Gefühltes Wissen - Horst Evers - E-Book
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Gefühltes Wissen E-Book

Horst Evers

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Beschreibung

«Im letzten Jahr war ich auch ständig kaputt, bin am liebsten einfach nur so rumgelegen. Weiß auch nicht, war halt so. Gibt so Jahre. Obwohl, manchmal war ich auch nicht kaputt, aber meistens hab ich mich dann einfach trotzdem hingelegt, weil ich dachte: ‹Ach, wennde erst mal liegst, kommt das Kaputtsein schon von ganz alleine.›» «Horst Evers ist der Meister des Absurden im Alltäglichen – oder umgekehrt. Evers-Texte fangen meist ganz harmlos an, biegen dann aber um die Ecke, ohne dass man weiß, was dahinter auf einen wartet.» (Frank Goosen)

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Seitenzahl: 156

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Horst Evers

Gefühltes Wissen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Im letzten Jahr war ich auch ständig kaputt, bin am liebsten einfach nur so rumgelegen. Weiß auch nicht, war halt so. Gibt so Jahre. Obwohl, manchmal war ich auch nicht kaputt, aber meistens hab ich mich dann einfach trotzdem hingelegt, weil ich dachte: ‹Ach, wennde erst mal liegst, kommt das Kaputtsein schon von ganz allein.›»

 

Über Horst Evers

Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt u.a. den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören. Seine Geschichtenbände, zuletzt «Für Eile fehlt mir die Zeit» (2011) und «Wäre ich du, würde ich mich lieben» (2013), wie auch sein Roman «Alles außer irdisch» (2016) sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.

Inhaltsübersicht

VorwortProlog: Ein herrlicher Tag (Die Spinne)1 Wissenschaft, Forschung und anderer AberglaubeWas anders istDer tiefere Sinn des MathematikunterrichtsDer kleine SatellitÜber die Gefahren moderner Technologien: ComputerspieleDie Zeit heilt alle Wunden2 Was der kluge Hausmann weißGartenarbeitDie IKEA-RevolutionWas die Kunst uns über das Leben lehrtBerliner Idyll 1Ich muss mir nichts mehr beweisenToter BriefkastenIrgendwer hat den Kuchen im Regen stehen lassen3 Wissen ist überallDüsseldorfFahrtenschreiber 1RheineAlle Wege führen nach … Öhringen… Germering… Öhringen 2Schuld und SühneStuttgarter NächteFahrtenschreiber 2Stade4 Virtuelles WissenDie Karajan-StrategieGott klingeltDas Berlin-KonklaveJeder hilft BerlinBerliner Idyll 2FreiheitsberaubungArbeitsplatten machen Arbeit5 Selbst gemachtes WissenMehr vom TagInnere SicherheitNoch mehr vom Tag oder Wie wir zum sichersten Haus in ganz Berlin wurdenWo war ich, als …Es kommt, wie es kommtIn der BotschaftEin ganz normaler Tag in BerlinEpilog: Keine Angst vorm AlterRegister

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser!

Zur einfacheren Handhabung dieses Buches möchte ich ein paar kurze Erläuterungen mittels dieses Vorworts vorausschicken.

«Gefühltes Wissen» ist keinesfalls ein Ratgeber oder eine wissenschaftliche Studie. Es ist eine Sammlung. Eine Sammlung von Geschichten aus den Jahren 2002 bis 2005. Oder auch eine Sammlung von gefühltem Wissen.

Die technischen Errungenschaften dieser Zeit ermöglichen uns innerhalb von Sekunden den Zugang zu einer unfassbaren Menge von Information. Tatsächlich ist diese Masse an Information so dermaßen unüberschaubar, dass es gar nicht mehr möglich ist, sich auch nur zu einem einzigen Teilthema wirklich komplett und umfassend zu informieren.

Es geht immer nur noch darum, sich einen groben Überblick zu verschaffen, eine grundsätzliche Ahnung, eben genau so viel, bis man das Gefühl hat, man würde da jetzt etwas wissen.

Aber dieses Gefühl, etwas zu wissen, ist zumeist nicht von Dauer. In dem Moment, wo doch nochmal weitere Information hinzukommt, kann die schnell verwirren, und plötzlich steht man da hilflos wie zuvor.

Ein Beispiel aus dem Alltag: Angenommen, man hat ein Auto. Ein Auto, das ganz wunderbar und zuverlässig fährt, man ist sehr glücklich damit. Bis zu dem Moment, wo einmal ein Fachmann draufguckt, ob auch wirklich alles in Ordnung ist. Und dieser Fachmann wird sehr schnell feststellen, dass gar nichts in Ordnung ist.

Dieses Beispiel lässt sich ohne Weiteres aufs Leben übertragen. Man kann also gesund und froh durchs Leben gehen, aber letztendlich nur, weil einem die nötige Fachkenntnis fehlte, um zu wissen, wie furchtbar das alles ist.

Genau diese Fachkenntnis zu vermeiden ist eine der großen Herausforderungen dieser Zeit. Wissen also nur bis zu dem Punkt anzuhäufen, wo man das Gefühl hat, jetzt wüsste man etwas – und dann aber auch sofort aufzuhören. Das jedoch ist gar nicht so einfach.

Dieses Buch soll nur unterstützen. Es erzählt viele kleine, einzelne eigenständige Geschichten – aufgeteilt in die 5 Kernbereiche des gefühlten Wissens:

«Wissenschaft, Forschung und anderer Aberglaube» – die technischen Anforderungen unserer Zeit

«Was der kluge Hausmann weiß» – die Herausforderungen des Haushalts

«Wissen ist überall» – die Weisheiten und Lebensgewohnheiten fremder Völker und Kulturen

«Virtuelles Wissen» – eigentlich eingebildetes Wissen, aber auch nichtangewandtes Wissen

«Selbst gemachtes Wissen» – Erfahrungsschätze

Natürlich hilft einem das alles zusammen auch nicht weiter, aber man steht etwas besser.

 

Doch lesen Sie bitte selbst.

Prolog

Ein herrlicher Tag (Die Spinne)

Wenn man morgens in der Küche sitzt und das Erste, was man hört, ist das leise röchelnde Schimpfen der Kaffeemaschine, wie sie verzweifelt mit letzter Kraft versucht, doch nochmal eine Kanne Kaffee fertig zu kriegen.

«Aaaarrhhh … ich kann nicht mehr, brrrhhh … na gut, nochmal ’nen Schwung heißes Wasser, bppffff … boarrhh, wie viel is’ denn noch? Ooohh … ich bin zu alt für so was … brrrhhhh … … …»

Wenn man sie sich so quälen sieht, aber gleichzeitig an dem klaren, heißen Wasser in der Kanne erkennt, dass man offensichtlich vergessen hat, das Pulver in die Maschine zu füllen. All ihr Tun und Quälen also letztlich völlig sinnlos ist. Man sich gleichzeitig aber auch nicht in der Lage sieht, die zwei Schritte zur Maschine zu gehen, um diesem nutzlosen Kampf ein Ende zu bereiten.

Und wenn man dann in die Ecke schaut. Die Ecke, in der man seit Monaten alle drei, vier Tage Spinnweben gefegt hat. Aber plötzlich sind da keine Spinnweben. Und das, obwohl man sie seit über einer Woche nicht mehr gefegt hat. Und dann sieht man ein Stückchen weiter die Spinne sitzen. Antriebslos, apathisch und desillusioniert. Weil sie einfach keine Lust mehr hat. Immer und immer wieder ein neues Netz zu spinnen. Ein neues Netz, das dann doch nur wieder weggefegt wird. Und man fragt sich: Gibt es einen traurigeren Anblick als eine verbitterte, depressive Spinne in der Küche?

Und dann fühlt man sich dieser Spinne und der Kaffeemaschine plötzlich sehr nahe.

Und weil man sich ihnen so nahe fühlt, wird man später einfach das heiße Wasser mit etwas Milch trinken. Und dann wird man den Besen holen, ein paar alte Spinnweben aus den Borsten zupfen und sie so gut es geht wieder in der Ecke drapieren, um die Spinne ein wenig aufzumuntern.

Und plötzlich lächelt man, weil man auf einmal spürt, da ist doch jemand, dem man helfen kann! Da ist doch etwas, was man tun kann! Und wenn’s nur ist, dass man ein bisschen Dreck macht.

Und wenn man dann, kurze Zeit später, die Spinne wieder ein neues Netz, noch größeres Netz spinnen sieht. Dann weiß man: Alles wird gut. Es wird doch ein herrlicher Tag.

1Wissenschaft, Forschung und anderer Aberglaube

Was anders ist

Wenn ich früher, nachts, vielleicht ein wenig angetrunken und vielleicht auch in eigenartiger Stimmung nach Hause kam, habe ich in der Regel noch ein wenig auf den Fernseher eingeredet, den einen oder anderen Wäschehaufen beschimpft, in alkoholseliger Spendierlaune 2, 3 Blumen bis an den Rand des Ertrinkens begossen und eventuell noch ein wenig obszöne Gesten vor dem Spiegel geübt. Dann bin ich aber auch irgendwann eingeschlafen und später auch ins Bett gegangen. Damit wars dann gut. Höchstens der Spiegel hat sich am nächsten Morgen gerächt. Das war dann oft nicht schön anzusehen, aber es blieb ja unter uns.

Wenn ich jedoch heutzutage, nachts, angetrunken, in eigenartiger Stimmung nach Hause komme, kann ich noch mit der ganzen Welt Kontakt aufnehmen. Und das ist nicht gut.

Ich kann bei Ebay einen Trecker ersteigern, langjährige Freundschaften mit einer E-Mail beenden oder auch Fotos von seltenen Hautkrankheiten auf meine Homepage stellen. Natürlich kann ich auch arglosen Freunden kleine Lieder auf den Anrufbeantworter singen: «Hallihallo, was hältst du von dieser Liedidee? Lall la lala laaaa … wir sind die lustigen … lall la laaa … und dann halt so weiter. Meinst du, die Ironie wird klar?»

Und wenn ich wirklich noch so richtig länger was von dieser Nacht haben will, kann ich auch der festen Überzeugung sein, dass ich zwar ein bisschen angetrunken bin, aber deshalb doch noch immer in der Lage, aber so was von, aber hallo dermaßen in der Lage, den Anrufbeantworter absolut seriös und vollständig, aber so richtig neu zu besprechen …

Die Stimme der Anruferin klang etwas unsicher. Sie sei sich nicht sicher, ob sie wirklich die richtige Nummer gewählt habe. Aus der Anrufbeantworteransage gehe das nicht ganz deutlich hervor. Jedenfalls würde sie gerne mal mit mir über die Fotos auf meiner Homepage sprechen. Ihr habe sich der tiefere Sinn nicht erschlossen, aber vielleicht könne sie mir helfen.

Schaue auf die Homepage und scheitere gleichfalls beim Versuch, einen Sinn zu ermitteln.

Im Fax liegt die Bestätigung für einen Karibikflug. Was will ich da denn? Na ja, wahrscheinlich ist mir letzte Nacht irgendwie kalt geworden. So weit verständlich. Höre dann die Anrufbeantworteransage ab:

«Ja, hallo … …hier ist … hier ist … hier ist der Anschluss, hihi … der Anschluss … wieso rufen Sie an? Mal sagen … jetzt … nach dem … ach, machen Se doch, wie Se wollen – piep.»

Rufe die Frau zurück und erkläre ihr, dass mein Cousin für ein paar Tage bei mir wohnt. Gestern hat er sich wohl etwas zu sehr dem Berliner Nachtleben hingegeben und hier dann noch einigen Unfug veranstaltet. Werde ihm die Nummer weitergeben, glaube aber nicht, dass er sich helfen lassen wird. Er ist sehr dickköpfig.

Hinterher storniere ich den Karibikflug und gehe dann in die Küche. Sehe, dass mein Cousin offensichtlich in der Nacht auch noch versucht hat, alte Nudeln mit Sauce aufzubraten. Die Saucenspur führt vom Herd zum Tisch, wo die halb leere Pfanne steht. Meine, an der Anordnung der Nudeln in der Pfanne auch noch den Abdruck eines Gesichts zu erkennen. Gehe ins Bad und bekomme Gewissheit. Der Cousin hat auch noch versucht, sich zu waschen.

Will gerade den Anrufbeantworter neu besprechen, als das Telefon schon wieder klingelt. Mein Nachbar beschwert sich, ich hätte in der letzten Nacht im Treppenhaus eine halbe Stunde lang «Lalla la la laaa … wir sind die lustigen … lalalaaaa …» gesungen. Er glaubt nicht, dass der Song was taugt, und droht mir im Übrigen Prügel an. Erkläre ihm alles und lege auf.

Rufe dann meinen Cousin an und frage, ob er nicht Lust hat, für ein paar Tage nach Berlin zu kommen. Ich zahle auch die Bahnfahrt. Er muss dafür nur behaupten, er sei schon seit drei Tagen hier, und ein kleines Liedchen lernen. Er ist skeptisch. Langwierige Verhandlungen folgen …

Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber irgendwie ist das Leben anders geworden. Nicht wirklich besser, auch nicht wirklich schlechter, aber anders, anders schon.

Der tiefere Sinn des Mathematikunterrichts

Im Zug. Die ältere Frau neben mir strickt an einem großen Wollpullover. Der Mann im Anzug an meinem Tisch mir gegenüber blättert angespannt in irgendwelchen Unterlagen und nippt an seinem Kaffee. Der Junge neben ihm rechnet hektisch an einer Gleichung rum. «f(x): 3y … und so weiter». Zeugs. Kurvendiskussion. Is’ das jetzt Algebra oder Trigonometrie? Was weiß ich? Aber interessant. Ich hab nix recht zu tun, also frage ich: «Kann ich dir helfen?»

Er blickt erstaunt auf, mustert mich, lächelt dann:

– Nix für ungut, nett gemeint, aber das hier ist Mathematik.

Wie meint er das? Sehe ich aus wie jemand, der von Mathematik keine Ahnung hat?

– Hör mal, Junge, ich will dir mal was sagen: Die Summe der Kathetenquadrate ist gleich dem Quadrat über der Hypothenuse, hm.

Keine Reaktion. Nur der Zug scheint von meinem sinnfrei aufgesagten mathematischen Lehrsatz überrascht. Zumindest ruckelt er einmal kurz hin und her. Der Anzugmann stößt einen Schrei aus: «Aah», auf seinem weißen Hemd erscheint ein Kaffeefleck.

– O nein, ich muss gleich zu einem Vorstellungsgespräch in Frankfurt.

Die ältere Frau tröstet.

– Wenn Sie’s direkt auswaschen, geht der bestimmt noch raus.

Der Anzug stürzt auf Toilette. Bin skeptisch. Der Junge ist mittlerweile noch verzweifelter.

– Das ist doch völlig sinnlos, was ich hier mache. Das brauch ich doch in meinem späteren Leben nie wieder.

Ich sage: «Junger Mann, so was kann man nie wissen. Als in den 20er Jahren in Berlin am Potsdamer Platz die erste Verkehrsampel Europas aufgestellt wurde, da sagten die Menschen auch, das ist doch sinnlos, das braucht doch keiner, überteuert und hässlich ist das. Und sie hatten gute Argumente. Zum einen musste rund um die Uhr ein Schutzmann neben der Ampel stehen, um zu überwachen, ob sie funktioniert. Außerdem musste er noch ständig mit Handzeichen und lautem Schreien den Passanten erklären, was die Ampel gerade anzeigt. Und das Schlimmste: Da die Ampel natürlich eine ziemliche Sehenswürdigkeit war, strömten jeden Tag Unmengen von Menschen dorthin, weshalb ausgerechnet an der ersten Ampelkreuzung Europas Tag für Tag der Verkehr regelmäßig völlig zusammenbrach. Ja, die erste Ampel hatte keinen guten Start. Aber heute, hm.»

Der Schüler schaut mich nicht ohne Bewunderung an.

– Und Sie waren damals beim Aufstellen dieser ersten Ampel noch selbst dabei?

Erneut erschrickt sich der Zug und schlägt diesmal noch heftiger fünf- bis sechsmal hin und her. Aus der Zugtoilette kommen laute Schreie.

Der Strickpullover der älteren Frau ist praktisch fertig. Sie nimmt nur noch leichte Nachbesserungen vor. Am Wochenende wird sie ihn beim Kirchenbasar in Bebra zum Verkauf anbieten. Der Erlös geht ans nahe gelegene Flüchtlingsheim. Aber niemand wird den Pullover kaufen, weil sie zu 80 % Polyacrylfasern verwendet hat. Wie jedes Mal. Gegen Ende wird der Dorfpfarrer einen Strohmann beauftragen, den Pullover für ihn zu kaufen, wie jedes Mal, damit die Frau nicht enttäuscht ist und auch weil der Pullover sonst direkt ans Flüchtlingsheim gehen würde und der Pfarrer findet, dass es die Flüchtlinge erst mal in Deutschland schon schwer genug haben. Mittlerweile liegen in seinem Schrank weit über zwanzig von diesen Pullovern, die er aber nie trägt, weil er Polyacrylfasern nicht mag, und auch nicht, weil die Frau sonst sehen würde, dass er all die Jahre alle ihre Pullover gekauft hat.

Der Anzug kommt von der Toilette zurück. In der Hand das tropfnasse Hemd. Aber auch Jackett und Hose sind deutlich sichtbar mehr als feucht. Er ist völlig aufgelöst.

– Um Gottes willen, was wird jetzt aus meinem Vorstellungsgespräch?

Die Pulloverfrau raunt verschwörerisch: «Wenn Sie zu nervös sind, stellen Sie sich einfach vor, der Personalchef wäre nackt. Das hilft.»

Was für ein Rat. Im Moment sieht’s eher so aus, als wenn der Bewerber nackt erscheinen wird. Und außerdem, wenn es etwas gibt, was mich bei einem Vorstellungsgespräch nervös machen würde, wäre das, wenn mich der Personalchef nackt empfängt.

Der Mann reißt das Fenster auf und hält das Hemd raus, damit es im Fahrtwind schneller trocknet. Mir wird kalt. Gehe ein Abteil nach vorne, um dort zu rauchen. Habe gerade die Zigarette angesteckt, als den Raucher neben mir ein furchtbarer Hustenanfall überkommt. Er röchelt, prustet, bellt, gurgelt, ist dem Ersticken nahe. In letzter Sekunde hechtet er ans Fenster, reißt es auf und spuckt raus. Aus dem Abteil hinter uns hören wir wieder einen lauten Schrei.

Mir ist die Lust an der Zigarette vergangen, mache sie aus und gehe zurück. Sehe, wie der Anzug hektisch und unter Tränen versucht, mit seinem Hemd die Kaffeelachen von seinen Unterlagen und den Berechnungen des Schülers zu wischen. Offensichtlich wollte er im Reflex der Spucke ausweichen, ist dabei gegen den Tisch gestoßen und hat so seinen noch halb vollen Kaffeebecher endgültig umgestürzt.

Tragischerweise war auch sein Ausweichversuch nicht wirklich erfolgreich, wie man an der gelben Masse in seinem Haar zweifelsfrei erkennen kann. Beschließe, ihn lieber nicht darauf anzusprechen. In seiner Not kauft er der Frau den Strickpullover ab und macht damit zumindest den Dorfpfarrer zu einem glücklichen Mann.

Epilog

Noch lange nach der Fahrt musste ich immer wieder an des Schülers Klage denken, dass der Algebraunterricht für sein späteres Leben völlig sinnlos sei. Ich glaube, er irrt sich. Auch ich empfand damals speziell diese Kurvendiskussionen als völlig sinnlose Tierchenquälerei. Dass das Lesen von Büchern im Deutschunterricht oder erst recht Fremdsprachen fürs spätere Leben noch irgendwo Sinn machen könnten, war ja noch einzusehen. Aber dieses Zeugs? Warum?

Tatsächlich hab ich’s bis heute nie wieder gebraucht. Und dennoch: Es musste gemacht werden, weil: Nach mittlerweile über 15 Jahren Leben nach der Schule ist es ganz erstaunlich, wie viel sinnloses Zeug ich bei diesem Rumgelebe gemacht habe, auch machen musste. Lauter sinnloses Zeug, an dem ich fast verzweifelt, zugrunde gegangen wäre.

Wenn mich da die Schule und insbesondere Kurvendiskussionen nicht so perfekt auf die Anforderungen des späteren Lebens vorbereitet hätten, nämlich: sinnloses Zeug zu machen, zu akzeptieren und durchzustehen – wer weiß, was aus mir geworden wäre?

Wenn das jetzt kein versöhnlicher Schluss ist.

Epilog 2

Dass Mathematik sowieso eine großartige Sache ist, weil sie eben abstraktes und logisches Denken fördert, soll schon noch erwähnt werden. Eigentlich ist die Mathematik damit so was wie die Ursuppe allen Denkens. Das geht im Prinzip sogar so weit, dass sie es mir heute ermöglicht, vorhandenes Wissen völlig auszublenden und somit zu einem Schluss wie im ersten Epilog zu kommen. Dafür bin ich der Mathematik sehr dankbar.

Der kleine Satellit

Im Bus. Der Junge auf dem Sitz vor uns zückt sein Handy, wählt eine Nummer, spricht:

– Ey, nur dass du’s weißt, ich ruf dich nich’ mehr an. Nur dass das klar is’, wie ich’s gestern schon gesagt habe, ich hab dich komplett gestrichen. Von mir kriegst du keinen Anruf mehr.

… … …

Wenn man lange genug in Berlin lebt, hat man sich eigentlich an Sonderlinge gewöhnt. Der Berliner hat reichlich davon, nennt sie meist liebevoll: ein Original und lässt sie ansonsten gewähren.

Was ich mich nur manchmal frage, ist: Was geht in einem Satelliten vor, wenn er solch einen Anruf übermitteln muss?

Da kreist dieser kleine Satellit Tausende von Kilometern über der Erde. Es ist kalt, es ist ungemütlich, es ist stockduster. Es sind beschissene Arbeitsbedingungen. Und dann plötzlich: ein Anruf! Über Tausende von Kilometern kommt dieses Signal zum Satelliten. Der ist natürlich in heller Aufregung: O Gott, o Gott, Menschen wollen miteinander sprechen, meine Schöpfer wollen kommunizieren. Ich muss ihnen helfen, ich darf jetzt nicht versagen. Ein Auftrag, ein Auftrag, über Tausende von Kilometern gereist, ein großer Auftrag. O Gott, o Gott, o Gott, o Gott. Also gut, ganz ruhig. Welche Nummer ruft er denn an? Wo hält sich diese Nummer auf? Ich muss diese Nummer finden, diese Nummer, irgendwo muss diese Nummer sein. Wo ist diese Nummer!!!???

Und dann beginnt er aus dem dunklen, kalten Weltall heraus über Tausende von Kilometern die ganze Welt abzuscannen. In Bombay, in Rio, in Tokio … Wo ist diese Nummer?