Gegen die Finsternis - Lucian Caligo - E-Book

Gegen die Finsternis E-Book

Lucian Caligo

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Beschreibung

In einer Zeit, in der sich die Menschen in Sicherheit wähnen, Geister und Dämonen ins Reich der Mythen verbannt wurden, führen die Mächte des Lichts und der Finsternis im Verborgenen einen erbitterten Krieg. Von diesem wissen jedoch nicht einmal die Dämonenjäger, obwohl sie zur Streitmacht des Lichts gehören. So begehen sie den Fehler, sich bereits als Sieger zu glauben. Dies büßen die Jäger, wie es scheint, mit ihrer nahezu gänzlichen Auslöschung. Nur ein einziger von ihnen überlebt, körperlich schwer gezeichnet. Dennoch ist der Schaden, den seine Seele genommen hat, ungleich höher. In seinem Bestreben, die Jägergilde wieder aufzubauen, wird er selbst zu seinem schlimmsten Feind.

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Zum Buch:

Dieser Text entstand nun fast vor zehn Jahren und war einst als eine Buchreihe gedacht. Jetzt, da ich ihn noch einmal etwas überarbeitet habe, ist die alte Liebe zu den Charakteren neu entflammt. Gerade Elana, Fanoril, Marius und natürlich auch Andinio haben es mir dabei besonders angetan. Ich freue mich darauf sie durch weitere Abenteuer begleiten zu können.

Mehr über die Hintergründe, Fortsetzung und weitere Bücher erfährst du unter www.lucian-caligo.de

Ein Autor über das Schreiben an sich:

Davor wirklich in die Veröffentlichung zu gehen, hat mich vor allem immer die Faulheit zurück gehalten. Vielleicht auch die Angst, meine Geschichten seien so verrückt, dass sie keinem Gefallen. Aber ein Risiko ist immer dabei wenn man dem Ruf seines Herzens folgt. Es bereitet mir jedenfalls eine unglaubliche Freude mir Geschichten auszudenken und dann zu erleben wie die Charaktere langsam ein Eigenleben entwickeln. Ich wünsche mir, dass meine Leser und Leserinnen genau so viel Spaß beim Lesen haben, wie ich beim Schreiben habe.

All jenen, die mir auf dem Exkurs in meine schriftstellerische Vergangenheit folgen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

Epilog

Nachwort

Danksagungen

Prolog

Die Krüge wurden erhoben, Männer und Frauen stießen an auf einen Sieg, der nun bald bevorstehen musste, sie hatten jahrzehntelang hart gekämpft und nun zahlte es sich endlich aus. Die Aktivitäten der Wesen der Finsternis gingen immer weiter zurück, sodass es ihnen mittlerweile schwer fiel, diese aufzuspüren. Nun fanden sich alle Jäger ein, um darüber zu beratschlagen, wie sie die letzten Spuren der Krankheit beseitigen konnten. Die Stimmung konnte man als heiter, ja ausgelassen bezeichnen. Kameraden, die über die Jahre Freunde geworden waren und viel Schreckliches durchgestanden hatten, sahen nun bald einer friedlichen Zeit entgegen.

Eine Explosion erschütterte den Nachmittag und riss das große Fachwerkhaus in Stücke. Kein Stein blieb auf dem anderen und kein Balken in seiner Verankerung. Nur ein einziger Knall und darauf folgte Stille, Totenstille. Alle Tiere in der Umgebung hatten Reißaus genommen. Selbst die Grillen in den Feldern ringsum schwiegen. Dieses Haus, das einst den einzigen Zweck hatte als ein Hauptquartier für die Jäger der Unterwelt zu dienen, gab es nun nicht mehr. Zurück blieb nur ein Feld aus Trümmern. Was es auch immer war, das diese Zerstörung angerichtet hatte, es musste sich weit darunter befunden haben. Denn selbst die Steine des massiven Kellergewölbes lagen nun in der Wiese verteilt.

Und doch gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit regte sich etwas zwischen den Trümmern. Eine Gestalt in zerfetzter Kleidung, verbrannten Haaren und Haut. Der rechte Arm und das rechte Bein waren weggerissen. Aus der rechten Augenhöhle trat rotes Sekret hervor. Die Haut der dazugehörigen Gesichtshälfte war verbrannt und zwischen den schwarzen Hautfetzen traten die Muskeln und Sehnen zum Vorschein, die einst für die Gesichtszüge zuständig gewesen waren. Auch wenn der Mann die Explosion überlebt hatte, erwartete ihn nur noch ein qualvollerer Tod.

Einst war er ein stolzer und erfolgreicher Jäger gewesen, den die Kinder der Finsternis fürchteten, doch nun blieb lediglich ein Schatten seiner Selbst zurück. Im Hauptquartier befanden sich zum Zeitpunkt der Detonation alle seine Mitstreiter, ein Treffen aller Jäger, wie es zuvor noch nie stattgefunden hatte. Sie alle waren dem Anschlag zum Opfer gefallen, vermutlich von den Wesen organisiert, die sie bekämpfen. Mit so einem Attentat hatte keiner gerechnet, denn die Feinde der Jäger konnte man lediglich als geistlose Monster bezeichnen, die nicht im Stande gewesen wären dieses zu planen. Sie hatten sich einfach zu sicher gefühlt, kurz vor ihrem vermeintlich endgültigen Triumph.

Von den Jägern blieb nicht viel mehr als ein roter Dunst, Blut, verspritzte Därme und verkohlte Leichen. Nur Andinio blieb am Leben, um zu bezeugen, was hier geschehen war. Als ihm bewusst wurde, was er hier gerade alles verloren hatte, ballte sich seine verbliebene Hand zur Faust und der Mund öffnete sich zu einem langen Schrei.

Sein einziger Gedanke galt der Rache an denen, die der Gilde das angetan hatten. Dabei vergas er natürlich, dass er nicht ganz unschuldig an der Katastrophe war. Denn schließlich hatten sie die Wesen der Finsternis erst gegen sich aufgebracht. Wäre er daheim geblieben und hätte er das Handwerk des Müllers nicht aufgegeben, wäre er in die Fußstapfen seines Vaters getreten, so wäre ihm viel Schreckliches erspart geblieben. Doch er hatte sich zu sehr den Träumereien von Abenteuern hingegeben, für die einzig und allein Faron verantwortlich war. Dieser hatte damals die Kraft und den Willen des jungen Andinio erkannt und ihn überzeugt, in die Jägergilde einzutreten.

»Mein Junge, jeder Tag wird ein Abenteuer sein«, hatte er ihm versprochen und damit nicht gelogen. Was er dabei jedoch verschwieg, war die Tatsache, dass jedes Abenteuer auch Verluste mit sich brachte, die unsagbar schmerzten und mit nichts aufzuwiegen waren. Nur weil Andinio Jäger geworden war, gerieten seine Eltern und Geschwister in den Krieg, von dem die normale Bevölkerung nichts wusste. Sie alle wurden dessen Opfer. Auch die Frau, die er liebte, fand ihr Ende in diesem Kampf. Schlimmer noch: Er hatte ihren Tod mit ansehen müssen und war dabei völlig machtlos gewesen. Sein ganzes Leben hatte er für die Gilde geopfert und nun blieb er als einziger zurück, um zu erleben, dass dieser Kampf für immer verloren war.

»Nein, so darf es nicht enden«, presste Andinio hervor. Er nahm all seine Kraft zusammen und stemmte den Balken, der über seiner Brust lag, mit dem linken Arm hinfort. Mit der Kraft der Verzweiflung und vom Zorn beseelt, wollte er sich hochstemmen, doch dagegen stand die Tatsache, dass von seinem rechten Arm und dem Bein nicht mehr als verbrannte Stümpfe übrig geblieben waren. Er stürzte zurück in den Schutt. Die ganze Kraft, die ganze Wut und Entschlossenheit würden ihm nicht helfen, sich zu rächen. Er war nicht mehr als ein Fragment des früheren Jägers.

Das Feuer, welches in ihm brannte, verzehrte all seine Energie. Bewusstlos sank Andinio nieder. Sein Lebenslicht flackerte und auf der anderen Seite streckte die Dunkelheit ihre Krallen danach aus. Doch noch sollte sie ihn nicht bekommen. Das Schicksal hatte seine ganz eigenen Pläne.

Normalerweise waren Menschen recht furchtsam. Wenn es irgendwo laut knallte, hörten sie aufmerksam hin, aus welcher Richtung der Laut erklungen war, um dann klammheimlich in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden. Im Gegensatz zu Siljan. Er war von Natur aus neugierig. Seine Neugier nahm solche Ausmaße an, dass der Galgen auf ihn wartete, wenn man herausfand, was er des Nachts auf dem Friedhof so trieb. Davon abgesehen hätte auch die Inquisition eine sadistische Freude bei einer Befragung empfunden - mit der Aussicht, ihn wegen Hexerei zu verbrennen. Denn auch vor allem Okkulten machte er nicht halt.

Rein äußerlich war er nichts Besonderes. Ein mittelgroßer Mann, der wegen seines Handwerks starke Muskeln ausgebildet hatte, seine Haare waren unsauber geschnitten und hingen wild von seinem Kopf. Seine grauen Augen besaßen etwas Durchdringendes, etwas Forschendes, als wolle er die Hintergründe von allem erspähen. Seine Hände hatten auf Grund seiner Arbeit dicke Schwielen. Um seinen Hals hing immer ein Talisman, es war ein einfaches Stück Eisen, das in der Hitze des Feuers seiner Schmiede flüssig geworden war und auf ein Lederband tropfte, das natürlich verbrannte, aber im Eisen blieb ein Loch zurück und als Siljan es beim Reinigen in der Schmiede fand, beschloss er es als Halskette zu tragen. Mittlerweile war er überzeugt, dass ihm dieser Anhänger Glück brachte. Er trug meist nur eine Leinenhose und eine Schürze aus Leder, dazu einfache und gut eingetragene Stiefel.

Wie bereits erwähnt kannte Siljans Neugier keine Grenzen und der Knall einer Explosion war schon genug, um ihn aus fünfhundert Schritt Entfernung anzulocken. Er saß auf dem Kutschbock seines sonderbaren Pferdefuhrwerks, welches auf wundersame Weise auch ohne Zugtiere vorrankam, und näherte sich dem zerstörten Gildenhaus.

Seine Augen suchten den Platz ab. Zwischen den verbrannten Leichen fand sich noch eine Gestalt, die scheinbar atmete. Oder hatte Siljan sich getäuscht?

Er blickte noch genauer hin. Doch, sie atmete aber nur schwach. Einmal mehr wuchs Siljans Respekt vor dem menschlichen Körper. Dass man mit solchen Verletzungen noch lebte, war schier unglaublich. Seit Jahren erforschte er den menschlichen Organismus und das Staunen über die komplexen und robusten Zusammenhänge wurde immer größer.

Schon war der Schmied bei dem Verwundeten angelangt, hob ihn auf und verlud ihn zwischen seine „Arbeitsmaterialien“ auf seinem Fuhrwerk. Was für Siljan Arbeitsmaterialen waren, das war für schwache Gemüter ein Grund, ohnmächtig zu werden. Andere hätten hingegen geschrien, oder sich zumindest übergeben. Der Wagen war mit menschlichen Körpern beladen, teilweise schon in Verwesung begriffen und nicht immer vollständig. Diese dienten Siljan zu Studienzwecken. Doch das neueste Objekt erlangte nun seine ganze Aufmerksamkeit. Welche Möglichkeiten dieser lebendige Körper barg, vermochten sich andere Menschen nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen vorzustellen.

Siljan war kein Unmensch, nur ein Forscher, der dabei bereit war, die Grenzen zu überschreiten, vor denen normale Menschen seiner Zeit in Unwissenheit zurückschreckten.

Es war das Schicksal, welches Andinio diesen Mann schickte, denn es ist gnädig, es erfüllt Wünsche, und in dem Jäger brannte nur noch der eine Wunsch nach Rache. Siljan war für diese Absichten wohl der einzige Mann in der gesamten bekannten Welt, der ihm dazu verhelfen konnte. Doch der Preis würde hoch sein. Von den körperlichen Qualen abgesehen, würde Andinio mit seiner Menschlichkeit bezahlen und zu dem werden, was er eigentlich geschworen hatte zu bekämpfen. Die Menschlichkeit zurückzuerlangen, das sollte seine Passion werden. Ein Weg, den nur er alleine gehen konnte, den er aber alleine niemals finden würde.

I.

»Du musst still halten.« Die Stimme erklang wie in einem Traum.

»…versuch dich zu entspannen.« Wie durch einen dichten Nebel drangen die Worte an sein Ohr.

Die Stimme war sanft und dennoch bestimmend. Ein messerscharfer Schmerz drang durch den Stumpf von Andinios Arm. Er wollte schreien, doch dazu fehlte die Kraft. Nicht mehr als ein schwaches Stöhnen kam über seine Lippen. Als die Pein zunahm, schlug er die Zähne zusammen, die dabei auf etwas Hartes bissen.

Sein Bewusstsein verflüchtigte sich über die unerträglichen Qualen.

Ein feuchter Lappen tupfte über seine Stirn, etwas Erfrischung. Ihm war so heiß.

In der Ferne hörte er, wie etwas zersägt wurde, er konnte es nicht einordnen, es handelte sich jedoch nicht um Holz…

»Ich muss amputieren, damit ich das gesunde Gewebe freilegen kann…« Die letzten Worte gingen in einem nie gekannten Schmerz unter, der Andinio mit aller Gewalt durch den rechten Oberschenkel fuhr. Er wand sich unter Qualen, doch sein linker Arm und Fuß waren festgebunden, sodass er sich nicht wehren konnte. Auch wenn er lieber litt als ohnmächtig zu werden, ersparte ihm sein Bewusstsein diese Pein.

Andinio erwachte abermals und schlug sein verbliebenes Auge auf. Er hatte Schmerzen, doch sie waren zu ertragen. Die Arbeit an seinem Körper schien zu Ende gegangen zu sein. Er blickte sich um, der Raum erschien wie durch einen Nebel, die Dunkelheit wurde durch Fackeln erleuchtet. An den Wänden hingen Sägen, Zangen und weiteres Werkzeug. Er lag auf einem Tisch und zu beiden Seiten befanden sich ebenfalls Tische, auf denen Körper lagen, in denen jedoch kein Leben mehr steckte. Überall waren Blut und andere Körpersäfte verspritzt.

»Gut, du bist wach«, sagte die vertraute Stimme, die ihn durch die Stunden der Pein begleitet hatte. An Andinios Tisch trat ein Mann mit gigantischen Muskeln in einer Lederschürze, die über und über mit Blut besudelt war - Andinios Blut.

»Du hast einen eisernen Willen«, stellte der Mann fest, auch seine Arme und sein Gesicht waren mit Blut verschmiert, was ihm nichts auszumachen schien. »Sonst würdest du nicht mehr Leben. Kaum ein Mensch überlebt solche Verletzungen.«

»Was…«, doch mehr brachte Andinio nicht hervor, er war viel zu schwach und seine Kehle zu ausgetrocknet, um zu sprechen. Er hatte immer noch den schalen Geschmack von Blut und Asche im Mund.

»Warte.« Die Gestalt entfernte sich und kam mit einer Schale Wasser zurück. Wie einem Säugling flößte er dem Jäger die klare Flüssigkeit ein. Es spülte den Dreck aus seinem Mund und gab ihm wieder etwas von seinen Lebensgeistern zurück.

»Ich habe ein Angebot für dich«, teilte ihm der Mann schließlich mit, als er die leere Schale absetzte. »Du bist ein Frack von einem Menschen, doch ich kann dir wiedergeben, was du verloren hast.«

»Wie?«, fragte Andinio geschwächt, wobei er sich mühe gab, seinen Kopf vom Tisch zu heben.

»Das ist kompliziert, noch dazu bist du der Erste, bei dem ich es versuche«, leitete der unheimliche Mann ein, in seinem Ausdruck schwang etwas von kindlicher Begeisterung mit, die er vergeblich zu unterdrücken versuchte. »Es dauert lange und ist vermutlich sehr schmerzvoll.«

Andinio sank auf den hölzernen Tisch zurück. Er hatte nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Dieser Mann, wer er auch sein mochte, hatte ihm vermutlich das Leben gerettet. Doch was für ein Leben sollte das sein? Mit nur einem Arm und einem Bein, und sein Sichtfeld schien ebenfalls eingeschränkt. Jetzt bot er Andinio an, das wiederzuerlangen, was er verloren hatte.

»Wie willst du das tun?«, hakte Andinio nach, die erste Antwort war nicht sehr zufriedenstellend.

»Es dauert zu lange, das zu erklären«, meinte der Fremde ungeduldig. »Ich muss jetzt wissen, ob ich die Stümpfe vernähen, oder ob ich dir einen neuen Arm und ein neues Bein geben soll.«

Für einen Moment dachte Andinio darüber nach, woher wohl die neuen Gliedmaßen kommen sollten. Doch er fühlte bereits wieder, wie ihm die Sinne schwanden, er musste sich entscheiden, jetzt! Er hatte so viel gesehen, dass er es nicht ausschloss, dass ein Wahnsinniger ihm wirklich Arm und Bein wiedergeben konnte.

»Tu es«, brachte Andinio schwach hervor.

»Gute Entscheidung«, freute sich Siljan und schob dem Jäger ein Stück Holz zwischen die Zähne. »Zusammenbeißen!«, befahl er. Doch das hätte er nicht sagen müssen, denn der Schmerz, der nun folgte, brachte Andinio automatisch dazu, die Zähne in das Holz zu schlagen. Und auch diesmal wurde ihm die Gnade der Ohnmacht zuteil.

***

Als er wieder zu sich kam, war Andinio allein. In dem düsteren Keller brannten immer noch die Fackeln, erneut sah der Jäger sich um. Der Raum wirkte wie eine bizarre Folterkammer. Nicht nur Messer und Sägen in allen Größen fanden sich hier, sondern auch Spann- und Streckvorrichtungen. Zu Andinios Überraschung schienen die Leichen auf den Tischen neben ihm vollständig zu sein, zumindest aus seiner Perspektive sah es so aus. Neben ihm befand sich auf einem kleinen Tischchen, das vermutlich als Ablage für die Instrumente diente, die der Wahnsinnige bei seinem Handwerk benutze, etwas zu essen und zu trinken. In einer Schale war brauner Schlick, der wie eine Art Brei anmutete. Das Wasser in dem Holzbecher war jedoch kristallklar. Andinio spürte immer noch das schmerzhafte Pochen in seinen Gliedern. In seinem rechten Arm und Bein hatte es jedoch scheinbar nachgelassen, so dass er nun auch das Brennen in seiner rechten Gesichtshälfte bemerkte. Aber noch etwas anderes spürte er nun deutlich: Hunger. Aus reiner Gewohnheit griff er mit seiner rechten Hand nach der Schale. Es schepperte, als diese zu Boden fiel. Andinio sank mit einem tief sitzenden Schrecken zurück auf den Tisch. Was war das? Was hatte er da gesehen?

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er den Schreck überwunden hatte und den Mut aufbrachte, erneut seinen Arm zu heben. Das war nicht seine Hand, das war überhaupt keine Hand. Es war eine Klaue, gefertigt aus robustem Holz und Metall. Dazwischen spannten sich Seile. Es war eine komplizierte Vorrichtung, die für Andinio keinen Sinn ergab. Abermals wendete er den Blick ab. Was auch immer es war, der Fremde hatte es an seinem Armstumpf befestigt. Sollte das der versprochene Arm sein? Ihm schauderte, als er an sein Bein dachte. Verzweiflung machte sich in Andinio breit. Sollte er ein verdammtes Monster sein, warum hatte er diesem Wahnsinnigen vertraut, welcher Teufel hatte ihn da geritten?

Es verstrich einige Zeit, bis ihm die Erinnerung an die zerstörte Gilde überkam. Sie traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags. In ihm flammte erneut der Wunsch nach Rache auf. So gelang es ihm, genug Mut aufzubringen, sich erneut mit diesem Arm zu beschäftigen.

Langsam wendete er den Blick zu seinem Oberarm, der bis zur Mitte amputiert war. Der fremde Mann hatte eine Stahlstrebe eingesetzt, die vermutlich bis in den Knochen hinein lief. Etliche Seile aus Metall - so nannte sie jedenfalls Andinio, denn diese Art hatte er noch nie gesehen - verliefen an dem Stahl entlang. Man konnte nur ahnen, dass sie an den einzelnen Muskelsträngen befestigt waren. Seine Haut war genäht und um die Metallseile herum geschnürt. Dort, wo die Haut um die Stahlstrebe offenstand, schimmerte es blau unter ihr hervor, so ähnlich, als würde sich Wasser an einer Wand spiegeln. An dem Metallstab war ein Scharnier angesetzt. Die Metallseile liefen in einer komplexen Vorrichtung durch das künstliche Ellenbogengelenk und mündeten in Seile, die über den hölzernen Unterarm liefen, der aus zwei parallelen Holzstangen bestand. An deren Ende war eine komplizierte Greifkonstruktion angebracht, die zwei Finger und einen Daumen besaß. Hand konnte man das nicht nennen, vielmehr war es eine Klaue. Das Entsetzen wich dem Erstaunen. Vergleichbares hatte Andinio noch nie gesehen. Was musste im Kopf des Mannes vorgehen, der sich so etwas ausdachte?

Andinio hob prüfend den Arm. Vorsichtig zog er den Ellenbogen an und streckte ihn wieder aus. Es funktionierte einwandfrei. Es war ein eigenartiges Gefühl, einen Arm zu bewegen, den man nicht spürte. Vorsichtig öffnete Andinio die Klaue und schloss sie wieder. Absolut verblüffend.

Langsam wandte er sich seinem Bein zu, es war von der Mitte des Oberschenkels an amputiert. Auch dort befand sich nun eine Vorrichtung ähnlich der an seinem Arm, nur dass das Ende einen Fuß darstelle.

Noch traute Andinio diesen Konstruktionen nicht, er musste sie prüfen. Würden sie zerbrechen, so kümmerte ihn das nicht, denn wenn sie schon einem ersten Belastungstest nicht standhielten, taugten sie nicht für die Jagd und waren somit nutzlos.

Er schwang sich von dem Tisch auf und musste erst einmal einen Anflug von Schwindel abwarten. Derweil griff er nach dem Wasser, allerdings mit der linken Hand, denn er wollte, dass es auf jeden Fall in seinen Mund lief und sich nicht über den Boden ergoss. Gierig trank er das erfrischende Nass aus. Der Schwindel nahm ab und Andinio rutschte an die Tischkante, dabei setzte er beide Beine auf den Boden. Er spürte wie sein rechtes Bein auf dem Boden aufsetzte, nur drückte sich dies in Form eines stechenden Schmerzes in seinem Oberschenkel aus. Er hob den Fuß vom Boden ab und führte probeweise einige Bewegungen durch. Es funktionierte so tadellos wie bei dem Arm. Doch war das Bein nicht sehr leicht, alle Kraft es zu bewegen musste der Oberschenkel aufbringen.

Andinio wagte die ersten Schritte. Wenn der Gebrauch einer neuen Waffe einfach nur ungewohnt war, so musste man hierfür ein neues Wort erfinden. Was Andinio aber feststellte: Es schien eine Vorrichtung zu geben, die den Unterschenkel anwinkelte, wenn er den Oberschenkel anhob, genau im Verhältnis dazu. Dies machte das Gehen vom Kraftaufwand leichter als erwartet. Ungewohnt blieb es dennoch.

Andinio wankte links herum um den Tisch, damit er sich mit der linken Hand abstützen konnte. Nach und nach gewann er ein Gefühl für das neue Bein und wagte es, damit durch den Raum zu laufen. Zunächst war er noch etwas unsicher und unbeholfen. Doch nach und nach gewann er an Sicherheit. Zwar lief er noch etwas humpelnd, aber das würde sich geben, da war Andinio zuversichtlich. Er näherte sich der Wand und griff mit seinem rechten Arm nach einem der Messer, das dort zwischen anderen Werkzeugen auf einem Arbeitstisch lag. Zunächst verfehlte er es, doch nach wenigen Versuchen gelang es ihm Das Messer zu ergreifen. Der Holzgriff ächzte unter der Kraft der Klaue, die sich darum schloss. Hierin bestand also die Schwierigkeit: die Hand-Augen-Koordination und der richtige Kraftaufwand. Erneut langte er nach einem Messer.

Irgendwann gelang es ihm, genau die Kraft aufzuwenden, die notwendig war, um die Messer zu ergreifen, die Koordination spielte sich von ganz alleine ein. Als er eine Säge aufhob, erschrak er abermals. Das Werkzeug fiel zurück auf die Arbeitsfläche. In dem matt spiegelnden Sägeblatt hatte er einen Dämon gesehen. Andinio drehte sich um, doch er befand sich alleine im Raum, mal abgesehen von den Leichen. Langsam beugte er sich über die Säge. Er schluckte. Der Dämon, den er gesehen hatte, war er selbst. In der Säge konnte er lediglich das verschwommene Abbild seines Gesichts erkennen, doch dies genügte. Seine rechte Gesichtshälfte schimmerte blau, und das Auge stach rot hervor. Prüfend griff er nach seinem Gesicht. Doch er spürte nichts, weder auf seiner Haut, noch in der Hand. Es dauerte eine Weile, bis er sich daran erinnerte, dass er kein Gefühl in der künstlichen Klaue haben konnte. Er tastete mit der linken Hand nach der Gesichtshälfte. Sie war weich und kühl, darunter spürte er die Knochen, doch sein Gesicht blieb ohne jegliche Empfindung.

„Nun, eine Schönheit bist du nicht“, stellte jemand hinter ihm fest. Erschrocken wirbelte Andinio herum. Wäre seine Hand-Augen-Koordination besser gewesen, so wäre der Fremde nun tot. Mit dem Reflex, der dem Jäger schon einige Male das Leben gerettet hatte, griff er nach der Säge, um sie nach dem Fremden zu schleudern. Er führte zwar die Bewegung aus, aber ohne die Säge in seiner Hand.

„Stimmt, wie unhöflich“, meinte der Fremde, ergriff die vom misslungenen Wurf ausgestreckte Klaue und schüttelte sie, die Abwehrbewegung des Jägers bewusst missdeutend. „Ich habe mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Siljan, ich bin ein einfacher Schmied. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Jäger blickte den Schmied verwirrt und gleichzeitig entsetzt an. Wie konnte dieser Mann so gelassen sein?

»Was hast du mit mir gemacht?«, entfuhr es ihm. Er zog den Schmied an sich heran.

»Ich habe dir einen neuen Arm, ein neues Bein, neue Haut und ein neues Auge gegeben, all das, was du verloren hast.« Ungebrochen blickte Siljan den Jäger aus ernsten Augen an.

»Ich sehe aus wie ein Dämon!«, wetterte der Jäger ohne Siljan loszulassen.

»Das ist der Preis, den du dafür zahlen musst«, erwiderte der Schmied ungerührt. »Ich habe deinen Lebenswillen und Tatendrang gespürt. Hätte ich dich nicht behandelt, so wärst du ein Krüppel geblieben und vermutlich an Wundbrand gestorben.«

»Das bedeutet wohl, ich sollte dir dankbar sein?«, blaffte Andinio den Schmied an, und die Krallen seiner künstlichen Hand bohrten sich langsam in dessen Haut.

»Das musst du entscheiden«, erwiderte der Schmied. »Die Arbeit ist der Lohn des Künstlers. Also tu, was du für richtig hältst.« Der Schmied riss sich los. »Aber entscheide dich schnell.«

Das Blut tropfte von Siljans Hand, die Klaue hatte tiefe Schnitte hinterlassen.

Andinio sah zu Boden. »Ja, ich sollte dir vermutlich danken.« Er blickte den Schmied an. »Erklär mir diese Konstruktion, und was ist das in meinem Gesicht und…« Er stockte. Hatte Siljan gerade gesagt, dass er ihm ein neues Auge geschenkt hatte? »Wie ist das mit dem Auge?«, wollte der Jäger verblüfft wissen. Die Konstruktionen der Glieder waren das eine, und sie sprachen für sich, aber wie konnte der Schmied ein Auge ersetzen?

»Langsam, langsam«, grinste Siljan, der sich selbst einen Künstler nannte. »Du solltest dich hinsetzen, denn die Wunden sind noch frisch. Für den Anfang sollte man sie nicht so sehr belasten.«

Andinio folgte. Erst jetzt, als er zum Behandlungstisch schritt, wurde ihm klar, wie sehr sein Bein, oder das was davon übrig war, schmerzte. Er nahm auf dem Holztisch Platz.

»Gut.« Siljan begann damit, seine Werkzeuge wieder aufzuräumen, die Andinio für seine Greifübungen benutzt hatte. »Das mit dem Auge ist nicht so leicht zu erklären. Sagen wir, es ist ein kompliziertes Rezept, zu dem unter anderem seltene Kräuter, Blut und ein paar Beschwörungen gehören«, Siljan deutete damit nur an, was er mit Andinios Körper gemacht hatte. Mehr brauchte der Jäger jedoch nicht zu wissen.

»Und warum ist…«

»Warum dein Gesicht so blau schimmert?«, unterbrach der Schmied und hängte die Säge an einen Haken.

»Ja.«

»Du hast die Haut an deinem Gesicht verloren. Und das Gewebe lag offen. Es wäre ausgetrocknet, wenn man es nicht behandelt hätte.« Mit diesen Worten drehte sich Siljan um. »Ich habe eine Wundheilpaste entwickelt. Als Schmied zieht man sich ständig Verbrennungen zu. Ich fand heraus, welche Kräuter dabei gut helfen.« Er musterte den Jäger, sein Meisterwerk. »Ich verbesserte die Salbe immer mehr und irgendwann fand ich heraus, dass man sie auch als einen Hautersatz verwenden konnte, um das darunterliegende Gewebe zu schützen.«

Andinio fehlten die Worte. Er musste sich eingestehen, auch wenn er alles für möglich hielt, so gehörte dies nicht zu seinem Weltbild und musste erst einmal verarbeitet werden.

Siljan, der noch nie über seine Arbeit offen gesprochen hatte, fuhr begeistert fort: »Du musst wissen, dass ich den menschlichen Körper schon sehr lange studiere. Deine neuen Glieder habe ich mir von der Natur abgeschaut…«

Doch Andinio war schon lange nicht mehr aufnahmefähig, er stierte den Schmied nur an, während dieser sprach.

»Ich muss hier raus«, unterbrach Andinio den Schmied in seinem Redefluss.

»Selbstverständlich«, erwiderte dieser. »Ich helfe dir bei der Treppe.« Er war schon im Begriff, den Jäger zu stützen. Doch Andinio stieß ihn von sich.

»Ich kann das alleine«, bellte er stur und begab sich zu den Stufen, die aus dem Gewölbe führten. Unsicher wie in kleines Kind, das gerade erst laufen gelernt hatte, taumelte Andinio die Stufen empor. Er sprach es nicht aus, doch er war erleichtert darüber, dass Siljan direkt hinter ihm lief, bereit ihn aufzufangen.

Andinio betrat einen Wohnraum, die Tür in den Keller war durch ein Regal verborgen. Dies wunderte ihn nicht: Hätte jemand herausgefunden, was der Schmied unter Tage trieb, so wäre die Strafe dafür nicht auszudenken. Vermutlich würde man alle seine Werkzeuge an ihm selbst ausprobieren. Andinio grinste unwillkürlich bei der Vorstellung. Warum ihn dieser Gedanke erfreute, wusste er nicht. Er verließ den Wohnraum und schritt durch den Hausflur.

»Wenn du nach draußen willst, dann solltest du dich etwas bedeckt halten, du…« Der durchdringende Blick des Jägers brachte Siljan zum Verstummen.

»Ich weiß, danke«, knurrte dieser. Er ergriff einen Mantel von einem Haken an der Tür und hatte seine liebe Not, auf die gewohnte Art in dieses Kleidungsstück zu schlüpfen. Siljan gab ihm etwas Hilfestellung, was Andinios Laune nicht unbedingt verbesserte. Der Schmied schlug ihm noch die Kapuze über den Kopf.

»Danke«, sprach der Jäger, was wie eine Kriegserklärung klang.

Andinio öffnete die Tür und trat ins Freie.

Das Haus lag auf einer kleinen Anhöhe neben einer breiten Straße, die in die nächste Stadt führte. Sie lag gut sichtbar in einem Tal. Hinter dem Haus plätscherte ein Bach, in dem sich ein hölzernes Rad drehte. Andinio erkannte den Klang, seine ganze Kindheit hatte er in einer Wassermühle verbracht. Die Erinnerung an seine Familie schmerzte und schürte den Zorn sowie seinen Rachedurst.

Andinio erkannte die Idylle nicht, die ihn umgab. Die Vögel zwitscherten in einem nahen Wäldchen, die Sonne strahlte an einem blauen Himmel. Auch die frische Luft bemerkte Andinio nicht, selbst als er tief durchatmete. Das Einzige, das ihn bewegte, war Vergeltung. Vergessen hatte er alles, für das er früher gekämpft hatte. Die Schönheit der Welt, die er einst verteidigte, verblasste vor seinen Augen, und seine Seele hüllte sich in Dunkelheit.

»Und nun?«, fragte Siljan hinter dem Jäger.

»Ich muss ganz von vorne anfangen«, antwortete Andinio.

»Wie meinst du das?«, erkundigte sich Siljan.

Der Schmied sollte nun ein Jahr Zeit haben, um herauszufinden, wie Andinio das meinte.

Der Jäger lernte in dieser Zeit, seine künstlichen Glieder zu beherrschen, und Siljan, wie man diese richtig einstellte, so dass diese selbst zum Rennen und Klettern geeignet waren. Andinio entwickelte und modifizierte Waffen, damit er sie auch mit der Klaue handhaben konnte. Siljan war mit Feuer und Eifer dabei. Dass ihm Andinio nichts zahlen konnte, machte sein Forschungsdrang wieder wett.

Zunächst war es für Siljan eine Überraschung, in seinem Kunstwerk einen Dämonenjäger zu treffen, doch die vielen Möglichkeiten, die sich dabei nun boten, sein ganzes gesammeltes Wissen anzuwenden, verleiteten ihn, sich ebenfalls Andinios Racheideen anzuschließen. So tat sich der Abgrund noch weiter auf, um noch eine Seele zu verschlingen.

Nach einem Jahr erreichte sie die Kunde von ungewöhnlichen Vorgängen in Edgenburg. Andinio spürte, dass er soweit war, wieder eine Jägergilde aufzubauen, und die Schilderungen des Reisenden über die Stadt gaben ihm Anlass genug, dort nach dem Rechten zu sehen. Siljan schloss sich ihm an, und zusammen bestiegen sie einen Planwagen voller Ausrüstung, um sich auf die Suche nach geeignetem »Material« zu machen. Denn darin waren sie sich einig, dass sie geeignetes Rohmaterial benötigten, welches sie für ihre Zwecke formen konnten.

Was das anging, dachte Siljan sehr materialistisch. Ein Mensch war zunächst eine seelenlose Maschine, die sich durch die Lebensumstände veränderte, doch er wollte diese Maschine selbst formen, der Wahnsinn des Jägers hatte nun auch in seinem Kopf Heimstatt genommen. Andinio hingegen ließ sich nur von einem Gefühl leiten: Rache, an allen Wesen der Finsternis!

II.

Mit dem Sonnenaufgang erwachte auch das Leben auf dem Marktplatz in der Stadt. Wir befinden uns unweit von Siljans Schmiede. Doch jetzt soll unsere Aufmerksamkeit erst einmal dem Treiben hier gewidmet werden. An jeder Ecke des Marktes boten Händler die unterschiedlichsten Waren an, seien es Lebensmittel oder auch Handwerksware, angefangen von geflochtenen Körben, über Kessel, Werkzeug, bis hin zu manchen Waffen. Zwischen den Ständen liefen die kaufwilligen Menschen herum, die zum großen Teil auch aus dem Umland kamen, um ihre Vorräte wieder aufzustocken, welche im vergangenen Winter zur Neige gegangen waren. Wie überall, wo sich viele Menschen mit Taschen voller Geld aufhielten, fehlte es auch hier nicht an Dieben. Doch diese Diebe sollte man nicht über einen Kamm scheren. Einige stahlen aus Habgier oder Neid, andere hingegen übten diese Kunst aus, um zu überleben. Für den Bestohlenen machte das keinen Unterschied, denn ihnen ging es nur um das eigene Geld, nicht darum zu verstehen, was einen Menschen dazu trieb, sie zu bestehlen. Das Dumme daran ist, dass Menschen die stehlen müssen, darin bei Weitem nicht so geübt sind wie Menschen, die es einfach nur aus Habgier tun. So verloren meist nur die Diebe ihre Hand, die sie am dringendsten brauchten.

Man sehe sich nur diesen hageren kleinen Jungen in zerschlissener schmutziger Kleidung an. Barfuß musste er durch den Schlamm des Marktplatzes laufen. Barfuß hatte er den Winter unter ein paar modrigen Decken in einer Ruine am Stadtrand verbracht. Wie alt der Junge war, konnte man nicht mit Bestimmtheit sagen, denn sein Organismus beschäftigte sich mehr damit, zu überleben als zu wachsen. Ins Auge des Jungen fiel nun ein Stand mit Backwaren, ein einziger Laib Brot würde reichen, ihn über den Tag zu bringen. Er nutzte die Menschenmenge, um sich bis zum Stand zu schleichen. Dann galt es, möglichst unauffällig zu warten, bis der Händler in ein Verkaufsgespräch vertieft war, um dann zuzugreifen. Bisher hatte es das Schicksal immer gut mit dem Jungen gemeint und auch heute sollte ihm seine Gnade zuteilwerden.

Der Junge schnappte sich das Brot und wollte so schnell wie möglich in der Menschenmasse verschwinden. Er wirbelte herum und prallte mit solcher Wucht gegen etwas Hartes, dass er zu Boden fiel. Der Laib Brot landete verräterisch auf seinem Bauch.

»Wo willst du damit hin?«, fragte die harte Stimme eines Wachmanns, an dessen Brustpanzer der kleine Dieb abgeprallt war.

Der Junge rieb sich die Stirn und sah erschrocken zu dem Wächter auf.

»Du wurdest was gefragt!«, wetterte eine andere Stimme hinter dem Jungen, die einem weiteren Wächter gehörte. Der Junge blickte ängstlich zwischen den beiden hin und her. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

»Dieb!«, kreischte der Händler, der die beiden Wachmänner und den Jungen nun bemerkte. Er schob seinen massigen Körper hinter dem Stand hervor und kam auf den Jungen zu. »Na warte, Bürschchen!«

Er packte den Jungen an den Haaren und zerrte ihn auf die Beine, das Brot fiel dabei in den Dreck, dies zeigte deutlich, dass es dem Händler nicht um seine Waren ging, wie viele Menschen hatte er einfach eine sadistische Freude daran, andere Leiden zu sehen, so lange es nicht um ihn selbst ging, oder die Menschen, die er liebte.

»Der Junge muss bestraft werden«, wandte sich der Händler an die Wächter, dabei zog er den Jungen zu sich heran, der vor Schmerz das Gesicht verzerrte und versuchte den Zug an seinen Haaren zu verringern, indem er seine kleinen Hände fest um das Handgelenk des Händlers schloss.

»Junge, du bist alt genug, um zu wissen, dass du etwas Verbotenes getan hast«, belehrte der Wächter vor ihm. »So weißt du auch, was das für dich bedeutet.«

Er packte den rechten Unterarm des Jungen und drückte die Hand auf einen freien Tisch neben dem Stand des Bäckers.

Mittlerweile hatten sich viele Schaulustige eingefunden, um die Bestrafung des Jungen mit anzusehen. Dem Straßenkind brach mittlerweile der Angstschweiß aus. Obwohl er mit aller Kraft an seinen Arm zerrte, saß er fest wie ein Reh in der Falle.

»Ja, zeigt es dem Dieb!«, rief ein Kaufmann, der selbst oft genug Opfer eines Taschendiebs geworden war.

Der Junge musste einsehen, dass er dem festen Griff nicht entkommen konnte und kniff verzweifelt die Augen zu, als der Wächter mit einer kleine Axt ausholte, die er nur mit sich trug, um Diebe zu bestrafen, wie es hier sehr häufig vorkam. Trotz ihrer Schaulust schlugen einige Frauen die Hände vor die Augen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie der Junge seine Hand einbüßte. Umso überraschter waren die Umstehenden, dass statt des dumpfen Lautes und des Gebrülls des Jungen ein metallisches Klirren erklang. Verblüfft sahen alle auf. Jemand hatte sich zwischen den Jungen und den Wächter gestellt und die Axt mit einem Schwert abgefangen, dessen Spitze sich in die Tischplatte bohrte, und die Axt daran herunterglitt, so dass der Arm des Jungen unversehrt blieb. Irritiert sah der Wachmann auf, der noch verwunderter dreinblickte, als er erkannte, wer da vor ihm stand. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Frau. Eine Frau wie man sie nicht oft sah, höchstens als eine Sklavin im Harem eines Fürsten. Doch nun stand sie da. Eine schlanke mittelgroße Frau mit filigranen aber straffen Muskeln, sie hatte rotblonde Haare und grüne durchdringende Augen. Sie besaß ein schmales schönes Gesicht mit ernsthaften Zügen. Gewandet war sie wie eine Sklavin oder Bauchtänzerin. Nur die Schleier fehlten und die knappe Kleidung war mit Metall verstärkt, anstelle von Glöckchen trug sie einen Waffengurt mit vielen unterschiedlichen Messern und einer langen Schwertscheide. Die dazugehörige Waffe trug sie nun blank gezogen in der Hand, um dem Jungen die seine zu erhalten. Ihre Füße steckten in Lederstiefeln, die ihr einen festen Stand gaben und auf ungewöhnliche Art und Weise zum Rest der Erscheinung passten.

Bei Elana handelte es sich um eine Abenteurerin, die als junges Mädchen von den eigenen Eltern an Sklavenhändler verkauft wurde, mit zwölf Jahren erwürgte sie ihren Besitzer, seither schlug sie sich alleine durch. Sie liebte es, ihre Reize offen zur Schau zu stellen und den Männern zu zeigen, was sie niemals bekommen würden. Wenn sie es in ihrer Dreistigkeit doch wagen sollten, sich ihr ungebührlich zu nähern, dann bemerkten sie sehr bald, dass Elana die Waffen nicht nur einfach mit sich führte, sondern dass sie diese auch beherrschte wie keine zweite.

»Seht ihr nicht, dass der Junge nur Hunger hat«, fauchte sie den Wachmann an.

»Wir haben Gesetze, an die wir uns halten müssen«, gab der Wachmann zurück, mehr als diese automatische Antwort brachte er nicht über die Lippen. Noch nie hatte er so etwas Verführerisches und gleichzeitig so Gefährliches gesehen.

»Ihr werdet heute eine Ausnahme machen«, gebot ihm Elana, »Und für den Jungen eine Unterkunft und eine Arbeit suchen.«

Der Wachmann kam langsam wieder zu Sinnen, nicht nur, dass ihn eine Frau vor Publikum bei der Durchführung seiner Pflicht hinderte, jetzt befahl sie ihm sogar noch, was er zu tun und zu lassen hatte.