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Stell dir vor, du hörst eine Stimme in deinem Kopf. Nicht deine eigene. Nicht das übliche Gedankenchaos. Sondern etwas Fremdes, Dunkles. Etwas, das dich zwingt, Dinge zu tun, die du niemals tun würdest. Alex war immer ein unauffälliger Typ – bis die Stimme auftauchte. Erst ein Flüstern, dann ein Befehl. Sie kennt Namen, Gesichter, Geheimnisse. Und sie will Blut. Während die Polizei in Dortmund und Bochum Jagd auf einen Serienmörder macht, wird Alex klar: Die Stimme ist nicht nur ein Hirngespinst. Irgendjemand hat ihn auserwählt. Doch warum? Und kann er sich befreien, bevor alles zu spät ist? Ein packender Psychothriller aus dem Ruhrgebiet – düster, verstörend und gnadenlos spannend.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
"Gefangen in Stimmen und Blut"
Vorwort
Stell dir vor, du hörst eine Stimme in deinem Kopf.
Nicht deine eigene. Nicht das übliche Gedankenchaos. Sondern etwas Fremdes, Dunkles. Etwas, das dich zwingt, Dinge zu tun, die du niemals tun würdest.
Alex war immer ein unauffälliger Typ – bis die Stimme auftauchte. Erst ein Flüstern, dann ein Befehl. Sie kennt Namen, Gesichter, Geheimnisse. Und sie will Blut.
Während die Polizei in Dortmund und Bochum Jagd auf einen Serienmörder macht, wird Alex klar: Die Stimme ist nicht nur ein Hirngespinst. Irgendjemand hat ihn auserwählt. Doch warum? Und kann er sich befreien, bevor alles zu spät ist?
Ein packender Psychothriller aus dem Ruhrgebiet – düster, verstörend und gnadenlos spannend.
Über die Autorin / den Autor:
Vanessa Blackridge wurde im Herzen des Ruhrgebiets geboren und aufgezogen – einem Ort, an dem rauer Charme und dunkle Geschichten eng miteinander verwoben sind. Schon früh faszinierte sie die Abgründe der menschlichen Psyche, die leisen Stimmen zwischen den Zeilen, das Unheimliche im Alltäglichen. Ihre Leidenschaft für Thriller entspringt genau dieser Welt: dem Spiel zwischen Wahrheit und Wahnsinn, zwischen Moral und Dunkelheit.
Mit scharfem Blick für psychologische Tiefe und nervenaufreibende Spannung erschafft sie Geschichten, die tief ins Unterbewusstsein dringen. Ihre Figuren sind zerrissen, gefangen in ihren eigenen Dämonen, doch immer auf der Suche nach der Wahrheit – egal, welchen Preis sie dafür zahlen müssen.
Wenn sie nicht gerade an ihrem nächsten Thriller feilt, durchstreift sie die Straßen des Ruhrgebiets auf der Suche nach Inspiration – zwischen alten Zechen, düsteren Hinterhöfen und dem leichten Flackern von Neonlichtern, das den perfekten Schauplatz für Geheimnisse bietet.
1. Das erste Flüstern
Alex starrte an die Decke seines kleinen Schlafzimmers in Bochum und fragte sich, warum das Licht durch die halbkaputten Jalousien immer so seltsam flackerte, sobald die Sonne aufging. Er hatte schlecht geschlafen, wie fast jede Nacht, aber diesmal war es anders. Da war dieses merkwürdige Gefühl, dass ihn schon seit ein paar Tagen verfolgte. So eine Art Kribbeln im Nacken, eine innere Unruhe, die nicht verschwinden wollte. Er gähnte, rieb sich die Augen und drehte sich noch mal um. Vielleicht war es einfach nur der Stress auf der Arbeit, dachte er. Oder die Sache mit dem Vermieter, der wieder an der Miete meckerte, obwohl er jeden Cent pünktlich überwies. Oder vielleicht war es die Stadt selbst – dieses Bochum, mit seinen grauen Fassaden, den alten Zechen, dem harten Pflaster und den Leuten, die immer was zu meckern hatten. Aber das hier war mehr als nur Alltagskram. Es war, als würde sich etwas in seinen Gedanken eingenistet haben, etwas Dunkles und Unbekanntes, das nur darauf wartete, zu sprechen.
Er schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich an die Kante, während seine nackten Füße den kalten Laminatboden berührten. „Echt jetzt, Alter, ich brauch Urlaub“, murmelte er vor sich hin und griff nach seinem Smartphone, das auf dem Nachttisch vibrierte. Er checkte die Uhrzeit, sah, dass es gerade mal kurz vor sieben war, und spürte, wie die bleierne Müdigkeit in ihm hochkroch. Es war noch viel zu früh, aber er war sowieso hellwach. Also stand er auf, schlurfte ins Bad und ließ kaltes Wasser über sein Gesicht laufen. Er blickte in den Spiegel, musterte die müden Augen, die dunklen Ringe, die verzottelten Haare. Mit 32 sah er älter aus, als er war, fand er. Kein Wunder bei dem Stress.
Schon als Kind hatte er sich immer irgendwie fehl am Platz gefühlt. Er war in einer typischen Ruhrpott-Familie aufgewachsen, wo man wenig redete, dafür aber viel fluchte, schrie und soff. Vor allem sein Vater, der mit dem Leben nie so richtig klargekommen war und mit seinen Fäusten sprach, wenn ihm was gegen den Strich ging. Die Mutter hatte früh das Weite gesucht, und Alex war beim Alten geblieben, bis er irgendwann alt genug war, um selber abzuhauen. Vielleicht war diese ständige innere Alarmbereitschaft deshalb in ihm gewachsen. Vielleicht war auch genau deshalb jeder Tag eine neue Herausforderung. Ein paar Minuten starrte er sich einfach an, als würde er darauf warten, dass sein Spiegelbild irgendwas Interessantes erzählte, doch da gab’s nichts. Nur ein zerschlagenes Gesicht mit Bartstoppeln und diesem leeren Blick.
Er trocknete sich ab, zog sich eine Jogginghose und ein altes T-Shirt an, auf dem in fetten Buchstaben „Vegan AF“ stand. Ein Spruch, den er sich eigentlich aus Spaß aufdrucken lassen hatte, nachdem sein Kumpel Timo ihn ständig wegen seiner Ernährung aufzog. „Ey, Alter, Vegetarier ist ja schon grenzwertig, aber vegan? Du spinnst doch“, hatte Timo gelacht, als Alex das erste Mal verkündet hatte, keine tierischen Produkte mehr zu essen. „Timo hat eh ’nen an der Klatsche“, dachte Alex mit einem kurzen Grinsen. Aber Timo war seit Jahren sein bester Kumpel, und im Ruhrgebiet blieb man zusammen, egal was für einen Blödsinn man sich an den Kopf warf.
Mit einem müden Seufzer ging er in die Küche. Sein Kühlschrank gab wieder nicht viel her, aber das war okay. Er trank seinen Hafermilch-Kaffee, blätterte durch die Schlagzeilen auf dem Handy und hatte das Gefühl, dass jeder Tag genau gleich begann. Bis zu diesem Augenblick jedenfalls. Denn da, in der Stille, während der Kühlschrank mit einem leisen Brummen surrte und irgendwo draußen ein Müllwagen polterte, hörte er plötzlich ein Flüstern. Eine Stimme, die so nah klang, als würde sie direkt hinter seiner Stirn lauern.
„Du wirst töten. Ich sag dir auch wen.“
Das Herz in seiner Brust machte einen Sprung. Er ließ beinahe seine Kaffeetasse fallen und wirbelte herum. „Was zum…?“, stieß er laut aus, doch da war niemand. Nur die leere Küche, der beige Linoleumboden und das verschrammte Küchenregal, das die Vormieter dagelassen hatten.
Alex atmete schwer, setzte sich hin und versuchte, sein Herz zu beruhigen. „Okay“, flüsterte er zu sich selbst, „ich hab einfach nur halluziniert. Schlafmangel oder so. Vielleicht wird’s mal Zeit, zum Arzt zu gehen.“ Er trank den Kaffee in schnellen, unruhigen Schlucken. Sein Blick schweifte durch den Raum, als erwarte er, dass jeden Moment irgendwer hinter der Tür hervorspringen würde. Aber niemand war da.
Eine Weile blieb er so sitzen, die Ellenbogen auf den Küchentisch gestützt, die Augen geschlossen. Vielleicht war er wirklich nur überarbeitet. Im veganen Restaurant, wo er als Koch und Aushilfskellner arbeitete, ging’s in letzter Zeit richtig rund. Er war stolz auf sich, weil er endlich was gefunden hatte, was ihm lag. Mit Essen kannte er sich aus, und Kochen war für ihn schon immer so’n Ventil gewesen. Trotzdem war’s hart: lange Schichten, miese Bezahlung, und der Chef war ein Arsch, der auf gläserne Perfektion abfuhr und ständig forderte, man solle „mit Liebe“ anrichten, selbst wenn man nur ’nen Salat machte.
Doch in diesem Moment war all das egal, denn dieses Flüstern… Es klang so real. Nicht wie ein Traum oder eine bloße Einbildung, sondern wie eine Stimme, die direkt aus seinem Kopf heraus sprach. Sie war klar und deutlich. Eine Männerstimme, rau und kühl, fast ein bisschen sadistisch. Und sie hatte ihm befohlen zu töten.
„Ja, is’ klar“, murmelte Alex, stand auf und schob den Stuhl zurück. „Als ob ich ‘n Mörder wär. Quatsch. Vielleicht spinn ich einfach nur.“ Er zwang sich zu einem kleinen Lachen, aber das Lachen fühlte sich falsch an, so als habe es nicht zu seinen Lippen gepasst.
Er schnappte sich seine Schlüssel und machte sich auf den Weg in Richtung Stadtmitte. Bochum war um die Uhrzeit noch relativ ruhig. Die meisten waren schon in der Arbeit, andere dösten vermutlich noch rum. Er mochte die Stadt, auch wenn sie oft grau und dreckig war. Die Menschen waren direkt, ehrlich. Wenn sie dich mochten, merkste das. Wenn nicht, haste auch schnell einen Spruch am Hals. Passte schon.
Das Restaurant, in dem er arbeitete, lag ein paar Straßenecken weiter, in einem ehemaligen Kiosk, der umgebaut worden war. Man hatte dem Ganzen einen hippen Anstrich verpasst: weiße Wände, schwarze Schriftzüge, rustikale Holztische und eine Glasvitrine für irgendwelche veganen Cupcakes oder Brownies. Alex mochte den Laden, aber er wusste, dass die meisten nur aus Trendbewusstsein hierhin kamen. „Vegan ist geil, ey“, sagten sie, während sie mit ihren iPhones Fotos von den Gerichten machten. So war das halt heutzutage.
Noch bevor er eintrat, stieß er auf Timo, der draußen stand und sich eine Zigarette ansteckte. „Moin, du Lauch“, rief Timo fröhlich, als er Alex sah, und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Siehst scheiße aus, Mann. Wieder nicht gepennt, oder wat?“
Alex zuckte die Achseln. „Hab so ’n Dröhnen im Kopf“, sagte er vage. „Keine Ahnung.“
Timo zog an seiner Kippe und blies den Rauch nach oben. „Scheiß drauf, in ‘nem Kaffee-Laden ums Eck gibt’s fette Schoko-Croissants. Scheiß auf vegan, du brauchst Zucker und Fett, dann geht’s dir wieder gut.“ Er grinste breit, doch Alex verzog nur kurz die Mundwinkel.
„Passt schon, Alter, ich… kann heut nur keinen Bockmist gebrauchen. Ich hab echt ’nen Schädel.“
Timo betrachtete ihn kurz. Seine Stirn legte sich in Falten, und er wirkte tatsächlich einen Moment besorgt. „Hey, wenn was is’, sag Bescheid, ne? Wat soll schon sein, wir sind hier im Pott, da fressen wir Probleme zum Frühstück.“
Alex lächelte müde, dann gingen sie zusammen rein. Der Chef war schon da, wirbelte aufgeregt zwischen Küche und Tresen hin und her und gestikulierte, während er unverständliche Anweisungen rief. Alex ignorierte das Getue und steuerte direkt zur Küche. Er band sich eine Schürze um, fuhr sich kurz durchs Haar und versuchte, den Kopf freizukriegen. Vielleicht würde die Arbeit ihn auf andere Gedanken bringen.
Die erste Stunde verging ohne besondere Vorkommnisse. Er bereitete Soßen vor, schälte Gemüse, schnitt Zucchini und Paprika in feine Streifen, bruzzelte Seitan an und würzte das Ganze mit irgendwelchen Kräutern, die der Chef aus Frankreich mitgebracht hatte. Eine Zeit lang ging’s ihm tatsächlich besser. Das gleichmäßige Hacken mit dem Messer beruhigte ihn, das rhythmische Prasseln von Öl in der Pfanne wirkte wie eine Therapie.
Bis sie wieder da war: die Stimme. Mitten in der Hektik, als er gerade einen Topf von der Herdplatte ziehen wollte, hörte er sie zum zweiten Mal. Diesmal klang sie nicht nur rau, sondern spöttisch, fast so, als würde sie über ihn lachen.
„Ich weiß, dass du mich hörst, Alex. Hör auf zu leugnen. Du wirst töten. Das ist dein Schicksal.“
Sein Herz raste. Er ließ beinahe den Topf fallen, konnte ihn aber gerade noch auffangen, bevor das sprudelnde Wasser seine Hand verbrühte. Ein Schweißtropfen rann ihm von der Stirn. Er sah sich um. Keiner hatte etwas bemerkt. Der Chef schnauzte gerade einen anderen Mitarbeiter an, Timo sprach mit einer Kundin am Tresen. Niemand blickte zu Alex.
„Wer… wer ist da?“, flüsterte er, so leise, dass ihn niemand hören konnte. Natürlich kam keine Antwort. Nur dieses leise Kichern in seinem Kopf, ein Kichern, das aussagte: Du weißt genau, was hier abgeht.
Alex spürte, wie ihm übel wurde. Er konnte kaum glauben, was hier passierte. War er verrückt geworden? Hatte er einen psychischen Zusammenbruch? Die Stimme – und dass sie ihn anscheinend aufforderte, Menschen umzubringen – machte ihm Todesangst. Gleichzeitig war da dieser unheimliche Gedanke, dass sie sich so real anfühlte. Nicht wie eine Fantasie, sondern wie eine tatsächliche Präsenz.
Er wischte sich die Hände an der Schürze ab und starrte in den Topf, als könnte er dort eine Antwort finden. Aber da war nur heißes Wasser. Am liebsten wäre er einfach aus dem Laden gerannt, aber das ging nicht. Dann würden alle Fragen stellen. Timo würde ihm wahrscheinlich raten, sich ’nen Psychiater zu suchen, und der Chef würde ihn wahrscheinlich hochkant rausschmeißen. Er musste sich zusammenreißen.
Irgendwie schaffte er es durch den Vormittag. Er tat, was man von ihm verlangte, bereitete Essen zu, lächelte gequält und versuchte, die Stimme zu ignorieren. Doch immer wieder fühlte er sie, wie ein Summen im Hinterkopf, das sich bei jeder Gelegenheit meldete. Und je stärker Alex versuchte, sie zu verdrängen, desto lauter wurde sie.
Irgendwann am späten Nachmittag, als er endlich Feierabend hatte, schleppte er sich auf die Straße. Timo war schon weg, was Alex ganz recht war. Er wollte niemanden sehen, mit niemandem reden. Er brauchte Ruhe. Oder einen Plan. Oder eine Erklärung. Seine Gedanken kreisten um dieses Flüstern, und er fragte sich, ob es einen Auslöser gab. Hatte er in letzter Zeit irgendwas genommen? Drogen? Nein, er war höchstens mal kiffen gewesen, aber das war Wochen her, und er hatte damals nichts derartiges gehört. War er übermüdet, im Burn-out, hatte er einen Hirntumor? Sein Verstand war voller wilder Theorien, aber keine davon fühlte sich richtig an.
Mit verzweifelter Miene schlenderte er durch Bochums Straßen. Der Abend nahte, die Lichter gingen an, die Kneipen füllten sich. Hier und da standen Pärchen herum, lachten, küssten sich, während irgendein Pennermusiker in der Nähe Gitarre spielte. Er fühlte sich einsam inmitten der Menschen. Er wollte einfach nur nach Hause und die Decke über den Kopf ziehen, aber eine innere Stimme, diesmal seine eigene, sagte ihm, dass das nichts bringen würde. Die fremde Stimme würde bleiben.
Auf halbem Weg blieb er stehen und kaufte sich in einem Laden ein paar Kleinigkeiten zum Essen: Tofu, Gemüse, Brot. Während er an der Kasse stand, traf ihn plötzlich ein heftiger Kopfschmerz. Er presste die Zähne aufeinander und rieb sich die Schläfen. Was war nur los mit ihm? Die Kassiererin, eine ältere Dame mit starker Brille, blickte ihn mitleidig an. „Alles in Ordnung, junger Mann? Sie sehen so blass aus.“ Er nickte nur stumm, zahlte und hastete hinaus.
Draußen entlud sich sein Schmerz zu einem fast panischen Gefühl. Er fühlte, wie ihm die Luft knapp wurde, und stellte sich vor, wie er neben dem Supermarkt zusammenbrechen könnte. Doch so schnell wie es gekommen war, ließ das Dröhnen in seinem Kopf wieder nach. Für einen Moment war alles still, so still, dass er fast glaubte, die Stimme sei verschwunden.
Aber kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende geführt, flüsterte es wieder in seinem Kopf: „Es wird Zeit, Alex. Bald bekommst du den Namen. Sei bereit.“
Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er musste sich an der Wand abstützen, um nicht hinzufallen. „Lass mich in Ruhe!“, wollte er schreien, aber stattdessen kam nur ein heiseres Keuchen über seine Lippen. Ein Vorbeigehender warf ihm einen misstrauischen Blick zu, beschleunigte seinen Schritt. Im Ruhrpott lernt man schnell, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen. Alex rang nach Fassung und machte sich langsam auf den Heimweg.
In seiner Wohnung angekommen, ließ er sich auf die abgewetzte Couch fallen, legte die Einkaufstüte beiseite und schloss die Augen. Er war völlig fertig. Er dachte an seinen Vater, an die Schläge und die ständigen Vorwürfe: „Du bist zu schwach, Junge!“ Vielleicht hatte der Alte ihn ja wirklich zerbrochen, sodass jetzt ein Teil von Alex’ Geist anfing, verrückt zu spielen. Auf jeden Fall war er sich sicher, dass er Hilfe brauchte.
Doch bevor er überhaupt in Erwägung ziehen konnte, einen Arzt anzurufen, schlief er ein. Der Schlaf war kurz und unruhig. Er träumte von endlosen Kellergängen, die er im Dunkeln durchschritt. An den Wänden waren rostige Haken, an denen seltsame Dinge hingen, die aussahen wie Tierkadaver, aber je näher er hinsah, desto mehr verwandelten sie sich in menschliche Silhouetten. Eine Flüsterstimme hallte durch den Korridor und schien ihn zu verhöhnen: „Du kannst nicht entkommen, Alex. Geh, geh weiter.“
Mit einem Ruck wachte er auf. Sein Nacken tat weh, und das Wohnzimmer war in Dunkelheit getaucht. Er tastete nach seinem Handy, das auf dem Couchtisch lag, und checkte die Zeit: 22:47 Uhr. Super. Er hatte kaum länger als eine Stunde gepennt, und trotzdem fühlte er sich wie von ’nem LKW überrollt.
Er stand auf, knipste das Licht an und schlurfte zur Küche. Er wollte sich gerade Wasser in ein Glas füllen, als er spürte, wie sich etwas in seinem Kopf zusammenbraute. Diese Präsenz, dieser Schwindel, das war die Stimme. Und diesmal war sie lauter, fordernder.
„Hör zu, du Wurm. In zwei Tagen erhältst du einen Namen. Du wirst diesen Menschen töten. Und wehe, du widersetzt dich. Ich kann sehr überzeugend sein.“
Alex’ Atem stockte, er spürte, wie sich eine kalte Hand um sein Herz legte. Er knallte das Glas auf die Spüle und fluchte: „Was soll der Scheiß? Wer bist du?“ Er lauschte. Keine Antwort, nur ein boshaftes Kichern. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, weil die Hilflosigkeit ihn beinahe erdrückte. Er war kein Mörder, verdammt noch mal. Er hatte noch nie jemandem ernsthaft wehgetan. Na gut, in der Schule hatte er sich ein paar Mal geprügelt, aber das war alles harmlos gewesen. Er war ein friedlicher Typ, der einfach versuchte, sein Leben zu regeln. Und jetzt sollte er töten?
Er zwang sich, tief durchzuatmen, und machte das Einzige, was ihm in diesem Moment einfiel: Er griff zu seinem Laptop, setzte sich in die Küche und fing an, irgendwelche psychologischen Symptome zu googeln. Halluzinationen, Schizophrenie, multiple Persönlichkeitsstörungen – er las sich durch diverse Foren und Artikel, fand dutzende mögliche Erklärungen. Doch keine davon passte so richtig auf dieses Gefühl, dass da tatsächlich etwas Fremdes in seinem Kopf steckte. Es war ja nicht nur eine flüchtige Halluzination, sondern eine konstante Präsenz.
Zwei Stunden lang suchte er verzweifelt nach Hilfe im Internet, doch am Ende war er nur noch verwirrter. Manche Leute schrieben, sie hätten durch Meditation Stimmen im Kopf loswerden können. Andere beschworen, dass Medikamente halfen. Wieder andere behaupteten, sie hätten die Stimme akzeptiert, und seitdem lebten sie irgendwie damit. Aber da ging es oft um Selbstzweifel, um Traumata, nicht um eine Stimme, die befahl, Menschen zu ermorden.
Gegen ein Uhr nachts gab Alex auf. Er klappte den Laptop zu und stand erneut am Fenster. Der Blick nach draußen beruhigte ihn kaum. Die Straße lag still, nur hin und wieder fuhr ein Auto vorbei. In der Ferne konnte er die Umrisse des Bergbaumuseums erkennen, die Lichter, die schwach glommen. Irgendwo bellte ein Hund. Er schloss die Augen und spürte, wie sein Körper zitterte.
Erinnerungen schwappten in ihm hoch: Bilder von seinem Vater, der wütend brüllte, von dem Gestank billigen Biers in der Wohnung, von dem Gefühl, verprügelt zu werden, ohne Grund, und doch immer das Gefühl zu haben, man hätte es verdient. Wut stieg in ihm hoch. Er hatte immer versucht, diesen Scheiß hinter sich zu lassen. Er wollte kein Opfer mehr sein. Wollte sein Leben in den Griff kriegen, sauber bleiben, seine Ideale leben, gerade deshalb lebte er vegan, als Zeichen, dass er keinem Lebewesen schaden wollte. Doch jetzt sprach eine Stimme in ihm, die genau das Gegenteil wollte: töten.
„Nein“, sagte er leise zu sich selbst. „Nicht mit mir. Ich lass mich nicht zu ’nem Killer machen.“ Er glaubte zwar, dass er an seinem Verstand zweifeln musste, aber irgendwo war noch ein Funken Hoffnung, dass er sich dagegen wehren konnte. Vielleicht war das alles nur ein Test. Vielleicht würde es verschwinden, wenn er sich anders verhielt, wenn er gewisse Dinge mied.
Er nahm sich vor, am nächsten Tag zum Arzt zu gehen, vielleicht sogar sofort in die Klinik, wenn es nicht besser wurde. Doch kaum hatte er diesen Plan gefasst, flammte ein stechender Schmerz in seinem Schädel auf. Es war, als würde jemand mit einem Messer seine Gehirnwindungen malträtieren. Er keuchte auf, sank auf ein Knie und ballte die Faust.
„Denk nicht mal dran, du kleiner Wicht“, zischte die Stimme. „Oder glaubst du, du könntest dich so einfach aus der Affäre ziehen?“
Tränen traten in seine Augen, als der Schmerz ihn zu Boden zwang. Er fühlte sich, als würde sein Kopf zerspringen. Er konnte kaum atmen, rang nach Luft und presste seine Hände gegen die Schläfen.
„Hör auf…“, wimmerte er. „Bitte…“
Der Schmerz ließ ein wenig nach, aber er blieb wie eine heiße Klinge in seinem Schädel stecken. Alex kroch auf alle Viere und versuchte, sich wieder aufzurichten. Seine Gedanken waren wirr, sein Herz raste, und Schweiß tropfte von seiner Stirn auf den Boden. Er war so gut wie machtlos. Irgendeine Macht – ob eingebildet oder real – hatte ihn fest im Griff.
„Glaub mir, Alex. Wenn du tust, was ich dir sage, ist das nur der Anfang einer großen Geschichte. Lass dich drauf ein“, flüsterte die Stimme, fast sanft. „Widerstehst du mir, wirst du Schmerz kennenlernen, wie du ihn noch nie gespürt hast.“
Langsam rappelte Alex sich hoch, stützte sich auf den Küchentisch und spürte, wie der Schmerz nach und nach abebbte. So, als sei er eine Strafe gewesen, die jetzt kurz aussetzte.
„Was zum Teufel bist du?“, fluchte er leise. Keine Antwort. Der Kopf war wieder still.
Die nächsten Minuten verbrachte er damit, sich in seiner Wohnung umzusehen, als könnte er irgendetwas finden, das diese Situation erklärte. Etwas, das bezeugte, dass jemand mit ihm einen üblen Scherz trieb. Ein Mikrofon in der Wand, irgendein versteckter Lautsprecher, Kamera, irgendwas. Aber er fand nichts. Die Wohnung war genauso heruntergekommen, wie sie immer gewesen war. Alte Tapete, rissige Fugen, kratzende Holzdielen im Flur.
Völlig erschöpft schaltete er das Licht wieder aus, ließ sich ins Bett fallen und starrte an die Decke. Er verspürte eine schreckliche Ohnmacht. Wie sollte er den nächsten Tag überstehen? Was, wenn die Stimme zurückkam, noch stärker, noch bedrohlicher? Was, wenn sie ihm tatsächlich einen Namen nannte und er…? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Er, Alex, ein Killer? Niemals.
Aber je länger er dalag und in die Dunkelheit starrte, desto mehr fühlte er, wie eine seltsame Ruhe sich in ihm ausbreitete. Fast so, als würde er sich mit dem Gedanken abfinden, dass sein Leben nicht mehr normal war. Er dachte an seine miese Kindheit, an all die Demütigungen, die er erlitten hatte, und spürte zum ersten Mal seit Jahren so etwas wie latente Wut, die er stets unterdrückt hatte. Ja, er hasste seinen Vater. Er hasste die Gewalt. Er hasste Ungerechtigkeit. Aber er hasste vor allem das Gefühl, schwach zu sein.
Ein Teil von ihm, ein dunkler Teil, war neugierig. Diese Stimme im Kopf, die ihm plötzlich eine Aufgabe stellte, machte ihm zwar Angst, aber sie schenkte ihm auch eine Art von Bedeutung, die er nie vorher gespürt hatte. Das konnte er natürlich nicht zugeben, nicht mal vor sich selbst. Aber da war dieses Flüstern, das in ihm widerhallte: „Du wirst töten. Ich sag dir auch wen.“
Kurz vor dem Einschlafen dämmerte Alex etwas: Vielleicht würde es einen Grund geben, warum er töten sollte. Vielleicht war diese Stimme nicht nur pure Bosheit, sondern wollte eine Art Gerechtigkeit erreichen? Er lachte trocken und dachte sich: „Du bist total bescheuert, Alter. Denk nicht mal ansatzweise in diese Richtung.“ Aber die Gedanken waren nicht mehr zu stoppen.
In seinen Träumen war er diesmal nicht allein. Eine Gestalt tauchte auf, verschwommen, ein Mann, der eine Maske trug. Dieser Mann führte ihn durch eine Stadt, die Alex zwar zu kennen glaubte, die aber seltsam verändert aussah. Die Straßen schimmerten rot, und von den Hauswänden tropfte ein dickflüssiges, schwarzes Etwas wie Blut. Die Stimme des Mannes war dumpf, klang, als käme sie durch einen Funk. Doch Alex erkannte die Worte nicht. Er spürte nur, dass er gehorchen musste. Er wollte nicht, aber er konnte nicht anders.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich leer und zugleich voller Angst. Er wusste, dass er bald eine Antwort auf die bange Frage erhalten würde, wen er angeblich töten sollte. Er wusste aber auch, dass er kaum eine Chance hatte, sich zu widersetzen. Nicht nach dem, was die Stimme gezeigt hatte – dieser unsägliche Schmerz, der ihn in die Knie gezwungen hatte. Er war kein Held, kein Typ, der unter Folter schweigend blieb. Er war einfach nur Alex, ein ruhiger, unscheinbarer Kerl aus dem Pott, der in ’nem veganen Laden arbeitete und versuchte, sein beschissenes Leben auf die Reihe zu kriegen.
Jetzt lag er da, in seinem muffigen Zimmer, und starrte wieder an die Decke. Er fragte sich, ob dies der Tag war, an dem er völlig den Verstand verlieren würde. Die Sonne bohrte sich durch die Ritzen der Jalousien, zeichnete schmale Streifen auf die Wände. Der Geruch von Schweiß und Angst war überall. Er brauchte dringend einen Plan, aber ihm fiel nichts ein.
Leise schwor er sich, dass er kämpfen würde, egal wie. Vielleicht würde er zum Psychiater gehen, vielleicht Timo alles erzählen. Andererseits, wie sollte er jemandem begreiflich machen, dass eine Stimme in seinem Kopf ihn zwingt, Leute umzubringen, und dass er diese Stimme nicht ignorieren kann? Sie würde es – was auch immer sie war – nicht zulassen.
Mit einem Anflug von Galgenhumor dachte er: „Guten Morgen, Ruhrpott. Hier kommt euer nächster Mörder. Isses nich’ herrlich?“ Dann schlug er die Bettdecke zurück, stand auf und begann den Tag, der ihn wieder konfrontieren würde mit einer fremden Macht in seinem Kopf.
Während er in der Küche seinen Kaffee machte, starrte er auf sein Handy, als könnte dort eine Nachricht erscheinen, die alles erklärte. Ein anonymer Absender, der schrieb: „Hey, nur Spaß, Alter, war ’n Experiment für ’ne versteckte Kamera, wir wollten mal gucken, wie weit du gehst.“ Aber das blieb aus. Stattdessen blieb die Wohnung still – bis auf das Summen des Kühlschranks und die Geräusche der Straße. Und in dieser Stille lauerte die Gewissheit, dass die Stimme nur in seinem Kopf existierte, aber genauso wirklich war wie der Schmerz, den sie verursachte.
Er nippte an seinem Kaffee, der schmeckte wie Pappe, und flüsterte: „Scheiße, Mann, was mach ich nur?“. Er war knapp an den zweifelhaften Punkt gekommen, wo er sich wünschte, die Stimme würde sich einfach wieder melden, damit er wenigstens wusste, womit er es zu tun hatte. Gleichzeitig hasste er diese Vorstellung, denn er wusste, was die Stimme ihm sagen würde: „Du wirst töten. Ich sag dir auch wen.“
Genau das war der Anfang vom Ende: ein Flüstern, das sich in seiner Seele eingenistet hatte und alles überschatten würde, was Alex bislang kannte. Und obwohl er sich schwor, niemals diesen Weg zu gehen, spürte er doch, dass es keinen leichten Ausweg gab. Vielmehr würde ihn dieser Befehl Schritt für Schritt in den Abgrund ziehen und ihm zeigen, wozu ein Mensch tatsächlich fähig war, wenn ihn jemand – oder etwas – mit äußerster Gewalt dazu zwang.
Aber noch hatte er Hoffnung, noch gab es diesen Tag, diesen Morgen, an dem er sich vorsichtig sagte: Vielleicht war es ja nur ein verrückter Traum. Vielleicht bin ich einfach total durch. Vielleicht wird’s gleich besser. Doch tief in ihm wusste er: Es wird nicht besser. Das Flüstern war nicht einfach irgendein Hirngespinst. Es war real. Es wartete auf ihn.
Und so endete die Ruhe vor dem Sturm.
2. Die Liste der Verdammten