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Nach einer überstandenen Drüsenfieber-Erkrankung sehnt sich die 27-jährige Jess nach ihrem alten Leben zurück. Sie war jung und fit, eine Leistungssportlerin und Weltreisende voller Tatendrang. Doch nun ist da dieser Körper, der einfach nicht mehr so möchte wie sie. Um wieder zu sich selbst zu finden, beschließt sie, sich ohne Vorbereitung auf eine Fahrradtour mit ihrem Partner rund um Island einzulassen, obwohl sie das Radfahren hasst. Dort wird der ständige Gegenwind zu ihrem Feind und macht die ohnehin schon kraftraubende Tour noch anstrengender. Diese Herausforderung wird für Jess zu einem Sinnbild für ihr Leben und ihre Genesung. Wird sie es schaffen, den Gegenwind zu besiegen und zu ihrem Körper zurückzufinden?
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Jessica Zenner
GEGENWIND
Mit dem Fahrrad zwischen Feuer und Eis
DIE AUTORIN
Jessica Zenner ist 1994 im beschaulichen Saarland geboren. Nach ihrer Ausbildung zur Mediengestalterin stieg sie 2017 ohne Rückflugticket in ein Flugzeug nach Australien und reiste daraufhin zwei Jahre um die Welt. Ihre eigenen Erfahrungen und Eindrücke sind stets zentrales Thema in ihren Texten, die sie auf ihrem Reiseblog www.freigereist.com und in den Sozialen Medien unter dem Pseudonym freigereist veröffentlicht. Nach ihrer Rückkehr 2019 studierte sie Leisure & Tourism Management in Stralsund und ist als selbstständige Grafikdesignerin und freie Autorin tätig.
Copyright © 2023 Jessica Zenner
1. Auflage
Text, Cover und Grafiken: © 2023 Jessica ZennerMitwirkende Person: Tobias HieltscherFotos: Jessica Zenner, Tobias Hieltscher Lektorat und Korrektorat: Hannah Hülsmann
Verlag: Jessica Zennerc/o autorenglück.deFranz-Mehring-Str. 1501237 [email protected]
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbHKöpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
„Im Ausüben von Toleranz ist der Feind der beste Lehrer.“
Dalai Lama
Hätte man mir vor ein paar Jahren gesagt, ich würde eines Tages mit meinem Fahrrad Island umrunden, dann hätte ich ihn ausgelacht. Natürlich könnte ich jetzt schreiben, dass das Fahrrad und ich schon von klein auf beste Freunde waren und es schon immer mein Traum war, damit so richtig eins mit der Natur Islands zu werden.Doch das wäre schlichtweg gelogen. Denn wenn ich eines hasste, dann war es das Radfahren. Für mich ergab es einfach keinen Sinn, mich auf einem Drahtesel Kilometer für Kilometer abzumühen, dabei zu schwitzen wie eine Irre und sich als Preis dafür meinen Schritt wund zu schrubben, wohl wissend, dass ich mich danach für mindestens fünf Tage nicht mehr hinsetzen konnte. Neee, nicht mit mir.
Im Alter von sechs Jahren hatte ich das Glück gehabt, von meinem steinalten Nachbarn auf einem 5x5 Meter großen betonierten Bereich unseres gemeinsamen Gartens gezeigt zu bekommen, wie man auf dem Ding zumindest das Gleichgewicht hält. Trotzdem bevorzugte ich es schon immer, Distanzen bis zu fünf Kilometer prinzipiell zu Fuß zurückzulegen. Zwischen mir und meinem Fahrrad knisterte es also gewaltig, nur waren die Impulse eher negativ geladen.
Um zu erklären, wie es nun doch dazu kam, dass ich mich Kilometer für Kilometer abmühte, schwitzte wie eine Irre und mir letztendlich den Schritt wund schrubbte, muss ich etwas weiter ausholen:
Schon 2020 hatte mein Partner Tobi im Sommer unsere Skoda Octavia Limousine mühsam über mehrere Wochen zu einem Mikrocamper umgebaut. Unser Plan war es, damit die Mittelmeerküste unsicher zu machen. Die Gefahr, dass eines der Länder kurz vor oder sogar während unseres Roadtrips aufgrund von neuer Corona-Bestimmungen die Grenzen zu den Nachbarländern schloss, war uns dann aber doch etwas zu hoch. Am Ende mussten wir uns dazu entscheiden, die Reise ins nächste Jahr zu verschieben und hatten die Semesterferien stattdessen in Norwegen verbracht.
Aber auch in diesem Sommer schien eine Reise in den warmen Süden nicht weniger risikoreich zu sein. Die kaputte Klimaanlage machte uns die Entscheidung noch einfacher. Egal wie sehr ich ins Warme wollte, bei vierzig Grad im Schatten ohne Kühlung hört auch bei mir der Spaß auf. Der Roadtrip wurde also ein weiteres Jahr in Folge gecancelt.
Wir saßen abends auf dem Sofa und versuchten uns auf einen Plan B zu einigen. Doch irgendwie wollte es einfach nicht funktionieren. Immer wenn wir eine Idee hatten, wurde diese mit Blick auf die Einreise- und Quarantänebestimmungen gnadenlos niedergeschmettert.
Ungeduldig rutschte ich auf dem Sofa hin und her. Ich wollte die Semesterferien nicht schon wieder in Deutschland verbringen.
Ich ließ meinen Blick über die Landkarte an der Wand hinter dem Sofa schweifen. Es war eine Karte im Vintage-Stil, beinahe größer als der Esstisch. Die von uns besuchten Länder waren liebevoll mit kleinen Pinnadeln aus Holz bestückt.
Mein Blick fiel auf ein Land, dass mich schon immer faszinierte. Fragen kostete nichts.
»Wie wäre es mit Island?«
Ich kassierte ein Lachen. »Nee, viel zu teuer.«
1:0 für Tobi.
»Thailand?« Ich gab nicht auf.
»10 Tage Quarantäne.«
»Nepal?«
»Lass uns das lieber nach dem Studium machen.«
Ich seufzte. Das konnte doch nicht wahr sein! Einige Tage später tat sich dann doch ein Lichtblick auf, als Tobi sich abends zu mir ins Bett legte und seinen neusten Gedankenblitz mit mir teilte.
»Wir könnten ja auch unsere Fahrräder nehmen und damit einmal um Island fahren?«
Eine merkwürdige Stille verbreitete sich im Raum. Wer war dieser Mensch, und was hatte er mit meinem Freund gemacht?
Ich ließ seinen Vorschlag für ein paar Sekunden sacken, aber tatsächlich musste ich nicht lange überlegen. Denn mit der Chance, die für mich begehrenswerteste und interessanteste Vulkaninsel der Welt einmal mit eigenen Augen zu sehen, schaltete mein Gehirn vollständig aus.
»Ey, das ist gar keine so schlechte Idee!«
Jetzt war es Tobi, der die Augenbrauen hochzog. Er dachte wohl gerade das gleiche über mich. Aber der Drang nach Abenteuer war in diesem Moment stärker als meine Abneigung gegen das Radfahren und zugegebenermaßen auch stärker als mein gesunder Menschenverstand, hatte ich doch noch nie zuvor auch nur ansatzweise so etwas wie eine Fahrradtour gemacht. Aber das war mir egal. Dann war Island eben mein Training.
»Bist du dir sicher? Ich meine, wir sprechen hier gerade von Island. Da sind … Berge und so.«
Ok, man hatte meinen Freund nicht ausgewechselt. Er kannte mich wohl doch ziemlich gut.
»Hallooo? Eben, wir sprechen von Island! Mit dem Fahrrad, wie geil ist das denn? Außerdem bin ich Tennisspielerin. Wenn jemand Oberschenkelmuskeln hat, dann ja wohl ich!«
Selbstüberschätzung war mein Spezialgebiet. Und bei dem Gedanken daran, dass ich niemanden kannte, der so etwas je zuvor gemacht hatte, spürte ich ein sanftes Kribbeln in meinem Bauch.
Für mich war die Sache klar: Das Land war gefunden, das Transportmittel auch. Über alles andere wollte ich mir erst später Gedanken machen.
»Vielen Dank für Ihre Buchung!«
Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Ich las den Satz laut vor, der in violetter Schrift auf Tobis Bildschirm flackerte. Er besiegelte unsere Entscheidung. Der Flug war gebucht. Oh mein Gott! Ich sprang wie ein Flummi im Arbeitszimmer herum und grinste dabei über beide Ohren. In nur zwei Wochen schon sollte unser Flug von Hamburg nach Keflavík starten.
Zwei Wochen sind für die Vorbereitung einer Radtour im Übrigen viel zu wenig Zeit, wenn man:
a) absolut keine Ahnung von Radtouren hat,
b) zwei komplett unbrauchbare Drahtesel besitzt,
und c) mitten in der Prüfungsphase steckt.
Die Kombination aus diesen drei Faktoren brachte Tobi schier zur Verzweiflung. Er verbrachte jede freie Minute, die er zwischen Lernen und Prüfungen aufbringen konnte, im Keller. Er versuchte zu retten, was irgendwie ging.
»Das geht schon so«, sagte ich mit ernster Miene, als wir beide vor meinem Fahrrad standen, die Hände wie echte Fahrrad-Profis auf die Hüften gestützt. Also, mit „meinem“ Fahrrad, ein weiß gestrichenes Mountainbike ohne Marke, meinte ich eigentlich Tobis Kinderfahrrad, dass er mir zu Beginn des Studiums geschenkt hatte, weil ich zu geizig war, um für das schlimmste Fortbewegungsmittel der Welt auch nur einen Cent auszugeben.
Wer braucht schon ein Fahrrad, wenn er auch zu Fuß gehen kann? Es war definitiv nicht mehr das Jüngste, aber für meine zehnminütige Tour zur Uni reichte es. Die fuhr ich gerade noch mit Zähneknirschen, aber weiter entferntere Strecken konnte man mir wirklich nicht mehr zumuten. Dementsprechend wenig Ahnung hatte ich von Fahrrädern.
Als gelernter KFZ-Mechatroniker hatte Tobi zu meinem späteren Glück einen etwas professionelleren Blick auf die Materie. Mein Fahrrad brauchte dringend eine neue Kette. Und ein neues Tretlager, eine Kassette, ein Ritzel, neue Griffe, Brems- und Schaltbowdenzüge, einen neuen Mantel im Vorderreifen und neue Pedale.
Na, wenn er meint.
Aber auch Tobis Fahrrad war bei genauerem Hinschauen nicht gerade in Topform. Die Zeit saß uns im Nacken, und mit jedem weiteren Versuch, es wieder in Gang zu bringen, kamen neue Probleme hinzu. Das Fahrrad war die reinste Katastrophe, freundlich ausgedrückt.
Das Tretlager war bereits so fest korrodiert, dass er es nur mit brutaler Gewalt und einer Säge herausbekam. Die Korrosion hatte das Gewinde aufgefressen, wodurch auch das neue Tretlager keinen Halt fand. Es musste also ein neues Gewinde her. Das erforderte jedoch ein spezielles Werkzeug, welches im Umkreis von über 100 Kilometern nirgends zu finden war. Im Fahrradladen legte man ihm nahe, dass der Rahmen nicht mehr zu retten sei. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verzweifelt Tobi an diesem Tag nach Hause kam. Es war ein absolutes Desaster. Eines stand jedenfalls fest: In diesem Zustand würde sein Fahrrad keinen Meter weit fahren.
Während er parallel schon nach neuen Fahrrädern auf Ebay Kleinanzeigen Ausschau hielt, schien es in Rostock dann doch plötzlich einen Laden zu geben, der das heiß ersehnte Werkzeug hatte. Lange Rede, kurzer Sinn: Einen Tag vor Abflug standen im Keller zwei voll ausgestattete, abfahrbereite Mountainbikes. Tobi hatte ganze Arbeit geleistet.
Unser Flugzeug nach Reykjavík sollte am Folgetag um sieben Uhr morgens abheben. Bis zum Flughafen Hamburg waren es gute drei Stunden mit dem Auto, also beschlossen wir, die Nacht durchzumachen und so früh wie möglich am Flughafen zu sein.
Die Uhr am Handgelenk zeigte bereits 16 Uhr. Während Tobi im Keller die letzten Kleinigkeiten erledigte, machte ich mich ans Packen. Als Weltreisende und erfahrene Backpackerin war ich natürlich geübt, sämtliche Rucksäcke effizient zu packen. Aber mit unserer „neuen Art zu Reisen“ stand ich plötzlich vor neuen Herausforderungen. Wie zur Hölle packt man eine Fahrradtasche?
Ich beschloss, erstmal alle brauchbaren Gegenstände auf einzelne kleine Häufchen im Wohnzimmer aufzuteilen und das Tetris spielen an Tobi abzugeben. Was für andere eine anstrengende und nervtötende Aufgabe ist, macht ihm unheimlich Spaß. Er ist der absolute König darin, Gegenstand für Gegenstand genaustens nebeneinander zu platzieren. Bei ihm hätte auch ein Elefant in die Fahrradtasche gepasst.
Nach rund zwei Stunden waren die Taschen gepackt und gesammelt in einen riesigen schwarzen Sack gesteckt. Unser Aufgabegepäck. Die Sache mit dem Elefanten ist nur die: Egal, wie gut du ihn in die Fahrradtasche packst, er ist einfach zu schwer. Auch wenn wir natürlich keinen sanften Riesen ins Aufgabegepäck gesteckt hatten, sorgte der Blick auf die Waage für Ernüchterung.
»Wie sollen wir denn bitte sieben Kilogramm loswerden?«, fragte ich erschrocken.
Tobi sagte nichts. Ich wusste, was das bedeutete. Wir mussten alle Taschen erneut öffnen, umpacken, auspacken, wiegen. Immer und immer wieder, bis das zulässige Maximalgewicht von 23 Kilogramm erreicht war. Das war für mich eine absolute Katastrophe, denn das hieß auch, dass die Taschen nun nicht mehr nach Sinn, sondern nach Gewicht gepackt wurden. Dann kuschelte der Schraubenschlüssel mit meiner Unterwäsche, und etwa 30 Proteinriegel landeten im Handgepäck.
Na großartig. Was sollen die bei der Kontrolle am Flughafen von mir denken, wenn ich 30 Riegel mit an Bord nehme? Sowas konnte ich ja gebrauchen. Gegen 23 Uhr hatten wir es endlich geschafft, alle Gepäckstücke gleichmäßig aufzuteilen. Plötzlich fiel mir eine andere essenzielle Sache ein, die noch immer mit einem großen Fragezeichen versehen war.
»Du sag mal, wo parken wir nun eigentlich unser Auto?«
Eine berechtigte Frage. Zwar kam diese immer mal wieder zwischen uns auf, trotzdem schien die Parksituation in Hamburg bei Tobi nicht so viel Nervosität auszulösen, wie es bei mir der Fall war.
»Ich kenn‘ da jemanden«, hatte er immer wieder gesagt, und mich wunderte es nicht, dass dieser „jemand“ dann plötzlich doch keinen Parkplatz anzubieten hatte. Auch das schien Tobi nicht sonderlich aus der Fassung zu bringen.
»Dann parken wir es eben am Flughafen. Das ist mit den Fahrrädern sowieso angenehmer, weil wir nicht so weit laufen müssen.«
Recht hatte er. Für den Transport im Flugzeug hatten wir uns zuvor Kisten aus einem Fahrradladen besorgt. Mein Rad war bereits auseinander gebaut und verstaut. Ich stellte mir vor, wie ich mich mit dieser riesigen Kiste in die Hamburger U-Bahn zwängen würde. Er hatte mich überzeugt.
Wir luden meine Kiste ins Auto. Tobis Fahrrad schnallten wir auf das Dach. Der Plan war, dass ich seines am Flughafen einpacken sollte, während Tobi das Auto zum Parkplatz brachte.
Der Parkplatz. Da war ja was. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus und vertrieb all die Aufregung. Ich traute mich kaum noch zu fragen. Als wir im Auto saßen und ich das Fahrzeug Richtung Hamburg auf die Autobahn lenkte, konnte ich nicht länger an mich halten. Diese Nervosität machte mich fertig. Ich atmete tief ein und begann zu sprechen.
»Nochmal wegen des Autos … also … muss man da nicht normalerweise einen Parkplatz reservieren, bevor man ankommt?«
Tobi seufzte. »Ja.«
»Und … hast du das vorhin noch gemacht?«
Er tippte nervös auf seinem Handy herum. Ich wartete auf eine Antwort, konnte sie mir aber schon denken.
»Shit.«
Ich sah ihn kurz an. Es war dunkel und ich konnte nicht viel sehen. Aber ich erkannte, dass er mit weit aufgerissenen Augen auf seinen hell erleuchteten Bildschirm starrte. Wieder Stille.
»Erde an Tobias, was ist denn nun?«
»1050 Euro wollen die haben.«
Jetzt war ich diejenige, der die Worte fehlten.
»Wie jetzt?«
»Na ja, die wollen 1.050 Euro haben. Weil es eine Expressbuchung wäre. Und … weil es der letzte Parkplatz ist.«
Atmen. Tieeeef einatmen.
Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht. Es war spät. Unter normalen Umständen hätte ich schon längst im Bett gelegen. Mit 18 war es für mich kein Problem gewesen, nächtelang wach zu sein. Neun Jahre später fehlten mir zu dieser Uhrzeit einfach gewisse Hirnzellen, um zur Problemlösung beizutragen. Ich spürte Panik in mir aufsteigen.
»Ähh. Und nun?«
Mehr brachte ich nicht raus. Wenn wir unser Auto nicht einmal am Flughafen stehen lassen konnten, wo sollten wir es sonst abstellen? In seiner Verzweiflung wählte Tobi wahllos irgendwelche Nummern aus dem Internet, die auf den ersten zehn Seiten der Google-Suche erschienen. Obwohl ich erwartete, dass mitten in der Nacht niemand mehr ans Telefon gehen würde, hatte Tobi Erfolg. Schon beim ersten Versuch meldete sich eine kräftige Männerstimme, die uns aber sofort reinen Wein einschenkte.
»Vier Wochen? Da werden Sie niemanden finden, der ihren Wagen aufnimmt. Sie können es natürlich versuchen, aber ich warne sie. Ich kenne mich aus, die Parkservices platzen aus allen Nähten. Hier gibt’s viele schwarze Schafe. Die anderen werden Ihnen große Versprechen machen, aber letztendlich stellen Sie Ihr Fahrzeug auch nur in einer Seitenstraße ab.«
Ich konnte nicht viel verstehen. Zu meinen Ohren drangen lediglich die Worte „schwarze Schafe“ und „Seitenstraße“ durch. Mehr musste ich auch nicht verstehen.
Na, wie schön. Da geht einem doch das Herz auf.
Letztendlich fand Tobi doch noch eine Firma, die zumindest telefonisch angab, noch Restplätze auf ihrem Gelände zu haben. Dass das Auto dort gut aufgehoben sein würde, wagte ich zu bezweifeln. Aber wir hatten keine andere Wahl.
Oh, man! Dann kommen wir zurück und haben bestenfalls noch einen riesigen Kratzer im Auto.
Für mich war dieser Ausgang gar nicht so unwahrscheinlich. Mein Reisestil zeichnete sich bisher vor allem durch zwei Dinge aus: Egal, wo es mich hinzog, es gab dabei immer eine sichere Portion absolutes Chaos gepaart mit unfassbarem Pech.
Während meiner zweijährigen Weltreise, zu welcher ich 2017 aufgebrochen war, hatten meine Freunde zuhause regelrecht auf Berichte der neusten Pleiten und Pannen aus der Ferne gewartet. In Australien wurde zum Beispiel in unser Auto eingebrochen, als wir gerade auf einer Wanderung auf einem der berühmten Glashouse Mountains an der Ostküste waren. Der Dieb hatte sich über meinen Rucksack voller Equipment inklusive Laptop und Festplatten mit allen Bildern der bisherigen Reise gefreut. Die australische Polizei konnte ihn sogar festnehmen, weil er dumm genug war, sich mit seinem auffällig weißen Transporter am Folgetag noch einmal auf den Parkplatz zu stellen, um nach weiteren ahnungslosen Backpackern Ausschau zu halten. Allerdings hatte er das Equipment schon längst verkauft und in Drogen eingetauscht.
Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade drei Monate unterwegs und fühlte mich zum ersten Mal hilflos. Erst einen Tag zuvor hatte ich meine vierwöchige Farmarbeit beendet. Die Kasse war wieder aufgefüllt, um für ein paar Wochen zu reisen. Pustekuchen. Das ganze hartverdiente Geld musste nun in einen neuen Laptop investiert werden.
Wenn du als Backpacker unterwegs bist, dann bist du verletzlich. Du hast wortwörtlich dein ganzes Leben in deinem Rucksack. Wenn du in einem Auto lebst, ist all dein Hab und Gut darin. In Australien war dieses Fahrzeug mein Zuhause, mein Bett, meine Welt. Und eben auch ein Spielplatz für Diebe und Betrüger, die das wussten und nur darauf warteten, dass man es ungeachtet allein ließ, um die Gegend zu erkunden.
Dabei blieb es nicht. Neben verpassten Flügen, Krankenhausaufenthalten und einem gestohlenen Smartphone in Kolumbien beschäftigte mich im letzten Halbjahr meiner Reise 2019 vor allem eines: Eine Krankheit, die ich mir irgendwo in den Weiten Südamerikas eingefangen hatte. Alles begann in Kolumbien mit einer harmlosen Erkältung. Diese wollte einfach nicht weggehen, kam immer wieder und heftiger zurück – bis ich schließlich sogar das Krankenhaus in Medellín aufsuchen musste.
Dort diagnostizierte mir die Ärztin eine Mandelentzündung, verschrieb ein Antibiotikum. Doch es trat einfach keine Besserung ein. War das eine überstanden, stand die nächste kuriose Krankheit in ihren Startlöchern. Auf meinen Besuch im Krankenhaus folgten eine schwere Mittelohrentzündung, eine Nasennebenhöhlen- und Nierenbeckenentzündung und schließlich eine Magenschleimhautentzündung. Wohlgemerkt alles in einer Zeitspanne von etwa drei Monaten. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film. Die Krankheiten zogen sich wie ein rotes Band durch meine Zeit in Südamerika. Und ich nahm sie mit nach Deutschland, als ich zum Beginn meines Studiums nach Stralsund zog. Die Ärztin dort war genauso ratlos wie ich, schimpfte über meine rasche Gewichtsabnahme. Zwölf Kilogramm. Ich war völlig verzweifelt. Es fühlte sich an, als wenn mein Körper von innen brannte. Ich hatte dauerhaft Fieber, bekam wie schon in Südamerika eine Entzündung nach der anderen. Eine Besserung war nicht in Sicht.
Meine Lymphknoten waren so groß wie kleine Golfbälle und diese unendliche Müdigkeit machte mich fertig. In der Uni saß ich im Hörsaal, aber irgendwie auch nicht. Die Worte des Professors kamen nie bei mir an. Und auch das Fahrradfahren wurde nach einer Weile so anstrengend, dass ich Tobi ständig auf die Nerven ging, er solle doch nun endlich mal danach schauen. Für mich war klar, dass es kaputt sein musste. Was ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Mein Körper war es, der kaputt war.
Ein paar Wochen später saß ich wieder einmal bei meiner Hausärztin, die mich mittlerweile – wie auch ihre Arzthelferinnen – duzte. Nicht, dass es mir etwas ausmachte, aber es verdeutlicht noch einmal, wie oft ich eigentlich dort gewesen sein musste, kannte ich sie doch erst einige Wochen lang. Sie hatte die Blutergebnisse vor sich liegen und sah mich betroffen an.
»Ihre Blutwerte machen mir Sorgen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich dazu jemanden anrufe?«
Ich schüttelte mit dem Kopf. Tobi saß neben mir und drückte meine Hand. Die Ärztin hatte darauf bestanden, dass ich jemanden mitbrachte. Sie griff zum Telefon und wählte ohne ein weiteres Wort die Telefonnummer, die sie zuvor herausgesucht hatte.
»Ich habe hier eine junge Patientin, 25 Jahre, Verdacht auf ein Lymphom. Nein, nächste Woche ist zu spät, es muss schnell gehen.«
Ich zückte mein Handy und tippte Lymphom in die Google Suchleiste ein. Es dauerte nicht lange, bis ich fand, was ich suchte.
Nein, nein, nein! Das kann nicht sein!
Das Ergebnis riss mir den Boden unter den Füßen weg. Mir wurde schlagartig heiß und schwindelig, die Buchstaben auf meinem Display verschwammen. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust und es fühlte sich an, als sei ich für einen kurzen Moment allein in diesem Raum. Die Stimme der Ärztin brachte mich zurück in die Realität.
»Übermorgen? Ja, das passt.«
Dann legte Sie auf und sah mir in die Augen.
»Sie haben gegoogelt, oder?«, fragte sie mit sorgenvoller Stimme.
Ich nickte bedrückt. »Lymphdrüsenkrebs.«
Eine merkwürdige Stille verbreitete sich im Raum. Ich kannte solche Gespräche nur aus Filmen, und nun saß ich selbst im Behandlungszimmer meiner Ärztin und versuchte zu verstehen, was da gerade gesagt wurde. Ihre Worte schwirrten noch immer im Raum umher.
»Es tut mir so leid. Ich habe gerade einen Termin in der Onkologie gemacht.«
Sie sprach noch kurz darüber, welche Untersuchungen mir womöglich bevorstünden und wie die Heilungschancen standen, aber ich konnte ihren Worten kaum folgen. Dann führte sie uns nach draußen und schloss die Praxistür hinter sich ab. Es war bereits dunkel, und die Kälte fühlte sich rauer an als je zuvor. Kaum war die Ärztin hinter der Tür verschwunden, konnte ich meine Emotionen nicht mehr zurückhalten. Ich sackte zusammen und kauerte mich auf den Boden neben eine Straßenlaterne.
»Wieso ich? Womit habe ich das verdient?«, stammelte ich immer wieder. Tobi drückte mich fest gegen seine Brust, und ich ließ meinen Tränen freien Lauf.
Die nächsten Tage fühlten sich an wie ein Marathon. Ich blieb der Uni fern, fuhr von Arzt zu Arzt und ließ mir gefühlte zwei Liter Blut entnehmen. Im Wartezimmer saß ich zwischen Krebspatienten, die mich genauso mitleidig ansahen, wie ich sie. Ich wusste, was sie dachten, und sie wussten, was mir durch den Kopf ging. Die Worte der Gedanken hingen im Wartezimmer zwischen uns. Wie Wolken. Man musste sie nicht aussprechen: Bald würde ich auch keine Haare mehr haben. Abends lagen Tobi und ich im Bett und schauten uns einen Disneyfilm nach dem anderen an. Den Rest der Zeit schlief ich. Das tat ich davor schon ungewöhnlich oft und lange – 14 bis 15 Stunden pro Tag waren keine Seltenheit mehr. Natürlich machte ich mir Gedanken. Um das Reisen, das Studium, die Zukunft. Um meine Mutter, die noch immer nichts von all dem wusste. Wie sollte ich es ihr sagen? Wie würde sie reagieren?
Es ging mir unsagbar schlecht. Das Fieber kletterte immer höher und ich schwitzte in der Nacht so heftig, dass ich mein Shirt dreimal wechseln musste. So verbrachte ich drei volle Tage. Drei Tage, in denen ich dachte, ich sei schwer krank.
Dann bekam ich eine erneute Diagnose. Die Blutergebnisse der Onkologie lagen vor und ich konnte meinen Ohren kaum trauen.
»Frau Zenner, Sie haben das Drüsenfieber.«
Kaum hatte der Arzt die Worte ausgesprochen, begann ich lauthals loszulachen und der Mann sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Ich war wohl die einzige Patientin, die sich jemals darüber gefreut hatte zu hören, dass sie am EBV-Virus erkrankt sei. Ich schüttelte dem verdutzten Mann die Hand, bedankte mich für die guten Nachrichten und verließ seine Praxis mit einem erleichterten Seufzer.
Ich hatte mir also das Epstein-Barr-Virus eingefangen, oder auch Pfeiffersches Drüsenfieber, Schlafkrankheit, Kusskrankheit genannt. Es hat viele Namen. Ebenfalls eine schwere Krankheit, allerdings kein Lymphom.
Dieses Monster, das versuchte die Oberhand über meinen Körper zu gewinnen, hatte endlich einen Namen.
Das Drüsenfieber. Eine unscheinbare Krankheit, durch das Herpesvirus ausgelöst, den 99 Prozent der Menschen in sich tragen, aber nur in seltenen Fällen ausbricht. Meist passiert das schon im Jugendalter. Je älter man bei der Infektion ist, desto schlimmer kann sie auftreten. Das Drüsenfieber kann sich über Monate hinweg ziehen. Der Arzt erklärte mir, dass die Krankheit viele Nebensymptome hätte, diese aber nicht häufig seien. Ich hatte den Sechser im Lotto gezogen, denn bei mir war nicht nur der seltene Fall eingetroffen, dass die Krankheit überhaupt ausbrach. Ich nahm auch noch großzügig alle möglichen Nebensymptome auf einmal mit. Und man konnte mir nicht helfen.
»Schlafen Sie.« Ja, danke. Als ob ich das nicht schon genug machte.
Und so ging ich nach Hause und schraubte meine Aktivitäten auf das Mindeste herunter. Das Fahrrad kam in den Keller und ich besuchte nur noch Vorlesungen, die mir relevant genug vorkamen, das Bett zu verlassen. Ich wünschte mir nichts Sehnlicheres, als endlich wieder ein normaler, klardenkender Mensch im Besitz meiner Fähigkeiten zu sein. Mein Innerstes schrie förmlich nach Bewegung und Freiheit. Dieser Zustand, wie ich ihn immer nannte, dauerte zumindest auf dem Papier noch weitere drei Monate an. Erst dann kletterten meine Blutwerte wieder Richtung Normalzustand.
»Na also, Ihre Werte sind wieder gut. Sie sind gesund!«, flötete mir meine Hausärztin fröhlich entgegen. Ich fühlte mich aber, entgegen ihrer Aussage, immer noch alles andere als gesund. Mein Kreislauf war die reinste Katastrophe, und jede Bewegung kostete Kraft. Zu viel Kraft. Meine Gedanken waren in Watte gepackt.
Diese Fatigue, die nach einer solch langen Krankheit (natürlich auch nur in seltenen Fällen) ohne erkennbare Veränderung der Blutwerte auftritt, begleitete mich noch bis ins nächste Jahr hinein.
Es war bereits 2021, und obwohl ich offiziell gesund war, dauerte es Ewigkeiten, bis die Affen in meinem Kopf endlich aufhörten zu klatschen und sich die Müdigkeit reduzierte. Ich erinnerte mich an unseren letzten Roadtrip im Vorjahr, wo ich gedankenverloren auf die schönsten Fjorde Norwegens gestarrt hatte und dabei innerlich nichts als Leere empfand. Ein wunderschönes Land mit einer atemberaubenden Natur. Ich war mittendrin, aber nicht in der Lage es zu genießen, egal, wie sehr ich mir selbst einredete, wie großartig ich alles finden würde. Ich wusste in diesem Moment durchaus, dass etwas nicht stimmte, konnte aber nichts dagegen tun. Es war, als hätten Seele und Körper durch die Krankheit gänzlich ihre Verbindung zueinander verloren. Und ich war seither wie ein Zombie durchs Leben gewandert, stets auf der Suche nach dem fehlenden Puzzleteil, welches alles wieder in Einklang bringen sollte.
Die kommende Reise mit dem Fahrrad in Island sah ich nun als willkommene Chance, endlich wieder zu meinem Körper zu finden. Ich wollte unbedingt wissen, ob das Monster noch immer irgendwo tief in mir schlummerte. Körperlich hatte ich in den letzten Monaten riesige Fortschritte gemacht.
Ja, es würde anstrengend werden. Aber genau das war es, was ich wollte. Dann musste ich meinen Körper doch endlich zu spüren bekommen, oder? Wenn nicht so, wie zur Hölle denn dann?
Eine gewisse Portion Angst hatte ich aber schon im Gepäck. Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Würde ich Tobi im Stich lassen müssen? Bei der Vorstellung daran, mir während der Reise irgendwo in der Pampa Islands eingestehen zu müssen, nicht fit genug zu sein, stellten sich mir die Nackenhaare hoch. Trotzdem wollte ich es versuchen.
Tobi setzte mich mit dem Gepäck und den Fahrrädern am Flughafen ab und brachte das Auto zum Parkservice. Kaum hatte ich mir eine schöne Ecke gesucht, um sein Fahrrad in die Kiste zu packen, spürte ich sofort alle Blicke auf mir ruhen. Die Menschen gingen langsamen Schrittes an mir vorbei und musterten mein Vorhaben. Fahrradreisende gab es am Hamburger Flughafen wohl nur selten und ich musste wahnsinnig interessant ausgesehen haben. Zuschauer. Mein Herzschlag verdoppelte sich.
Ich löste den Ständer vom Fahrrad und schob es vorsichtig in die Fahrradkiste. Es hätte beinahe so wirken können, als hätte ich das schon hunderte Male so gemacht. Aber eben auch nur beinahe. Mit einem lauten RUUUUMS schepperte die Kiste samt Fahrrad auf die Seite und lenkte damit die Aufmerksamkeit der gesamten Abflughalle auf mich. Das hat ja spitze funktioniert. Wo ist Tobi, wenn man ihn braucht?
Der meldete sich mit einem »Bin in 15 Minuten da« via WhatsApp bei mir. Ich packte mein Smartphone zurück in die Tasche und musterte das Chaos, dass ich gerade veranstaltet hatte. Dann warf ich einen vorsichtigen Blick über meine Schulter. Die Menschen gafften noch immer. Jetzt bloß nicht wie ein Trottel aussehen. Tu so, als wüsstest du, was du da tust.
Ich hob die Kiste an und versuchte sie zurück in Position zu bringen, aber es war ein absoluter Kampf. Die Pappe wehrte und bog sich in alle Richtungen. Schweiß rann mir die Stirn herunter. Wie verdammt schwer können Fahrradkisten eigentlich sein?
Für einen Moment lang ärgerte ich mich sehr darüber, dass alle nur zuschauten, aber keiner sich dazu in der Lage fühlte, mit anzupacken und mich aus dieser misslichen Lage zu befreien.
Als ich die doofe Kiste endlich wieder aufgestellt und mit circa zehn Kilogramm Panzer-Tape verschlossen hatte, spazierte Tobi in einer Allerseelenruhe durch die Pforten des Flughafens.
Am Check-In Schalter begrüßte uns ein junger Mann mit blonden Haaren, schätzungsweise Mitte 30, mit einem verschmitzten Lächeln, das eher aufgesetzt als freundlich wirkte.
»Haben Sie die Fahrräder denn gepolstert?«
Tobi warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Gepolstert? Wir haben Pappe an die wichtigen Stellen gemacht, das sollte …«
»… dann können wir Sie leider nicht mitnehmen. Da darf keine Luft mehr dazwischen sein.«
»Sie machen Witze!«
Er schüttelte mit dem Kopf.
»Nein, ganz und gar nicht.«
Ich konnte nicht glauben, was er da gerade gesagt hatte, und beschloss um des Friedens willen, Tobi das Reden zu überlassen.
»Und wenn wir Ihnen unterschreiben, dass wir für den Schaden selbst haften?«
»Auch dann nicht. Tut mir leid. Das ist die Vorgabe der Airline. Wir haben unten im Keller ein paar Müllcontainer von den Supermärkten, vielleicht finden Sie dort ja noch etwas Pappe. Da haben Sie Glück, dass Sie so früh da sind. Wir schließen den Schalter um 06:00 Uhr.«
Ich versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren. In meiner Fantasie stellte ich mir vor, wie Tobi und ich womöglich noch von der Polizei festgenommen wurden, wenn sie uns kopfüber in Müllcontainern des Flughafens fanden. Ja Mensch, so ein Glück aber auch.
Pünktlich um 05:50 Uhr holte Tobi den Mitarbeiter der Airline zu uns.
»Passt das so? Wir wollten Sie vorher nochmal fragen, bevor wir die Kisten ein weiteres Mal schließen.«
Er musterte die Kiste und nickte.
»Das geht so, perfekt. Möchten Sie noch etwas Paketband? Ich schenke es Ihnen.«
Wie großzügig.
Ich machte mich daran, Tobi beim Zukleben zu helfen und die Kisten nacheinander auf die Waage zu stellen.
»31,7 Kilogramm. Ja Mensch, was ein Glück Sie haben! Ab 32 Kilogramm hätten wir Sie nicht mehr mitnehmen dürfen.«
Ich wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen.
Wenn er heute noch einmal sagt, was wir doch für ein riesiges Glück haben …
Tobis Stimme holte mich aus den Gedanken.
»Aber Sie haben uns doch gerade zusätzlich fünf Kilogramm Pappe in jede Kiste packen lassen.«
Der Mann lachte.
»Sicherheitsvorschrift der Airline … damit unsere Jungs hinten nicht so schwer tragen müssen. Na ja, wie dem auch sei, bei mir können Sie die Fahrräder nicht abgeben, dazu müssen Sie an den Sperrgepäckschalter am anderen Ende.«
Meine Freude darüber, diesen gehässigen Check-In Mitarbeiter endlich losgeworden zu sein, und nun alle Richtlinien und Regularien der Airline zu erfüllen, verblasste sofort, als ich den Sperrgepäckschalter sah. Eigentlich hätte es mich nicht wundern müssen, schließlich hatte ich ja vorhin schon festgestellt, dass von Hamburg offenbar noch nie eine Person mit dem Fahrrad geflogen war.
Am Sperrgepäckschalter erwartete uns ein etwa 1,5 auf 1 Meter großes Röntgengerät. Da passte vielleicht eine Hundebox durch, oder eine Tennistasche. Wir wussten beide, was das bedeutete. Die beiden Mitarbeiter, einer schlecht gelaunter als der andere, tauschten sichtlich genervte Blicke aus.
Der größere der beiden zuckte mit den Schultern und kam auf uns zu.
»Tut mir leid, das muss geöffnet werden.«
Jetzt platzte mir die Hutschnur.
»Entschuldigung? Ihr Kollege am Check-In Schalter hat uns diese dummen Kisten gerade eine Stunde lang mit Pappe polstern lassen und im Anschluss sogar dieses Klebeband hier geschenkt, damit wir sie VOR SEINEN AUGEN wieder verschließen konnten …«
Ich hielt das Klebeband vor seine Nase und versuchte gegen meine Tränen anzukämpfen.
»… nur, damit wir es jetzt nochmal öffnen und alles herausholen sollen? Kommunizieren Sie denn hier nicht miteinander? Das hätte der Typ am Schalter doch wissen müssen!«
Der Mitarbeiter schaute mich unbeeindruckt an.
»Da kann ich nichts für. Wir müssen wissen, was in der Kiste ist. Und wenn die nicht durch das Gerät passt, müssen wir sie aufmachen und einen Sprengstofftest durchführen.«
»Was soll da schon drin sein, Fahrräder! Das sieht man doch!«
Er verdrehte die Augen und zuckte abwertend mit den Schultern.
»Also?«
Er deutete mit der Hand auf die Kiste und gab uns zu verstehen, dass er mit »Wir müssen sie aufmachen« eigentlich »Sie müssen sie aufmachen« meinte.