Gefälschte Seele - Alia Cruz - E-Book

Gefälschte Seele E-Book

Alia Cruz

0,0

Beschreibung

Sie sind Kunstdiebe und nennen sich ART HUNTER. Doch sie stehen auf der Seite des Gesetzes und stehlen im Auftrag von Museen, um Sicherheitslücken aufzudecken. Das Besondere daran? Jeder von ihnen ist mit einer ganz speziellen Fähigkeit ausgestattet. Der Art Hunter Maurice wird zusammen mit seinem Zwillingsbruder Pascale nach New York geschickt. Während Maurice immer noch mit den körperlichen und seelischen Narben seiner Vergangenheit kämpft, soll er herausfinden, wer den gefälschten Monet im Guggenheim Museum platziert hat. In New York treffen die Brüder nicht nur auf Maurices große Liebe Catherine, die ihn einst verlassen hat, sie werden auch mit den Schrecken der Vergangenheit konfrontiert. Catherine scheint die Einzige zu sein, die Maurice vor sich selbst und den Gefahren des Auftrages retten kann, doch kann er der Frau vertrauen, die ihn schon einmal verraten hat? Pascale dagegen kann Maurice nicht mehr beistehen, denn er wird plötzlich für einen Raub nach Washington beordert, wo er sich selbst in größte Schwierigkeiten bringt. Das FBI ist ihm in Gestalt eines gutaussehenden Agenten auf der Spur, der nicht nur Pascales Auftrag durcheinanderbringt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 303

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gefälschte Seele

Art Hunter 3

Alia Cruz

Copyright © 2017 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

Umschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864436925

ISBN eBook-mobi: 9783864436932

ISBN eBook-epub: 9783864436949

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

1

Maurice betrat Théos Büro. Gerald Sorel, der Typ aus der Sicherheitsfirma, für die die Art Hunter arbeiteten, war ebenfalls anwesend. Das konnte nur bedeuten, dass er einen neuen Auftrag zugeteilt bekam.

Er war froh darüber. Théo wusste, dass er seine übersinnliche Fähigkeit nicht mehr unter Kontrolle hatte, dennoch hielt er an Maurice fest. Die Arbeit bei den Art Huntern war alles, was Maurice geblieben war. Sie stahlen Kunstobjekte auf Verlangen, um Sicherheitslücken in Museen oder Privatsammlungen aufzudecken. Alle Art Hunter, die im Schloss in Chantilly lebten, waren mit einer übersinnlichen Fähigkeit ausgestattet. Warum das so war, wusste bisher niemand. Sie waren so geboren worden.

Maurice war immer zwiegespalten gewesen. Seine Fähigkeit, Energie zu bündeln und so Gegenstände bewegen zu können oder sie zu zerstören, hatte ihm einerseits gefallen, andererseits war die Tatsache, dass er kein normaler Mensch war, von Anfang an für ihn eine Bürde gewesen. Es machte es etwas einfacher, dass sein Zwillingsbruder Pascale auch mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit gesegnet war. Geteiltes Leid war halbes Leid.

Doch seit diesem verhängnisvollen Tag, an dem er dem Art Hunter Clément begegnet war, hatte sich alles verändert.

Maurice hatte die Fähigkeit zur Kontrolle verloren. Jetzt sprengte er Gegenstände, allerdings nur, wenn er wütend war. Das war er oft. Sein Zwillingsbruder war ihm ebenfalls entglitten. Ihr Verhältnis war seit geraumer Zeit mehr als unterkühlt, und es war Maurice’ Schuld.

Ein Blick in den antiken Spiegel, der an der Wand in Théos Büro hing, tat sein Übriges, um Maurice’ Laune noch weiter in den Keller sacken zu lassen. Er war entstellt. Sehr entstellt. Auch dafür gab er Clément die Schuld. Zum Glück war eben dieser Clément heute nicht in Théos Büro.

Doch es war noch jemand anderes anwesend, was Maurice sehr überraschte. Er kannte den Mann, aber der hatte hier nichts zu suchen. Normalsterbliche Menschen hatten in diesem Schloss nichts verloren. Niemand hatte Zutritt. Sie waren durch eine speziell entwickelte Technologie geschützt. Wer sich dem Schloss näherte, schlief einige Kilometer vorher ein. Selbst die, die hier herkamen, würden es am Ende nie wiederfinden. Lediglich die Art Hunter hatten Zutritt und Gerald Sorel, als Auftraggeber. Was zum Teufel machte also Professor Greg Charleston hier?

Maurice war nicht klar gewesen, dass er einfach nur dastand und nichts gesagt hatte. Alle starrten ihn an. Besonders Greg Charleston. Die Augen geweitet und das Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben. Bevor jemand etwas sagen konnte, stammelte der Kunstprofessor: „Maurice, um Gottes willen, was ist … was ist mit deinem Gesicht passiert?“ Erst in diesem Moment schien dem Professor klar zu werden, dass noch andere Leute im Raum waren und dass die Antwort auf die Frage ihn einen Scheißdreck anging. Zumindest, was Maurice betraf.

„Was zum Teufel wollen Sie hier? Und was soll das alles?“

Théo deutete auf einen der antiken Sessel. „Setz dich bitte, es wird dauern, es zu erklären.“

Maurice war zwar nicht nach Sitzen zumute, aber er fügte sich. Wenn es um einen Auftrag ging, wollte er es nicht vermasseln. Erneut wurde ihm klar, dass er nur noch dafür lebte. Greg Charleston starrte auf den Boden. Gut, er musste sein Gesicht nicht weiter ansehen. Maurice hatte damit kein Problem.

Gerald Sorel ergriff das Wort: „Ich wurde aufmerksam, weil dieser Herr hier …“, er deutete auf Greg Charleston, „… nach Ihnen gesucht hat. Ich habe ihn kontaktiert, und er kann Ihnen jetzt besser erklären, warum er Sie unbedingt finden wollte.“

„Ihr seid sehr gut geschützt hier. Man sagte mir, dass ich mich hinterher nicht mehr erinnern kann, hier gewesen zu sein. Sei es drum. Das ist es wert, Maurice.“

Sein ehemaliger Kunstprofessor hatte also immer noch die Angewohnheit, nicht sofort zum Punkt zu kommen. Niemand sagte etwas, nur Gerald Sorel räusperte sich.

„Entschuldigen Sie, es ist nur so unglaublich, dass ich meinen besten Studenten nach all den Jahren wiedersehe. Ich hatte mir immer gewünscht, dass er eine erfüllte Karriere als Maler einschlägt, aber du hast einen anderen Weg gewählt.“

Maurice schnaubte. Das Malen war eine brotlose Kunst, das Fälschen von Bildern war lukrativer gewesen.

„Ich möchte dich bitten, zurück nach New York zu kommen“, fuhr der Professor fort. „Man sagte mir schon, dass ihr eigentlich Sicherheitssysteme überprüft, es wäre also kein normaler Auftrag. Was auch immer das bedeutet.“

„Kommen Sie zur Sache.“ Théo verlor offensichtlich die Geduld. Fast hätte Maurice grinsen müssen.

„Verzeihen Sie bitte. Ich weiß, was du nach dem Studium getan hast, Maurice. Du hast dir einen Namen als Fälscher gemacht. Deine Fälschungen waren die besten, die ich je gesehen habe.“

Jetzt war Maurice überrascht. Greg hatte seine „Karriere“ verfolgt und sogar Werke von ihm gesehen?

„Es gibt einen gefälschten Monet im Guggenheim Museum. Wir müssen herausfinden, wer dieses Gemälde gefälscht hat und wie sie es angestellt haben, die Gemälde auszutauschen.“

Alle sahen Maurice erwartungsvoll an. Er musste nicht lange überlegen. „Ich mache es.“

Gerald Sorel nickte. „Gut, dann geleite ich den Herrn zurück zum Flughafen.“

Als Sorel mit Charleston das Zimmer verlassen hatte, wollte Maurice gehen, doch Théo hielt ihn auf. „Warte.“

„Was ist? Ich muss packen.“

„Du wirst nicht allein gehen.“

Maurice wurde eiskalt. „Tu mir das nicht an.“

„Er weiß bereits Bescheid. Es geht nicht anders. Du hast mich gebeten, dir zu helfen. Das ist die Hilfe. Du bekommst den Auftrag nur, wenn du deinen Bruder mitnimmst.“

In Maurice stieg abermals diese Wut auf. Er musste aufpassen, sonst würde etwas in Théos edlem Büro zu Bruch gehen. Das durfte nicht passieren, denn dann hätte er keine Chance, seinem Boss diese dämliche Idee auszureden. „Ich komme allein klar.“

„Wir wissen beide, dass das Schwachsinn ist.“ Théos Miene war hart geworden. „Ich dulde keine Widerrede. In deinem jetzigen Zustand bist du in der Lage, womöglich das ganze Guggenheim Museum in die Luft zu sprengen. Du brauchst Pascale. Seine Fähigkeit …“

„Ich will nicht, dass er seine scheiß Fähigkeit bei mir einsetzt.“

Es klirrte laut. Das Glas, in dem sich Wasser für Professor Charleston befunden hatte, zersprang in tausend Teile. Théo hob eine Augenbraue in die Höhe. „Ach, und das Glas ist gerade einfach so kaputtgegangen.“

Maurice versuchte, ruhig zu atmen und in Gedanken bis zehn zu zählen. Sprechen konnte er nicht.

„Das ist nicht verhandelbar. Pascale kommt mit dir. Du weißt genau, dass New York jede Menge Erinnerungen hervorrufen wird.“

„Fick dich. Ich habe damit abgeschlossen. Jeder hier weiß, dass ich da im Knast gesessen habe, jeder hier weiß, was mir im Gefängnis passiert ist. Das ist ja wohl offensichtlich. Das hat nichts mit einem Auftrag im Guggenheim Museum zu tun.“

Théo war unerbittlich. „Erinnerungen können dich in New York überall treffen. Du gehst nicht allein und damit ist die Diskussion beendet. Wenn du packen willst, dann geh. Aber dein Bruder wird mitfliegen.“

Maurice wusste, dass er keine Chance hatte. Zumindest kam er so mal raus aus Frankreich. Raus aus diesem Schloss und vor allem weg von Clément. Dem Art Hunter, der ihn einst in New York ins Gefängnis gebracht hatte. Nicht in New York lauerten die Erinnerungen, sondern hier in Frankreich. Direkt vor seiner Nase.

2

Einen Acht-Stunden-Flug, ohne miteinander zu reden. Für Maurice war das eine leichte Übung. Pascale hatte sich da wesentlich schwerer getan. Irgendwann hatte sein Zwillingsbruder es aufgegeben, sich nach seinem Befinden zu erkundigen und ebenfalls die Augen geschlossen. Geschlafen hatte er wahrscheinlich genauso wenig wie Maurice.

Als sie den Flughafen verließen, war es Pascale, der schnurstracks in ein Taxi stieg. Maurice musste sich beeilen, ihm zu folgen. Etwas war während des Fluges mit Pascale passiert. Die Besorgnis und Enttäuschung in den Augen seines Bruders war einer steinernen Miene gewichen und seltsamerweise schien da so etwas wie Wut in seinen Augen aufzuglimmen. Okay, Pascale konnte also wütend werden. Neue Erkenntnis. Sollte ihn das jetzt beunruhigen? Maurice hatte keine Ahnung, wo es hinging. Die Planung für die Unterkunft hatte er Théo und Pascale überlassen.

„Zum Four Seasons“, hörte er Pascale zum Taxifahrer sagen.

„Was? Die zahlen uns einen Fünf-Sterne-Schuppen?“

Das Taxi setzte sich in Bewegung, und Pascale hob eine Augenbraue in die Höhe. „Oh, du bist doch nicht durch den Luftdruck im Flugzeug taubstumm geworden. Welch angenehme Überraschung.“

„Lass den Scheiß.“

„Ich? Ich soll den Scheiß lassen?“

Da war sie wieder, die Wut in Pascales Augen.

„Himmel, mir war einfach nicht nach Konversation.“

Pascale gab einen Laut von sich, der sich wie ein Pffft anhörte. „Soll das jetzt den ganzen Aufenthalt so weitergehen? Wir schweigen uns an und reden nur das Nötigste.“

Maurice fiel spontan keine Antwort ein. Vielleicht war sein Benehmen wirklich ein wenig kindisch, aber er wusste sich einfach nicht anders zu verhalten. „Keine Ahnung.“

Pascale nickte nur kurz und schwieg. Maurice hätte sich in den Arsch treten können. Er war so daran gewöhnt, dass sein Bruder ihm hinterherrannte, ständig das Gespräch suchte, dass ihn die jetzige Situation überforderte. Irgendwie gefiel es ihm nicht. Wie dämlich war das denn? Die Stille zwischen ihnen störte ihn auf einmal. „Das ist doch auf deinem Mist gewachsen. Das Guggenheim Museum zahlt bestimmt nicht einen Aufenthalt im Four Seasons, zumal wir gar nicht wissen, wie lang sich das hinzieht.“

Weiterhin eisiges Schweigen von Pascales Seite.

„Die Sicherheitsfirma ist auch nicht so freigiebig.“ Maurice fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, die Narben waren deutlich an der Handinnenfläche spürbar. „Dann lass mich wenigstens meinen Teil der Rechnung zahlen.“

Pascale hob erneut eine Augenbraue. „Das hatte ich vor. Ich halte dich doch nicht aus.“

„Oh schön, dass ich das jetzt erfahre. Du hättest mich fragen können, ob mir so ein teures Teilchen überhaupt recht ist.“

„Du hast genug Geld. Soweit ich das beurteilen kann, gibst du nichts aus, na ja, bis auf die Tätowierungen.“

„Die sind nötig.“ Scheiße, jetzt hatte er auch noch das Gefühl, sich vor seinem Bruder rechtfertigen zu müssen. Die Tätowierungen zierten seinen Hals, den Nacken und einen großen Teil seines Körpers. Überall dort, wo er Narben hatte, ließ er sich tätowieren, nur sein Gesicht hatte er bisher ausgespart, doch auch dort konnte man vielleicht noch etwas retten. Na ja, wohl eher nicht.

„Wir sind da.“ Pascale zahlte das Taxi und nahm direkt Kurs auf die Rezeption. Maurice musste sich schon wieder beeilen, um Schritt zu halten. „Ich falle hier doch ein bisschen auf.“

Ein Page starrte ihn an, der Mann an der Rezeption ebenso.

„Du fällst überall auf, das sollte dich nicht mehr überraschen.“

Maurice kam nicht umhin, die Augen zu verdrehen. Himmelherrgott, musste es denn unbedingt ein Hotel für die Schönen und Reichen sein? Pascale mit seinen Armani-Anzügen, den manikürten Fingernägeln und diesem adretten Zopf passte vielleicht hierher, aber er nicht.

Zwei Karten wurden ihnen ausgehändigt, und schon waren sie auf dem Weg in eines der oberen Stockwerke. Sie hatten Suiten nebeneinander mit einer Verbindungstür. Für einen Moment musste Maurice die Luft anhalten. Er lebte in einem Schloss, er war als Kind reicher Eltern aufgewachsen, doch das war auch für ihn beeindruckend. Eine riesige Fensterfront war das Erste, das er wahrnahm. Der Blick auf New York war atemberaubend. Fünfzigster Stock mit Blick auf den Central Park. Er drehte sich langsam um sich selbst. Art Deco, und der Blick nach oben zeigte ihm eine Onyx-Decke. Er war derart vertieft in die liebevoll ausgesuchten Kunstgegenstände, dass er Pascale nicht hatte kommen hören. Er stand in der Verbindungstür und grinste.

„Was kostet mich der Scheiß?“

„Theoretisch zweitausend Dollar die Nacht.“

Maurice wurde kurz schlecht. „Dann müsste ich den Auftrag in Rekordzeit erledigen. Ist das dein Ziel?“

Jetzt fing Pascale an zu lachen.

„Was ist so lustig daran, dass du mich finanziell in den Ruin treibst?“

Pascale setzte sich uneingeladen auf die riesige Couch.

„Mach da nichts dreckig, ne Reinigung kann ich mir nicht auch noch leisten.“

Wobei Pascale mit Sicherheit der Letzte war, der in so einem Zimmer irgendwas ruinieren würde. Maurice wurde heiß und kalt zugleich. Was, wenn er einen Wutanfall bekam und die Einrichtung aus Versehen demolierte?

„Du musst mir auch mal zuhören, Brüderchen.“ Pascale schlug lässig die Beine übereinander.

Maurice betrachtete seinen Zwilling. Selbst bevor er als Zombie in der Gegend herumgewandelt war, hatte ihm die lässige Eleganz von Pascale gefehlt. Wie konnte ein Mensch nur so steif und gleichzeitig so elegant und doch locker wirken?

„Ich hab dir zugehört, zweitausend die Nacht.“

Pascale schnippte ein imaginäres Staubkorn von seinem Jackett. „Ich sagte theoretisch.“

„Und praktisch?“

„Null. Nada. Nichts. Ist umsonst.“

„Hä?“ Okay, das war nicht sonderlich geistreich, aber wieso residierten sie im Four Seasons, ohne etwas dafür zu bezahlen?

„Ich hab vor zwei Jahren hier einen Auftrag gehabt. Die hatten ein sehr schlechtes Sicherheitssystem dafür, dass sie so viele wertvolle Kunstgegenstände in ihren Zimmern und Suiten haben. Ich hab hier sozusagen Wohnrecht auf Lebenszeit. Die Doppelsuite ist meine. Habe ich statt einer Bezahlung ausgehandelt.“

„Und wieso?“ Maurice war überrascht. Wieso sollte sich sein Bruder einen zweiten Wohnsitz weitab von Paris anschaffen? Er wusste nichts mehr über Pascale. Das wurde ihm in diesem Moment deutlich. Er hatte sich einfach nicht mehr für den Menschen interessiert, der immer für ihn da war, der stets zu ihm gestanden hatte.

Pascale zuckte lediglich mit den Schultern. „Erschien mir wichtig, nicht nur von der Gnade der Firma abhängig zu sein. Kann nicht schaden, einen Zufluchtsort zu haben.“

Genau das hatte sich Maurice immer gewünscht. Er hatte diesen Schritt allerdings nie gemacht. Stattdessen Tag für Tag seinen Hass auf Clément im Schloss ausgelebt.

„Du kannst jederzeit herkommen, wenn du willst“, sagte Pascale leise.

„Es ist dein Zufluchtsort, nicht meiner.“

„Du bist mein Bruder, und es sind zwei Suiten, also nimm es einfach mal an, wenn jemand dir etwas anbietet. Und ich will jetzt nicht wieder darüber streiten.“

Maurice schwieg einen Moment. Er hätte Pascale gern gefragt, ob er diesen Deal für ihn gemacht hatte, denn wovon sollte Pascale eine Auszeit nehmen wollen? Er fühlte sich im Schloss wohl. Er passte dort besser als jeder der anderen Art Hunter hinein. Gab es etwas, das Maurice nicht wusste? Doch am Ende schwieg er.

„Ich habe Hunger. Lass uns nach unten gehen, was essen.“

„Du weißt schon, dass das da unten ein Gourmetrestaurant ist.“

Pascale nickte.

Maurice schüttelte den Kopf. Irgendwie war er es Pascale wohl schuldig, mit ihm in dieses mit Michelin Sternen ausgezeichnete Restaurant zu gehen. Nur satt werden würde er dort mit Sicherheit nicht.

3

Das Guggenheim Museum, im Jahre 1939 gegründet, war weltweit nicht nur für seine Kunstsammlung, sondern auch für die außergewöhnliche Architektur bekannt. Es hat die Grundform einer Rotunde. Der Kreis ist dabei das Hauptmotiv des Grundrisses und die Etagen sind terrassenförmig. In Maurice’ Augen war allein das einen Besuch im Museum wert. Das Guggenheim vereint verschiedene geometrische Formen, wie Kreise, Ovale, Bögen, Quadrate und Dreiecke, und Pascale und er hatten sich als Studenten gern hier die Zeit vertrieben.

Allerdings waren sie momentan nicht direkt im Museum, sondern in einem kleinen Nebengebäude, das ebenfalls eine kleine Rotunde war. Einst war hier die Wohnung Solomon Guggenheims gewesen, inzwischen wurde es als Bürogebäude genutzt.

Das Vorzimmer war leer und die Tür zum Büro des Direktors weit geöffnet. Der Direktor Josh Bertram sowie Greg Charleston warteten bereits auf sie.

Maurice registrierte den wohlwollenden Blick, den der Direktor Pascale zuwarf. Wahrscheinlich hoffte der Typ, dass sein Retter der gepflegte Mann im Anzug war. Doch da würde man ihn enttäuschen müssen.

„Josh, das sind Pascale und Maurice Desens.“

Wie vermutet blitzte ganz kurz Entsetzen in Bertrams Augen auf. Tja, mit einem tätowierten, vernarbten Typen in Lederhosen hatte er wohl nicht gerechnet. Der Gesichtsausdruck sprach Bände. Warum war es so unwahrscheinlich, dass jemand mit seinem Aussehen gleichzeitig ein Kunstkenner war? Maurice hätte fast den Kopf geschüttelt. Er würde die Menschen nie verstehen.

„Setzen Sie sich, meine Herren, setzen Sie sich.“ Josh Bertram deutete auf die Besucherecke und wartete, bis alle Platz genommen hatten. „Ich kann Ihnen nur Wasser anbieten“, sagte er entschuldigend. „Ich kann diese verflixte Kaffeemaschine nicht bedienen und meine Sekretärin ist gerade in der Mittagspause.“

„Es gibt Thermoskannen für solche Fälle.“ Dafür erntete Maurice einen kleinen Tritt gegen das Schienbein vonseiten seines Bruders.

Pascale lächelte höflich. „Kein Problem. Wasser reicht völlig aus.“

„Bei der Vergabe der Manieren hat mein Zwilling alles abbekommen. Können wir jetzt zur Sache kommen?“ Maurice hatte keine Lust, unnötig lang in diesem Büro zu sitzen. Er sah Greg Charleston grinsen. Der Blick schien zu sagen, du hast dich nicht verändert. War er auf der Uni schon so gewesen? Maurice wusste es nicht genau. Hatte ihn das, was im Gefängnis passiert war, vielleicht doch nicht so sehr verändert? Die Schlussfolgerung wäre, dass er dann schon immer ein Arschloch gewesen war.

„Natürlich, Mr. Desens, es geht um Monets Palazzo Ducale. Ein Gemälde in Öl …“

„… auf Leinwand. Fünfundsechzig mal einhundertfünf Komma fünf Zentimeter groß. Hängt hier im Museum seit 1991, gemalt hat es Monet im Jahre 1908“, unterbrach Maurice. Solche lächerlichen Details brauchte er nun wirklich nicht. „Kommen Sie zur Sache, Mann, warum glauben Sie, dass es eine Fälschung ist?“

Hilflos sah der Direktor zu Professor Charleston. „Mir wäre es gar nicht aufgefallen, es war Greg, der …“

„Ich bin öfter hier, wie du weißt. Zur Entspannung. Ich weiß nicht, wie lange der Monet schon weg ist. Aufgefallen ist es mir vor drei Wochen. Schaut es euch nachher selbst an. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass es nicht das Original ist. Mehr will ich erst mal nicht sagen, ich warte ab, was du meinst, Maurice.“

„Warum sitzen wir dann hier in dem Scheißbüro?“

Josh Bertram sprang auf die Füße. „Dann gehen wir rüber. Eine Besprechung können wir auch danach noch ansetzen.“

Während sie dem Direktor und Greg ins Museum folgten, zischte Pascale: „Wenn ich nicht wüsste, dass irgendwo da drin ein guter Mensch steckt, würde ich dir glatt eine runterhauen. Der Direktor hat schon Angst vor dir.“

„Deswegen haben sie dich ja als Raubtierbändiger mitgeschickt. Oder bist du Anstandsdame, falls mein Vokabular zu vulgär wird?“

„Literaturstudium befähigt nicht direkt zur Anstandsdame.“

„Na komm, der Typ geht dir doch auch auf den Senkel mit seinem roten Kopf und dem dicken Bäuchlein. Guck dir mal die Trippelschritte an, die er macht.“

„Ja, der wird uns wahrscheinlich noch nerven, aber ein bisschen freundlicher könntest du schon sein.“

„Hey, ich darf lästern, so viel ich will, und auch unfreundlich sein. Wer so hässlich ist wie ich, hat nen Freifahrtschein.“

„Das glaubst du wirklich, oder? Wirklich hässliche Menschen strahlen das von innen …“

„Halt die Klappe.“ Diese Vorträge kannte Maurice zur Genüge. Was für ein Schwachsinn. Welche schöne Frau würde einen zweiten Blick an einen entstellten Mann verschwenden?

„Bitte, das ist der Monet.“

Maurice riss sich gerade noch zusammen. Als wenn er nicht wüsste, wie das Bild aussah.

Das im Guggenheim befindliche Bild The Palazzo Ducale Seen from San Giorgio Maggiore war das zweite aus einer Serie von Bildern, die den Palast zeigten. Es zeigte die Nordansicht des Palastes gesehen von der Insel Giorgio aus. Viele behaupteten stets, das Bild sei halb surreal, doch Monet war kein Surrealist gewesen. Die Plattform, die im Vordergrund zu sehen war, zeigte dies mehr als deutlich. Für einen Moment verlor sich Maurice im Anblick des Bildes. Monet war einer seiner Lieblingskünstler. Er hatte die Impressionisten immer allen anderen vorgezogen. Der Palast erstrahlte förmlich, dies war unnachahmlich Monet, doch das Wasser wirkte stumpf. Die Farbzusammensetzung dieses zweiten Bildes aus der Serie war nicht so, wie sie sein sollte.

„Haben Sie es schon untersuchen lassen? Altersbestimmung und so weiter?“, fragte Maurice.

„Nein, ich hoffe immer noch, dass Sie mir etwas anderes sagen.“

„Es ist eine Fälschung, eine verdammt gute zwar, aber ich würde alles drauf verwetten.“

Der Direktor taumelte einen Moment. Alle Hoffnung war zerstört. Fast hätte er Maurice leidtun können.

„Würden Sie trotzdem noch eine Untersuchung machen?“

„Klar. Kein Problem. Wann können wir ihn abhängen?“

Der Direktor überlegte einen Moment. „Ich muss das begründen, aber mir fällt schon was ein. Geben Sie mir zwei Tage.“

Maurice hätte ihn am liebsten darauf hingewiesen, dass er schon drei Wochen Zeit gehabt hatte, sich etwas zu überlegen, aber ein warnender Blick von Pascale ließ ihn gar nicht erst den Mund aufmachen.

„Dann lassen Sie uns bitte zurück ins Büro gehen, ich möchte hier nicht unnötig Aufsehen erregen.“

„Meine Fresse.“ Dafür erntete er dieses Mal einen Hieb in die Seite von seinem Bruder. Bis zum Ende dieses Auftrags wäre er wahrscheinlich übersät mit blauen Flecken.

Catherine Nixon saß noch in der Caféteria des Museums. Sie hatte es nicht eilig, da Mr. Bertram sicher nichts sagen würde, wenn sie etwas später käme. Es lag keine dringende Arbeit mehr auf ihrem Schreibtisch, und immer, wenn er sich mit diesem Professor Charleston traf, was in letzter Zeit häufig vorkam, war es ihm mehr als recht, wenn sie nicht an ihrem Platz war. Heute waren wohl noch weitere Männer bei einer dieser geheimnisvollen Besprechungen dabei. Sie nippte an ihrem zweiten Latte Vanilla. Sie war süchtig nach dem süßen Zeug. Nicht nur in Getränkeform, auch Vanilleeis oder Schokolade wurden ihr ständig gefährlich. Früher hatte sie Süßigkeiten ohne Ende essen können und nichts war passiert. Leider war das seit ein paar Jahren vorbei. Mittlerweile war ihre Vorliebe für Süßes offensichtlich geworden. Da war so ein kleines, fieses Bäuchlein entstanden, und ihre Hüften hatten ebenfalls einen Rettungsring entwickelt. Noch konnte sie es ganz gut mit Miederhosen und etwas weiteren Blusen kaschieren. Sie seufzte und starrte böse den zuckersüßen Vanillekaffee an. Als ob der etwas dafür konnte, dass ihr einer nicht reichte. Wäre sie noch bei ihrer Therapeutin in Behandlung, würde die nur sagen, dass die Süßigkeiten ein Ersatz für etwas waren. Die Therapeutin hatte nie herausgefunden, was ihr fehlte. Catherine wusste es auch nicht, nein das stimmte nicht, manchmal glaubte sie, schon zu wissen, was es war. Doch das alles war zu schmerzlich, also trank sie lieber ihren Vanilla Latte aus und machte sich auf den Weg zurück in ihr Büro. Sie sah die Männer von hinten, wie sie gerade das Vorzimmer passierten.

„Ich bin zurück, Mr. Bertram.“ Eigentlich wollte sie den Männern keine Beachtung schenken, doch der Typ mit der Lederhose und der Glatze faszinierte sie für einen Augenblick. So ein Knackarsch sollte verboten werden. Wie er wohl von vorn aussah? Am Kragen seines T-Shirts schlängelte sich eine Schlange hoch bis zur Mitte seines kahlen Schädels. Die Arme waren ebenfalls fast vollständig tätowiert. Als sie gesprochen hatte, war er kurz stehen geblieben. Inzwischen war er aber fast im Büro des Direktors. „Soll ich Ihnen Kaffee aufsetzen?“

Jetzt drehte er sich um. Seine Augen spiegelten das blanke Entsetzen wider. Catherine schlug die Hand vor den Mund. Nein, das war er nicht. Das konnte einfach nicht sein.

Er hatte die Schritte gehört, die Sekretärin musste auf High Heels hinter ihnen den Raum betreten haben. Sie meldete sich zurück. Diese Stimme. Das war jedoch nicht möglich. Dann fragte sie, ob sie Kaffee kochen solle. Maurice wollte sich nicht umdrehen, er wollte diese Stimme ignorieren, schaffte es allerdings nicht. Wie ferngesteuert drehte er sich zu ihr um. Es traf ihn ins Mark. Nicht, dass es tatsächlich Catherine Nixon war, die dort stand. Nein, es war ihr Blick. Verdammt, was hatte er erwartet? Der Blick aus ihren wunderschönen hellblauen Augen spiegelte all das wider, wovor er sich stets so sehr fürchtete. Mitleid, Entsetzen, Furcht und Unglauben, vielleicht sogar Ekel. Er konnte es nicht sagen, denn hastig drehte er sich wieder um und betrat das Büro. Entfernt hörte er, dass der Direktor die Frage nach dem Kaffee bejahte, und aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Pascale ebenfalls erkannt hatte, wer da im Vorzimmer Dienst tat.

Catherine Nixon, das Mädchen, in das sie beide während ihrer Zeit auf der Columbia University verschossen gewesen waren. Das Mädchen, das sie fast entzweit hätte. Das Mädchen, das eines Tages einfach aus seinem Leben verschwunden war und damit seine ganze verdammte Talfahrt erst ins Rollen gebracht hatte.

4

Maurice’ Hände waren feucht, sie an der Lederhose abzuwischen, war eine Schnapsidee. Es fiel ihm schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Mit aller Macht versuchte er, die forschenden Blicke seines Bruders zu ignorieren. Wäre er allein gewesen, wäre die Situation schon schwierig genug, aber mit Pascale an seiner Seite ähnelte das Ganze einer Katastrophe, vielleicht auch dem Witz des Jahrhunderts. Darüber musste er noch eine Entscheidung fällen.

„… Ihre Vorgehensweise.“

Was? Verdammt, der Direktor hatte mit ihm gesprochen. Vielleicht war es gar nicht so übel, dass Pascale hier war, denn er sprang schnell für ihn ein.

„Sobald wir das Bild in Händen halten, werden wir es eingehend untersuchen. Sie können meinem Bruder aber voll und ganz vertrauen und Professor Charlestons Meinung deckt sich ja mit seiner.“

„Und Sie können mir dann auch sagen, wer das Bild gefälscht hat?“

Maurice zwang sich dazu, seinen Beitrag zum Gespräch zu leisten. „Jeder Fälscher hat eine eigene Handschrift. Vielleicht ist es schwer zu verstehen, weil das Fälschen zum Ziel hat, die Echtheit hundertprozentig nachzuempfinden, dennoch schafft es keiner zu hundert Prozent. Entweder der Fälscher ist zu schlecht oder er gibt etwas von sich selbst. Letzteres führt bei einer hervorragenden Fälschung dazu, dass wir den Täter ermitteln können.“

„Vorausgesetzt, Sie kennen den Fälscher“, sagte Bertram.

„Seien Sie sicher, ich kenne sie fast alle.“ Maurice wagte nicht weiterzusprechen, er wagte auch nicht aufzusehen. Sie hatte den Raum betreten. Das verriet ihm nicht nur das Klackern ihrer Absätze, sein Körper reagierte immer noch auf sie. Wie damals. Sie musste nur in seiner Nähe sein, und die Härchen an den Armen stellten sich auf, seine Haut begann zu prickeln. In Gedanken ermahnte er sich, tief durchzuatmen. Das alles durfte ihm nicht entgleiten.

Er betrachtete den Tisch. Dummerweise musste er so zumindest ihre Hände ansehen, die jetzt Kaffeetassen von einem Tablett luden. Ihm entging nicht, dass sie zitterte.

„Gießen Sie doch bitte ein“, forderte der Direktor sie auf.

Er sah es kommen, das Zittern war zu stark, sie verschüttete den Kaffee. Er wollte es nicht. Doch es war, als würde man ihn fernsteuern. Seine Hand schnellte nach vorn und hielt ihre Hand fest.

„Lassen Sie nur, ich mach das schon.“ Verdammt, er hatte nicht so schroff klingen wollen. Er konnte mit diesem ganzen Gefühlschaos in sich nicht umgehen. Die Erinnerungen, der Schmerz, all das sollte nicht wieder hochkommen. Doch jetzt, wo er ihr Handgelenk umklammerte, war es da, mit der Macht eines Tsunamis rollte es über ihn hinweg und nicht nur das, auch ein unglaubliches Verlangen nach ihr wallte in ihm auf. Erschrocken ließ er sie los und hob den Blick.

Sie wich seinem Blick nicht aus, ging aber Schritt für Schritt rückwärts aus dem Raum. Hatte sie es ebenfalls gespürt? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, er konnte den Blick nicht von ihren Augen lösen, von ihrem wunderschönen Gesicht, das immer noch diesen hellen Teint hatte. Ihre sinnlichen, vollen Lippen hatten ihn vor ein paar Jahren überall berührt, ihre kleine rosa Zunge war über seine Haut geglitten und hatte seinen Schwanz geleckt. Ein animalisches Knurren kam aus seiner Kehle und erst als sie den Raum verlassen hatte, bemerkte er, dass er diesen Laut ausgestoßen hatte. Er versuchte, es durch einen Hustenanfall zu kaschieren. Nie wieder würde sie ihn an all den Stellen berühren. Keiner Frau war es mehr erlaubt, ihn nackt zu sehen. Ihn anzufassen.

Erst jetzt erinnerte er sich daran, dass er den Kaffee hatte eingießen wollen. Abermals war er kurz dankbar, dass Pascale anwesend war, denn er hatte die beiden anderen Männer in ein Gespräch verwickelt. Gut. Maurice würde sich aus diesem Scheiß gedanklich erst einmal ausklinken.

Was war nur mit ihm passiert? Im ersten Moment hatte Catherine gedacht, dass sie sich geirrt hatte. Das konnte nicht Maurice Desens sein. Der hatte keine so furchtbaren Narben gehabt. Sein Körper war nicht tätowiert gewesen und vor allem hatte er sich nie den Schädel kahlrasiert. Ebenso wie sein Bruder hatte er lange braune Haare gehabt und hatte sie stets akribisch gepflegt. Wie oft hatte sie ihn damit aufgezogen, dass er wieder zu spät zu einer Verabredung kam, weil er noch eine Kurpackung auflegen musste. Doch als sie Pascale gesehen hatte, da waren die Zweifel fort, und die Berührung von Maurice hatte ihr den Rest gegeben. Es war immer noch da. Dieses Verlangen, das nicht gesund war. Das nicht normal sein konnte. Allein ein Blick aus seinen dunklen Augen hatte sie oft heiß werden lassen, hatte ihr ein nasses Höschen bescheren können. Wenn er sie berührte, stand sie in Flammen. Catherine rieb sich das Handgelenk. Er hatte fest zugepackt. Es war nie anders gewesen. Ihre Liebe war leidenschaftlich und heftig gewesen, auch im Bett.

Sie musste hier raus. Sie konnte nicht ertragen, ihm gleich nochmals zu begegnen, wenn das Gespräch vorbei war. Hastig schrieb sie einen Zettel für ihren Chef und entschuldigte sich mit einem Arzttermin. Nur wo sollte sie hingehen? In dieser Verfassung konnte sie unmöglich zu Hause auftauchen. Wie sollte sie ihrem Verlobten erklären, warum sie so durcheinander war?

„Was wird das?“ Pascale stand in der Zwischentür ihrer Suiten.

„Siehst du doch, ich packe wieder ein.“ Nicht dass viel zu packen gewesen wäre. Er hatte seine Reisetasche nur um ein oder zwei T-Shirts erleichtert gehabt, bevor sie zum Museum gefahren waren.

Pascale stand inzwischen direkt neben ihm. Maurice zuckte zurück.

Ein trauriges Lachen kam aus der Kehle seines Bruders. „Keine Sorge, ich fasse dich schon nicht an. Ich bin selbst aufgewühlt.“

„Hast du es gewusst?“

„Dass sie dort arbeitet? Bist du bescheuert? Hätte ich dich dann ohne Vorwarnung dorthin geschleppt?“

Maurice ließ sich auf die Armlehne eines Sessels sinken. Er glaubte seinem Bruder. „Warum arbeitet sie dort als Sekretärin? Sie wollte Journalistin werden.“

Eine Weile sagte Pascale nichts, dann meinte er: „Vielleicht recherchiert sie undercover für eine Story.“

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“

Pascale schüttelte den Kopf. „Nein. Wer weiß, wie die letzten acht Jahre für sie gelaufen sind. Keiner von uns hatte jemals wieder Kontakt zu ihr.“

„Hast du je mit ihr geschlafen?“ Maurice hatte sich die Frage immer und immer wieder gestellt. Nie hatte er gewagt, sie laut auszusprechen. Jetzt war sie ihm einfach so rausgerutscht. Er sah Pascale in die Augen. Etwas glomm darin auf. Schuld?

„Nein, Maurice. Das habe ich nicht, und sie hätte es auch nicht gewollt.“

Sollte er das glauben? In seinem derzeitigen Zustand traute sich Maurice selbst nicht über den Weg. Sein Bruder würde ihn doch nicht anlügen, oder doch?

„Sie hat sich damals für dich entschieden, Maurice.“

„Und dann ist sie einfach abgehauen.“

Pascale zuckte mit den Schultern. „Na ja, du … wir haben begonnen, illegal zu operieren, also vielleicht war ihre Entscheidung zu verschwinden gar nicht so dumm.“

Illegal zu operieren. Bei Pascale hörte sich das Fälschen von Bildern an, als wäre es ein kleines Kavaliersdelikt. Ein Delikt, das Maurice und Pascale für drei Jahre in den Knast gebracht hatte.

„Du kannst nicht einfach abreisen. Lass uns die Sache zu Ende bringen. Wir haben zugesagt.“

„Dann mach du es.“

Pascale begann, wie ein Tiger im Käfig auf und ab zu laufen. „Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Ich war nie so gut bei den Fälschungen. Ich glaube auch nicht, dass ich herausfinden kann, wer es war.“

Maurice wusste, dass es die Wahrheit war. Sein Bruder war ein passabler Maler, er war ein wahres Genie, was Literatur anging, er war ein guter Mitarbeiter der Firma, aber er war längst nicht so gut wie Maurice. Allein würde er es nicht schaffen.

„Also schön. Ich hoffe, dass wir das Scheißbild bald bekommen. Ich will den verdammten Auftrag so schnell wie möglich hinter mich bringen und dann werde ich New York für immer und ewig verlassen. Ich habe nur Scheiße in dieser Stadt erlebt.“

Pascale hob in seiner unnachahmlichen Art die Augenbrauen an. Es stimmte ja nicht so ganz. Es hatte auch verdammt gute Zeiten in New York gegeben. Als ihre Eltern in Paris bei einem Unfall ums Leben gekommen waren und ihnen ihr kleines Vermögen hinterlassen hatten, war für sie klar gewesen, dass sie in New York studieren wollten. Mit all dem Geld war es nicht schwer gewesen, einen Platz an der Columbia zu bekommen. Maurice hatte sich in Kunstgeschichte und Pascale in Kunstgeschichte und Literatur eingeschrieben. Beide hatten sie kreative Schreibkurse besucht und dort Catherine Nixon kennengelernt. Sie waren junge, lebenslustige Studenten gewesen. Intelligent, erfolgreich, mit Träumen und Zielen in ihrem Leben. Damals war es einfach gewesen, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten zu verdrängen. Das Leben hatte Spaß gemacht. Doch wie es manchmal eben passierte, war ihnen irgendwann alles entglitten.

„Willst du, dass ich ein paar Nachforschungen über Catherine anstelle?“ Pascale riss ihn mit dieser Frage aus seinen Gedanken.

JA! „Nein, auf keinen Fall. Wir lassen uns das Bild herbringen und das Kack-Guggenheim Museum betreten wir nicht mehr.“

Pascale zuckte jedes Mal zusammen, wenn jemand fluchte. Normalerweise war das eine der wenigen heimlichen Freuden, die sich Maurice gönnte. Heute befriedigte ihn das nicht.

„Dann lass uns was essen gehen.“

Maurice war jeglicher Appetit vergangen. Wahrscheinlich konnte ihn jetzt so ein erbsengroßes Gourmetdinner tatsächlich sättigen.

Catherine wanderte ziellos durch die Straßen von Manhattan. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Sie hatte gehofft, dass ein längerer Spaziergang sie beruhigen würde, doch das war nicht der Fall. Wenn das überhaupt möglich war, war sie noch aufgewühlter als vorher. Sie musste sich immer wieder sagen, dass ihre damalige Entscheidung richtig gewesen war. Sie hatte sich schützen müssen. Doch wo hatte es sie hingeführt? War sie jetzt so viel besser dran? War sie es Maurice nicht schuldig, ihm wenigstens eine Erklärung für ihr Verschwinden zu geben? Doch dann würde sie ihm die Wahrheit sagen müssen und das kam nicht infrage. Sie drehte sich im Kreis. Es gab nur einen Ausweg, sie musste sich die nächsten Tage krankmelden, dann konnte sie in Ruhe überlegen, was sie als Nächstes tun sollte.

Mit immer noch zitternden Händen drehte sie den Schlüssel im Schloss zu ihrem Apartment.

„Mamiiiiiiiiiiiiii!“

Erst flog ihre kleine Tochter Mary ihr in die Arme, dann kam auch schon der blonde Schopf von Marys Zwillingsbruder Luke in Sichtweite. Sie umarmte auch ihn und sah dann auf.

„Wo warst du?“ Kyle stand im Durchgang, der zur Küche führte, und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Missbilligend sah er auf sie herab. „Du weißt, dass ich mit den Jungs verabredet bin.“

Catherine warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie war eine halbe Stunde zu spät. „Deine Jungs werden auch mal eine halbe Stunde warten können.“

Kyle trat auf sie zu. „Ich bin nicht der Babysitter, vergiss das nicht.“ Er schnappte sich seine Jacke von der Garderobe und knallte die Tür hinter sich zu.

„Nein, aber mein Verlobter“, flüsterte sie. Fast wären ihr die Tränen gekommen, doch um der Kinder willen riss sie sich zusammen. Sie setzte ein fröhliches Lächeln auf. „Was wollt ihr essen?“

„Spaghetti!“, war die einstimmige Antwort.

„Dann geht noch ein bisschen spielen, ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist.“ Sie sah den beiden nach, wie sie in ihrem Zimmer verschwanden. Wie sehr sie ihre Kinder liebte. Wieder traten ihr die Tränen in die Augen. Kraftlos und müde ließ sie sich auf die Küchenbank sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Wenn sie doch nur allein für sie hätte sorgen können. Vor ein paar Jahren hatte sie gedacht, Kyle wäre die richtige Wahl. Dass er kein Kinderfan war, hatte nie etwas ausgemacht. Ihr zuliebe riss er sich zusammen. Luke und Mary hatten sogar angefangen, ihn zu mögen. Sechs Jahre waren sie zusammen, seit fünf Jahren lebten sie miteinander. Geheiratet hatten sie nicht, Kyle war bisher anscheinend nicht auf die Idee gekommen. Vielleicht wollte er auch nicht. Catherine stand auf, die Spaghetti würden sich nicht von selbst auf die Teller zaubern, geschweige denn sich selbst zubereiten.

In letzter Zeit musste sie häufig mit den Kindern allein essen. Kyle traf sich mindestens viermal die Woche mit seinen Jungs. Seine Jungs, das war seine ehemalige Clique aus der Highschool. Weit gebracht hatte es keiner von ihnen. Leider auch Kyle nicht. Doch er bemühte sich, im Moment war er wieder auf Jobsuche. Ein Brief auf der Anrichte erregte ihre Aufmerksamkeit. Der Stempel der Hausverwaltung prangte auf dem Umschlag. Catherine vergaß die Spaghetti und machte den Brief mit zitternden Fingern auf.