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Von den Ufern des Elera verschlägt es den Saxonen Barn über das Meer in die Welt der Wikinger. Er sucht einen verschollenen Freund und findet einen alten Feind. Namani, ein Priester des Mondgottes, will späte Rache. Er ist ein früherer Widersacher Helms, des Einsiedlers, der Barn zum Christentum bekehrte. Namani wird durch seine überirdisch und bedrohlich wirkende Erscheinung zu Barns Albtraum. Barns Hund und das Gladius eines Langobarden sind seine Begleiter. Er findet unter den Wikingern Freunde, die ihn durch die unüberwindlich scheinende Natur des Nordens begleiten. Der junge Saxone muss immer wieder kämpfen, für seine Freunde, gegen Dämonen und um seinen Glauben. Barn gerät in die Wirren einer alten Fehde zwischen Fanatikern und muss sich letztlich gegen die Götter wenden. 'Gegen die Götter' ist ein intensiv recherchierter historischer Roman über Glaubensfanatismus. Er führt in die Welt des frühen Mittelalters, in der die Franken ihre Macht bis zu den germanischen Stämmen ausweiten und das Christentum verbreiten. Die Odyssee führt Barn an das Ende der damaligen Welt, durch Kämpfe und zahlreiche Abenteuer.
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Seitenzahl: 553
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Mond dein milder Blick
erhellt der Wanderer Pfad bei Nacht.
Ob über mein Geschick
dein klarer Blick wohl wacht?
Mond, dein Licht ist rein und kühl,
bringt Ruhe allzu wilder Regung,
und manch‘ verworrenes Gefühl
wird offen ruhiger Überlegung.
Wird in deinem Licht, dem fahlen,
nur Hehres überdauern?
Ist Silber nur dein Strahlen?
Was mag im Schatten lauern?
Dein Licht scheint gar so klar;
doch kann es Arges wecken?
Werden Nachtmare dann wahr
mit Finsternis und Schrecken?
Stehen Riesen dunkel auf der Flur,
oder Wacholdersträuchersäulen?
Sind's Wölfe oder Winde nur,
die durch die Nächte heulen?
Gedicht eines Träumers
Karl-Heinz Föste wurde 1958 in Celle geboren, hat nach seinem Abitur am Hölty Gymnasium Jura an der Universität Hamburg studiert und in der Hansestadt als Anwalt und als Jurist bei einer Versicherung gearbeitet.
2014 erschien bei Kösel/Penguin Randomhouse das Buch ´Wenn das Herz nicht mehr Schritt hält´ über das Erleben seiner Herzkrankheit, das er mit fachlichen Beiträgen eines Kardiologen und eines Psychologen geschrieben hat.
Nebenher sind Gedichte, Kurzgeschichten und Glossen erschienen, die der Autor bei Poetry-Slams vorträgt und in gängigen Social Media postet.
Die Gedichte sind bei BoD Books on Demand unter dem Titel `Nichts als schöne Worte` veröffentlicht worden.
Nach dem Umzug zurück nach Celle ist der erste Band einer geplanten Krimireihe entstanden und bei BoD herausgebracht worden. Der Titel ist `Mord sei Dank´.
Ebenfalls als Selfpublisher hat er im Jahr 2024 über BoD den Umweltkrimi ´Der Hadesplan`veröffentlicht.
Am Ende der Welt
Ein Fest am Abend
Totenmond
Ruf der Ferne
Aufbruch
Begegnung am Alba
Freund und Feind
Der Sturm
Die Entführung
Rans Netze
Der Überfall
Langdal
Gefangenschaft
Gegen die Götter
Mondlicht
Der Wind wehte von Norden her. Er kam mit Macht über die Berge der Insel und trieb kalt und schneidend den Schnee vom Strand. Unruhig zerrte er an den beiden Gestalten, raubte ihnen den Atem und ließ ihre Mäntel flattern. Die silbrig grauen Strähnen des älteren der beiden so unterschiedlichen Männer wehten ihm immer wieder in die Augen. Namani, der Priester des Mondgottes, strich sie jedes Mal beiseite und sah ruhig über das dunkle Meer hinweg in Richtung Südwesten. Sein Blick schien auf einen fernen Punkt über dem Horizont gebannt zu sein. Er wartete. Windumtost und bewacht durch Holme, seinen Schatten, den Anführer seiner Männer.
Die Böen trieben Schleier von Schnee und Sand hinaus auf die Wellen. Alles war grau, der Himmel, die Wellen, selbst der Schnee zu ihren Füßen. Sol, die Sonne war bereits dabei, im Meer zu versinken. Sie erhob sich zu dieser Zeit des Jahres selbst zur Mittagszeit kaum mehr über die hohen Felsen der Küste im Süden jenseits der Meerenge. Im allgegenwärtigen Grau war Sol nur zu erahnen und würde es bald schon nicht mehr bis hinauf an den Himmel schaffen. Sol, so wusste der Ältere, schöpfte dann jenseits des Weltenrandes neue Kraft für das Ende des Winters.
Namani wandte nicht einmal den Kopf, als sein Schwurmann ihn ansprach. Der hochgewachsene Krieger stand in gebührendem Abstand hinter ihm. „Herr, wie sollen wir deinen Widersacher finden? Die Späher sind noch immer nicht zurück. Willst du durch Schnee und Eis mit uns, um sein Versteck zu suchen?“
Namanis Blick blieb konzentriert auf den Horizont gerichtet. Der eisige Wind fraß sich durch die Kleidung. Auf den Rentierfellen, die beide Männer um ihre Schultern trugen, den Haaren und den Mützen blieb der Schnee liegen, den der Wind vor sich hertrieb.
„Ist dir kalt?“ Es kam schneidend und klang nicht wie eine Frage.
Der Krieger zuckte unter dem Verweis zusammen. „Ja, Herr, mir ist kalt. Aber ich halte den Wind aus. Ich bin auch bald wieder in meinem Haus und kann mich am Feuer aufwärmen. Doch auf See sieht die Sache anders aus. Ich weiß, was ein Schiff und was unsere Männer aushalten. Dieser Winter tötet Männer und Schiffe.“
„Die Späher kommen trotzdem bald. Dann werden wir genauer wissen, wo er sich verkrochen hat und vor allem, welche Flüsse wir hinauf fahren müssen, um ihn zu holen.“
Der alte Priester dachte an den jungen Christen, über den er einige seiner Männer hatte reden hören. Er lächelte schmallippig bei dem Gedanken, dass ausgerechnet ein Christ ihm den entscheidenden Hinweis gegeben hatte und ungewollt den Weg zu seinem Widersacher wies. Der Mundwinkel verzog sich zu einem gehässigen Grinsen. Dieser Fremde aus dem Süden lebte seit ein paar Wochen auf dem Festland. Wussten die Götter, was ihn in bis an das Ende der Welt getrieben hatte, in dieses Land, jenseits dessen nur noch die Eisriesen lebten. Er sei, so hieß es, aus den weiten Wäldern noch südlich der Länder der Jüten und Angeln gekommen und habe von seinem Glauben und einem Mönch bei den Saxonen südlich des Alba erzählt. Ein Mönch, der sich in den Wäldern nahe einer kleinen Siedlung am Fluss Elera verbarg. Ein Mönch, ein Christ!
Es waren unerwartete, aber umso willkommenere Nachrichten, denn bei diesem Mönch musste es sich um seinen verhassten Feind handeln. Es musste so sein. Der Name, den er gehört hatte, stimmte jedenfalls: Helm, der Beschützer. So viele Christen mit diesem Namen würde es wohl kaum geben. Obwohl die Christen mit ihrem schwachen Gott scheinbar immer zahlreicher wurden. Eine Pest, die sich über Weiber und Schwächlinge ausbreitete. Und durch Mönche.
Namani ballte seine Hände zu Fäusten. Er würde bald wissen, was es mit der Geschichte auf sich hatte. Und dann würde der Beschützer selbst allen Schutz Midgards brauchen. Oder seines Gottes samt seinem angenagelten Sohn, dachte er. Ein hässlicher Zug stahl sich auf seine krustigen Lippen.
Der so zerbrechlich wirkende Mann war kaum größer als ein Halbwüchsiger. Aber das weiße Haar und der lange graue Bart ließen keinen Zweifel an seinem Alter. Das blasse Gewand unter dem schützenden Pelz zeigte jedem, dass er ein Priester des Mondgottes Mani war. Sein Name war bei den Buchtleuten bis hin zur Großen Wik bekannt. Namani, Totenmond. Die Menschen hatten Angst vor ihm, denn es hieß, dass der blasse Zwerg mit der kalten Macht des Mondes im Bunde war. Einer Macht, die selbst Ragnarök, das Verhängnis der Götter, überleben sollte.
Die weiße Gestalt war eins mit dem Schnee. Sie verschmolz mit der unnachgiebigen Kälte seines Blickes zu einer nahezu überirdischen Erscheinung. Anders als bei seinem Begleiter hing kein Schwert am Gürtel, kein Goldschmuck am Hals oder den Handgelenken wies ihn als reichen Händler oder großen Kriegsherrn aus. Trotzdem gab es keinen Zweifel, wer von den beiden Herr und wer Schwurmann war.
Namani wandte sich um und sah dem Anführer seiner Männer ausdruckslos ins Gesicht. „Wenn wir ihn aufgestöbert haben, wird er für all das büßen, was er uns angetan hat, und dann werden die Götter wieder mit uns sein. Mani leuchtet auch in den Winternächten. Er wird uns den Weg weisen, notfalls durch das Dunkel der Langen Nacht.“
Langsam glitt sein Blick hinauf zur blass durch Wolkenlücken schimmernden Scheibe des Mondes, die sich schon im Osten über den Bergen zeigte, ganz so als wenn Mani Sols Untergang nicht abwarten mochte. Namanis Stimme bekam einen beschwörenden Ton. „Mani, steh mir bei! Hilf mir, meine Rache zu vollenden!“ Dann richtete er den Blick wieder auf den Horizont und versank erneut in Schweigen.
Als sich endlich die Konturen eines Segels über den Wellen im schwindenden Licht abzuzeichnen begannen, wandte sich der Priester wortlos zum Gehen. Holme, der Anführer seiner Krieger, sah ungläubig zu dem fernen Schiff hin. Er hatte keinen Zweifel, dass es das Drachenboot ihrer Kundschafter war. Hatte Namani gewusst, dass es an diesem Tage am Horizont auftauchen würde? War einer dieser Raben zurückgekehrt?
Zögernd folgte Holme seinem Herrn durch die Kälte in Richtung des Dorfes, sich immer wieder ungläubig zu dem sich nun klarer abzeichnenden Segel umsehend. Dann wandte er sich dem Dorf zu, wo Rauchfahnen mit dem Wind verwirbelten und von warmen Hütten kündeten, von Feuern, an denen er sich wieder aufwärmen konnte.
Sein Herr jedoch hielt auf den Berg zu, der das Dorf überragte. Dort oben war das Zentrum seiner Macht, dort würde er seine Rache an Helm vollziehen. Genau dort, wo zwei große Kolkraben auf der Odinseiche saßen.
Wer wusste schon, dass Raben sprechen konnten? Jedenfalls konnten sie sagen, was man ihnen beibrachte.
„Träumst du schon wieder? Du musst den Pfahl gerade halten!“ Hrodlufs Stimme klang gereizt. Der riesige Holzhammer lag schwer in den schwieligen Händen und er hatte keine Lust, immer und immer wieder anzusetzen, bis der Pfosten endlich gerade in die Erde geschlagen werden konnte. Er war wütend, denn Barn, sein jüngerer Bruder, war ein verdammter Träumer, der wieder einmal gedankenverloren vor sich hinschaute. „Wenn ich daneben schlage, wird Vater sich freuen, denn dann muss er für dich einspringen. ‚Ein unnützer Esser' wird er schimpfen, wenn Mutter deine Finger verbindet.“
Barn murrte. Er wollte aufbegehren, wütend widersprechen. Barn mochte und achtete seinen Vater. Er würde so etwas niemals sagen. Seine Söhne waren sein Ein und Alles. Barn gab sich einen Ruck. Wortlos richtete er den Pfahl mit beiden Händen einigermaßen gerade aus, so dass sein hitziger Bruder ihn mit dem schweren Hammer in die schlammige Erde rammen konnte. Dumpf hallten die Schläge vom Waldrand wider, gefolgt von schmatzenden Geräuschen, als der Pfahl endlich tief genug in den schwarzen Schlamm einsank.
Hrodluf nickte zufrieden. „Der nächste.“
Barn holte das nächste übermannslange und angespitzte Stück der Erlenstämme, die sie in der Wiese gestapelt hatten. Beide gingen zu der weiteren Markierung für den Zaun. Barn nickte seinem Bruder zu. Er rammte die Spitze des schweren Pfahls mit Wucht in den Boden und richtete ihn senkrecht aus. Hrodluf schwang den Hammer weit über den Kopf und die Arbeit ging weiter.
Die Sonne stand hoch am Himmel und es roch intensiv nach modriger Erde, Gras und den Blumen der angrenzenden Wiese. Und es wurde allmählich heiß. Der Schweiß lief in Strömen an diesem schwülen Tag.
Auch wenn die beiden Männer Brüder waren, konnten sie unterschiedlicher kaum sein. Barn hatte wie sein Bruder dunkelbraunes Haar, das ihm bis zur Schulter reichte. Sein Bart dagegen schimmerte in der Sonne rötlich, fast kupferfarben. Hrodlufs Bart dagegen war schwarz und gab ihm einen finsteren Anstrich. Dazu passte der stets skeptische Blick, der unter den zerzausten Stirnhaaren hervorsah. Beide Männer waren stattlich, wenn auch keine Hünen. Während Barns Bruder verschlossen, ja mürrisch war und auf das Leben nur etwas gab, wenn er gut zu essen hatte, oder in Kellu ein Mädchen kennenlernte, tappte Barn, wie Hrodluf einmal stichelte, auf jeden Fremden zu, unbedarft und ohne Argwohn wie ein junger Hund. Barn war stets neugierig und ließ sich offen auf jedes neue Gesicht ein, während Hrodluf wenig mehr als seine Arbeit, ein voller Bauch und ein warmes Lager in der Nacht interessierte. Ansonsten betrachtete Hrodluf alles und jeden voller Argwohn. Barns braune Augen dagegen leuchteten jedes Mal, wenn er etwas über die Welt jenseits der Wälder erfuhr.
Es wurde heiß an diesem Spätsommertag. In den Wiesen entlang des Elera summte es von Hummeln, Bienen und allerlei Fliegen. Schmetterlinge saßen auf den Blüten. Die beiden Brüder hatten für diese bunte Pracht jedoch keinen Blick, denn Mücken und Pferdebremsen machten ihnen das Arbeiten schwer. Die Arme und Handrücken waren voller Schnitte vom Gras. Die kleinen Wunden waren kaum zu sehen, aber der Schweiß brannte darin. Er tropfte ihnen aus den Haaren. Die Luft flirrte vor Hitze und die Sonne verbrannte ihnen allmählich die Haut. Trotz dieser Glut über dem Gras und den Sumpfblumen sammelte sich immer wieder sumpfiges Wasser um ihre nackten Füße, die einzige Kühle, die der Tag bot. Die Brüder hatten ihre Beinlinge bis zu den Knien hochgekrempelt und die Hemden trotz der sengenden Sonne ausgezogen. Die raue Wolle war nichts für schweißtreibende Schufterei.
Und sie hatten noch immer reichlich Arbeit vor sich. Die restlichen Pfähle mussten in den Boden und dann mit Weidenflechtwerk verbunden werden. Der Pferch für die Schafe sollte rasch fertig werden, möglichst noch bis zum Abend, hatte ihr Vater gesagt. Die Wassermassen der letzten Überschwemmungen des Elera hatten nicht nur ihre Hütte erreicht und den festgestampften Lehmboden aufgeweicht, sondern auch die alten Zäune umgerissen und einige der Balken mit all dem aufwendigen Flechtwerk weggeschwemmt. Seitdem war ihr Vieh ungeschützt. Die Ziegen konnte man anbinden, damit sie beim Haus blieben. Aber ohne den Pferch war es schwer, die Schafe beisammen zu halten und vor Wölfen zu schützen, auch wenn der Hund, den sie seit zwei Jahren hatten, auf sie aufpasste.
Barn wusste, dass es wichtig war, was ihr Vater ihnen aufgetragen hatte, auch, dass sie bis zum Abend damit fertig waren. Er war trotzdem nicht bei der Sache. Seine Blicke und Gedanken glitten über die Wiese hinab zum Bach, der kaum ein paar Steinwürfe entfernt in den Elera mündete. Bachaufwärts, ein Stück weit hinter dem Waldsaum, wohnte Helm. Der alte Mann war so etwas wie sein Mentor geworden. Er lebte als Einsiedler in einer kleinen Kate auf den Sandhügeln, die den breiten Saum der Wiesen entlang des Flusses begrenzten.
Helm war ein Mönch aus dem Süden, der viele aufregende Geschichten zu erzählen wusste. Für Barn war der Alte die einzige Abwechslung in dem eintönigen Alltag eines Bauern, und der junge Recke war ihm allzu oft ein aufmerksamer Zuhörer.
All dies war nicht nur Hrodluf ein Dorn im Auge, sondern auch Barns Eltern. Trotzdem war ihm selten jemand ernstlich böse, denn normalerweise tat er seine Arbeit. Heute jedoch war er besonders abgelenkt und immer wieder in Gedanken versunken, denn am Abend sollte das große Fest stattfinden und er konnte es kaum noch abwarten, bis der Tag sich dem Ende zuneigte.
„Pass doch auf!“, herrschte Hrodluf ihn an. Barn zuckte zusammen. Den nächsten Pfahl hielt er erneut schräg.
„Die Mücken ...“, haspelte er ohne Überzeugung und schlug sich mit der freien Hand demonstrativ auf den Arm.
„Ach was, die Mücken“, unterbrach Hrodluf ihn ungehalten. „Die machen höchstens meine Laune noch schlechter.“
„Dazu brauchst du Mücken?“ Barn sah seinen Bruder mit Unschuldsmiene an und erntete einen strengen Blick. „Ich mach ja schon“, lenkte er schnell ein.
Hrodluf ignorierte Barns Grinsen.
„Wenn wir den Zaun fertig haben, kannst du dich meinetwegen wieder zu Helm verdrücken, falls Vater keine andere Arbeit für dich weiß. Du bist ja schon wieder nicht bei der Sache.“ Hrodluf war nun tatsächlich aufgebracht.
Barn sagte nichts. Er wusste, dass sein Bruder recht hatte. Dabei dachte er gar nicht so sehr an Helm, sondern vor allem an das große Fest. So Vieles ging ihm dieser Tage durch den Kopf. „Nichts für meinen einfachen Bauernverstand“, hatte Hrodluf ihn jedes Mal abgewiegelt, wenn Barn mit ihm darüber sprechen wollte.
Philippus würde auf dem Fest sein, sein Herbstfreund, wie er ihn gern bei sich nannte. Philippus hatte zusammen mit Christianus, dessen älterem Bruder, ein Wisent erlegt. Wahrhaftig ein Wisent. Barn hatte es kaum glauben können, als sein Freund ihm großspurig davon erzählte. Nur einmal hatte er diese mächtigen Tiere beobachten können, von Weitem, als ein paar dieser zotteligen Büffel mit einer kleinen Herde von Wisentkühen und Kälbern den Elera überquerten. Was war das für ein Schauspiel gewesen. Große braune, vor Kraft nur so strotzende Riesen, denen man genauso wenig wie einem Bären in die Quere kommen mochte. Aber die Söhne der Fürsten waren hochgewachsene und kräftige Männer, die etwas von der Jagd verstanden.
Und nun sollte es Wisentbraten geben. Das seltene Jagdglück war der Grund für das Fest an diesem Abend. Es würde allerdings kein Fest unter Frielingen sein. Einfache Bauern hatten selten Anlass zum Feiern. Das Fest wurde vom Fürsten für die Jagdgesellschaft ausgerichtet. Fürst Falc hatte die Jagdgesellschaft in seinem Haus versammelt. Und er war der Vater seines Freundes.
Barn sah hinüber zu den Hügeln hinter der Hütte seines Vaters. Dort oben zwischen den Eichen und Fichten lag das Haus des hohen Herrn. Er entdeckte die Stelle, an der die Mauern des Hauses ein wenig zwischen den Bäumen hindurchschimmerten. Edle aus der Jagdgesellschaft hatten unter den Baumkronen ihre Zelte aufgeschlagen. Andere der hohen Herrschaften hatten ihr Quartier im nahen Kellu genommen.
Was Barn am meisten beschäftigte, war jedoch, dass auch seine eigene Familie bei dem Fest dabei sein würde. Dabei war sein Vater nur ein Bauer, ein Frieling zwar, aber damit unendlich weit unter dem Stand des Vaters von Philippus und Christianus.
Fürst Falc war ein Großer seines Volkes, Herr über viel Land weit südlich des Elera, gut drei Tagesritte entfernt, am Fuß der Tannenberge. Und er war Heerführer der Stämme und damit aller Saxonen, aller Schwertgenossen, wie sie sich nach dem Sax, dem Hiebschwert ihres Volkes nannten. Das Gebiet der Stämme erstreckte sich von den Tannenbergen im Süden bis hin zum Alba-Strom weit nördlich des Elera. Die Ehre, die Barns Familie mit der Einladung zuteilwurde, war alles andere als selbstverständlich. Aber der Fürst und Barns Vater waren vertrauter miteinander geworden, als der hochgestellte Herr sich von seinem bäuerlichen Nachbarn das nahe Umland, den Verlauf des Elera sowie den Weg nach Kellu und die alten Heerwege nach Norden und Richtung Westen zeigen ließ. Diese Dienste waren es wohl, die den Fürsten in den letzten Jahren nach und nach über Standesgrenzen hinwegsehen ließ.
„Vater ist ihm nützlich. Das ist alles“, hatte Hrodluf einmal abschätzig geantwortet, als Barn ihn darauf angesprochen hatte. Aber Barn war sich nicht sicher, ob da nicht doch so etwas wie Freundschaft entstanden war.
Der Fürst kam die letzten Jahre oft mit seinen Söhnen in die Wälder an den Ufern des Elera, des Erlenbaches, wie er in der gemeinen Sprache hieß, wo Barns Vater mit seiner Frau und seinen Söhnen den kleinen umfriedeten Hof mit großen Mühen aufgebaut hatte.
Wie es in Kellu erzählt wurde, hingen die Aufenthalte des Fürsten mit den guten Jagdgründen in den Wäldern des Elera zusammen. Fürst Falc schwärmte angeblich davon, dass es hier mehr Wisente und Elche gab. Barn konnte sich das jedoch nicht vorstellen. Von Helm erfuhr er nach einigem Nachfragen, dass der Fürst um die Einheit der sächsischen Stämme besorgt war. Daher traf er sich hier in der Abgeschiedenheit seines Jagdhauses des Öfteren mit verschiedenen Edlen der Stämme der Saxonen nördlich des Elera.
Es gab tatsächlich viel zu besprechen, wie Helm ihm verraten hatte. Denn die Führer der Stämme hatten sich die letzten Jahre zunehmend über die Franken besorgt gezeigt, ein mächtiges Volk im Westen. Deren König Chlodwig aus dem Geschlecht der Merowinger führte seit langem Kriege. Ging es dabei in den ersten Jahren Chlodwigs‘ Regentschaft noch um die Loslösung der Franken von Rom, so führte der christliche König seine Heere schon wenige Jahre später nach Osten und in den Norden, um die Grenzen seines Reiches weiter auszudehnen. Und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, dass er sich auch für diesen abgelegenen Landstrich interessieren würde. Ein Umstand, der die Führer der Saxonen darüber hinaus beunruhigte, waren die christlichen Priester, die in den letzten Jahren aufgetaucht waren, um von ihrem Gott und dessen Sohn zu erzählen. Diese Gottesmänner bemühten sich, ‚die Seelen der armen Menschen von den verderblichen Göttern der nordischen Völker abzubringen‘, wie sie es nannten. Und um für Chlodwig zu spionieren, wie rasch geargwöhnt wurde. Die sächsischen Fürsten befürchteten daher, dass diesen Männern bald ein fränkisches Heer folgen mochte. Man hatte schnell alle Priester erschlagen, schon weil sie die alten Götter beleidigten. Allein Helm war verschont geblieben, weil er erst später erschien und unter dem Schutz des Fürsten Falc stand. Helm hatte sich bekreuzigt, als er Barn davon erzählte.
Der Treffpunkt der Fürsten am Elera war gut gewählt, weil sich hier alte Heerwege kreuzten, wenn diese auch schon reichlich zugewachsen waren. Und mit Kellu fand sich ein halbwegs befestigter Ort ganz in der Nähe. Außerdem hatte man von dem erhöhten Platz des Jagdhauses einen weiten Blick den Elera hinab in Richtung Westen.
In diesem Jahr nun hatte Falc erneut Oberhäupter der Stämme zu der Jagdgesellschaft in sein großes Haus auf den Hügeln eingeladen.
Der Palas des Fürsten auf den Hügeln oberhalb der Flussniederung war beeindruckend mit seinen gemauerten Wänden, jedenfalls für den Sohn eines einfachen Frieling. Das Haus war groß und es gab dort nicht nur einen Raum, wie Barn bereits selbst sehen durfte. Es gab mehrere abgeteilte Räume, eine Kochstelle, einen großen Raum mit Hockern und einem großen Tisch zum Essen und für Beratungen mit anderen Edlen. Davon abgetrennt fand sich ein Raum nur für die Bettstellen. Es war so ganz anders als die einfache Hütte seiner eigenen Familie unten am Waldrand. Deren Wände bestanden aus unbehauenen Balken und Weidenflechtwerk, das mit getrocknetem Lehm verfugt war. Das Dach dichteten Reetbüschel ab. Der Boden war festgestampfte Erde, die auf dem feuchten Untergrund nahe den sumpfigen Wiesen nie richtig austrocknete. Barns Mutter streute daher alle paar Tage Binsen aus. Mehr Platz als für ein paar Lager aus Stroh und eine Feuerstelle unter dem Windloch im Dach war für die Familie nicht vorhanden.
Die meisten Fürsten hielten sich fern vom einfachen Volk. Auch Falc war wie die anderen Edlen oft unnahbar. Barns Vater gegenüber gab er sich jedoch leutselig und freundlich. Die Einladung zu der Feier hatte Barns Familie aber wohl auch seiner Freundschaft zu Philippus zu verdanken. Von ihm wusste er, dass die Familie des Fürsten im Süden ein sehr viel beeindruckenderes steinernes Haus hatte, eine Feste, wie sein Herbstfreund es nannte. Helm, mit dem er einmal darüber gesprochen hatte, bemerkte dazu mit einem versonnen Lächeln, dass der Fürst es sich wohl nur zur lieben Gewohnheit gemacht hatte, einmal im Jahr seinen Pflichten dort zu entfliehen.
Barn ließ seinen Blick wieder den Waldrand entlang zu der Stelle wandern, wo der Grubenbach aus dem Wald sprudelte. Dort unter den Bäumen hatte Helm seine winzige Kate. Und dort war die ergiebigste Quelle all dessen, was Barn über die Angelegenheiten der großen Herren wusste.
Helm war ein Alamanne. Er gehörte zu einem dieser Völker weit im Süden, die längst dem Reich der Franken einverleibt waren, und er war, anders als die Saxonen, Christ, so wie inzwischen auch Fürst Falc. Philippus‘ Vater schätzte ihn daher sicherlich als Ratgeber, wenn es um die Frage ging, wie sich sein Volk gegen die Franken, die im Westen und Süden bereits an den Grenzen des Sachsenlandes standen, würde verteidigen können.
Helm hatte Barn nicht nur zum Christentum bekehrt, sondern ihm auch viel über das Land erzählt, aus dem er kam. Barn wusste daher, dass die Saxonen in einem noch immer friedlichen Landstrich lebten, was sich jedoch sehr bald ändern konnte. Barn hatte von Helm zudem erfahren, dass der Fürst bei manchen sächsischen Stammesführern im Verdacht stand, mit den Franken gemeinsame Sache zu machen, allein deshalb, weil er Christ war wie die Mehrzahl der Franken, und weil er seinen Söhnen christliche Namen gegeben hatte, Namen, wie sie ebenfalls mehr bei den Franken zu finden waren. Der Fürst aber war in der Vergangenheit zum Heerführer gewählt worden und bemühte sich daher, mit seinen Jagdaufenthalten am Elera zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits beruhigte er damit die Führer seines Volkes im Norden, die ihn argwöhnisch belauerten, indem er sich in seinem Haus am Elera häufig vom nahen Einflussbereich der Franken fernhielt. Andererseits hatte er dabei Gelegenheit, sich mit Helm und mit den Stammesführern aus dem Norden zu beraten und deren Argwohn zu zerstreuen.
Barn hatte von Helm mittlerweile so viel über diese Dinge erfahren, dass er sich die weiteren Zusammenhänge auch mit seinem einfachen Bauernverstand leicht zurechtreimen konnte.
Bisher hatte er nur noch nicht herausbekommen, wieso Helm sich in die Einsamkeit seiner Waldkate in diesem abgelegenen Landstrich zurückgezogen hatte. Vielleicht würde er einiges darüber auf dem Fest aufschnappen. Er ahnte, dass der Anlass der Feier nicht nur das außergewöhnliche Jagdglück war.
Sein Blick ging zu Boden, hin zu dem Morast an seinen Füßen, wo sich dunkles Wasser sammelte.
Ein nicht greifbares Unbehagen plagte ihn neben der Vorfreude, wenn er an den bevorstehenden Abend dachte. Tief im Innern ahnte er, dass sich seine und Philippus‘ Wege bald trennen würden, denn sowohl er als auch sein Freund waren mittlerweile erwachsene Männer und Philippus würde bald Aufgaben als Krieger übernehmen müssen, gänzlich andere Aufgaben als der Sohn eines Bauern. Dann konnte er nicht mehr so häufig mit auf die Jagd an den Elera kommen und Barn sehen. Sie waren nun in einem Alter, wo sich die Unterschiede der Herkunft und des Standes nicht mehr mit Unbekümmertheit übergehen ließen.
Jetzt, da sie älter waren, wurde ihm klar, dass die Unterschiede zwischen ihm und seinem Herbstfreund ihrer Freundschaft immer weniger Platz ließen. Nicht erst seit ihnen Bärte wuchsen, führte Barn das Leben eines Bauern und Philippus das einen Edlen. Aber sie hatten sich immer gut verstanden. Philippus war ein wahrer Hüne geworden, der Barn um eine ganze Handspanne überragte. Bei der Jagd machte ihm kaum jemand etwas vor. In den letzten Jahren hatte er zudem gelernt, mit Schwert, Schild und Lanze umzugehen. Barn dagegen waren kräftige Arme und Schultern aus der täglichen schweren Arbeit beim Bäumefällen, Pflügen und der Ernte erwachsen. Aber er hatte sich auch mit dem Messer, das Philippus ihm geschenkt hatte, einen Bogen geschnitzt, damit geübt und mit einfachen Holzpfeilen schon Hasen erlegt, Niederwild, das nicht von den Edlen beansprucht wurde. Philippus hatte ihm darüber hinaus gezeigt, wie man mit dem Ger umging, einem Wurfspieß, den man sowohl bei der Jagd als auch im Kampf zu Felde gebrauchte.
Barns Freundschaft mit Philippus und nicht zuletzt Helms Geschichten hatten in ihm Träume geweckt. Und sie hatten in ihm den Wunsch geschürt, mehr von der Welt zu sehen, als nur die Wälder und Wiesen seiner Heimat. Seine weitesten Reisen bisher waren nur die gelegentlichen Ausflüge nach Kellu, um dort ein Lamm oder ein Huhn gegen ein paar seltene Eisenwerkzeuge einzutauschen. Die Fischer dort bekamen solch wertvolle Dinge regelmäßig von Händlern, die den Elera bis zum Westlichen Strom hinab befuhren und dort mit den Chauken Handel trieben.
Hätte Barn nichts von der Welt jenseits von Kellu gewusst, wäre ihm sein Leben genug gewesen. So aber träumte er davon, einmal richtige Städte, das Meer oder gar Berge zu sehen. Allerdings war ihm klar, auch ohne dass Hrodluf ihn laufend auf den Boden der Tatsachen brachte, dass dies immer ein Traum bleiben würde.
Heute Abend jedoch wollte er Edle sehen, Menschen, die die Welt kannten, die bunte Gewänder trugen, sich mit kostbaren Dingen behängten, Frauen, die ihre Haare flochten und kunstvoll aufsteckten, und Männer, die ihre Bärte stutzten, oder gar nach Art der Franken schoren. Er war daher sehr aufgeregt und voller Erwartung auf das Fest.
All dies ging ihm durch den Kopf.
Wieder zurück in der Wirklichkeit fragte er Hrodluf: „Bist du kein bisschen aufgeregt wegen heute Abend?“
„Ach, weißt du Kleiner“, entgegnete sein Bruder. „Das Fest wird ganz sicher aufregend, aber viel mehr als zuschauen werden wir schon nicht dürfen. Mutter wird beim Kochen helfen, Vater wird etwas Met eingeschenkt bekommen und wir dürfen froh sein, wenn wir vom Wisentbraten ein paar Fleischstreifen abbekommen. Fürst Falc, Philippus und Christianus werden so mit ihren hohen Gästen beschäftigt sein, dass niemand Zeit übrig hat. Geduldete Zaungäste, verstehst du?“
In Barn regte sich Empörung. „Das glaube ich nicht. Philippus ist seit langem mein Freund! Und nenn' mich gefälligst nicht immer ‚Kleiner‘!“
Er hasste dieses 'Kleiner' und andere geringschätzige Beinamen. Mal ums Mal ärgerte er sich darüber, dass ihn sein Bruder nicht für voll nahm, und bemerkte dabei gar nicht, dass er ihn nur deshalb damit aufzog. Er würde es ihnen allen irgendwann einmal zeigen. Das hatte er sich fest vorgenommen. Irgendwann einmal.
Hrodluf lachte nur und sagte nichts weiter. Die beiden Brüder beendeten schweigend die letzten Handgriffe.
Barn hatte vor, noch einmal mit Helm darüber zu sprechen, was ihn auf dem Fest erwartete.
Als die Schäden am Zaun endlich behoben waren, sammelten die Brüder ihr Werkzeug ein und gingen zurück zum Haus.
Born trottete ihnen schwanzwedelnd entgegen, Barns Hund und bester Freund. Born war ebenfalls ein Geschenk von Philippus. Sein Vater war zunächst dagegen gewesen, den Hund zu nehmen. „Der frisst uns noch ärmer, als wir ohnehin schon sind“, waren seine ständigen Vorbehalte gewesen. Aber ein Geschenk der Fürstenfamilie mochte er am Ende nicht abschlagen. Nachdem der Fuchs schließlich weniger Hühner holte und sogar die Wölfe in harten Wintern dem Hof nicht mehr zu nahe kamen, waren diese Vorhaltungen verstummt. Nicht lange darauf war Born ein festes Mitglied der Familie geworden. Und so geschah es nicht selten, wie auch an diesem Tage, dass Barns Vater Born nach Kellu mitnahm. Er fühlte sich in Borns Gegenwart einfach sicherer, wie er in letzter Zeit immer wieder lächelnd betonte. Barn wusste aber, dass sein Vater ebenfalls gern mit Born herumtollte und es liebte, für ihn Stöcke zu werfen, die Born dann begeistert zurückbrachte. Aber das hätte er vor seinen Söhnen nie zugegeben.
Born sprang an seinem Herrn hoch, Barn aber war müde und kraulte dem großen schwarzen Hund nur kurz den Hals. Er wollte seinen Vater bitten, die Arbeit für einen Besuch bei Helm beenden zu dürfen. Normalerweise war dies nicht weiter der Rede wert, im Spätsommer und Herbst jedoch, wo es mit der Ernte viel Arbeit gab und es galt, im Wald Pilze, Beeren und Holzvorräte für den Winter zu sammeln, wollte er nicht ohne das Einverständnis seines Vaters gehen. Der hatte in Kellu ein gutes Tauschgeschäft gemacht und war bester Laune. Er ließ seinen jüngsten Sohn daher mit großmütiger Geste gehen.
Barn lächelte und rannte bald darauf mit seinem Hund den Pfad am nahe gelegenen Grubenbach entlang in den Wald hinein. Der Pfad wand sich zunächst unter Birken hindurch und führte dann zwischen Kiefern zu einer Geröllfurt. Er genoss die Kühle unter den Bäumen. Die Ufer des Baches waren hier von vielen Erlen umsäumt und das Wasser staute sich an der Barriere von kleineren Findlingen, die stellenweise aus dem Wasser herausragten und ein Überqueren des Baches trockenen Fußes erlaubten. Während Barn geschickt von Stein zu Stein sprang, nahm sein Hund die Gelegenheit wahr, Enten zu jagen, die sich auf dem aufgestauten Bach fanden. Aber so stürmisch er auch in die Fluten sprang, die Enten waren jedes Mal schneller. Barn grinste breit, weil sich diese Prozedur bei jedem Besuch Helms wiederholte. Und jedes Mal waren die Enten schneller als sein Hund. Er nutzte die Kühle am Bach, ließ sich auf einem flachen Stein auf die Knie nieder und wusch sich Kopf und Arme. Er ließ das klare und ziemlich kalte Wasser seine brennenden Muskeln kühlen, schöpfte ein paar Schluck mit der hohlen Hand und zog sich das Hemd über. Dann rief er seinen Hund, der seine Jagd nur widerwillig beendete. Barn lächelte, als Born widerwillig von den Enten abließ und den Kopf immer wieder zu den Wasservögeln umwandte.
Auf einem Sandhügel zwischen dem Ufer des Baches und einer weiten Eichenlichtung, kaum einen Steinwurf bachaufwärts, lag Helms Kate. Gäbe es nicht den schmalen Pfad am Bach entlang, es wäre wohl niemand auf die Einsiedelei gestoßen, wenn er sie nicht gesucht hätte. Helms Hütte war, wie auch das Haus des Fürsten, die einzige Behausung weit und breit, deren Dach nicht von zwei gekreuzten Pferdeköpfen geziert wurde, um Donar, den Gott des Donners, milde zu stimmen, der mit seinem Pferdewagen über die Wolken jagte und nur diejenigen Häuser mit seinen Blitzen verschonte, deren Herren ihre Pferdeliebe durch eben jene hölzernen Pferdeköpfe weit sichtbar zeigten. Barn glaubte ebenso wie Helm nicht mehr an die alten Götter. Helm hatte ihn zum wahren Glauben an den einen Gott und dessen Sohn Jesus bekehrt und ihm viele wundersame Geschichten erzählt. Wie viel schöner war es, an einen Gott der Vergebung zu glauben, als an all die vielen rauen Götter seines Volkes, wie diesen launischen Donar. Wieder fragte Barn sich, wie schon so oft, warum Helm die Einsamkeit suchte. Dabei war es gar nicht so selten, dass Menschen in den Wäldern lebten, die den Kontakt zu anderen scheuten. Da waren vor allem die Haggasan, Frauen, die viel von Kräutern und von der Heilkunde verstanden. Sie wurden aufgesucht, wenn Kranken nicht mehr weitergeholfen werden konnte. Haggasan, 'die auf der Hecke sitzen'. Der Name war Sinnbild dafür, dass sie teils wie Menschen in einer Umfriedung, teils wie Tiere im Wald lebten. Vielen waren die weisen Frauen unheimlich und manchen gar verhasst, wenn sie junge Mädchen mit in den Wald nahmen, um sie das alte Wissen zu lehren.
Helm seinerseits hatte seinem jungen Freund erklärt, er könne sich nur in der Einsamkeit ganz seinem Glauben widmen. Er habe sich, wie er gern erzählte, zunächst bemüht, den Christenglauben in die Welt hinaus zu tragen, zu missionieren, wie er es nannte. Nach vielen Fahrten durch die Lande und zu fremden Völkern war er jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht gut sei, anderen Menschen den eigenen Glauben aufzuzwingen. Schließlich habe er sich in diesem friedlichen Teil der Welt niedergelassen, um hier Gott in der Stille zu dienen.
Sein Mentor erwartete Barn schon am Eingang der Kate, denn durch das aufgeregte Geschnatter der Enten, das Born mit seiner Jagd jedes Mal entfachte, wusste der Alte immer schon vorher, wer ihn besuchen kam. Und er freute sich in der Einsamkeit auf die Besuche seines jungen Freundes und Schülers. Die beiden so ungleichen Männer umarmten sich und auch Born begrüßte Helm, indem er an ihm hochsprang und den alten Mann fast umwarf. Barn hielt seinen Hund zurück, weil er wusste, dass Helm Borns Ungestüm nicht ausstehen konnte. Helm gab vor, er habe keine Lust, seine alte, abgetragene Kutte immer wieder neu flicken zu müssen. Barn wusste indes, dass Helm vor Borns mächtiger, schwarzer Gestalt noch immer großen Respekt hatte. Der Gedanke, dass jemand vor diesem harmlosen und verspielten Hund Angst haben könnte, amüsierte Barn, er ließ sich seinem Freund gegenüber jedoch nichts anmerken.
„Was führt dich zu mir?“, war wie immer Helms erste Frage und wie immer ärgerte sich Barn ein wenig darüber.
„Muss ich denn einen Grund haben?“, fragte er gereizt zurück.
„Musst du nicht.“ Helm lächelte mild. „Ich sehe es dir aber an, dass dich etwas beschäftigt. Du hast schon den ganzen Weg hier herauf nur auf deine Zehen geschaut.“ Helm hatte Barn auf dem falschen Fuß erwischt.
„Na und? Seit wann ist es denn etwas Besonderes, sich über die Dinge Gedanken zu machen? Ist es etwa besser, sich wie Hrodluf, über alles nur lustig zu machen?“
„Herr im Himmel! Da scheint dir ja jemand einen dicken Brocken zu schlucken gegeben zu haben. Hat es mit dem Fest heute Abend zu tun?“ Helm spitzte amüsiert den Mund. Barn wunderte sich immer wieder, wie problemlos Helm seine Gedanken las.
„Hrodluf hat gesagt, wir würden auf dem Fest nicht mehr als geduldete Zaungäste sein. Aber ich bin doch Philippus‘ Freund.“
Helms Lächeln wich einem ernsten Gesichtsausdruck. Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn und suchte nach den richtigen Worten. „Sicher bist du das. Aber Hrodluf hat nicht ganz unrecht. Pass einmal auf!“
Helm setzte sich vor seiner Kate in den warmen Sand und bedeutete Barn mit einer Geste, es ihm gleich zu tun. „Als ihr Kinder wart, passtest du in Philippus‘ Welt, weil Standesgrenzen noch nicht zwischen euch standen. Nun da ihr erwachsen seid, hat Philippus sich jedoch um die Belange der Edlen zu kümmern und auch heute Abend wird kaum einer der hohen Herrschaften Verständnis für ihn aufbringen, wenn er seine Gäste zugunsten eines Frielings vernachlässigt.“ Er hielt kurz inne und sah, dass Barn noch nicht überzeugt war. „Die anderen Edlen sind nicht wie der Fürst und seine Söhne. Die hohen Herrschaften haben für arme Bauern, für Frielinge und Unfreie nicht mehr als geringschätzige Blicke übrig. Sei also nicht enttäuscht, wenn Philippus nicht wie sonst bei dir sitzen und von der Jagd erzählen wird.“
Barn nickte zögernd. Er wusste dies alles. Trotzdem regte sich Widerspruch in ihm. Einen Moment lang sah es so aus, als wenn er ansetzte, etwas zu sagen. Dann schaute er nur wieder grimmig auf seine Füße.
Helm verstand den jungen Freund und ließ ihn in Ruhe. Er wusste, dass es für Barn nicht leicht war, mit dem Leben der großen Leute konfrontiert worden zu sein und nun mit der Erkenntnis fertig zu werden, ein Bauer bleiben zu müssen. Aus diesem Zwiespalt musste eine tiefe Enttäuschung erwachsen. Der Umgang mit der Familie des Fürsten hatte manch unerfüllbare Sehnsucht geweckt. Nun kam die Zeit, wo diese Sehnsüchte enttäuscht wurden. Helms Geschichten würden auf Dauer nur einen schwachen Ersatz bieten können.
Unterdessen war Barn aufgestanden und wandte sich zum Gehen. Helm legte ihm die Hand auf die Schulter. „Sei nicht traurig! Ich werde heute Abend auch da sein.“
Barn sah ihn erstaunt an. „Du?“, brachte er nur heraus.
„Ja, ich. Du weißt, dass der Fürst Christ ist. Da gilt auch ein armer Mönch nicht wenig. Aber ich werde wohl die bessere Kutte herausholen müssen. Und nun geh' erst einmal nach Hause!“
Als der Abend endlich kam, war die Enttäuschung der alten Neugier gewichen. Nach und nach kamen die hohen Gäste aus Kellu, oder verließen ihre Zelte, die ringsumher standen. Und all die herausgeputzten Menschen waren für Barns Augen prächtig anzusehen. Er war so überwältigt davon, all die hohen Herrschaften anzuschauen, dass von seinem Missmut schließlich nichts mehr zu bemerken war.
Er sah schöne Frauen, die Kleider aus feinem Leinen trugen, deren Säume gefärbt und mit bunten Mustern verziert waren. Er war so sehr damit beschäftigt, nur zu starren und zu staunen, dass er gar nicht mitbekam, dass sich niemand - auch Philippus nicht - um ihn kümmerte.
„Das ist ein anderer Anblick als die Keltenmädchen in Kellu, nicht wahr?“ Barn hatte Hrodluf nicht bemerkt, der neben ihn trat und ihm ein Stück vom gebratenen Wisent reichte. „Sieh nur, wie sie ihre Haare geflochten haben. Hast du schon bemerkt, wie angenehm sie riechen?“
Barn saß der Schalk genauso wie seinem Bruder im Nacken. Er stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen und grinste. „Halt' dich zurück! Die hohen Damen haben feine Nasen. Oder hast du dich heute ausnahmahmsweise gewaschen?“
In diesem Augenblick bemerkte er, wie ihn eine der jungen Frauen anschaute und kurz lächelte. Blaue Augen blitzten unter schwarzen Haaren hervor. Mehr sah er kaum. Die Hitze stieg ihm in die Wangen und sein Herz pochte mit einem Mal so wild, als wäre er den Berg heraufgerannt. Er sah irritiert beiseite und suchte dieses Lächeln in der Menge wieder, ohne es erneut zu finden.
Stattdessen sah er Helm mit dem Fürsten sprechen. Beide sahen zu ihm herüber und lächelten. Helm trug eine schlichte dunkelbraune Kutte aus gutem Leinen. Fürst Falc dagegen war weitaus prächtiger gewandet. Über einem schwarzen ledernen Wams prangten goldene Ketten. Auch die Beinlinge waren aus Leder und endeten in festen Stiefeln. Um die Schultern trug er einen hellen Umhang aus festem Leinen, der vor dem Hals mit einer Fibel gehalten wurde, die ebenfalls golden schimmerte. Der Fürst verabschiedete Helm mit einem kurzen Nicken und wandte sich anderen Gästen zu.
Helm schlenderte auf seinen jungen Freund zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Mit der anderen klemmte er ein Stück Stoff seiner dunkelbraunen Kutte aus gutem Leinen vor seinen Daumen und bemerkte wie beiläufig: „Daran sieht man, dass auch ich schon bessere Zeiten gesehen habe, nicht wahr?“ Er legte ein wissendes Lächeln auf. „Übrigens ich habe gerade von unserem Gastgeber erfahren, dass es heute Abend noch eine Überraschung geben soll. Du wirst staunen! Heh', du hörst mir ja gar nicht zu!“
Er folgte Barns geistesabwesendem Blick und sah eine junge Edle mit schwarzem Haar und blauen Augen in einem dunkelroten Leinenkleid.
„Herr im Himmel, nicht auch noch das“, hörte Barn ihn undeutlich murmeln.
Wenig später, nachdem Barns Mutter seinen Vater nach Hause brachte, der schon vom Met benebelt war, stieg der Fürst auf einen kniehohen Findling und bat die Gesellschaft um Ruhe. Er wartete, bis alle verstummt waren. Dann erhob er die Stimme. „Soeben habe ich etwas erfahren, das nicht nur meine Söhne, sondern auch manch anderen jungen Edlen auf dieser Feier interessieren wird. Merkwürdige Kunde in der Tat, aber eine sehr interessante Neuigkeit.“ Er schmunzelte und hielt kurz inne. Barn bemerkte, dass Fürst Falc schon einige graue Haare hatte, aber, anders als bei seinen Eltern, fast noch alle Zähne zwischen den Lippen schimmerten. „Unser hoch geschätzter Fürst Marke, mein alter Freund, der sich bereits vor mir als Herzog unserer Stämme einen Namen gemacht hat, bat mich, bekannt zu geben, dass er seine heiratsfähige Tochter in guten Händen sehen will. Eigenwillig wie sie ist, will sie aber nur den heiraten, der sich für unsere Stämme hohe Verdienste erworben hat.“
Kurz hörte man hier und da Lachen. Aber als sich bei den Gästen die Erkenntnis durchsetzte, was da gerade verkündet wurde, ging ein Raunen durch die Menge. Alle redeten wie wild durcheinander. Barn fing Gesprächsfetzen auf, die für ihn aber keinen Sinn ergaben. Von einer der Frauen hörte er: „Endlich, alt genug ist sie ja wohl, oder?“ Ein anderer betagter Edler, ganz sicher auch ein Stammesführer, der ähnlich prachtvoll gekleidet war wie Fürst Falc, murmelte: „Was ist das nun wieder für eine Torheit von Markes Tochter?“
Es war offenbar eine aufwühlende Nachricht für die versammelten Edlen. Fürst Markes Tochter sollte verheiratet werden, die Tochter des mächtigsten Mannes im Land der Stämme nördlich des Elera. Aber was war das für eine eigenartige Idee mit den Verdiensten? Er hatte ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt, in denen es um die Franken ging. Ein paar Edle meinten, dass sie nun weiter im Norden Krieg führen wollten. Andere hielten dagegen, dass Chlothar, der Frankenkönig noch ein Kind sei und Fredegunde, seine Mutter, die nächsten Jahre Friede halten werde.
Plötzlich stand Philippus neben Barn. Sein Herbstfreund war herausgeputzt wie ein Krieger. Er trug ebenfalls ein dunkles Lederwams, das von den Oberarmen bis über die Schultern mit sich überlappenden Lederstücken vernäht war. An den Stiefeln steckten in engen Lederschlaufen Eisenstücke vor den Schienbeinen. Das blonde Haar trug er kurz und sein Bart war offenbar frisch abgeschabt worden. Barn sah ihn neugierig an, denn er bemerkte, dass Philippus ihm etwas sagen wollte.
„Ich muss mich wohl bei dir entschuldigen. Aber all die Leute lassen einem keine Zeit.“
Barn winkte ab. „Lass nur! Helm hat mir erklärt, dass du Pflichten hast und unsere Wege sich von nun an trennen müssen.“
Philippus lächelte. „Ja, aber anders als du vielleicht denkst. Ich werde nämlich schon morgen losreiten in Richtung Norden. Das ist Markes Auftrag. Mein Vater will mich mit dieser Tochter des Herzogs verkuppeln. Aber ich will Abenteuer erleben. Ich bin zum Krieger ausgebildet und als Christ erzogen worden. Bevor ich jetzt einen Hausstand gründe und mich an eine Frau binde, will ich hinaus in die Welt.“
Barn amüsierte sich über seinen Freund. Er stieß ihn in die Seite. „Wahrscheinlich ist sie schon alt und ohne Zähne, mit einem Triefauge und verfilztem grauen Haar, wenn er sie bisher nicht verheiratet bekommen hat. Heiratsfähig.“ Er grinste. „Wer weiß, wie lange schon.“
Philippus jedoch schien keinen Spaß zu verstehen. „Nein, alt ist sie nicht. Und hässlich schon gar nicht Aber ich werde Helms Spuren folgen, nach Norden. Vielleicht“, er lächelte aufgekratzt, „kann ich ihr ja danach vom Nordlicht erzählen.“
„Vom Nordlicht? Ist es das, was sie will? Möglicherweise ist sie nicht ganz richtig im Kopf.“ Barn hatte schon von diesen riesigen farbigen Himmelslichtern gehört, nicht zuletzt von Helm, der sie als überwältigendes Wunder beschrieben hatte.
„Ich weiß auch nicht, was der alte Herzog der nördlichen Stämme mit diesem Auftrag bezwecken will. Denn ohne Zweifel ist es seine Idee. Vielleicht eine Prüfung. Möglicherweise hat ihm aber auch Helm mit seinen Geschichten solche Flausen in den Kopf gesetzt. Ich schätze, mein Vater wird des Rätsels Lösung kennen. Ich denke mir, Marke will wissen, wie es jenseits des Alba aussieht. Wenn sich unser Volk mit den Franken anlegen muss, dann wird es gut sein, zu wissen, ob nicht von Norden her eine andere Bedrohung lauert. Vielleicht gibt es dort aber auch Verbündete. Wer weiß?“
„Wenn Helm ihm Flausen in den Kopf gesetzt hat, dann kann seine Tochter ja gleich unseren alten Freund heiraten“, antwortete Barn grinsend. „Jedenfalls wird er ihr vom Nordlicht erzählen können.“
Der alte Mönch stand nur etwas abseits und hatte schon eine ganze Zeit mit dem ihm eigenen milden Lächeln zugehört.
„Euer Vertrauen in mein Wissen ehrt mich, aber das Rätsel des Nordlichts kenne ich nicht. Ich habe es einmal nächtens gesehen, als ich nördlich des Albastromes war, um unseren Glauben zu lehren. Von den Buchtleuten weit aus dem Norden weiß ich auch, dass man dieses großartige Licht öfters am Himmel entdecken kann. Es nur zu sehen, ist schon die Fahrt wert. Aber dafür müsste der junge Recke bis ans Ende der Welt fahren. Jedenfalls der Welt wie wir sie kennen. Und worin das Verdienst für die Saxonen liegt, ist mir auch noch nicht klar. Mag sein, dass die Frankenheere der Grund sind.“
Einen Moment lang hielt Helm bedeutungsvoll inne, so als wenn er eigenen Erinnerungen nachhing. Dann straffte er sich, wedelte die Gedanken mit einer Geste beiseite und schaute Barn an.
Wieder einmal schien nur ein Blick zu genügen, um die Gedanken seines jungen Freundes zu erforschen. Ein kurzes Funkeln trat in Helms Augen. Dieses Mal konnte auch Barn die Gedanken von Helm mühelos lesen, ohne dass dieser es aussprechen musste: „Vergiss es!“, hieß es. „Daraus wird nichts.“
Tatsächlich leuchteten Barns Augen. Er war schon Feuer und Flamme bei dem Gedanken, Philippus begleiten zu können. War dies nicht die Gelegenheit, einmal aus den Wäldern herauszukommen? Für einen Moment schien Barn über seinen Eifer sogar die unbekannte junge Edelfrau vergessen zu haben.
In diesem Augenblick stieß ihn Philippus an. „Da. Das ist sie, deine Vettel mit dem Triefauge und dem verfilzten grauen Haar.“ Sein Freund deutete auf eine junge Frau in einem roten Kleid mit dunklen Haaren und blauen Augen.
Die Farbe wich aus Barns Wangen. „Das ist die Tochter des alten Herzogs?“
Ehe Barn auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, bemerkte Helm seinen aufgeregten Gesichtsausdruck und nahm ihn beiseite. Eilig, bevor er sich mit einer törichten Bemerkung Philippus gegenüber verraten konnte. Mit hartem Griff hielt er seinen Oberarm.
„Du stehst im Begriff, zwei Fehler auf einmal zu machen“, zischte er ihm zu. „Zunächst einmal: Schlag dir das Mädchen aus dem Kopf!“
Schon diese erste Bemerkung ernüchterte Barn zutiefst. Er wollte sich aus Helms Griff winden, der ihn aber mit erstaunlicher Kraft festhielt.
„Welches Mädchen?“, konnte er sich nicht verkneifen, trotzig zu fragen. Helm überging es mit einer wegwerfenden Geste.
„Das zweite ist, dass du dir unnötige Hoffnungen auf eine Reise in fremde Länder machst. Je eher du dich mit deiner Welt hier am Elera abfindest, desto besser.“ Weniger streng fuhr er fort. „Außerdem, glaubst du denn, Philippus würde dich mitnehmen? Einen Frieling?“, fügte er mit kaltem Lächeln hinzu. Es klang wie eine hartherzige Herabwürdigung. In Wahrheit wollte Helm ihn damit nur weiter ernüchtern. Barn funkelte ihn jedoch wütend an, so dass Philippus nun fragend zu ihnen hinüber sah.
„Zu guter Letzt“, fuhr der Mönch fort, als Barn heftig aufbegehren wollte. „Was glaubst du, was dich auf dieser Reise erwartet? Du hast kein Pferd. Willst du hinter Philippus‘ Reitern hinterherlaufen? Du hast keine Waffen. Willst du Strauchdieben und Wölfen mit deinem Bogen den Schneid abkaufen?“
Helm bemerkte, wie Barn bei jedem Wort mehr in sich zusammensank und es tat ihm leid, wie harsch er Barn aus seinen Träumen gerissen hatte. Versöhnlicher fuhr er fort: „Denk nicht, dass ich dich nicht verstehen kann. Im Gegenteil! Ich habe für meine Träume schon so viel Lehrgeld gezahlt. Nicht überall ist es so ruhig, wie in eurem Land zwischen dem Albastrom und dem Tannengebirge. Im Westen und Süden stehen die Franken und niemand weiß, ob und wann sich ihr Merowingerkönig auch noch diesen Landstrich einverleiben wird. Und auch im Norden, wo es dich offenbar hinzieht, jenseits des Albastromes rühren sich die Buchtleute, Wikinger, wie sie sich nennen.“ Ein harter Zug stahl sich in Helms Mundwinkel.
„Was weißt du von den Buchtleuten?“ Barn hatte sich wieder gefangen. Er sah ihm ernst und neugierig in die Augen.
Helm mied Barns Blick. „Nicht viel mehr, als dass sie wilde Leute sind und man ihnen vorsichtig begegnen sollte, wenn man nicht will, dass sie einem den Schädel einschlagen. Mich haben sie damals in Ruhe gelassen. Aber als ich ihnen ein weniger wüstes Leben predigte, war ich nicht mehr willkommen. Wahrscheinlich kann ich von Glück sagen, dass ich heute hier unversehrt stehen und dir davon erzählen kann. Glaube also nicht, dass eine solche Fahrt die Erfüllung deiner Träume wäre.“
Insgeheim befürchtete er aber, dass er mit seinen Erklärungen bei Barn nur das Gegenteil dessen erreichte, was er bewirken wollte.
Sein junger Freund jedoch schien unerwartet einsichtig zu sein. Zumindest war Barn klar geworden, dass er ohne Ausrüstung und Waffen nicht weit kommen würde. Er nickte Helm stumm zu und ging zu seinem Freund zurück, um ihm Glück und Erfolg für die bevorstehenden Abenteuer zu wünschen.
Philippus hatte inzwischen mit seinem Vater gesprochen. Er strahlte vor lauter Vorfreude. „Morgen bei Sonnenaufgang reite ich los. Mein Vater gibt mir drei berittene Schwertträger mit.“
„Aber ich dachte, er will dich mit der Tochter des früheren Herzogs verheiraten.“ Barn war ganz durcheinander. Seinem Freund dagegen schwoll die Brust vor lauter Stolz. „Mein Vater hat mir den Auftrag gegeben, bei den Saxonen nördlich des Albastromes, vielleicht auch bei den Angeln und Jüten nach Verbündeten zu suchen, falls die Franken unsere Stämme angreifen sollten. Das ist ein wichtiger Auftrag. Am Ende ist es sogar so verdienstvoll für unsere Stämme, so wie es der alte Marke erwartet. Ich bin wirklich geehrt, dass mein Vater mir das zutraut. Ich hatte dir doch gesagt, ich will erst noch Abenteuer erleben. Dann mag er mich verheiraten.“
„Willst du denn nicht erst den Winter abwarten. Der Sommer ist schon so gut wie vorbei, auch wenn es jetzt noch warm ist. Und du wirst gewiss länger als ein paar Monate brauchen, bis du wieder zurück bist. Helm sagte einmal, dass die Winter im Norden strenger sein sollen als bei uns.“
Philippus nickte. „Ich weiß. Aber ich werde den Winter im Norden ebenso überstehen, wie die Menschen, die dort leben. Mach dir darüber keine Sorgen!“ Er lächelte und gab seinem Freund einen derben Knuff gegen die Schulter. „Was gab es denn mit Helm?“
Barn winkte ab. „Nichts weiter. Belehrungen, du kennst ihn ja.“ Philippus nickte geistesabwesend. Dann hob er die Brauen und reckte den Kopf über die Menge hinweg. „Fast hätte ich‘s vergessen. Mein Vater möchte mit dir sprechen.“ Philippus sah ihn dabei an, als habe er eine großartige Überraschung parat. Er sagte aber nichts und zog seinen Freund nur mit sich, hin zum Fürsten.
Barn war nicht wohl bei der Sache und er verzog unwillig das Gesicht. In Gegenwart des Fürsten war ihm immer unbehaglich zumute, obwohl dieser nie unfreundlich zu ihm war. Dieses Mal lächelte der Fürst ihn sogar an, als er sich ihm zuwandte. Von den Gästen waren viele schon in den Zelten ringsum verschwunden und so standen der Fürst, sein Sohn und Helm mit Barn allein.
„Helm hat mir gerade berichtet, dass du unserem Glauben angehörst.“ Er sah Philippus ein wenig vorwurfsvoll an. „Mein Sohn hielt es bisher wohl nicht für wert, mir dies zu erzählen.“ Dann wandte er sich wieder dem jungen Frieling zu. „Hier, nimm dies als Zeichen der Verbundenheit des einen Christen mit dem anderen.“ Dabei hielt er ihm ein kleines Kreuz aus Eisen entgegen, das an einem Lederband befestigt war. Es war erstaunlich kunstvoll gearbeitet und leicht, nicht zuletzt, weil es an der Vorderseite eine tief reichende Aussparung aufwies, die noch einmal die Form des Kreuzes nachzeichnete. „Wir Christen sind eine Gemeinschaft und wir müssen zusammenhalten.“
Barn wusste nicht mehr, wie ihm zumute war. Er war überwältigt vor Überraschung und Freude. Dann war da das intensive Gefühl, als wenn dieser Moment irgendwie bedeutungsvoll wäre. Andererseits war er verlegen und verwirrt. Zu viel war in den letzten Augenblicken auf ihn eingestürmt. Es fehlten ihm die Worte und so bedankte er sich nur mit einem ernsten Nicken.
Der Fürst senkte ebenfalls kurz den Kopf. Er schien zu verstehen und sagte nichts weiter.
Nur Helm sah man an, dass er mit sich und dem Geschenk für seinen jungen Freund fast so zufrieden war, als wenn ihm die Anerkennung zugedacht wäre. Und so verstand er es wohl auch.
Als Barn ein wenig später allein auf einem Baumstumpf saß, etwas abseits der sich mehr und mehr verlaufenden Gesellschaft, und vom Sandberg hinab auf die im Licht der Abenddämmerung liegenden Wiesen des Elera schaute, liefen ihm Tränen über das Gesicht. Das Kreuz lag in seiner offenen Hand. Einen Moment lang wollte ihn der unsinnige Drang überwältigen, es weit fortzuwerfen. Er schloss die Faust so fest, dass ihm die Metallenden in die Handfläche stachen. Der Schmerz vertrieb den trotzig-wütenden Impuls. Dann öffnete er die Hand und sah noch einmal auf das kunstvoll gearbeitete Stück Metall, nahm die lederne Schlaufe und band sich das Kreuz entschlossen und mit schnellen Griffen um den Hals.
Aber seine Enttäuschung war noch nicht verflogen. Allzu viel war heute über ihn hereingebrochen. Illusionen waren zerstoben. Neue Träume und Hoffnungen taten sich auf und mussten sogleich wieder begraben werden. Und dann war da noch dieser Krampf um sein Herz, wenn er an das Mädchen mit dem schelmischen Blitzen in ihren blauen Augen dachte.
Plötzlich spürte er, wie jemand neben ihm stand. Schnell fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht, damit seine Tränen nicht zu sehen waren. Als er aufblickte, sah er die fremde Edle.
„Schön, nicht wahr?“ Sie blickte zum Abendhimmel, der sich zunehmend dunkelblau färbte und einen samtigen Schimmer annahm.
„Ja“, brachte er nur hervor, ohne in seiner Verwirrung zu wissen, was sie meinte. Dann sprang er auf, weil es ihm unpassend vorkam, dass er saß, während die Tochter eines Fürsten neben ihm stand.
„Wer bist du?“, fragte sie, ohne weiter die Schönheit der anbrechenden Nacht zu beachten. „Ein Edelmann gewiss nicht. Trotzdem sah ich, wie Fürst Falc dir ein Kreuz unseres Herrn schenkte.“
Also auch eine Christin, bemerkte er. Und dass, obwohl Marke als einer der Führer der nördlichen Stämme gewiss kein Christ war. Wie hatte Helm einmal gemeint? „Frauen sind empfänglicher für die Botschaft unseres Herrn.“
Jäh schlug seine Freude in Unmut um. Eine Christin, aber es bleibt wichtig, ob ich ein Edelmann, ein Frieling oder gar ein Unfreier bin.
„Ich bin nichts weiter als ein Bauernsohn, dem man zu viele Geschichten erzählt und die Gunst erwiesen hat, bei diesem Fest Zaungast zu sein, dem man aber sicherlich Beine machen wird, wenn man ihn hier allein mit einem Edelfräulein sieht.“ Die Worte troffen vor Bitterkeit.
„Schade, ich hatte gedacht, du würdest mir etwas von dir erzählen.“ Sie wandte sich zum Gehen. Dann zögerte sie. „Wie heißt du?“
„Barn“, erwiderte er und hatte sich schon wieder in der Gewalt.
„Barn also, ein Name für einen Krieger.“
„Ja“, sagte er. „Meine Brüder und ich haben alle Namen, die eigentlich nur großen Kriegern und Jägern zustehen. Das war es vermutlich, was sich unser Vater für uns erhofft hat.“
„Wer weiß, vielleicht wirst du deinem Namen noch einmal Ehre machen.“ Sie drehte sich nun doch um und verschwand, ohne ihm zu verraten, wie sie hieß.
Barn blieb einsam und tief enttäuscht zurück.
Am schon dunklen Himmel im Osten schob sich majestätisch der Mond aus den Baumwipfeln hervor und löste mit seinem klaren Licht den warmen Schein der Abenddämmerung ab. Kalte Ruhe breitete sich aus, die auch Barn nach und nach erfasste.
Die ersten Zeilen eines längeren Gedichtes kamen ihm in den Sinn, das Helm ihm einmal vorgetragen hatte. Er fand es damals so wunderschön, dass er es auswendig gelernt hatte.
Mond dein klarer Blick
erhellt der Wanderer Pfad bei Nacht.
Ob über mein Geschick
dein Blick wohl wacht?
Mond, dein Licht ist rein und kühl,
bringt Ruhe allzu wilder Regung,
und manch’ verworrenes Gefühl
wird offen ruhiger Überlegung.
Er ging wieder zu Philippus, um sich von ihm zu verabschieden. Seinem Freund war nicht entgangen, dass Barn sich mit Markes Tochter unterhalten hatte, er machte darüber aber keine Bemerkung. Wahrscheinlich war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, dass der Sohn eines Bauern und die Tochter eines alten Heerführers Gefallen aneinander gefunden haben könnten.
Nachdem sich beide einige Zeit über Vorbereitungen für die Fahrt unterhalten hatten, wünschte Barn seinem Herbstfreund viel Glück auf den Weg, ging die wenigen Schritte den Hügel hinab nach Hause und legte sich auf sein Nachtlager.
Er fand jedoch keinen Schlaf. Immer wieder musste er an das Mädchen, Philippus‘ Fahrt in den Norden und an Helms Vorhaltungen denken.
Bis zu diesem Tag hatte Barn immer gehofft, etwas Besonderes aus sich zu machen. Er hatte von Helm so viel über die Welt erfahren, so viel gelernt, kaum weniger als die Fürstensöhne, wie Helm einmal gesagt hatte, und gerade dieser Tag schien so vielversprechend zu werden. Gebracht hatte er jedoch nur Enttäuschungen und Liebeskummer. Ja, es musste wohl Liebeskummer sein, denn so oft er sich das Bild der Edlen vor sein Auge rief, schlug sein Herz schneller. Und es schmerzte zu wissen, dass auch diese Sehnsucht unerfüllt bleiben würde.
Während Barn sich immer unruhiger auf seinem Lager aus Stroh herumwarf, wirbelten seine Gedanken mehr und mehr durcheinander, bis er doch noch in unruhigen Schlaf fiel. Er träumte, auf einem stolzen Ross in den Norden zu reiten, bei einem weisen Mann, der Helm erstaunlich ähnlich sah, das Rätsel des Nordlichts zu erfahren und nach umjubelter Rückkehr eine Königstochter mit dunklen Haaren und blauen Augen zu heiraten.
Jäh riss ihn der Hahnenschrei aus seinen Träumen. Barn sprang auf und warf sich seinen Mantel über. Morgens war es um diese Zeit oft schon empfindlich kühl.
Er rannte den Berg hinauf, um noch zu sehen, wie Philippus mit seinen Männern den Weg nach Norden in die Fremde ritt. Barn lief zwischen den Zelten der Edelleute hindurch, womit er sich einige befremdliche Blicke einhandelte. Er achtete jedoch nicht darauf, denn er folgte mit seinen Blicken der kleinen Reiterschar, angeführt von Philippus in prächtigem Gewand. An der ersten Biegung der breiten Zuwegung zum Jagdhaus begann der Weg nach Norden. Dort entschwanden die Reiter seinem Blick hinter grauen Kiefernstämmen. Sie wurden von den Bäumen der endlosen Wälder verschluckt.
Holme hatte mit seiner Warnung Recht behalten. Die Fahrt würde von Beginn an eine Tortur sein, jedenfalls wenn sie sofort mit dem Monddrachen aufbrachen. Schon von Manoy aus in See zu stechen, war ein Problem, wie sich bei der Ankunft der Kundschafter zeigte. Die Insel war bereits von Eis umgeben. Der Monddrachen, das Drachenboot der Kundschafter, konnte daher trotz des gerade erst angebrochenen Winters den Anlegesteg des Dorfes der Insel schon nicht mehr ansteuern. Nicht nur, dass es dunkel war, als sie die Insel endlich erreichten, das Meer war bis weit vor den Stegen zugefroren. Das Boot hatten die Männer daher auf See lassen müssen. Eine Wache an Bord achtete darauf, dass es nicht vom Eisrand weggetrieben wurde. Den Rest der Strecke mussten die Kundschafter über das zugefrorene Meer laufen. Sie waren halb tot vor Erschöpfung, unterernährt, und sie waren nicht mehr vollzählig. Fast ein Drittel der Mannschaft war bei Stürmen umgekommen, krank geworden, entkräftet und einfach gestorben. Ein paar der Männer waren aneinandergeraten und hatten sich gegenseitig umgebracht. Die Ankömmlinge, die aus dem Dunkel gestapft kamen, waren also nicht nur erleichtert, endlich zu Hause zu sein. Sie zeigten sich verbittert und derart mürrisch, dass sie kaum ansprechbar waren.
Als sie sich endlich mit Hilfe der Leute aus dem Dorf auf den Anlegesteg schleppten und man ihnen schon dort Decken und Felle brachte, winkten sie kraftlos ab und wiesen hinaus in die Dunkelheit, wo das Schiff mit der durchgefrorenen Wache wartete. „Wir sind gleich im Warmen“, hörte man sie kaum verständlich knurren. „Bringt die Decken zum Boot!“ Die Männer hatten sich mühsam aufgerichtet und stolz die letzten Schritte bis zum Licht und der Wärme ihrer Häuser hinter sich gebracht.
Sogar Namani hatte die Männer in Ruhe gelassen, als er sie an sich vorbeischlurfen sah. Zwar wollte er Holme den sofortigen Aufbruch befehlen, aber bis zum nächsten Morgen musste noch Zeit sein, obwohl der Hass in ihm bohrte und nach einem Ventil suchte, obwohl er endlich in Erfahrung bringen musste, wie er zu seinem Feind gelangen konnte, den er schon so viele Jahre suchte und den er für das Ritual brauchte. Und für seine Rache.
Der nächste Tag brachte Gewissheit, brachte die Informationen, nach denen er schon so lange gierte, um den Weg zu Helm zu finden. Die Kundschafter hatten eine Karte gezeichnet.