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Das KKF II unter der Leitung von Fallanalytikerin Rita Seidel steht vor einer schweren Aufgabe: Es soll erforschen, was Serienmörder zu rituell inszenierten Taten bewegt, um sie schneller fassbar zu machen. Als im Umfeld eines Berliner Theaters drei sehr unterschiedliche Morde geschehen, wird Seidels Team zu den Ermittlungen hinzugezogen. Denn der Täter scheint seine Taten nach einem bestimmten Mythos zu inszenieren, gleich eines Theaterstücks. Seidel und ihre stärkste Ermittlerin Theresia Pfeffer müssen nun all ihr Wissen aufbringen, um dem Mörder auf die Spur zu kommen, bevor der nächste Akt beginnt.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2015
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
Kapitel 1 Kunstblut
Kapitel 2 Probe
Kapitel 3 Ratschläge
Kapitel 4 Antigone
Kapitel 5 Facetten
Kapitel 6 Munition
Kapitel 7 Haare
Kapitel 8 Torsten
Kapitel 9 Spiegel
Kapitel 10 Kreis
Kapitel 11 Auftrag
Kapitel 12 Gullnick
Kapitel 13 Fassung
Kapitel 14 Spielplan
Kapitel 15 Tagebuch
Kapitel 16 Frühstück
Kapitel 17 Sonntag
Kapitel 18 Alibi
Kapitel 19 Echo
Kapitel 20 Narziss
Kapitel 21 Apollon
Über die Autorin
Alina Falkner, geboren 1983 in Essen, lebt und arbeitet in Berlin. Sie schreibt Romane, Hörspiele und Essays. Ihre erste große »Schreibliebe« aber war das Theater. Sie verfasste schon in der Grundschule eigene Stücke, und ihr erster richtiger Job war Regieassistentin am Schauspiel Essen. Deshalb war es naheliegend, die Ermittlerinnen Pfeffer und Seidel im zweiten Band ihrer Krimireihe in die spannende Welt des Theaters eintauchen zu lassen.
ALINA FALKNER
GEFÄHLICHES FLÜSTERN
Kriminalroman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Sabine BiskupTitelabbildung: © shutterstock/kuzma; © shutterstock/reinhold leitner; © shutterstock/sean pavone; © shutterstock/xpixel Umschlaggestaltung: Kirstin OsenauDatenkonvertierung E-Book: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-1388-8
www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de
»Eines Tages hat sie ein Kaninchen in der Badewanne geschlachtet.« Er blinzelt ins Scheinwerferlicht. »Es ging ihr nicht um den Braten, kochen konnte sie nicht. Es ging ihr um das Bild, das sie mit dem Blut zeichnen wollte. Ich hab ihr gesagt, dass das keine Kunst sei. Doch sie stand ungerührt vor mir, in weißer Unterwäsche, beschmiert mit Blut und ausgerüstet mit einer alten Spiegelreflex vom Flohmarkt. Ihr Atem ging schnell, sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, sodass auch ihre Wange blutverschmiert war, und sah mich sprachlos an. Die Fliesen hinter ihr waren ockerfarben, was wir erst später hassen gelernt haben. Als wir getrennt waren. In diesem Augenblick waren uns die Fliesen noch egal. Was nicht egal war, war die Sauerei in der Wanne. Sie hat das Tier erst ausbluten lassen und dann gehäutet. Aber ein totes Kaninchen ist noch kein Werk von Bedeutung, hab ich ihr gesagt. Es ist einfach keine Kunst, irgendjemanden abzuschlachten.« Seine Hand streicht über den blutroten Samtvorhang. Er lächelt ins Publikum. »Es ist erst Kunst, wenn es jemand ganz Besonderes ist.«
Vorhang auf.
Hanne tätschelt ihrem Mann lächelnd das Knie. »Sei nicht so brummig, Matthias. Wir wollen doch einen schönen Abend haben.«
Er erhebt sich mit einem Seufzen von seinem Platz. »Einen schönen Abend hätte ich zu Hause gehabt. Es läuft Fußball.«
Sie runzelt die Stirn. »Deine Tochter hat uns die Karten geschenkt.«
»Ist auch deine Tochter. Und wenn ich mir dieses Geschenk so ansehe, muss ich meine Vaterschaft ernsthaft anzweifeln.«
Hanne verdreht die Augen, lächelt aber. »Dritte Reihe, Matthias. Die waren teuer. Und jetzt ist doch erst Mal Pause. Da gönnen wir uns einen Sekt, oder?«
»Ja, ja.«
Sie geht lachend durch die Sitzreihe hindurch, hinein ins Seitenfoyer und dann ins Hauptfoyer, wo sich die Bar befindet. Matthias folgt ihr schweigend. Hanne atmet tief den Duft des Theaters ein. Eigentlich sollten sie das viel öfter machen. Um sie herum klirren Gläser, gefüllt mit Sekt oder Wein, die anderen Besucher sind in angeregte Gespräche vertieft. Ein kultivierter Hauch liegt über allem, selbst den Laugenbretzeln. Sie dreht sich lächelnd zu ihrem Mann um. »Ich finde den Ferdinand ja nicht so gut besetzt, aber ansonsten ist es doch eine annehmbare Inszenierung.«
»Es gibt nicht mal Blut. Dabei haben die doch im Theater angeblich Kunstblut, das niemand von echtem unterscheiden kann.« Er schaut sich suchend um. »Du hattest was von Sekt gesagt, oder?«
Hanne stemmt die Hände in gespielter Entrüstung in die Hüften. »Kannst du nicht wenigstens so tun, als würdest du was vom Theater, Schiller oder Kabale und Liebe verstehen?«
»Wieso? Das machst du doch schon.«
»Dann hol uns wenigstens zwei Gläschen Sekt.«
»Ich hab keinen Geldbeutel dabei, Mäuschen«, sagt er nun ehrlich zerknirscht.
»Und ich hab meine Handtasche an der Garderobe abgegeben.« Kaum hat sie es gesagt, bereut sie ihre Worte schon. Denn Matthias’ Mundwinkel sinken noch tiefer als vorhin im Zuschauerraum. »Ich hol sie ab«, sagt Hanne schnell und dreht sich um.
Die Absätze ihrer halbhohen Lederpumps klappern auf den Stufen hinunter ins Erdgeschoss. Wenig später schultert sie ihre Tasche, lächelt der uniformierten Garderobiere zu und eilt die Treppe wieder zurück nach oben. Nicht dass sie ihren Sekt nicht mehr austrinken können, bevor der zweite Teil beginnt. Eigentlich bräuchte Matthias sogar zwei Gläschen, damit es ein halbwegs vergnüglicher Abend wird.
Hanne stellt sich an der Bar an. Ihr Mann steht vor den großformatigen Portraits der Ensemblemitglieder und besieht sich eine junge Schauspielerin. Hanne schmunzelt. Alles, was die Stimmung oben hält, soll ihr recht sein. Sie beobachtet Matthias mit liebevollem Blick, rückt einen Schritt in der Schlange vor und kramt schon mal in ihrer Handtasche. Sie bekommt ihr Handy zu fassen, das hoffentlich ausgeschaltet ist. Sie überprüft es noch einmal und tut es beruhigt zurück. Aber wo war jetzt ihr Geldbeutel?
»Was darf’s sein?«, fragt der junge Barkeeper.
»Zwei Sekt«, antwortet sie und lächelt ihn an, immer noch in ihrer Tasche kramend. »Ich finde mein …« Sie hält inne. Was war denn das? Ihre Hand hat etwas Feuchtes, Weiches zu fassen bekommen. Das hat sie doch nicht da reingetan … Das Ding rutscht ihr aus der Hand. Hanne greift es wieder. Es ist leicht und hat eine raue Oberfläche.
»Acht vierzig, bitte.«
Hanne hört den Barkeeper kaum und zieht ihre Hand aus der Tasche. Noch bevor sie ausmachen kann, was das Ding ist, sieht sie das Rot. Ihr Handballen ist verschmiert.
»Haben Sie sich verletzt?«, fragt der Barkeeper.
Sie schüttelt mechanisch den Kopf und öffnet die Hand. Darin liegt ein blutiger dunkelrosa Fleischfetzen.
»Ist das … eine Zunge?«, fragt irgendjemand hinter ihr.
Hanne schreit auf und wirft die Zunge von sich, sie klatscht zwischen den Sektgläsern auf den Marmortresen.
Und dann kreischt plötzlich noch jemand. Eine Seitentür wird aufgestoßen, und eine Frau kommt herausgestolpert. Sie trägt ein langes Kleid und eine gepuderte Perücke. Sie spielt eigentlich die Louise, aber jetzt schreit sie, fällt über ihr Kleid und übergibt sich vor aller Augen auf einen Barhocker.
Theresia Pfeffer starrt vor sich auf den Bildschirm und lauscht Boris Czorskis tippenden Fingern. Zehnfingerschreiben hat er garantiert nicht gelernt, das verrät ihr das laute Hacken. Pfeffer legt den Kopf auf ihre Rückenlehne und sieht hoch zu den Deckenfliesen. Alles Styropor.
Sie hat dem Computer einfach nichts zu sagen. Rita Seidel, Leiterin des KKFII und seit Neustem Pfeffers Vorgesetzte, hat ihr aufgetragen, die Verdienste der Canter-Gruppe zusammenzutragen. Das Team um den britischen Psychologen David Canter hat in den achtziger Jahren die Vorteile von statistischen Methoden für Täterprofilforschung aufgezeigt. Pfeffer soll nun die Stärken und Schwächen dieser Statistiken herausarbeiten und dem neu gegründeten KKFII einen Überblick verschaffen. Investigative Psychologie nennt Seidel das – ist aber eigentlich keine Investigation, sondern das Betrachten von Tabellen und Schemata.
Pfeffer gähnt. Czorski tippt. Doktor Rita Seidel kommt aus ihrem Büro, sie stemmt die Hände in die schmalen Hüften und grinst. »Ich hab ihn gefunden!«
»Heißt das, du brauchst den Canter-Vortrag nicht mehr?«
Seidel verdreht die Augen hinter ihrer kleinen runden John-Lennon-Brille. »Doch. Natürlich, Pfeffer. Das ist doch die Basis für alles. Canter und die Facetten-Theorie.«
»Die ist Dienstag fertig«, sagt Czorski tippend.
Pfeffer stöhnt. »Ich brauch länger.«
Seidel mustert sie einen Augenblick lang, dann fährt sie ungerührt fort. »Jedenfalls hab ich den idealen ersten Fall für unsere Forschung. Wenn wir uns fragen wollen, was das serielle Tötungsritual über die Psychologie des Täters aussagt …«
Eigentlich will ich mich das gar nicht fragen, denkt Pfeffer. Das BKA hat zwar Gelder für diese Forschungsprojektgruppe freigegeben, wodurch Pfeffer nun auf seiner Gehaltsliste steht, doch die Arbeit fürs BKA hatte sie sich anders vorgestellt.
»… dann nehmen wir uns am besten Heinz Gullnick vor«, endet Seidel.
»Serienmörder aus Bochum.« Czorskis Augen bleiben auf seinen Bildschirm geheftet, während er spricht. »Hat in den Achtzigern vier Jungen in einen stillgelegten Bergbaustollen gelockt, sie vergewaltigt und dann drei von ihnen erhängt.«
Pfeffer schnaubt. »Streber.«
»Das war quasi bei uns um die Ecke, und ich war so alt wie zwei der Opfer, als diese Sache ganz Bochum in Atem gehalten hat. Das hat nichts mit Streben zu tun.«
Pfeffer betrachtet ihn nachdenklich. Czorski ist Kriminalkommissar bei der Essener Mordkommission gewesen, ein Ermittler, der Verbrechen aufgeklärt und Täter gefasst hat. Es ist nicht lange her, da hätte sie alles dafür gegeben, das Leben zu führen, das er offenbar so leichten Herzens hinter sich gelassen hat.
»Pfeffer?« Seidels Stimme reißt sie aus ihren Überlegungen.
»Mhm?«
Seidel dreht sich um und winkt Pfeffer hinter sich her. »Kaffee.«
Die ausgetretenen Hosensäume von Seidels Jeans schleifen über die Holzdielen im Flur, Pfeffers Absätze klappern hinterher.
Unten im Coffeeshop fällt Sonne durch bodentiefe Fenster auf die kleinen, runden Tische. Draußen stehen ein paar Raucher, zufrieden dreinblickend in der Spätsommersonne, als hätten sie den besten September ihres Lebens.
»Hier.« Seidel reicht Pfeffer einen Milchkaffee, und sie setzen sich an einen Zweiertisch in der Ecke.
»Danke.« Pfeffer nippt an dem Schaum und wünscht sich, sie könnte Seidels Blick einfach wegwischen wie ihr Make-up am Abend. Aber Seidel mustert sie scharf, während sie ihren schwarzen Kaffee trinkt.
»Geht es dir gut, Theresia?«
»Klar.« Pfeffer ringt sich ein dünnes Lächeln ab und rührt in ihrem Becher. Diese Frage hat sie gefürchtet. Jetzt möchte sie doch lieber oben vor den Büchern über Canter und Täterprofilerstellung sitzen. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht wegreden, davon ist sie überzeugt. Manchmal hilft nur schweigen. Egal, was die Psychologen dazu sagen.
»Es sieht so aus, als fehlt dir das Ermitteln mehr denn je«, hakt Seidel nach.
»Wieso? Ich war doch nie eine richtige Ermittlerin.«
»Stimmt. Du warst bloß eine überambitionierte Streifenpolizistin, die sich dreist in die Ermittlungen des Essener Morddezernats eingemischt hat. Und dann hast du auf eigene Faust einen Serienmörder gejagt, der – wie sich herausstellte – dein Liebhaber war.«
Pfeffer schluckt. Die Essener Stern-Morde. Ein Kapitel, das sie unbedingt vergessen will und es doch nicht kann. Tobias Damm, ihr damaliger Liebhaber, hatte drei Kommissaranwärter grausam ermordet – und es zuletzt auf Theresia selbst abgesehen. Pfeffer hält sich an der Tasse fest, damit ihre Finger nicht zittern. »Ich hab die Spur gefunden, die zu ihm geführt hat.«
Seidel zieht die Beine hoch und setzt sich auf ihre Unterschenkel. »Genau genommen warst du die Spur, die zu ihm geführt hat.«
»Ich hab ihn gestellt, ich hab ihn zu einem Geständnis gezwungen, ohne mich …« Sie verstummt, bevor ihre Stimme zu brechen droht.
»Ja, du hast es geschafft, ihn zu überführen. Und du hast deine Sitzungen mit dem Polizeitherapeuten abgebrochen. Damit bist du mit deinen dreiundzwanzig Jahren zwar die jüngste Analystin, die das BKA je gesehen hat, aber auch die labilste. Alle deine Kollegen hier spüren, wie sehr du das Ermitteln vermisst.«
»Ich bin labil?«
»Ja, am Rande einer Depression, du bist lustlos und niedergeschlagen, deine Ambitionen und dein Biss sind weg. In Essen warst du wie ein gespannter Flitzebogen, jetzt bist du depressiver Pudding.«
»Als bräuchte man Biss für Analysen, Seidel.«
»Es geht nicht nur um Analysen. Die Frage ist, ob du den Biss brauchst, um ein zufriedenes Leben zu führen.«
Pfeffer beugt sich vor, drückt den Zeigefinger auf die Tischplatte, bis er sich durchbiegt, und fixiert Seidel. »Hör auf, mich zu psychotherapieren! Wenn du mit Menschen könntest, wärst du bestimmt keine BKA-Analytikerin geworden. Du kannst ja nicht mal Chefin«, sagt sie scharf. »Du hockst in deinem Büro inmitten von Papierbergen, während Doktor Florian und Filond in ihrem Labor mit ballistischer Gelatine spielen und einen Antrag nach dem anderen für Schweine einreichen, die sie anästhesieren und beschießen dürfen. Die tanzen dir auf der Nase rum, und du kannst nichts dagegen tun, weil du dich in deiner Vorstellung von flachen Hierarchien verfangen hast.«
Seidel runzelt die Stirn. Dass das Labor zu einem Spielplatz verkommen ist, kann sie nicht leugnen. Doch das wird sie vor Pfeffer nicht eingestehen. »Wie gut ist es dann, dass ich dich habe. Du gehst ja mit gutem Beispiel glänzend voran.«
»Ich weiß überhaupt nicht, warum du mich ins Team geholt hast. Ich hab keine Ahnung von Analysen. Die Erforschung von rituellem Serienmord auf der Basis geschlossener Fälle? Wie soll ich dir dabei helfen?«
»Im Moment gar nicht.«
Pfeffer öffnet schon den Mund, um zu sagen, dass Seidel ihr dann doch bitte kündigen soll. Aber es kommt ihr nicht über die Lippen.
Seidel beugt sich näher zu ihr. »Die anderen haben unrecht. Du willst nicht lieber ermitteln; deine Spürnase ist nicht unterfordert, sondern gelähmt. Ich glaube, dass du deine Motivation verloren hast.«
»Was?«
»Du hast schon immer die Verbrecherjagd als deine Berufung angesehen. Doch Tobias Damm hat dir das genommen, dieses Selbstvertrauen. Du hast kein Ziel und keinen Lebenssinn mehr. Du musst das aufarbeiten, Pfeffer.«
Sie springt auf. »Du hast dich mit jedem Mordkommissar angelegt, mit dem du je zusammengearbeitet hast, und schlurfst durchs Leben wie eine ewige Studentin. Du sprichst nicht mit deiner Mutter. Dein großer Bruder ist der einzige Mensch, mit dem du überhaupt redest, und der nimmt dich nicht ernst. Vielleicht solltest du einiges aufarbeiten, Frau Doktor!«
Sie hat gebrüllt. Sie steht vor Wut zitternd in dem Coffeeshop und ragt vor ihrer zierlichen Chefin auf. Die anderen Besucher haben jedes Wort gehört, von allen Seiten spürt Pfeffer ihre Blicke auf sich. Die Barista hinter ihr, links im Raum die BKA-Beamten und vor ihr sitzend, Seidel. Alle starren sie an.
Seidel zieht langsam die Beine unter sich hervor und steht auf. Sie legt beruhigend eine Hand auf Pfeffers Arm, berührt kurz die Narben an ihrem Handgelenk.
»Es war nicht deine Schuld«, sagt sie und klingt bedauernd dabei. Dann dreht sie sich um und geht.
Pfeffer bleibt stehen. Die Blicke der anderen bleiben auf sie gerichtet, sie brennen in ihrem Rücken, in ihrem Gesicht, und sie brennen vor allem auf ihrem rechten Handgelenk. Die Narben dort werden sie immer an Tobias erinnern. Ihr Körper wird diesen Mann nie vergessen, die Küsse nicht, den Sex nicht und die Schmerzen nicht, als er sie folterte.
Ein leises Flüstern geht durch den Raum. Pfeffer wendet langsam den Kopf und sieht zwei Frauen tuscheln. Der Rest schweigt und starrt, während die beiden am Stehtisch ihre rotgesträhnten Köpfe zusammenstecken und über etwas reden, wovon sie nichts, aber auch gar nichts verstehen.
Ehe Pfeffer sich versieht, ist sie bei ihnen, packt eine am Kragen ihrer Jeansjacke und drückt sie gegen die Fensterscheibe. »Ja, ich habe mit einem Mörder geschlafen. Habt ihr Fragen dazu?«
Die Jeansfrau schluckt und sucht den Blick ihrer Kollegin im fliederfarbenen Shirt, die zu einer Salzsäule erstarrt ist.
»Ich war nicht verliebt in ihn, und ich bin ihm auf die Schliche gekommen! Ist das klar?« Pfeffer sieht von einer Frau zur anderen und wieder zurück. Sie geht noch näher an die Jeansfrau ran, sodass ihre Nasenspitzen sich fast berühren. »Aber der Sex war großartig«, flüstert sie, lässt die Jacke los und verlässt den Coffeeshop mit großen Schritten.
Sie stürmt hinauf in die Räume des KKFII und bleibt vor ihrem Schreibtisch abrupt stehen. Czorski tippt immer noch. In seinen Ohren stecken Ohrstöpsel, die zum iPad auf seinem Tisch führen. Er wippt leicht mit dem Kopf. Sein Hals ist lang, sein Rücken krumm. Hinter ihm befindet sich der Tresor, massiv und uneinnehmbar. Darin sind ihre Waffen, die von Czorski und von Pfeffer. Die anderen Teammitglieder dürfen keine Waffen führen.
Pfeffer betrachtet die Stahltür und stellt sich ihre Walther dahinter vor. Kalte Schweißtropfen stehen ihr auf der Stirn. Wenn sie die Waffe dort unten im Coffeeshop dabeigehabt hätte …
»Alles klar, Pfeffer?« Czorski hat sie bemerkt und betrachtet sie skeptisch.
Sie hätte wahrscheinlich nicht geschossen, aber sie hätte die Walther vielleicht gezogen und dieser ignoranten Tante unter die Nase gehalten. Einfach weil Pfeffer das kann, eine Waffe ziehen, und einfach damit die Kuh da unten wenigstens den Hauch von einer Ahnung bekäme, wie es ist, dem Tod ins Auge zu sehen.
»Pfeffer?«
Sie ignoriert Czorski und marschiert zu Seidel ins Büro. Ohne anzuklopfen. Seidel liegt auf dem Bauch vor ihrem Schreibtisch, hat den lockigen Kopf auf die Unterarme gestützt und liest sehr aufmerksam in alten, fast vergilbten Akten.
Pfeffer stemmt die Hände in die Hüften. »Ich hab mich geirrt«, verkündet sie. »Ich brauch eine Therapie.«
H4BCA78V Ich hab das Stück gesehen.
STHBPN49 Wer bist du? Hallo? Woher hast du meine Nummer?
H4BCA78V Du hast sie mir gegeben. Ist lange her.
STHBPN49 Wie lange?
H4BCA78V Weiß ich nicht genau. Die Fliesen im Bad waren jedenfalls Altrosa und nicht Ocker.
STHBPN49 Du?! Ich hab deine Nummer schon gelöscht.
H4BCA78V Du hast meine Nummer gelöscht und stattdessen ein Theaterstück über mich geschrieben?
STHBPN49 Nicht ÜBER dich. Inspiriert von damals, von uns.
H4BCA78V Der Text ist scheiße.
STHBPN49 Ich kann verstehen, wenn es dir etwas unangenehm ist.
H4BCA78V Nein. Du verstehst es eben nicht. Du hast nie etwas verstanden.
STHBPN49 Klar, niemand versteht dich. Deine Küsse haben tagelang nach Kaninchenblut geschmeckt.
H4BCA78V Das hast du dir eingebildet. Und es gibt Schlimmeres. Deine Küsse haben immer nach gar nichts geschmeckt.
STHBPN49 Siehst du, wenn du so was von dir gibst, Kaninchenblut trinkst und dich dabei fotografierst, dann darfst du dich nicht wundern, wenn jemand über dich schreibt.
H4BCA78V Ich wundere mich eher darüber, dass du mich am Ende sterben lässt.
STHBPN49 Das ist nur Theater. Die Realität ist natürlich anders.
H4BCA78V Natürlich.
»Entschuldige, Boris, tut mir total leid.« Ruben setzt sich zu Czorski, legt die Unterarme auf den Tisch und seufzt tief.
»Macht doch nichts«, sagt Czorski und legt die Speisekarte weg. »Es gibt Schlimmeres, als in einem Biergarten in Kreuzberg auf einen Kumpel zu warten.«
Ruben lacht und sucht mit dem Blick nach dem Kellner. Als er den Arm hebt, knarzt seine alte Lederjacke. Czorski könnte schwören, dass es die gleiche ist wie vor über zehn Jahren, als sie zusammen auf der Polizeischule in Bielefeld waren. Aber es ist natürlich nicht die gleiche Jacke. Ruben trägt heute etwas Neueres, der Schnitt ist modisch. Das glaubt Czorski zumindest zu erkennen.
»Also«, beginnt Ruben, nachdem er bestellt hat, »hast du dich schon eingelebt?«
»Mehr oder weniger. Das Schlafzimmer ist eingeräumt.«
»Ja, ich hab auch noch drei Umzugskisten in irgendeiner Ecke stehen. Dabei wohn ich schon vier Jahre in der Wohnung. Aber bei unserem Beruf … Du kennst das ja.«
Czorski räuspert sich. »Ich mach ja jetzt was anderes.«
»Stimmt. Analyse und Täterprofilerstellung.«
»Forschung«, verbessert Czorski.
»Wie auch immer. Das ist hoffentlich eine Beförderung.«
»Na ja, wahrscheinlich schon.«
»Bist du denn nicht deshalb nach Berlin gekommen?«
»Doch, wegen des Jobs. Klar.«
Ruben lacht, dass seine grauen Augen aufblitzen. »Eben. Du bist nach der Ausbildung damals gleich in dein geliebtes Bochum zurückgekehrt, und jetzt plötzlich verlässt du den Pott? Das macht man doch nicht für die gleiche Stelle zu den gleichen Konditionen.«
»Eher nicht.« Czorski lächelt verhalten.
Ruben lehnt sich zurück, streckt sich und legt die Hände hinter den Kopf. Sein T-Shirt rutscht hoch, so dass man ein Stück Bauch und einen graden Streifen Haare zwischen Hosenbund und Nabel sehen kann. Der jungen Kellnerin, die gerade die Biere bringt, gefällt das offenbar. Wahrscheinlich hält niemand Ruben für Mitte dreißig. Scheiß Berufsjugendlicher, hätte Ortwein jetzt gesagt, Czorskis ehemaliger Vorgesetzter bei der Essener Kripo, dessen Grundnahrungsmittel Kaffee und Nikotin waren, dem alles andere zuwider war, vor allem Menschen.
»Also, mir könnten sie wer weiß was anbieten. Ich setz mich nicht hintern Schreibtisch. Nicht in Vollzeit«, sagt Ruben und hebt seine Flasche. »Prost.«
Sie stoßen an.
»Wir haben heute übrigens eine Mordkommission für einen krassen Fall gebildet. Das musst du dir reinziehen.«
»Ach …«, beginnt Czorski, aber Ruben überhört ihn.
»Vorgestern Abend ist im Sturmtheater ein Schauspieler tot aufgefunden worden. Aber nicht an einem Stück.«
Czorski umklammert unter dem Tisch die Armlehnen seines Korbstuhls. »Ach wirklich?«
»Du hast doch bestimmt davon gelesen, oder?«
»Nein, ich …«
»Egal, es stehen eh nicht alle Details in der Zeitung. Pass auf: Eine Theaterbesucherin hat in der Pause ein Stück Zunge in ihrer Handtasche gefunden.«
Czorski verzieht das Gesicht.
»Sie wollte ihren Geldbeutel rausholen und hatte plötzlich eine Menschenzunge in der Hand! Steht total unter Schock, können wir wahrscheinlich erst Mitte nächster Woche befragen. Die Hauptdarstellerin fand den Kopf des Opfers in ihrer Garderobe. Nur dass dieser Kopf weder Zunge noch Ohren hatte. Bei ihr bin ich froh, wenn ich sie diesen Monat noch sprechen kann. Irgendjemand hat den armen Kerl in seine Einzelteile zerlegt und über das ganze Theater verteilt. Ich hab seit Jahren nicht mehr so viel Blut gesehen.«
Czorski lächelt dünn und zeigt dann mit dem Kinn hinter Ruben. »Die Frau da vorne sieht mich jetzt schon zum zweiten Mal an.«
Ruben wendet kurz den Kopf und hebt die Schultern. »Hübsch. Aber ich kann leider nicht an Frauen denken, wenn ich einen Mörder jage.«
»Du jagst Mörder?« Czorski lacht.
»Du weißt doch, wie ich das meine. Dieser Schauspieler ist grausam abgeschlachtet worden, der Täter muss schnellstmöglich gefunden werden.«
»Hat er noch gelebt, als ihm die Gliedmaßen abgetrennt wurden?«
»Nein, wahrscheinlich gab es vorher einen Kehlenschnitt. Die Gerichtsmedizin ist noch nicht ganz fertig. Aber ist trotzdem ekelhaft, oder?«
Ganz genau, denkt Czorski. Ekelhaft und gefährlich.
»Und? Kribbelt es dir da nicht in den Fingern, wenn du so was hörst?«
»Es kribbelt, wenn die Frau da hinten mich weiter so ansieht.«
Ruben schnaubt. »Frauen. Da kribbelt’s bei mir wahrscheinlich erst wieder, wenn ich den Täter dingfest gemacht habe. Aber dann umso mehr.«
»Außer du bist dann tot, Ruben.«
»Was?« Ruben blinzelt irritiert. »Das sind harte Worte für diesen lauen Spätsommerabend.«
»Du hast doch von Menschenzungen in Handtaschen angefangen.«
»Nicht ich, Boris.« Rubens Augen leuchten nun wieder. »Ein geisteskranker Mörder hat damit angefangen. Ich muss dafür sorgen, dass es so nicht weitergeht.«
Czorski nickt und greift nach seiner Bierflasche. »Viel Spaß dabei.«
»Den werde ich haben.«
Betty legt die Hand auf die Klinke und zieht die schwere Feuertür mit aller Kraft auf. Der Geruch von staubigem Stoff und Schweiß schlägt ihr entgegen.
Sie schaut über die im Raum verteilten Stühle hinweg zu dem flachen Podest. Dort liegt Jens Johannes Jost, blickt zur Decke und wirft einen Tennisball in die Höhe. Er fängt den Ball wieder auf und wendet den Kopf zur Seite, seine blonden Locken liegen auf den schwarzen Holzdielen. »Wo ist der Kaffee? Ich seh keine Kanne.«
Betty lässt ihre Tasche auf einen der Stühle fallen. »Ist Nikki noch nicht da?«
»Wer?«
»Unsere Regiehospitantin, Jens. Sie kocht jeden morgen Kaffee für uns.«
»Echt? Ich dachte, du machst das.«
Mit einem Seufzen geht Betty zu den schwarzen langen Moltonbahnen, die an den Wänden herunterhängen. Sie schiebt zwei Bahnen zur Seite und macht sich am Fenster zu schaffen. Es klemmt, sie drückt und zieht, bis es sich öffnen lässt. Das Fenster bietet zwar nur Ausblick auf eine Backsteinwand, aber für frische Luft reicht es.
»Ich bin müde«, sagt Jens, setzt sich auf und wirft den Tennisball quer durch die Probebühne gegen die Feuerschutztür, dass es knallt.
Betty zuckt zusammen und denkt: Wenn er wenigstens ein guter Schauspieler wäre, man würde ihm seine Egozentrik glatt verzeihen. Doch sie verkneift sich den Kommentar, setzt sich auf einen Stuhl in der zweiten Reihe und holt ihr Textbuch hervor. »Ich koche keinen Kaffee. Ich bin Regieassistentin und dafür überqualifiziert.«
»Dann musst du Hospitantinnen auswählen, die die Kaffeemaschine bedienen können.«
»Kannst du den neuen Text?«, fragt Betty unbeeindruckt und blättert in ihrem Buch.
»Du meinst den, der jetzt nur noch halb so lang ist, nachdem unser Intendant, der große Carlos, meine Rolle weiter dezimiert hat?«
Betty verdreht die Augen, ohne aufzusehen. »Ja, den.«
»Kann ich. Nicht ohne Kaffee allerdings.«
Betty studiert weiter die Regieanweisungen und Textmarkierungen in ihrem Buch und zeigt auf die Tür. »Dieser Weg führt zur Kaffeemaschine. Koch ihn selbst.«
»Wo bleibt Nina denn?«
»Nikki.«
»Was?«
»Unsere Regiehospitantin heißt Nikki.«
»Mir egal, wie sie heißt. Sie soll Kaffee bringen.«
Betty schlägt das Textbuch zu und zieht ihr Handy hervor. Es ist zehn vor zehn. Um Punkt zehn beginnt die Probe. Sie wählt Nikkis Nummer und hält sich das Handy ans Ohr. Es tutet. Jens ist derweil aufgestanden und zum leeren Imbisstisch hinübergeschlendert, über dem ein Spiegel hängt. Er betrachtet sein Gesicht, fährt sich durch die Haare und gähnt. »Ich sehe schrecklich aus. So könnte ich glatt den Cyrano spielen.«
»Das hättest du wohl gern«, sagt Betty grinsend und legt auf. »Bei Nikki geht nur die Mailbox ran. Ob sie den Weg zur Probebühne nicht findet? Letzte Woche waren wir schließlich im Keller.« Sie sieht zur Feuertür, die sich einfach nicht öffnen will. Schon gar nicht für die heiß ersehnte blaue Thermoskanne. »Oder sie hat Angst.«
Jens beugt sich zum Tennisball hinunter, der zwischen dem Tisch und einer schwarzen Moltonbahn zum Liegen gekommen ist. Er hebt ihn auf und betrachtet ihn wie eine goldene Kugel. »Angst?«
»Na, wegen Arnos Tod, der gesperrten Hauptbühne, den gecancelten Vorstellungen. Was denkst du denn?«
»Das war ein Unfall.«
Betty reibt sich müde die Augen. »Wenigstens dürfen wir wieder probieren. Das lenkt ab.«
»Hoffentlich hat Nina das auch mitbekommen. Immerhin lag hier sechs Tage lang alles brach.«
»Nikki. Und ich hab ihr gestern eine SMS geschrieben, dass es wieder losgeht.«
»Auf mich hat Nikki immer den Eindruck gemacht, dass sie eher nichts mitbekommt«, sagt Jens.
Betty sieht wieder auf ihr Handy. Ihr hochgebundener Pferdeschwanz fällt zur Seite und kitzelt ihr den Hals. Im Grunde hat sie schon bei der dritten Probe gewusst, dass Nikki zu still und schüchtern für das Theater ist. So jemand geht hier unter. Aber bis jetzt hat sie wenigstens immer für Snacks und Heißgetränke während der Proben gesorgt.
»Kannst du denn noch schlafen?«, fragt Betty.
Jens lacht bitter auf. »Natürlich nicht! Ich hab gestern Abend spät noch mit Carlos telefoniert, das hat mich um die Nachtruhe gebracht. Was meinst du, warum ich vor dir hier war?«
Betty lehnt sich zurück, ihr Zopf fällt wieder zum Hinterkopf, sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Du hast wirklich schlaflose Nächte, weil Carlos dich nicht für die Hauptrolle in Betracht zieht?«
»Es geht um seinen Ton, Betty. Und darum, dass er den Christian zu einer Karikatur zusammenschrumpft. Wie soll ich denn da etwas entwickeln und meine Rolle entfalten?« Er sieht sie halb wütend, halb ratlos an. Doch auch dabei ist er noch wunderschön.
Betty verkneift sich ein Lachen und greift wieder nach ihrem Handy. »Ich dachte, du liegst aus dem gleichen Grund wach wie wir alle. Nämlich, weil ein Kollege tot aufgefunden wurde und jedes neue Gerücht zu den Umständen noch grausamer und blutiger ist als das vorherige. Es heißt, er sei … nicht an einem Stück gewesen.«
»Ja, auch das ist beunruhigend«, sagt Jens und sieht wieder in den Spiegel. »Macht mich fertig. Ein Grund mehr für Kaffee.« Er dreht sich wieder zu Betty. »Was, wenn ich dich dafür bezahlen würde?«
»Was?«
»Du könntest Coffeeshop spielen, ich würde dir horrende Summen für einen blöden Kaffee bezahlen.«
»Du bist wirklich sehr betroffen«, erwidert sie. »Und ich koche keinen Kaffee.« Sie will gerade noch mal auf Nikkis Namen tippen, als das Handy klingelt.
Jens hofft, dass das Warten nun ein Ende hat, aber Betty sieht nicht aus, als würde sie Nikkis Nummer auf ihrem Handy erkennen. Sie nimmt das Gespräch mit einem irritierten »Ja?« an.
Sie sagt eigentlich nicht viel, sondern lauscht und nickt – und wird blass. Noch blasser, als ihr geliebtes Schwarz sie eh macht. Betty trägt immer schwarze, enge Hosen und weiche, weite Rollkragenpullover, so wie die Regisseure in den Siebzigern. Dabei sind die Siebziger längst vorbei – und Betty ist noch lange keine Regisseurin.
»Ja, sie ist Praktikantin bei mir. Ich bin Regieassistentin im Sturmtheater … Was? … Aber …?« Bettys Stimme zittert.
Die Kantine wäre natürlich auch eine Möglichkeit, denkt Jens. Im Zweifel kann man sich den Kaffee auch dort holen, wenn sie partout nicht selbst welchen machen will. Aber dann lässt Betty das Handy langsam sinken und starrt ihn an.
»Was ist los?«, fragt Jens.
»Es … gab einen Vorfall.« Ihre Stimme ist tonlos. »Nikki wird nicht kommen.« Sie packt ihr Telefon in die Handtasche und räumt das Textbuch dazu. Es sind mechanische Bewegungen.
»Hatte sie einen Unfall?«
»Ich weiß es nicht genau. Das am Telefon war ein Polizist. Er hat mir keine Details genannt. Aber die Polizei kommt gleich, um uns Fragen zu stellen. Ich muss mit Carlos reden. Wahrscheinlich haben die ihn auch schon angerufen.«
»Wir müssen alle hierbleiben? Wegen eines Unfalls? Dann hat sie sich aber nicht den Arm gebrochen.«
Betty schüttelt den Kopf. »Nein«, flüstert sie. »Nikki ist tot.«
Doktor Florian bemerkt sie erst, als sie direkt neben ihm steht. Sie nimmt ihm das Licht. Er lässt den Draht los, so dass beide Enden rechts und links vom Seifenblock baumeln, und richtet sich auf. Seidel legt ein Papier direkt vor ihren Bruder auf den Seifenblock.
»Hey!« Er reißt es herunter. »Das ist Beweismaterial.«
»Von was?«
»Von einer Schießübung. Du verfälschst das Ergebnis.«
Sie tippt auf das Papier in seiner Hand. »Und was ist das?«
»Ein Antrag auf Tierknochen«, antwortet er, ohne draufzusehen.
Seidel schwingt sich auf den Tisch mit dem Seifenblock und sieht ihren Bruder fragend an.
»Rita …«, beginnt er mahnend und schiebt den Seifenblock etwas von ihrem Hintern weg.
»Tierknochen, ja?«
Er legt das Papier auf den Schreibtisch an der Wand, setzt sich mit galanter Drehung auf den Hocker und überschlägt die Beine. »Wenn wir nicht mit einem anästhesierten Schwein arbeiten können, müssen wir unsere Surrogate auf andere Art so lebensecht wie möglich gestalten. Wenn man Tierknochen in die ballistische Gelatine einsetzt, dann simulieren wir den menschlichen Körper authentischer, denn …«
Seidel beugt sich zu ihm vor. »Willst du mich verarschen?«
Er schnalzt mit der Zunge. »Ich bitte dich, das ist nicht mein Stil.«
»Sondern? Sieben Stunden mit Seife spielen, eine ausgedehnte Mittagspause im Treptower Park und dann Drinks in Mitte, bei denen jeden zweiten Tag eine andere Frau auf deine BKA-Ballistiker-Masche reinfällt?«
Doktor Florian breitet die Arme aus. »Berlin ist herrlich.«
Sie zeigt auf das Papier hinter ihm. »Das unterschreib ich nicht.«
»Was? Warum?«
»Da kommst du selber drauf.«
»Es ist Macadamia!«, verkündet in dem Moment eine Stimme feierlich von der Tür. Seidel wendet den Kopf. Dort steht Harald Filond, der Gerichtsmediziner des KKFII, und hält in der einen Hand einen Kaffeebecher aus Pappe, die andere hängt geziert in der Luft. In dem weißen Laborkittel sieht er aus wie eine riesige Teekanne. Seidel schaut von dem Gerichtsmediziner zu ihrem Bruder und wieder zurück. Irgendwie wirkt Filond wie die dicke, ältere und tuntige Version von Doktor Florian. Nur eben ohne Vollbart. Waren die sich schon immer so ähnlich, oder ist das in den letzten Wochen passiert? Vielleicht sind sie wie ein altes Paar, das nach Jahrzehnten automatisch die gleiche Kleidung trägt. Nur dass die beiden noch keine drei Wochen zusammenarbeiten.
Filond nimmt einen Schluck aus dem Becher. »Mhm«, macht er genießerisch. »Nicht zu fassen, dass ich fast drei Wochen gebraucht habe, um den besten Kaffeesirup da unten zu finden.« Er trippelt gut gelaunt zu seinem Schreibtisch.
»Meine kleine Schwester will den Antrag auf Tierknochen nicht unterschreiben.«
Filond bleibt stehen. »Nicht?«
Seidel bleibt stoisch mitten auf dem Tisch sitzen und dreht sich nur ein Stück zu Filond um. »Ihr kriegt kein Schwein, und ihr kriegt auch keine Tierknochen.«
»Ja, aber …« Enttäuscht sinkt Filond auf seinen Drehhocker, der unter seinem fülligen Körper fast verschwindet.
»Woran arbeitest du gerade?«, fragt sie ihn.
»Doktor Florian hat mir Lektüre empfohlen.« Er trinkt noch einen Schluck Kaffee. »Ich lese über Kneubühls Messverfahren zur Voraussage der Zerstörung von menschlichem Gewebe durch unterschiedliche Schusswaffen. Wir kreisen gerade Dumdumgeschosse ein.«
»Dumdumgeschosse?«
Doktor Florian springt auf. »Wenn ich den Seifenblock fertig zerteilt habe«, beginnt er, beugt sich wieder über den Block und zieht den Draht weiter durch die Seife, »dann können wir wahrscheinlich einen sehr großen Krater sehen. Von außen sehen wir schon die Splitter des Geschosskörpers.«
»Der steckt noch drin«, ergänzt Filond. »Dum-Dum-Geschosse sind auf größtmögliche Gewebsverletzung hin entwickelt worden und geben sofort beim Eintritt die größtmögliche Energie ab.«
»Das weiß ich«, sagt Seidel. Sie rutscht vom Tisch und mustert ihren Bruder vorwurfsvoll. »Die Frage ist: Was hat das alles mit Heinz Gullnick zu tun?«
»Gullnick?«, fragt Filond.
Doktor Florian räuspert sich. »Ich dachte, wir sollen uns zuerst allgemein mit Wundballistik beschäftigen und Basisdaten gewinnen.«
»Das hast du so verstanden, weil du es so verstehen wolltest. Ich habe gesagt, ihr sollt euch allgemein einarbeiten, bis wir einen konkreten ersten Fall haben, anhand dessen wir Täter-, Opfer- und Tathergangsmuster herausarbeiten.«
»Äh.« Doktor Florian und Filond tauschen einen Blick.
»Stattdessen gewinnt ihr Basisdaten über eine Geschossart aus dem neunzehnten Jahrhundert?«
»Also, Rita, es ist nicht ausgeschlossen, dass ein perfider Serienmörder heute das Dumdumgeschoss gerade deshalb …«
»Das«, sie hebt mahnend ihren dünnen Zeigefinger unter Doktor Florians Nase, »ist kein Argument! Und das weißt du selbst.« Sie richtet den Finger auf Filond. »Und du auch.«
Filond lächelt entschuldigend. »Ich fand Kneubühls Messverfahren eh nicht besonders erhellend.«
»Wie bitte?«, fragt Doktor Florian. »Er ist ein führender Gerichtsmediziner.«
Filond wischt mit der fleischigen Hand durch die Luft. »Kenne bessere.«
Seidel trommelt mit den Fingern auf dem Labortisch mit dem Seifenblock. »Ich dachte, ihr seid die besseren. Ich dachte, ihr könnt die Forschung vorantreiben. Aber stattdessen verschwendet ihr Patronen und Arbeitszeit für ein völlig veraltetes Geschoss, das mit unserem aktuellen Fall nichts zu tun hat.«
Filond lehnt sich an seinen Schreibtisch und verschränkt die Arme über seinem runden Bauch. »Autorität steht dir gut, Seidel. Ich finde es toll, dass du dich jetzt durchsetzen willst.«
Seidel schiebt ihre Brille mit einer zackigen Bewegung die Nase hoch. »Gullnick hat seine Opfer erhängt. Er hat in seinem Leben keine Schusswaffe angerührt. Als jemand, der auf Schusswaffen spezialisiert ist, solltest besonders du dich mit Stricken und Strangulation auseinandersetzen. Und zwar seit der Sekunde, als ich dem Team verkündet habe, dass wir uns Gullnick und die Bergstollenjungen ansehen werden!«
»Also, Schwesterchen, du hast uns nicht direkt …«
»Am Arsch, Florian! Du hörst jetzt sofort mit den Scheißausreden auf, oder ich schmeiß dich raus und lass dich zurück nach Wiesbaden versetzen, wo es keine Mitte-Bars und keine einzige Singlefrau mehr gibt, die du mit deiner Gentleman-Ballistiker-Masche beeindrucken kannst.«
Doktor Florian schluckt. »Das machst du nicht …«
Seidel lacht. »Ich weiß, dass du wegen Berlin hier bist und nicht, weil dich die Herausforderung interessiert. Aber wenn du die nicht langsam annimmst, kannst du Berlin vergessen!«
»Gut gesagt«, säuselt Filond.
»Und du«, wieder hebt Seidel den Finger, » kümmerst dich jetzt darum, ob du Zugang zu den Gullnick-Opfern bekommst.«
»Den begrabenen Jungen?«
»Ja, genau denen. Was sagen die Akten? Was sagen die Leichen?«
»Was die Leichen sagen?« Filond lächelt unglücklich. »Die sind doch schon seit über fünfundzwanzig Jahren unter der Erde.«
Seidel verschränkt die Arme vor der Brust. »Theoretisch kann man die ausgraben, oder nicht?«
»Was? Also nach fünfundzwanzig Jahren …«
»Keine Ausreden mehr. Ihr habt hier Sezierbesteck und einen Kühlraum, Filond. Dachtest du wirklich, das sei alles nur für den Fall, dass irgendjemand euch irgendwann mal erlaubt, auf ein betäubtes Schwein zu schießen?«
»Äh.«
»Und wie verhält es sich mit einem Seil als Tatwaffe? Wann ist Erwürgen und wann Erhängen mitsamt Genickbruch effizienter? Was sagen die Akten aus gerichtsmedizinischer Sicht, was auf ein Ritual schließen lässt? Macht endlich euren Job!«
Seidel sieht von einem zum anderen, dreht sich auf dem Absatz um und schreitet entschlossen zur Tür, die sie mit einem Knall hinter sich zuwirft.
Filond atmet vernehmlich aus und leert seinen Kaffeebecher. »Und du hast gesagt, dass wir hier im Labor unsere Ruhe haben werden.«
Doktor Florian runzelt die Stirn. »Nun, ich schätze, diese Zeiten sind vorbei, mein Freund.«
Betty zieht ihre Jacke an und schultert ihre Tasche. Sie kommt ihr seltsam leicht vor, deshalb wirft sie noch einen Blick hinein. Das Textbuch fehlt. Genervt sieht sie sich im Raum um. Sie wollte zu Hause noch einmal alle Änderungen durchgehen und sauber eintragen, damit morgen auf der Probe keine Verwirrung darüber entsteht, wer was zu sagen hat. Sie hebt ein paar Blöcke und alte Textbücher vom Schreibtisch hoch. Es herrscht ein einziges Chaos. Wenn das ihr Schreibtisch oder ihr Büro wäre, würde sie sich besser zurechtfinden, aber es ist das Büro aller Regieassistenten im Haus, und es gibt keine festen Plätze, nur Unordnung.
Betty seufzt. Alles deutet darauf hin, dass sie das Textbuch auf der Probebühne liegen gelassen hat. Ausgerechnet diese Woche, wo sie die Bühne in der vierten Etage hatten. Hätte das nicht letzte Woche passieren können, als sie noch im Keller waren?
Sie schließt das Büro hinter sich und geht zum Treppenhaus. Vor der schweren Feuerschutztür im vierten Stock angekommen, legt sie die Hand auf die Klinke und zieht mit einem kräftigen Ruck. Die Tür erscheint ihr zu dieser Stunde noch schwerer als sonst, sie bekommt sie kaum einen Spalt auf, als sie plötzlich Stimmen hört.
»Du machst dich wirklich lächerlich«, sagt Intendant und Regisseur Carlos. Seine schnarrende Stimme erkennt Betty sofort. Und wie immer betont er das R etwas zu deutlich.
»Nein, du machst dich lächerlich. Irgendwann musst du doch auch mal gegen das Klischee besetzen«, antwortet Jens. »Wir sind schließlich das Sturmtheater!«
Betty beißt sich auf die Lippen. Soll sie einfach reingehen?
»Sag mir nicht, wie mein eigenes Theater heißt!«, brüllt Carlos jetzt. »Oder wie ich es zu führen oder wen ich zu besetzen habe. Ich besetze nach Talent!«
»Ich bin besser als das, was du mich spielen lässt.«
»Du bist noch zu schlecht für das, was ich dir überhaupt gebe. Ich habe heute einen kompletten Abend verschwendet. Wenn ich talentlose Selbstdarsteller ansehen wollte, würde ich Aufnahmeprüfungen an der Schauspielschule machen.«
»Wenn du wüsstest, was man mir schon alles bezahlt hat für meine Auftritte, welche Honorare ich hatte, dann …«
»Wenn du wüsstest«, fährt Carlos laut dazwischen, »wie oft ich schon darüber nachgedacht hab, deinen Vertrag aufzulösen. Dann würdest du mich anbetteln, hier umsonst spielen zu dürfen. Aber deine Agentur hat dieses Haus ja geknebelt.«
Betty schluckt und lässt die Tür langsam wieder ins Schloss gleiten. Sie kann ihr Textbuch auch morgen vor der Probe überprüfen, dann wird sie halt etwas eher kommen.
Sie atmet tief durch und sieht in den Flur. Er ist dunkel und zugig. Als wären zwei Todesfälle nicht schon genug, jetzt streitet der Intendant sich auch noch mit seinen Schauspielern. Sie geht die Stufen hinunter, ihr Schritt wird immer schneller. Sie hat sich in diesem Theater einmal zu Hause gefühlt, doch das Gefühl ist verflogen.
»Wieder so spät geworden?«, fragt Willi in ihre Gedanken hinein.
Betty wendet überrascht den Kopf und sieht ihn an. Sie weiß kaum, wie sie bis zur Pförtnerloge gekommen ist. »Ja, ohne Hospitantin muss man alles selber machen. Und dann die Polizei, die den ganzen Tag im Haus war, und der exzentrische Regisseur, der auf seine Proben besteht …« Sie zieht ihre Jacke enger um sich.
»Mädel, du musst auf dich aufpassen«, sagt der gemütliche Nachtpförtner, während er kurz auf die Uhr guckt und eine Uhrzeit notiert.
»Aufpassen?«
Willi legt den Stift beiseite. »Laut meinen Aufzeichnungen bist du seit dreizehn Stunden im Haus. Oder hat Fred vergessen einzutragen, dass du nachmittags draußen warst?«
»Nein, ich war hier«, murmelt sie.
»Betty, das ist zu lang. Du musst deine Batterien doch auch mal auftanken. Oder glaubst du, Carlos macht dich zur Regisseurin, wenn du Burnout hast, bevor du dreißig bist?«
Sie lächelt dünn. »Nein, aber wenn er mich gar nicht erst bemerkt, krieg ich auch keine eigene Produktion.«
Willi lehnt sich zurück und wischt mit der Hand durch die Luft. »Deine Zeit wird kommen.«
»Nicht, wenn wir nicht probieren können. Ich wünschte wirklich, die Polizei würde hier nicht ständig aufkreuzen und alles lahmlegen.«
»Aber die müssen doch ermitteln.«
»Ja, natürlich. Aber können die das nicht nachmittags machen, wenn wir hier Pause haben? Dann könnten wir morgens und abends wie gewohnt loslegen.«
»Dann hätte aber keiner eine Pause, Betty. Dann würdet ihr morgens und abends probieren und dazwischen mit der Polizei sprechen und kämt nie zur Ruhe.«
Sie lächelt ihn an. »Ach, Willi. Die Welt dreht sich heute eben schneller. Das heißt nicht, dass wir alle einen Herzinfarkt bekommen werden.«
»Ich sag nur, du sollst auf dich aufpassen.«
Sie winkt ihm und geht die drei Stufen zur Tür hoch. »Mach ich. Gute Nacht, Willi.«
»Gute Nacht.«
Czorski greift mit der rechten Hand unter seine Jeansjacke zum Leibriemen, zieht die Walther hervor und kniet sich vor den Tresor. Gähnend gibt er den Code ein und wartet auf das Piepsen. Die Tür springt auf, und Czorski legt die Pistole in sein Fach. Er will die Tür schließen, doch stutzt. In Pfeffers Fach liegt ihre für Linkshänder optimierte Walther. Dabei kommt sie doch immer erst um neun.
»Seidel!«, ruft er über die Schulter zum Büro seiner Chefin. »Ist Pfeffer schon da?«
»Körperlich oder geistig?«, kommt es zurück. »Letzteres müsste ich generell verneinen.«
»Ihre Waffe ist aber hier.«
»Du lässt deine doch meistens auch über Nacht hier im Tresor, oder nicht?«, ruft Seidel halb fragend, halb desinteressiert zurück. Dann raschelt Papier.
Czorski sieht zu dem Tresor und schließt die Tür. »Ja, ich«, sagt er leise, zieht seine Jeansjacke aus und hängt sie über den Stuhl. Der Platz von Pfeffer ist noch leer. Dass sie sich von ihrer geliebten Waffe getrennt haben soll … Ausgerechnet jetzt, wo sie zu Hause einen Waffenschrank hat und die Pistole immer bei sich führen darf?
Czorskis Handy klingelt, und er schiebt seine Gedanken an Pfeffer und ihre Walther beiseite.
»Boris, ich brauche dich«, sagt Ruben unvermittelt. »Erinnerst du dich an die zerstückelte Leiche aus dem Sturmtheater?«
»Jaaah«, sagt Czorski gedehnt und setzt sich an den Schreibtisch. Er erinnert sich vor allem an die hübsche Brünette, die ihn an dem Abend im Biergarten zwei Mal angeschaut hat … und die er dann doch nicht angesprochen hat, weil er zu feige war.
»Es gibt eine zweite Leiche.«
»Im Sturmtheater?«
»Jein. Jemand aus dem Sturmtheater. Innerhalb von einer Woche haben wir zwei Leichen, die zu ein und demselben Schauspielhaus gehören. Das schreit doch nach Doppelmord ein und desselben Täters.«
Czorski presst die Zähne aufeinander. Was soll er denn darauf erwidern? Dass es nicht danach schreit, aber sehr wahrscheinlich ist? Dass er über so was gar nicht nachdenken will? Dass Heinz Gullnick in den letzten Tagen auch deshalb zu seinem Lieblingsmörder geworden ist, weil der schon gefasst wurde? Gullnick kann erforscht werden, ohne dass er noch Schaden anrichtet. Das ist die perfekte Ermittlerarbeit in Czorskis Augen.
»Aber wir tun uns mit der Ein-Täter-Theorie schwer, Boris. Die beiden Opfer kannten sich nicht und sind auch auf sehr unterschiedliche Art umgekommen. Das zweite Opfer ist heimlich, still und leise vergiftet worden. Könnte auch Selbstmord gewesen sein.«
»Ruben, ich …«
»Ja, ich weiß, du warst nicht direkt an der Erfassung des Stern-Mörders beteiligt. Aber du könntest mir trotzdem eine Hilfe sein, auch wenn du Tobias Damm nicht auf die Schliche gekommen bist.«
»Na ja«, widerspricht Czorski, »ich war schon in der Mordkommission.«
»Ach ja?«
»Egal«, sagt Czorski seufzend. »Was ich eigentlich sagen wollte: Ich muss mich hier wirklich auf unsere Forschung konzentrieren. Was du da beschreibst, passt nicht in unser Profil. Wir arbeiten mit rituellen Serienmorden. Zwei so unterschiedliche Tatortbilder, wie du sie beschreibst, könnten vom gleichen Mörder sein, weisen aber noch nicht auf ein Ritual hin. Und zwei Tote sind noch keine Serie.«
»Noch nicht, Boris«, antwortet Ruben ernst. »Wir sind etwas ratlos, sonst würde ich dich nicht um Hilfe bitten. Ich hatte die Hoffnung, dass euer Team uns eventuell beratend zur Seite stehen kann.«
Gegen seinen Willen muss Czorski feststellen, dass es ihm gefällt, wie ihn der coole Großstadtcowboy um Hilfe bittet, wie er auf jemanden wie ihn angewiesen ist.
»Komm schon, Boris! Wir beide ermitteln gemeinsam, wie wir es uns vor fast fünfzehn Jahren ausgemalt haben. Wir folgen den Spuren, stellen den Mörder und …«
»… lassen uns erschießen«, schließt Czorski tonlos.
Ruben schweigt eine Weile. »Dein Forschungsschreibtisch ist keine Beförderung«, sagt er schließlich. »Und du bist auch nicht in Berlin, weil du Kreuzberg so toll findest. Du hast Angst, dass dir das passiert, was Ortwein passiert ist.«
Czorski denkt kurz über diese Worte nach, denkt an seinen alten Vorgesetzten, der in Essen vom Stern-Mörder erschossen wurde – der sich in die Schusslinie warf, um Seidel zu retten. »Kriminalkommissare leben gefährlich, Ruben«, sagt er schließlich mit heiserer Stimme. »Dieser Job ist kein Abenteuerspielplatz. Du kannst dir vormachen, dass es anders ist, und dich beinhart finden, bis du einem Mörder mal so nah kommst, dass es kein Spaß mehr ist.«
»Wenn man vom Pferd fällt, sollte man schnell wieder aufsteigen.«
»Ich hab jetzt ein anderes Pferd, wenn du so willst. Und wir sind keine Ermittlungsberater.«
»O.k.«, sagt Ruben knapp. »Da kann man nichts machen.«
Czorski verspricht noch ein Bier, das sie bald trinken werden, aber Ruben stimmt nur abwesend zu, bevor er auflegt.
Seidel schlurft an Czorski vorbei durch den Flur. Er hört, wie sie ans Labor der beiden Forensiker klopft und ihnen irgendwas von Seilproben zuruft, zu denen sie wirklich gerne bald einen Bewilligungsantrag auf ihrem Schreibtisch hätte. Das wäre nämlich mal einer, den sie herzlich gern unterschriebe.
Das Klappern von Absätzen kündigt Pfeffer an, und während Seidel da draußen noch schimpft, steht sie schon in der Bürotür. Der BKA-Ausweis baumelt an ihrem Blazer.
»Morgen«, sagt Pfeffer knapp und setzt sich an ihren Schreibtisch, mit einer Miene, als erwarte sie eine besonders unangenehme Arztbehandlung.
»Wer ist eigentlich auf die geniale Idee gekommen, dass ich mit meinem Bruder zusammenarbeiten soll?«, murmelt Seidel und stampft an Pfeffer und Czorski vorbei. »Als seine Vorgesetzte.« Sie lacht bitter und knallt die Tür hinter sich zu.
Czorski zuckt zusammen, Pfeffer nicht.
»Deine Zusammenfassung gestern hat mir gefallen«, sagt er freundlich.
Sie lächelt dünn. »Das freut mich. Aber ich war vor allem froh, dass es vorbei ist. Und dann hat Seidel mir schon etwas Neues aufgetragen.«
Er lacht. »Natürlich, oder wolltest du hier Däumchen drehen?«
»Ich weiß nicht, was ich will«, erwidert sie leise. »Aber ich weiß, dass ich die Kreis-Hypothese nicht auf einen Täter anwenden will, dessen Homebase bereits bekannt ist.«
»Homebase?«
Pfeffer blättert lustlos in ihren Büchern und Unterlagen. »Die Kreis-Hypothese ist eine Abstandshypothese, die einen Zusammenhang zwischen den Tatorten und der Basis des Täters herstellt. Es geht um die Abstände der Tatorte zueinander. Meistens ist die Basis des Täters sein Wohnort, und der von Gullnick ist bekannt.«
»Du sollst also einen Ort finden, den du schon kennst?«, fragt Czorski.
»Nein, einen Ort, den ihr kennt«, erwidert sie genervt. »Seidel hat mir nur die vier Entführungsorte zur Verfügung gestellt, die Gullnick nach seiner Verhaftung preisgegeben hat. Und ich soll jetzt Kreise ziehen.«
»Spannend. Ich hab mich nie groß mit den eigentlichen Tatorten beschäftigt.«
»Aber das ist doch alles sinnlos! Ich erarbeite etwas, das schon bekannt ist. Und damals haben die Ermittler im Dunkeln getappt. Wenn ein vierter Junge nicht entkommen wäre und die Beamten in den Stollen geführt hätte, wäre Gullnick heute noch frei. Ermittlungsstrategien versus Zufall.«
Czorski sieht den Jungen von damals vor seinem inneren Auge. Seit sie die Akten vorliegen haben und er das Gesicht dieses armen Burschen kennt, sieht er es ständig vor sich. Es hat fast etwas von einem Blick in den Spiegel und in seine Vergangenheit, denn Czorski weiß, er selbst hätte Gullnick damals ebenso über den Weg laufen können.
»Von wegen heiße Spur und gute Ermittlungsarbeit«, mault Pfeffer weiter und schiebt ihre Maus lustlos über den Schreibtisch. »Ein Elfjähriger hat den Beamten und sehr vielen kleinen Bochumer Jungs den Arsch gerettet.« Sie hält inne. »Arsch gerettet. Ha-ha.«
Czorski runzelt die Stirn. »Das war geschmacklos.«
»Ja, tut mir leid. Ich …«
Czorski betrachtet sie genauer, die glänzenden Haare, das junge Gesicht, auf dem sich Erfahrungen abzeichnen, die niemand in seinem Leben machen sollte. Pfeffer wirkt verbittert und verloren.
Sein Handy piepst. Er schaut drauf.
Spannende Ermittlungsarbeit und gefährliche Täter … Überleg’s dir. Ruben.
Czorski sieht noch einmal zu Pfeffer. Sie starrt unverändert in eine unbestimmte Ferne jenseits ihres Computers.
Seidel klemmt sich den schwarzen Edding zwischen die Zähne und zieht das Whiteboard an der Wand entlang. Ein Rad verhakt sich genau in dem Augenblick in einem Papierstapel, als es an der Tür klopft.
»Hrrmpf.«
»War das ein Herein?«, fragt Czorski und steckt den Kopf durch die Tür.
Sie winkt ihn in ihr Büro und legt den Stift beiseite. Fluchend tritt sie gegen den verkanteten Papierstapel, bis das Rad des Boards wieder frei ist. Czorski schließt die Tür und räuspert sich.
»Probleme mit der Facetten-Theorie?«, fragt sie.
»Was?«
»Es ist wichtig, dass du die einmal an Gullnicks Fall durcharbeitest. Da Gullnick sowohl Vergewaltiger als auch Serienmörder war, können wir Canters Theorie mit ihm auf ein anderes Verbrechen erweitern: den rituellen Serienmord.«
»Ach so. Ja, ich denke schon, dass ich das hinkriege.«
Seidel nickt zufrieden und sucht den Boden ab. Sie hebt ein Papier vom Boden auf, steckt den Stift wieder zwischen die Zähne und zieht den Deckel ab, den sie auf den Boden ausspuckt. Mit quietschenden Geräuschen beginnt sie, ans Whiteboard zu kritzeln. Sie schreibt Annäherung ans Opfer.
»Deshalb bin ich allerdings nicht da«, setzt Czorski an.
»Weshalb dann?«, fragt Seidel und schreibt weiter. Methode, das Opfer zu kontrollieren.
»Wegen Pfeffer.«
»Pfeffer?«, fragt sie abwesend und kritzelt: Reaktion des Täters auf Opferverhalten.
»Ja, und wegen zwei Morden im Berliner Sturmtheater.«
Sie hält im Schreiben inne. Art der– steht vor ihr auf dem Board. Sie wendet langsam den Kopf. »Aktuelle Morde?«
»Ja. Ein Schauspieler ist in seine Einzelteile zerlegt worden, und jemand anders wurde vergiftet.«
»Und jetzt will Pfeffer ermitteln?«
Czorski lacht unglücklich auf. »Ich wünschte, es wär so.« Er setzt sich auf die Kante des grauen Sofas. Auf der Sitzfläche liegen Papierstapel. »Ein alter Kumpel von mir leitet die Mordkommission, von der sie nicht wissen, ob es besser zwei Kommissionen sein sollten … Er hat nach Hilfe gefragt.«
»Aha«, sagt Seidel und betrachtet Czorski nachdenklich. »Du würdest lieber Hartz IV beantragen, als wieder in aktive Ermittlungen hineingezogen zu werden. Also frag ich mich, was das alles mit unserem Team zu tun hat. Oder mit Pfeffer.«
»Sie ist einfach nicht mehr sie selbst. Sie ist so lustlos, dass es mich mit runterzieht. Vielleicht können wir so ihren Spürsinn wieder wecken …«
Seidel lacht leise und wendet sich ihrem Board zu. »Sie will aber gar nicht ermitteln. Da verstehst du sie falsch.« Sie schreibt Art der Kommunikation mit dem Opfer zu Ende und blickt auf das Papier in ihrer Hand. Acht Verhaltensbereiche, die 33 Variablen von Täterverhalten kategorisieren. 33. Und in ihnen wurde der Aspekt des Rituals noch gar nicht bedacht.
»Vielleicht sind Ermittlungen nicht das, was Pfeffer will«, lenkt Czorski ein. »Aber es könnte das sein, was sie braucht. Es ginge ja nicht darum, aktiv in irgendwelche Spurensuchen einzusteigen.«
»Was sie braucht.« Seidel lacht bitter. »Ich brauche eure Forschungsarbeit. Pfeffer ist zwar nur Assistentin und als Analystin noch in der Ausbildung, aber unter ihr Zeugnis könnte ich nicht mal schreiben, dass sie sich stets bemüht hat.«
»Eben. Wir brauchen wieder ihren Biss.«
»Neeein«, sagt Seidel gedehnt. »Wir brauchen Durchhaltevermögen für präzise und langwierige Forschungsarbeit.« Sie hebt das Papier in ihrer Hand hoch. »Unser erster Täter ist vor fünfundzwanzig Jahren gefasst worden. Das heißt, wir haben alte Daten, die nur teilweise digitalisiert wurden.« Sie zeigt an die Tafel hinter sich. »Wir müssen Antworten auf all diese Fragen hier finden und außerdem«, sie liest von den Unterlagen in ihrer Hand ab, »sein Sexualverhalten und seine dem Angriff nachfolgenden Handlungen einkreisen.«
»