ wenig Raum für Fantasie. Keinem einzigen ihrer Haare ist es je gelungen, sich unter der Haube einen Weg an die frische Luft zu bahnen. Ein breites, weißes Band zog sich über ihre Stirn und war fast bis zu den dunklen Augenbrauen glatt gespannt, wie draufgebügelt. Unter der langen, schwarzen Ordenskleidung trug sie eine Tunika mit einem breiten Gürtel, der ihre schlanke, hochgewachsene Figur betonte. „Seid froh, dass ihr als Saarländer das Privileg habt, Französisch als erste Fremdsprache wählen zu können“, versuchte sie uns zu motivieren. Schwester Teresa lieferte gerne ein bisschen Geschichte. „Die US-Truppen übergaben das Saarland im Juli 1945 an französische Einheiten. Das Saarland war demnach unter französischer Kontrolle, bekam den Franc als Währung und seine Einwohner erhielten den französischen Pass. Das Saargebiet, im Wechselspiel territorialer Zugehörigkeiten, ist von der französischen Kultur stark geprägt“, lautete es in einem ihrer letzten Vorträge. Das stimmt, muss ich zugeben. Allein schon das Vokabular! Viele französische Wörter sind im Umlauf: Portemonnaie, Canapé, Visage … dazu werden amüsante Sprüche geklopft, die den saarländischen Dialekt mit Französisch vermischen. „Voulez-vous Kartoffelsupp avec verbrannte Klöss, non, non, Madame, ich danke schön, dann äss ich lieber Käs“, plappere ich amüsiert vor mich hin. Schwester Teresa hatte eine unnachahmliche Art, den Unterricht aufzulockern und uns vor dem Einschlafen zu retten. Mit beeindruckendem Elan und Schwung versuchte sie uns Französisch beizubringen – keine leichte Aufgabe. „Bald mache ich mit euch den Kerzentest“, kündigte sie eines Morgens an. Darunter konnten wir uns natürlich nichts vorstellen. Tatsächlich brachte Schwester Teresa eine Woche später Opferkerzen, wie man sie in Kirchen vorfindet, mit in den Klassensaal. Sie zündete jede Kerze eigenhändig an und platzierte eine vor jeden von uns. „Haltet die Kerze etwa zehn Zentimeter vor euren Mund“, lautete ihr erster Befehl. Anschließend sollten wir das französische Wort „papier“ aussprechen und dabei ihren Anweisungen folgen: „Die Flamme darf nicht flackern, so wie es beim deutschen Wort ‚Papier‘ der Fall wäre.“ Das ‚p‘ bitte nur sanft artikulieren, nicht zu kräftig über die Lippen blasen! Und verbrennt euch nicht!“ Wir konzentrierten uns und gaben unser Bestes. Aber viele Kerzen wurden sofort ausgepustet, was zu einem heiteren Kichern in der Klasse führte. Obwohl Schwester Teresa unseren Misserfolg weniger amüsant fand und es mit einem flehenden Blick gen Himmel ausdrückte, bewahrte sie ihre Ruhe. Wenn sie mit ihrer Gitarre erschien, atmeten wir erleichtert auf, da wir an solchen Tagen dem erbarmungslosen Grammatikunterricht entkamen. Stattdessen schmetterten wir bekannte Volkslieder wie „Frère Jacques, Frères Jacques“ oder „Un kilomètre à pied, ça use, ça use …“. Tolle Sprache, denke ich jetzt. Sie erschien mir schon immer auf unerklärliche Weise vertraut. Sollte es die Reinkarnation wirklich geben, muss ich in einem früheren Leben in Frankreich gewesen sein. Vielleicht werde ich in Paris, vor der Kathedrale „Notre Dame“ oder einem anderen beeindruckenden Monument ein Déjà-vu erleben und plötzlich denken: Hier war ich schon einmal. „Noch fünf Minuten Aufenthalt“, informiert die Ansagetafel in meinem Abteil. Vor drei Jahren erlebten wir während einer Klassenfahrt nach Metz ein nennenswertes Abenteuer. Mit guter Laune und sogar Begeisterung führte uns damals Schwester Teresa in die imposante Kathedrale der Stadt. Während wir still und andächtig hinter unserer Lehrerin durch die Hauptallee schritten, wurde ihre Nervosität spürbar. „Bitte umdrehen, schnell raus“, rief sie plötzlich aufgeregt. „Alle sofort aus der Kathedrale laufen!“, wiederholte sie streng und wedelte heftig mit beiden Händen. Ich versuchte zu begreifen, was dort abging, und entdeckte unmittelbar vor mir, auf der linken Seite des Altars, einen älteren Mann mit herabgelassener Hose samt Unterwäsche. Mit einem breiten Grinsen und einem verschmitzten Blick schaute der Geistesgestörte – so kam er mir vor – zu uns Mädchen herüber.

Lächelnd zurück aus den Gedanken, beobachte ich die Leute auf den Bahnsteigen. Noch zwei Minuten müssen wir hier stehen. Ich lehne mich zurück, bis die Trillerpfeife schrillt und der ICE weiterfährt. Als er seine volle Geschwindigkeit erreicht, höre ich gelangweilt dem monotonen, dumpfen Fahrgeräusch zu: „dadamm, dadamm, dadamm …“ Ohne eine fesselnde Ablenkung – für mein Buch bin ich zu müde – tauche ich erneut in meine Gedankenwelt ein. Als mein Vater vor fünf Jahren verstarb, meine Mutter keinen Halt bieten konnte und mein Freund sich für fünf Jahre beim Bund im hohen Norden Deutschlands verpflichtete, war ich ziemlich am Ende. Als mir Tom damals überraschend sein Vorhaben in nüchternem Ton schilderte, vermittelte es den Eindruck eines Abschieds oder, genauer gesagt, eines endgültigen Schlussstrichs. „Danach weiß ich nicht, wie es weitergeht“, war sein letzter Satz. Diese Hiobsbotschaft traf mich wie ein Blitzschlag. Ich stand da, starr, verwirrt und unfähig zu reagieren. „Und was wird aus uns?“, wollte ich fragen. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Warum hat er nicht vor dieser Entscheidung mit mir darüber gesprochen? Das Wort „rücksichtslos“ drängt sich nach dieser Frage auf. Ja, das war sogar gemein! Meine wieder aufsteigende Wut weicht dank einem Schalter in meinem Unterbewusstsein, der sich unwillkürlich und automatisch betätigt. Erneut präsentieren sich Bilder von Schwester Teresa. Sie nahm an der Beerdigung meines Vaters teil. Wie ein Fels stand sie vor meinen Klassenkameraden am Ausgang der Leichenhalle. Diese war so überfüllt, dass viele Menschen draußen stehen mussten. Nach der Trauerrede verließen wir die Halle in Stille und näherten uns dem Grab. Mit meiner Familie ging ich gebeugt hinter dem Sarg meines Vaters her und spürte die Präsenz von Schwester Teresa. Meine Trauer war in diesem Moment so intensiv, dass ich kaum noch etwas spürte. Eine Sicherung war durchgebrannt und hatte meine innere Energiequelle ausgeschaltet. Eine unendliche Leere breitete sich aus. Ich konnte einfach nichts mehr empfinden. Mein Vater war mein Ein und Alles. Er war ein außergewöhnlicher Mensch. Während ich so ging und meinen Kopf langsam hob, sah ich unsere traurige Lehrerin am Wegesrand stehen, ihre tränengefüllten Augen auf mich gerichtet. Ihr verzerrtes Gesicht drückte tiefstes Mitgefühl und aufrichtige Anteilnahme aus, und für einige Sekunden schöpfte ich daraus Kraft. Dieser Rückblick ist schwer zu ertragen. „Aufhören! Halt! Schluss mit dem Überfluten gespeicherter Emotionen!“, befehle ich mir selbst. Ich presse die Zähne fest zusammen, um meinen Fokus auf Paris zu richten, doch mein Inneres drängt mich zu weiteren Erinnerungen. Es scheint fast so, als bestehe es darauf, dass ich diese Erlebnisse mit einem Besen aus allen Ecken und Kanten hervorhole und beseitige. Machtlos lasse ich zurückkehrende Gedanken an Tom über mich ergehen. Tom … eine unglaubliche, jedoch wahre Bilderbuchgeschichte. Fünf Monate nach dem Tod meines Vaters lernte ich ihn kennen. Ich war damals vierzehn Jahre alt, als wir uns zum ersten Mal in einem Freibad sahen. Conny, eine Klassenkameradin hatte sich in ihn verliebt und wollte ihn mir unbedingt vorstellen. Auch wenn das rückblickend keine gute Idee war.

„Du glaubst ja gar nicht, wie süß er ist …“, säuselte sie romantisch, völlig begeistert und ehrlich gesagt, ziemlich albern. Eigentlich verstand ich überhaupt nicht, warum sie darauf beharrte, mir Tom vorzustellen. Sogar im Klassensaal ignorierten wir uns. Ich hatte keine Lust auf eine nähere Beziehung zu ihr, gab aber schließlich ihrem Drängen aus purer Neugierde nach. Na ja, wenn der wirklich sooo süß ist, dachte ich spöttisch. Drei Tage später bekam ich Tom zu Gesicht. Er übertraf alle meine Erwartungen. Unsere Blicke trafen sich und es war, als würden wir uns seit einer Ewigkeit kennen. Man sagt, dass Seelenverwandte besonders intensive Momente miteinander teilen. Oder war es Liebe auf den ersten Blick? Das frage ich mich heute noch. Tom war damals sechzehn Jahre alt und von stattlicher Statur. Jede Facette seines Erscheinungsbildes war beeindruckend: von seinen muskulösen Beinen über die blonden, halblangen Haare bis hin zu seinen grünbraunen Augen mit einem funkelnden, durchdringenden, aber dennoch warmen Blick. Zudem verliehen ihm zahlreiche Sommersprossen im Gesicht eine verspielte Note. Tom war einfach einzigartig im Vergleich zu den anderen. Es war unmöglich, seinem Charme zu entkommen. Den gesamten Tag verbrachten wir mit Ballspielen und lebhaften Diskussionen. Conny schien zunehmend verärgert zu sein. „Wenn ich störe, sagt es mir nur“, fauchte sie, als Tom und ich uns über Umweltprobleme unterhielten. Wenige Minuten später machte sie sich aus dem Staub. Es wurde rasch klar, dass Tom und ich eine gemeinsame Leidenschaft teilten: sportliche Aktivitäten, insbesondere Teamspiele. Am späten Nachmittag verabschiedeten wir uns ungeschickt mit einem simplen „tschüss“. Obwohl wir beide noch etwas zu sagen hatten, brachten wir kein vernünftiges Wort heraus. Sogar den Austausch unserer Telefonnummern hatten wir verschwitzt. Mit einem Schwarm tanzender Schmetterlinge im Bauch machte ich mich auf den Heimweg. Am darauffolgenden Tag brachte die Kirmes in meinem Ort die Überraschung. Ich hatte keine besseren Pläne, als mich dorthin zu begeben, in der Hoffnung, Freunde zu treffen. Während ich vor der Achterbahn stand und darüber nachdachte, ob es vielleicht an der Zeit wäre, an diesem adrenalinvollen Erlebnis teilzunehmen, verspürte ich plötzlich den Drang, mich umzudrehen – und genau das tat ich auch. Vor mir stand … Tom! Ich kann es kaum fassen, schoss es durch meinen Kopf. Er war mit seinem Rennrad gekommen, das er benutzte, um sich lässig abzustützen und mich mit seinen funkelnden Augen anzuschauen. Seine warme Ausstrahlung, die noch lebhaft in meiner Erinnerung war, hatte seinen Effekt: Mein Herz schlug Salto und mein Geist flüsterte: „Den haben die Engel geschickt.“ Langsame Schritte zu ihm hin und wir fielen uns direkt in die Arme. Bei ihm fühlte ich mich sofort wohl und spürte regelrecht, dass ich dorthin gehörte. Unter normalen Umständen wäre ich Tom wohl nie begegnet. Die Wahrscheinlichkeit, ihm über den Weg zu laufen, tendierte gegen Null. Also muss das Universum seine Hand im Spiel gehabt haben. Irgendwer oder irgendwas hatte unsere Begegnung inszeniert. Tom befreite mich von dem Leid und der schier endlosen Verlorenheit, die mich nach dem Tod meines Vaters gequält hatten. Von diesem Tag an waren wir unzertrennlich und trafen uns, wann immer es nur möglich war. Morgens vor Schulanfang verabredeten wir uns am Bahnhof der Stadt Sankt Ingbert. Ich besuchte die sogenannte „Messe“, die von den „Armen Schulschwestern“ geleitet wurde. Tom war auf der Jungenschule, die sich in entgegengesetzter Richtung befand. Jeden Morgen war ich die Erste am Bahnhof und spähte ungeduldig in die Richtung, aus der er immer kam. Sobald ich seine blonden Haare in der Ferne erspähte, führten meine Beine spontan eine Art Hip-Hop-Tanz auf dem Bürgersteig auf. An vielen Wochenenden unternahmen wir sportliche Wanderungen in den malerischen umliegenden Wäldern. Egal welches Thema zur Diskussion stand – sei es Politik (wir engagierten uns bei den Jusos), Reisen, soziale Aspekte oder spirituelle Betrachtungen – es gab weder Streitereien noch Unstimmigkeiten. Das ist kaum zu glauben, war aber so. Als ob es nur uns auf der ganzen Welt gäbe, schritten wir eng umschlungen durch Straßen und Landschaften. In den Herbst- und Wintermonaten hüllte mich sein grüner Parka ein, den Tom um mich legte. Ab und zu amüsierte er sich darüber, dass schon eine leichte Brise genügte, um mich zum Schnattern zu bringen. Sogar mein Mathematiklehrer, der jeden Morgen an unserem Bahnhof ankam und an uns vorbeiging, nahm mich bei Gelegenheit auf die Schippe:

„Komm doch im Schneeanzug in die Schule und vergiss deine Moonboots nicht“, witzelte er einmal. „Gute Idee! Mache ich morgen, es sind nur achtzehn Grad gemeldet“, erwiderte ich amüsiert. Samstags waren wir meistens mit Freunden unterwegs. Bis spät in die Nacht hielten wir uns in der Diskothek „Eye“ auf. An einem dieser Abende stand Tom am Eingang des Clubs. Vertieft in eine Diskussion mit einem Freund, stand ich einige Meter entfernt und konnte meinen Blick einfach nicht von Tom abwenden. Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem eine so tiefgreifende Liebe in mir aufstieg, dass sie regelrecht schmerzte. „Love hurts“, wie man aus vielen englischen, herzzerreißenden Liedern entnehmen kann. Dieser Behauptung kann ich nur voll zustimmen. Solche Abende führten natürlich zu spätem Heimkommen, was mir eine äußerst mürrische Begrüßung und etliche Vorwürfe meiner Mutter einbrachte: „Kommsde jetzt ärscht nach Hause? Ich hawe mich Sorjen jemacht.“ Trotz vieler Jahre im Saarland hat meine Mutter, die aus dem Osten stammt, immer noch eine sächsische Sprachfärbung. Pauken und Hausaufgaben fanden bei Tom statt, während uns seine Mutter Hanna kontinuierlich mit Kuchen, Fruchtsäften oder Buttermilch versorgte. Sie schwor auf Buttermilch! Ihre ganze Familie musste jeden Tag daran glauben. Ihr Porträt habe ich glasklar vor Augen: Eine groß gewachsene, kräftige Frau, die stets daran dachte, ein Lächeln zu verschenken. Wenn sie mich umarmte – was bei jeder Begrüßung der Fall war –, verschwand ich förmlich unter ihren großzügigen Brüsten. Hanna ist zweifelsohne die liebenswerteste Person, der ich jemals begegnet bin. Von ihr hat Tom zweifellos eine gehörige Portion Herzlichkeit geerbt.

Mein Zug flitzt mit Höchstgeschwindigkeit in eine neue Welt, während ich enttäuscht auf die Ruinen einer einst für unzerstörbar gehaltenen Freundschaft blicke. Der letzte Akt unserer Zweisamkeit war vielsagend: Tom und ich verabschiedeten uns am Bahnhof. Kein Versprechen für ein Wiedersehen, keine Tränen, keine Worte mehr … Tom stieg in seinen ICE ein, während ich mich in meinen Regionalzug begab, der auf dem gegenüberliegenden Gleis stand. Toms Zug setzte sich in Bewegung. Mit ernstem Gesicht schaute er aus seinem Abteil zu mir herüber, während er sich langsam von mir entfernte, bis er schließlich aus meinem Blickfeld verschwand. Einige Sekunden später startete mein Zug in die entgegengesetzte Richtung – Symbol unserer sich trennenden Wege. Meine heutige Reise führt mich noch viel weiter weg von Tom, denke ich traurig. Trotz tränengefüllten Augen erlaubt mir ein kurzer Blick aus dem Fenster, glitzernde Lichter in der Ferne zu entdecken. „Bar le Duc“, kommt es plötzlich aus dem Lautsprecher, was mich auf den Bahnhof schauen lässt, an dem wir gerade vorbeigleiten. Nach einer kurzen Verschnaufpause klopft es wieder am Tor meiner Seele. Oh nein! Meine Familienverhältnisse … soll ich mir das wirklich antun? Zur Antwort komme ich nicht. In Sekundenschnelle läuft der miserable Film ab. Wieder eine Bilderbuchgeschichte, die aber mit einer Lovestory rein gar nichts zu tun hat. Meine beiden älteren Brüder, Werner (32 Jahre, aus erster Ehe meiner Mutter) und Daniel (22), sind mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Das ist natürlich verständlich. Jeder von ihnen trägt seine Lasten und Probleme. Meine ältere Schwester Christel, aus der zweiten Ehe meiner Mutter, scheint mich aus irgendwelchen verschlüsselten Gründen zu ignorieren. Ein gesundes Ego erlaubt es ihr, sich exklusiv auf ihr wertvolles „ICH“ zu konzentrieren. Hinzu kommt ein wirklich mieser Charakter, der es nahezu unmöglich macht, vernünftig mit ihr zu reden. Oft habe ich mich gefragt, warum sie so verbittert ist. Vielleicht erhalte ich irgendwann eine Erklärung dafür. Die Beziehung zu meiner Mutter schwamm in flachen Wellen. Wir hatten uns nichts zu sagen und teilten lediglich dieselbe Wohnung. Ich war und bin überzeugt davon, dass sie mich loswerden will. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit pflegte sie mir entgegenzuschleudern: „Du warst keen jewolltes Kind.“ Am Vorabend meiner Abreise hatte meine Mutter mit einer Cousine aus dem Osten ein Gespräch. Eine hässliche Person, im wahrsten Sinne des Wortes, die wir Tante Lina nannten. Ihr Aussehen verriet die dunkle Seele der Siebzigjährigen, deren grauen Haare, wie mit Sekundenkleber befestigt, am Kopf anhafteten. Circa vierzig Kilo Übergewicht, hellgrüne Augen mit starrem Kuckucksblick, nach unten gezogene Mundwinkel und wie bei Dracula zwei lange Schneidezähne, deren Spitzen sogar bei geschlossenem Mund herausragen, stellen eine treffende Beschreibung ihres Erscheinungsbilds dar. Also eine Person, der man nicht unbedingt mitternachts begegnen möchte. In einem Zimmer nebenan stehend, hörte ich durch die dünne Wand die boshaften Worte dieser Giftschlange:

„Was für eine dumme Idee, nach Paris zu fahren. Was geht in dem Strohkopf deiner Tochter nur vor? Ich wette, dass sie innerhalb von drei Wochen wieder zurück ist. Dann wird sie dir immer noch auf der Tasche liegen. Meine Mutter schien mit diesem gnadenlosen, niederträchtigen Redefluss einverstanden zu sein. „Antworte! Konter sie!“, schrie ich innerlich. Jedoch kam kein einziges Wort über ihre Lippen. Das traf mich tief. Es fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. Ich schwor mir, niemals, wirklich niemals zurückzukehren, selbst wenn ich dazu verdammt sein sollte, in einem Straßengraben in Paris zu verrecken. Fazit: Ich verlasse alles, was ich bisher hatte. Mein Zuhause, meine Freunde und Bekannten, sogar meine erste Liebe – mein einziger Halt. Das Saarland wird mir fehlen. Die beruhigende Natur am Sägeweiher, der Triebscheider Hof mit seinem Pferdegestüt, der Würzbacher Weiher, der gemütliche Geistkircher Hof in Richtung Kirkel, der Kahlenberg … in einem Augenblick der Panik überkommt mich die Angst, es vielleicht nie wiederzusehen. Doch ich kann mir den Luxus, in Schwäche zu verfallen, nicht erlauben und fasse mich wieder. Während mein Rücken durch die zunehmende Geschwindigkeit des Zuges fest gegen den Sitz gepresst wird, muss ich an ein französisches Lied denken, das ich öfters gehört habe. Es behandelt das Thema des Alleinseins. Leise singe ich es vor mich hin, selbstverständlich in der französischen Version (Übung macht den Meister): „celui qui n’a jamais été seul une fois dans sa vie …“ Mir gefällt die in diesem Song gestellte Frage: Kann man wirklich lieben, wenn man noch nie die Erfahrung der Einsamkeit gemacht hat? Zur Ablenkung durchsuche ich das Internet nach dem gesamten Text, was mich beschäftigt und beruhigt. Dabei spüre ich erleichtert, dass es mit den Rückblenden endlich vorbei ist. Es gibt nichts mehr zum Rauskramen. Ein Stein fällt mir vom Herzen und macht mich frei, nach vorne zu schauen. Die Wunden werden wohl ewig bleiben, aber irgendwann auch bis zu einer fast unsichtbaren Linie vernarben. Mein großes Abteil verfügt in jeder Reihe über zwei Sitzplätze. Der neben mir ist seit der Abfahrt frei, sodass ich meine Klampfe und mein Sandwich für die Reise neben mich legen konnte. Während die Landschaften und Orte an mir vorüberhuschen, betrachte ich die weiten Wiesen und Felder, die kleinen Dörfer mit ihren Kirchen, deren Türme romantisch aus der Ferne grüßen. Die Wälder beeindrucken mit goldgelben Herbstfarben. „La France! Belle France!“ Die friedliche Natur, die sich vor meinen Augen erstreckt, macht es schwer, zu glauben, dass an diesem Ort einst während der Kriege Deutsche und Franzosen einander bekämpften und schreckliches Leid zufügten. Noch eine Stunde Fahrt liegt vor mir, und mein Magen signalisiert mir hungrig, dass er nach Nahrung verlangt. Kein Wunder, denn aufgrund des Kloßes im Hals konnte ich heute Morgen nichts essen. Schnell entnehme ich einer Papiertüte das Käsesandwich, das ich vor der Abfahrt am Saarbrücker Bahnhof gekauft habe, und genieße es in vollen Zügen. Gleichzeitig werfe ich einen Blick auf den Metroplan. Meine Familie, bei der ich in Paris als Au-pair anfangen soll, lebt im achten Arrondissement, ein feudaler Stadtteil, in dem sich die berühmte „Avenue des Champs-Élysées“ befindet. Die Stelle wurde durch einen Freund meines Vaters besorgt, der vor Jahren in Paris arbeitete und dort einen Architekten Namens Marty kannte. Dieser Freund hatte Herrn Marty auf meine Bitte hin angeschrieben. Der Architekt gab daraufhin in verschiedenen Medien Annoncen auf. Es meldete sich eine gewisse Familie Demarnier. Ich erhielt nur deren Adresse. Weitere Informationen über die Anzahl der Kinder, deren Alter oder die Berufe der Eltern bekam ich nicht. „Wie muss ich bis zu der ‚rue Balzac‘ fahren?“, frage ich mich. Der Plan zeigt: Vom „Hauptbahnhof Paris Est“ die Metrolinie 4 in Richtung „Porte d’Orléans“ bis zur Station „Châtelet“ nehmen, dann umsteigen zur Linie N° 1 in Richtung „La Défense“, Ausstiegsstation „Charles de Gaulle Etoile.“ Diese Korrespondenzen lerne ich schnell auswendig und schreibe eine SMS an Frau Demarnier:

„Hallo Frau Demarnier, ich bestätige Ihnen nochmals, dass ich heute gegen zwölf Uhr bei Ihnen eintreffen werde.“ Danach schaue ich kurz auf die Anzeigetafel. Noch zehn Minuten bis Paris. Ich greife nach meinen Sachen und stehe schon mal auf. Der Zug fährt langsamer, Häuser huschen an mir vorbei, deren Konturen immer schärfer werden. Komischerweise frage ich mich erst jetzt: Warum haben mich meine Eltern Alba genannt? Der Name bedeutet „Weiße“ oder „Sonnenaufgang“ und stammt aus dem Lateinischen. Er ist doch eher in Spanien oder Italien verbreitet, überlege ich, während ich mich bemühe, mein Gepäck durch den engen Gang des Abteils zu manövrieren, ohne ständig an den Sitzlehnen anzustoßen. Paris rückt unaufhaltsam näher, und mein neues Leben wird greifbar. In Gedanken flehe ich Paris an, mir seine sonnigen Seiten zu zeigen. Gleichzeitig lade ich die Weisheit ein, die ich sicherlich noch nicht besitze, so schnell wie möglich in mir Einzug zu halten. Mann! Die Metropole Paris, die Weltstadt Paris! Eines steht fest: Ich habe keinerlei Vorstellung davon, was alles auf mich zukommen wird.

Eine neue SMS kommt ungünstig:

„Alba, was ist mit dir? Warum antwortest du nicht? Schreib zurück! Ich rufe dich heute Abend an. Wir müssen sprechen.“

Nein, Tom, du bist nun Teil meiner Vergangenheit! Ohne zu antworten, lege ich das Handy zurück in meine Handtasche.

Mein Gesicht entspannt sich. Mein Oberkörper richtet sich auf. Mein Blick verschärft sich.

Paris, ich komme!

ANSTRENGENDER START

Die Bahn rollt im Zeitlupentempo in den Pariser Ostbahnhof ein. Es ist mir gelungen, noch vor allen anderen, direkt an der Ausgangstür zu stehen. Mein Koffer wird von meiner rechten Hand festgehalten, die Gitarre liegt zwischen meinen Beinen eingeklemmt, und meine linke Hand ruht seit einer guten Minute auf der Türverriegelung, bereit, den Hebel in Sekundenschnelle herunterzudrücken. Ungeduldig, wie immer! „Das geht mal wieder nicht schnell genug, Mademoiselle Alba“, rede ich mir ins Gewissen. Obwohl die französische Familie wusste, dass ich heute anreise, hatte sie nicht die Absicht formuliert, mich am Bahnhof abzuholen. Somit brauche ich bei der Ankunft niemanden zu begrüßen. Nur einige Tauben, die am Boden umherwirren, scheinen mich mit nickenden Köpfchen empfangen zu wollen. Ein kurzer Blick auf mein Handy bestätigt die ausbleibende Reaktion von Frau Demarnier auf meine SMS. Schwungvoll springe ich herab auf den Bahnsteig Nr. 21 und schaue mich kurz zur Orientierung um. Dann laufe ich zur Pariser Metro, die in ungefähr hundert Metern zu erreichen ist. Ein großer Menschenstrom um mich herum eilt in dieselbe Richtung. Bei einigen könnte man den Eindruck gewinnen, Sie rennen um ihr Leben. Öfters wurde mir berichtet, dass Pariser nicht normal gehen, sondern rennen, immer gestresst sind und sich gerne aggressiv verhalten, vor allem am Steuer. Im Zentralgebäude des Ostbahnhofs wimmelt es ebenfalls von Leuten, die wartend herumstehen oder sich im Eiltempo fortbewegen. Welch ein Kontrast zu dem fast leeren Saarbrücker Bahnhof heute Morgen! Es kommt einem vor wie auf der Saarbrücker Messe, wenn Würstchen vom Schwenker gratis ausgeteilt werden. Saarländer sind wahre Meister im Schwenken! Es wäre nicht überraschend, wenn die Verantwortlichen des Saarlandes für unseren Astronauten Matthias Josef Maurer, der sich vielleicht bald auf eine Mondreise begibt, bereits die Organisation des Transports eines Schwenkers dorthin in Betracht ziehen würden. In der Bahnhofshalle entdecke ich ein großes „METRO“-Schild, das die verfügbaren Linien anzeigt, die man von hier aus nehmen kann. Darunter befindet sich die Linie 4, die ich jetzt anpeile. An einem Automaten gelingt es mir, nach mehreren Versuchen, die richtigen Tickets zu kaufen. Danach tauche ich in den düsteren Riesenrachen der Pariser Metro ein. Nach fast einem Kilometer Koffer ziehen, Tasche und Gitarre schleppen, schmerzt der rechte Arm. Der Linke ist fast eingeschlafen. In den unterirdischen Tunneln, in denen ein kühler Luftzug einen modrigen Geruch verbreitet, zieht es wie Hechtsuppe. Stets nach den Schildern „Ligne 4 Direction Porte d’Orléans“ Ausschau haltend, laufe und laufe ich in den endlos scheinenden Gängen. Treppen rauf, Treppen runter, Koffer abstellen, aufheben und wieder zurück auf den Boden. Ohne ausreichende Kondition kommt man hier nicht weit – wer nicht fit ist, bleibt auf der Strecke. Niemand, der an mir vorbeiläuft, bietet Hilfe an. Nächstenliebe scheint hier Mangelware zu sein! Jeder rennt an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar. Vielleicht hätte ich doch lieber Geld für ein Taxi ausgeben sollen … Gott sei Dank, meine gute, sportliche Kondition macht sich jetzt bezahlt. Noch ist mir die Puste nicht ausgegangen. Das verdanke ich meiner Zeit als Kapitänin meiner Handballmannschaft. Jedes Wochenende war von sportlichen Aktivitäten und Siegerpokalen geprägt. Einige dieser Trophäen liegen noch im Wohnzimmerschrank meiner Mutter. Ich frage mich, wie schnell sie diese wegwerfen wird. Handball war nicht nur mein Hobby, sondern meine Leidenschaft. Dieser Sport entführte mich in eine bessere Welt als die meiner trostlosen Familie. „Gerne an sportlichen Events teilnehmend, von ihren Kameraden geschätzt“, stand auf meinem letzten Zeugnis. Oh Mann, jetzt bin ich klatschnass geschwitzt! Verdammt, keine Luft in diesem engen Tunnel, oder was? Es riecht stark nach Urin, und eine fette Ratte läuft mir blitzschnell über den Weg. Nichtsdestotrotz atme ich tief durch und laufe in dem unterirdischen Tunnel weiter, mit der Hoffnung bald an der richtigen Metrolinie zu landen. Meine blonden Haare kleben an Stirn, Wangen und Nacken. Herunterlaufende Schweißtropfen brennen in meinen zusammengekniffenen Augen. Verdammt, ich kann kaum noch etwas sehen. Na endlich! Blinzelnd kann ich mit großer Anstrengung erkennen, dass nur noch ein paar Meter zu laufen sind. Jetzt kommt der Endspurt bis zu dem gewünschten Bahnsteig. Laut elektronischer Ansage dauert es noch drei Minuten, bis die nächste Metro einfährt. Genau wie ich stehen oder sitzen hier viele Ungeduldige. Zwei Penner betteln um Zigaretten. „Tut mir leid, ich habe keine“, antworte ich höflich. Schließlich nähert sich die Metro langsam quietschend und kommt dann zum Stillstand. Beim Öffnen der Türen strömt eine Flut von Passagieren aus jedem Waggon und drängt diejenigen, die einsteigen möchten, direkt zurück. Es entsteht ein regelrechter Sumokampf zwischen denjenigen, die aussteigen wollen, und den Hektischen, die hineinmöchten. Ein Duell, aus dem in den ersten Sekunden kein klarer Sieger hervorgeht. In diesem Moment bin ich ratlos. Wie verdammt kann man es anstellen, eine Chance zum Einsteigen zu bekommen? Plötzlich erinnere ich mich an eine Handballtaktik: Wenn mehrere Spieler aufeinanderprallen und man sich mitten im Gefecht befindet, sollte man sich schnell ducken, rechts oder links an den Beinen der Spieler vorbeilaufen, das Ziel anvisieren und ohne Rücksicht auf Verluste Richtung Tor losstürmen! „Mach es so!“, fordert mich mein Sportgeist auf, und ich lege los. Mit einem letzten Hüftschwung gelingt es mir, gerade noch während dem Tonsignal in die Bahn hineinzuspringen. Dabei kann ich meine Gitarre blitzschnell an mich zerren, was sie vor der Zertrümmerung rettet. Einige Sekunden später und ich wäre wie eine Scheibe Schinken im Sandwich zwischen den schließenden Türen eingeklemmt worden. Die Kraft, sie auseinanderzudrücken, hätte ich niemals aufbringen können! Wie ein Hering in der Büchse stehe ich im Inneren, umzingelt von Menschen aller Art: alt, jung, groß, klein, dick, dünn. Überall sind starke Gerüche wahrzunehmen: Schweißdüfte, Nahrungsmittelaromen (einigen gelingt es tatsächlich, hier zu essen), Ausdünstungen vom Metroinventar wie Sitzbänke und Haltestangen, an denen sich die Leute krampfhaft festhalten, oder geölten Türen. Ich halte mich etwa einen Zentimeter vor der geschlossenen Tür, die Beine leicht gespreizt, um meine Gitarre dazwischen zu schützen. Mein Gesicht klatscht ab und zu an die schmutzige Fensterscheibe, abhängig von der Rüttelstärke im Abteil und dem Drängen der Leute hinter mir. Durch kräftiges Drücken auf der rechten Seite gelingt es mir, meinen Koffer auf dem Boden zu platzieren, während ich meine Hand fest darauf ablege. Der lange Gurt meiner Handtasche erlaubt es mir, sie in eine Bauchtasche umzuwandeln. In diesem ungemütlichen Stehen erlebe ich erstmals unfreiwillige körperliche Nähe und beklemmende Gefühle. Zahlreiche Mitreisende in meinem Abteil starren regungslos in die Ferne, während andere sich in Gespräche vertiefen. Die Lautstärke des Umgebungslärms zwingt sie dazu, ihre Stimmen zu erheben, um sich überhaupt verständigen zu können. Plötzlich spüre ich etwas Klebriges an meiner rechten Hand. Ja, stelle ich fest, feucht und klebrig! Sehr unangenehm. Ohne hinzuschauen, streiche ich meinen Handrücken über den Koffer in der Annahme, das Problem beseitigt zu haben. Um herabzusehen bin ich jedoch viel zu steif und umzingelt. Nach einigen Sekunden merke ich wieder dieses Klebrige an meiner Hand! Jetzt will ich es wissen und zwinge meinen Kopf zu einer Rechtsdrehung. Gleichzeitig gleitet mein Blick nach unten. „Oh mein Gott!“ Da steht ein Mann mit offener Hose und reibt seinen Inhalt an meiner Hand. „Aaah! Aaah!“ Ich kann nicht anders, als loszuschreien. Die Metro hält an, die Tür geht auf und schon ist der Kerl weg. Igitt, wie peinlich und wie furchtbar ekelhaft! Damals Metz und jetzt Paris! Was ist nur mit den Franzosen los? Im Abteil scheint das niemanden zu jucken. Routine, nehme ich an … Beim Blick aus der U-Bahn entdecke ich vor mir an der Wand ein Werbeplakat einer Luxusmarke. Es zeigt ein junges Paar, das sich leidenschaftlich in einer überdimensionalen Kaffeetasse küsst. „Überall Sex in the City!“, muss ich feststellen. Die Tür schnellt wieder zu, und es geht ruckartig weiter. Wie vorab ausgetüftelt, steige ich in der Station „Châtelet“ aus, wurstele mich bis zur Linie eins durch und komme nach circa zehn Minuten Fahrt endlich an der letzten Station „Charles de Gaulle“ an. Hier muss ich aussteigen und nach dem richtigen Ausgang suchen. Wieder muss ich durch lange, unterirdische Gänge. Hier und da singt jemand. Eine junge Frau schmettert das Lied der berühmten Edith Piaf „Allez venez Milord“. Gemüseverkäufer verweilen an verschiedenen Stellen mit kleinen Ständen und begrenztem, nicht gerade ackerfrischem Angebot. Ein paar Meter weiter kommt der ersehnte Ausgang. Eine Rolltreppe führt mich hinauf ins Freie, auf das obere Ende der berühmten Champs-Élysées. Meine ersten Blicke fallen auf den „Arc de Triumph“, eines der berühmtesten architektonischen Highlights der Stadt. Umwerfend, dieser Triumphbogen! Ein Monument, das Napoleon I. im Jahre 1806 zu Ehren der „Grande Armée“ anordnete, erinnere ich mich. Unter dem Bogen liegt das Grabmal des unbekannten Soldaten. Hoch oben entdeckt man eine Rundterrasse. Besucher flanieren darauf und genießen den Blick auf die breiten Avenues, die sich von diesem Punkt aus sternförmig in alle Richtungen erstrecken. Dies muss zweifellos ein einzigartiges Panorama sein, denke ich. Ein Besuch dort ist bereits in meiner Agenda vermerkt. Nach einer energischen Drehung setze ich meinen Weg fort und laufe etwa zehn Meter entlang der linken Seite der „Avenue des Champs-Élysées“ in Richtung „Place de la Concorde“. Währenddessen bewundere ich das vor mir liegende majestätische Gebäude des Restaurants „Flora Danika“ mit der imposanten dänischen Flagge, die stolz über dem Eingang weht. Kurz davor biege ich links in die „rue Balzac“ ab. Zum Glück ist nun endlich mein Ziel erreicht. Meine Arme schmerzen irrsinnig. Ich bin wieder hungrig und ehrlich gesagt total schlapp nach so einer Zug- und Metrofahrt, einem Tunnelmarathon und endlosem Gepäckschleppen, gekoppelt mit starken, vielseitigen Emotionen. Die „rue Balzac“ schreite ich mit letzten Kräften entlang und stehe nach wenigen Minuten erleichtert vor dem Haus der Familie Demarnier. Es handelt sich um ein prächtiges und großzügiges Einfamilienhaus mit drei Etagen, das vor Ort – laut Reiseführer – als „hôtel particulier“ bezeichnet wird und höchstwahrscheinlich im Besitz der Familie ist. Zumindest stelle ich es mir so vor, denn es scheint unwahrscheinlich, dass wohlhabende Menschen ein solches Haus nur mieten. Neben der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift „Docteurs Anne et Michel Demarnier – Dermatologues“. Meine Schulkenntnisse reichen aus, um zu verstehen, dass es sich um Hautärzte handelt. Voller Hoffnung auf ein schnelles Türöffnen drücke ich meinen Zeigefinger energisch auf die Klingel. Niemand erscheint. Ungehalten wiederhole ich die Geste noch mal und noch mal … enttäuscht muss ich feststellen, dass definitiv keiner zuhause ist. Wie bestellt und nicht abgeholt stehe ich hier und frage mich: „Wie lange noch? Vielleicht bis ich Wurzeln schlage, wie es so schön heißt.“ Nach ungefähr einer Stunde des ungemütlichen Herumstehens kommt mir eine junge Dame entgegen, die sich wundert, mich mit verlorenem Gesichtsausdruck auf dem Bürgersteig zu sehen. Kurz bevor sie vor mir stehen bleibt, wirft sie einen Blick auf mein Gepäck. „Puis-je vous aider? (Kann ich Ihnen helfen?)“, fragt sie freundlich und signalisiert ihre Bereitschaft, meinen Koffer zu tragen. Mit meinem Schulfranzösisch erkläre ich, dass ich auf meine Gastfamilie als Au-pair warte und derzeit niemand im Haus ist. „Ah“, erwidert sie spontan, „Sie sind Deutsche. Ich auch! Kommen Sie mit zu mir, dort können Sie bequemer warten. Die Familie ist bestimmt noch auf der Arbeit.“ – „Wieso hat die Dame sofort gemerkt, dass ich Deutsche bin? Ist mein Akzent so typisch?“, frage ich mich verwundert. Was auch immer, diese Frau hat ein Engel geschickt. Das nette Angebot nehme ich natürlich sofort dankend an. Wir laufen ein paar Schritte bis zu ihrer Wohnung, ein Apartment im fünften Stock eines älteren Gebäudes, im architektonischen Baustil „Haussmannien“. Während wir davorstehen, erklärt Inge (ihr Vorname): „Im Auftrag von Kaiser Napoleon III unternahm der Architekt Georges-Eugène Haussmann (1808–1891) den Abriss mittelalterlicher Viertel in Paris, für den Bau von breiten Alleen, neuen Parks und Plätzen. Die Haussmann-Gebäude, auch Hausmann-Apartmenthäuser genannt, säumen die Boulevards von Paris. Straßenblöcke wurden als homogene, architektonische Einheiten entworfen. Die Fassaden wurden reguliert, um sicherzustellen, dass sie die gleiche Höhe, Farbe, Material und allgemeines Design hatten und harmonisch waren, wenn alle zusammen gesehen wurden.“ Als ich mir das Gebäude genauer ansehe, fügt Inge noch hinzu: „Apartments in diesen Gebäuden sind sehr gefragt und dementsprechend teuer.“

In ihrer Wohnung angekommen, serviert sie Obstsaft und Kekse, dann plaudern wir ein bisschen über das Leben in diesem Land. Sie wohnt seit zehn Jahren in Paris, ist mit einem französischen Anwalt verheiratet und hat zwei Kinder: eine Tochter und einen Sohn. An einem Pariser Gymnasium arbeitet sie als Deutschlehrerin. Sie sagt, sie könne sich an die Franzosen nur schlecht gewöhnen. „Die maulen mir zu viel. Ständig sind sie am Nörgeln und beklagen sich“, vertraut sie mir an. Gegen fünf Uhr verabschiede ich mich von meiner Gastgeberin und bedanke mich für ihre tolle Geste, die mich vor dem Zusammenklappen in der „rue Balzac“ gerettet hat. Es dauert nicht lange, bis ich wieder vor dem Haus der Demarniers stehe. Erwartungsvoll drücke ich erneut auf die Klingel und vernehme das Geräusch von sich nähernden Schritten. Endlich öffnet sich die Tür. Vor mir steht eine flotte Blonde, die ich auf etwa Mitte vierzig schätze. Sie hält sich kerzengerade an der Tür und begrüßt mich auf Französisch: „Ah, Sie sind das Au-pair-Mädchen, nicht wahr? Bitte, treten Sie ein.“ Zugegeben fühle ich mich etwas eingeschüchtert, als ich dieses prächtige Anwesen betrete und den beeindruckenden Eingang entdecke, an dessen Decke riesige Kronleuchter prangen. Frau Demarnier begleitet mich ins Wohnzimmer, das sich unmittelbar rechts vom Eingang befindet, und bittet in neutralem Ton, Platz zu nehmen. Dabei zeigt ihre linke Hand in Richtung der Couchgarnitur. Das Zimmer ist mit zwei langen grünen Sofas eingerichtet, die von einem flachen zartrosa Marmortisch getrennt sind. Zwei rotbraune Ledersessel im „Clubstil“ und ein Bücherregal aus Kirschholz vervollständigen die Ausstattung. Dieses Ensemble stellt das zentrale Mobiliar des Wohnzimmers dar. Kirschholzmöbel sind mir bestens vertraut, insbesondere durch meine Tante Annie aus Saarlouis, die gleich mehrere solcher Stücke besitzt, erinnere ich mich. Die Wände sind in einem tiefen Blauton tapeziert und mit einem eleganten goldenen Blumenmuster verziert. An verschiedenen Stellen sind Gemälde aufgehängt, die hauptsächlich Jagdszenen abbilden. Vom Wohnzimmer aus ergibt sich ein direkter Durchblick in das Esszimmer, gefolgt von einer offenen Küche. Demnach entfaltet sich vor meinen erstaunten Augen ein geräumiger Bereich von ungefähr hundert Quadratmetern. Um mich nicht so verloren zu fühlen, vermeide ich das endlos lange Sofa. Ich bevorzuge somit einen der schönen, bequemen Ledersessel, auf den ich mich vorsichtig setze. Mit gehobenem Kopf und erwartungsvollem Blick gebe ich Frau Demarnier das Signal meiner Sprechbereitschaft. Es folgen ungefähr fünf Minuten banale Fragen an mich: „Wann sind Sie angekommen? Wie ist noch mal Ihr Name …?“ Kaum fertig mit der Erkundungsphase, will sie mir mein Zimmer in der zweiten Etage zeigen. Der Zugang hierfür befindet sich auf der linken Seite des Eingangs. Im Marschschritt bewegt sie sich in diese Richtung. Wir eilen die Holztreppen hinauf, die mit einem dunkelroten Samtteppich bedeckt sind. Hier oben entdecke ich ein hübsches Zimmer mit einem Einzelbett, einem schlichten Schreibtisch und einem kleinen Kleiderschrank aus Kunststoff mit Zippverschluss. An den Wänden stehen mehrere Bücherregale. In der hinteren rechten Ecke befindet sich eine Tür, die zu einem winzigen Duschraum mit Toilette führt. „Legen Sie Ihre Sachen vorerst hier ab“, höre ich klar in einem gut verständlichen Französisch. Sie und ihr Ehemann nächtigen auf der ersten Etage. In einem strengen Ton wird mir klargemacht, dass der Zugang dorthin für mich tabu ist. Mit ernster Miene fügt sie hinzu: „Unter keinen Umständen gehen Sie da rein!“ Ich halte mir demnach vor Augen, dass die Türen zu den Zimmern stets verschlossen sind und lediglich das Ehepaar in Besitz der Schlüssel ist, die den Eintritt in diese offensichtlich geheimnisvollen Räumlichkeiten gewähren. Diese Tatsache kommt mir spanisch vor. Ich stelle jedoch keine Fragen dazu und bleibe diskret. Im Untergeschoss befindet sich ein möblierter Raum von etwa vierzig Quadratmetern Größe, der an einen jungen Mann vermietet ist. Er ist gerade anwesend und in ein Buch vertieft. Nur kurz hebt er seinen Kopf und grüßt uns mit einem Handwinken. Dieser Medizinstudent macht einen äußerst sympathischen Eindruck auf mich. Den Weg zu seiner Unterkunft nimmt man über eine Marmortreppe, die sich gegenüber der Haupteingangstür befindet. Mittlerweile ist es achtzehn Uhr. Es klingelt. Frau Demarnier hüpft fröhlich zur Tür, öffnet sie und empfängt mit überschwänglicher Freude ihre Mutter. Ich erspähe eine zierliche blonde Frau in ihren frühen Siebzigern. Sie wirkt äußerst elegant in ihrem Chanel-Hosenanzug, dessen rote Farbe perfekt auf ihren Lippenstift abgestimmt ist – oder umgekehrt. „Bonsoir Mademoiselle“, wendet sie sich an mich, und dann rattert die kleine Madame in einem Pariser Jargon los, was ich zuerst versuche zu verstehen, aber sehr bald aufgebe zu verfolgen. Flehend schaue ich in die Richtung ihrer Tochter, die mich jetzt noch mal bittet, Platz zu nehmen. Ich wage zu fragen: „Wo bitte sind Ihre Kinder?“ – „Ah, nein, nein … “, säuselt sie mit verlegenem Lächeln. „Wir teilen unser Zuhause mit Vierbeinern. Das sind unsere Kinder, die wir abgöttisch lieben. Eine Ihrer wichtigsten Aufgaben liegt übrigens darin, sie liebevoll und fürsorglich zu betreuen.“ Die Haustür öffnet sich erneut und siehe da, der Gatte, Herr Doktor Demarnier, betritt den Raum mit zwei imposanten Hunden, einem irischen Setter namens Kelvin und einem Windhund, der auf den Namen Jesabel hört. Die beiden Rüden betrachten mich mit starrem Blick und lassen bereits voller Aufregung die Zungen heraushängen. Der Sabber fließt im durchlaufenden Strom aus ihren Mäulern und landet direkt auf dem schönen roten Seidenteppich im Wohnzimmer. Na, das hätte es bei meiner Mutter nicht gegeben, so wie ich sie kenne. Herr Demarnier hat seine Mühe, die Halsbänder von den nervös trippelnden Hunden zu lösen. „Kommt zu Frauchen, kommt, meine Goldhäschen“, höre ich jetzt und erlebe, wie die Hunde auf sie springen, sie belecken, freudig anbellen und energisch mit den Schwänzen wedeln. Jesabel zwängt sich sogar direkt zwischen ihre Beine und reibt energisch seine Schnauze an ihrem Intimbereich. Der Ehemann, circa vierzig Jahre alt, eine Art „spannenlanger Hansel“ mit blauen Augen und einer Brille auf der Nase, betrachtet entzückt die Familienszene. Offensichtlich ist er dabei tief gerührt. Es fällt mir schwer, nicht darüber nachzudenken, wie absurd das alles wirkt. Es scheint, als hätte ich plötzlich inmitten einer Komödie oder einer grotesken Theaterszene Platz genommen, in der die Darsteller sich übertrieben und unnatürlich präsentieren. Ich kämpfe darum, ein Lachen zu unterdrücken, lenke meinen Blick auf die Hunde, die ich betreuen soll, und betrachte sie genauer. Jesabel macht Anstalten, auf mich zu springen. Mir vergeht die Lust zum Lachen. „Also Alba, ich habe hier festgehalten, was Sie während der Woche morgens erledigen müssen“, legt Frau Demarnier im Arbeitgeberton los. Mit ernstem Gesicht – ich will natürlich einen guten Eindruck machen – konzentriere ich mich auf den Text, der mir unter die Nase gehalten wird. Die Schrift entspricht eher einer Kritzelei; trotzdem entziffere ich:

8:00 Uhr: die Hunde Gassi führen.8:30 Uhr: Fressen anrichten (nur Fleisch und Gemüse, keine Pellets), darauf achten, dass die Nahrung in den Portionen stimmt und in die silbernen Fressnäpfchen – bestimmt echtes Silber, nehme ich an – gelegt wird. Nach Verzehr, Letztere ordentlich reinigen.9:00 Uhr: staubsaugen im Erd- und Untergeschoss sowie in der zweiten Etage. Dazu alle zwei Tage im dritten Stock die 4 Gästezimmer und das Büro.10:00 Uhr: einkaufen (Geschäfte oder Markt, der dienstags und freitags gleich um die Ecke ist).11:00 Uhr: sämtliche Badezimmer und Toiletten reinigen.12:30 Uhr: Gemüse putzen, Muscheln schrubben oder sonstige Lebensmittel zubereiten, je nach Instruktion.13:00 Uhr: Dienstende.

„Ich erinnere Sie daran, dass Sie hier die Unterkunft haben. Sie beziehen ein Monatsgehalt von 320 €. Verpflegung ist nicht mit inbegriffen.“

„Das wird doch wohl nicht alles sein“, spotte ich in Gedanken. Wenn ich das richtig verstanden habe, bin ich hier die bessere „Putze“, die beflügelte „Hundehüterin“, und jeder Morgen wird zu einem Marathon ohne Verschnaufpause werden.

„So, haben Sie alles gut verstanden?“ – „Oui,“ sage ich und fühle mich jetzt schon, vor Arbeitsanfang, ausgenommen wie ein Hering.