Geheimnis eines Lebens - Jennie Rooney - E-Book
SONDERANGEBOT

Geheimnis eines Lebens E-Book

Jennie Rooney

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Kinohighlight ab 4. Juli 2019 mit Oscarpreisträgerin Judi Dench

Als eines Morgens zwei Agenten des MI5 vor der Tür der 85-jährigen Joan Stanley stehen, weiß sie, dass der Tag der Abrechnung gekommen ist. Vor über sechzig Jahren studierte sie Physik an der renommierten Universität Cambridge. Für die aus traditionellem Elternhaus stammende Joan ein beeindruckender Ort mit seinen Freigeistern und Idealisten. Bald verband sie eine tiefe Freundschaft mit ihren russischen Kommilitonen Sonya und Leo. Eine Freundschaft, die Joan später, als sie in einer streng geheimen Einrichtung der britischen Regierung arbeitete, vor eine schicksalhafte Entscheidung stellte …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 607

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Buch

In einem Vorort von London verbringt die 85-jährige Joan Stanley, Mutter eines erwachsenen Sohnes und Großmutter zweier Enkel, einen ruhigen Lebensabend. Doch dann stehen eines Morgens zwei Agenten des MI5 vor ihrer Tür – und Joan weiß, dass der Tag der Abrechnung gekommen ist …

Cambridge 1937: Anstatt wie die meisten Mädchen zu heiraten, zieht es die brillante junge Joan Stanley an die renommierte Universität, wo sie Physik studiert. Für die aus traditionellem Elternhaus stammende Joan ist Cambridge mit seinen Freigeistern und Idealisten ein beeindruckender Ort. Bald verbindet sie eine tiefe Freundschaft mit ihrer aus Russland stammenden Kommilitonin Sonya und deren charismatischen Cousin Leo. Die Freundschaft mit den beiden bringt Joan mit einer völlig anderen Welt in Berührung. Und sie stellt Joan später, als der Krieg ihr Leben für immer verändert und sie in einer streng geheimen Atomforschungseinrichtung der britischen Regierung arbeitet, vor eine gefährliche, schicksalhafte Entscheidung …

Autorin

Jennie Rooney, 1980 in Liverpool geboren, studierte Geschichte an der Universität von Cambridge, bevor sie nach London ging und Anwältin wurde. Ihr auf einer wahren Geschichte basierender Spionageroman »Geheimnis eines Lebens« avancierte in Großbritannien zum Bestseller und ist mit Oscarpreisträgerin Judi Dench verfilmt worden.

Jennie Rooney

Geheimnis eines Lebens

Roman

Aus dem Englischenvon Stefanie Retterbush

Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Red Joan« bei Chatto & Windus, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2019

Copyright © Jennie Rooney 2013

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © TRADEMARK (RED JOAN) LIMITED 2018

Redaktion: Ilse Wagner

KS · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-23533-8V002

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Mark

»Ach herrje. Und ich dachte schon, sie würden mich nicht kriegen.«

Melita Norwood, siebenundachtzig Jahre alt und dienstälteste britische KGB-Spionin, imGespräch mit einem Reporter der Times, nachihrer Enttarnung im September 1999.

Sidcup Januar 2005

Sonntag, 11:17 Uhr

Sie kennt die Todesursache. Man braucht es ihr nicht zu sagen.

Der Brief, den sein Anwalt persönlich hierhergebracht hat, ist kurz und schnörkellos. Darin alle Einzelheiten zur Beerdigung am Freitag sowie eine Kopie des Nachrufs aus dem Daily Telegraph. Der Nachruf beschreibt Sir William Mitchells Kindheit in Sherborne, Dorset, wo er sich im Alter von acht Jahren mit Polio ansteckte (das war ihr neu), wovon er aber wie durch ein Wunder fast vollständig genesen sollte, um sich dann in der Schule besonders in Latein und Altgriechisch hervorzutun. Später studierte er in Cambridge moderne und mittelalterliche Sprachen, wurde während des Krieges zur Sondereinsatztruppe der Special Operations Executive eingezogen und erklomm dann im Außenministerium die Karriereleiter in schwindelerregende Höhen, beriet die britische sowie die Commonwealth-Regierungen in Geheimdienstfragen, und im Laufe seines Lebens verliehen ihm zahlreiche Universitäten die Ehrendoktorwürde. Am glücklichsten war er, stand dort zu lesen, beim Wandern mit seiner mittlerweile verstorbenen Frau in den schottischen Bergen. Das war ihr ebenfalls neu.

Eines ist ihr allerdings nicht neu: dass es ganz den Anschein macht, er sei friedlich im Schlaf verstorben.

Sie legt Brief und Zeitungsausschnitt vor sich auf den Tisch. Ihr Atem geht flach und unstet. Unter den Fingernägeln und auf ihrer Schürze klebt Erde, die auf dem cremeweißen Umschlag Schmutzschlieren hinterlässt. Die drei Terrakottatöpfe auf dem Küchentisch stehen noch genauso da wie kurz zuvor, alle halb voll, die Erde um die Geranienstecklinge, die sie frühmorgens im Garten der Nachbarn abgeschnitten hat, festgedrückt. Aber irgendwie scheint die unerwartete Unterbrechung sie verändert zu haben. Sie wirken nicht mehr zart und stolz, den kalten englischen Winter bis in den Januar überlebt zu haben, sondern spindelig und geklaut.

Sie muss an den silbernen Anhänger denken, den William ihr vor sechzig Jahren gegeben hat. Genau so einen haben er und Rupert auch getragen. Ein graviertes Christophorus-Amulett, das den zerlumpten Heiligen zeigt, wie er das Jesuskind auf den Schultern über die stürmische See trägt. Lange Zeit hatte sie nicht um den verborgenen Inhalt des Amuletts gewusst und angenommen, es habe eine ganz andere Bedeutung. Kein Hinweis auf die mit Curare-Pfeilgift getränkte Nadelspitze; eine Substanz, die kaum nachzuweisen war und beinahe augenblicklich zu einer vollständigen Atemlähmung führte. Tod durch Ersticken. So schnell und reglos, dass man tatsächlich an einen friedlichen Tod glauben konnte. Hätte sie das damals schon gewusst, sie hätte dieses Geschenk von William nicht angenommen, doch nun war es zu spät, es ihm zurückzugeben. Er hatte alles so eingefädelt. Er hatte gewollt, dass sie sich frei entscheiden konnte, genau wie er. Nur für den Fall, dass …

War es das? Waren sie ihm auf die Schliche gekommen nach all der langen Zeit? Wenn ja, konnte das nur bedeuten, dass es neue Beweise gab, drängend und unumstößlich, sodass er geglaubt haben musste, es sei den Versuch nicht wert, sich und seinen guten Namen zu verteidigen. Besser zu sterben, als das Risiko einzugehen, dass ihm der Ritterstand aberkannt wurde. Besser, als die Anschuldigungen und die öffentliche Schande zu ertragen, die solche Enthüllungen unweigerlich nach sich ziehen würden, genau wie die unausweichliche Gerichtsverhandlung. Und warum sich derartigen Demütigungen aussetzen? Seine Frau ist tot, Kinder hat er keine. Nichts, was ihn halten könnte.

Keinen Sohn zu schützen, so wie sie.

Neben dem Nachruf prangt ein Foto von William als jungem Mann mit markanten, makellosen Gesichtszügen, genau wie damals, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er schaut direkt in die Kamera, ein leichtes Lächeln umspielt die Lippen, als wüsste er etwas, das er nicht wissen sollte. Sie kann sich gut vorstellen, wie dieses geheimnisvolle Schwarz-Weiß-Foto auf den Rest der Welt wirken muss: glamourös und voller Pathos, ein Abbild jugendlicher Leichtigkeit aus längst vergangenen Tagen. Aber für Joan ist es, als sähe sie einen Geist.

Noch am selben Morgen, nur ein paar Stunden später, stehen sie auch bei ihr vor der Tür. Joan beobachtet aus dem Schlafzimmerfenster, wie ein großer schwarzer Wagen in die ruhige Vorstadtstraße mit den kieselverputzten Reihenhäusern einbiegt, in der sie wohnt, seit sie nach dem Tod ihres Mannes vor fünfzehn Jahren aus Australien nach England zurückgekommen ist. Das Auto passt so gar nicht in diesen Teil von Südostlondon. Sie beobachtet, wie ein Mann und eine Frau aussteigen, sich prüfend umsehen und alles ganz genau in Augenschein nehmen. Die Frau trägt hochhackige Schuhe und einen schicken kamelfarbenen Macintosh, der Mann trägt einen Aktenkoffer. Sie stehen nebeneinander und beraten sich und schauen auf die andere Straßenseite, rüber zu ihrem Haus.

Ihr sträuben sich die feinen Härchen an den Armen und im Nacken. Irgendwie hat sie sich immer ausgemalt, sie würden mitten in der Nacht kommen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Am helllichten Tag. An einem kalten, strahlend hellen, mucksmäuschenstillen Morgen. Sie beobachtet, wie sie die Straße überqueren und das Gartentor öffnen. Vielleicht leidet sie auch einfach unter Verfolgungswahn. Sie könnten wer weiß was sein. Sozialarbeiter oder Essen-auf-Rädern-Werber. Solche Leute hat sie schon des Öfteren abwimmeln müssen.

Es klopft, laut und bestimmt, ein stakkatoartiger Trommelwirbel. Irgendwie hochoffiziell. »Aufmachen. Staatssicherheit.«

Sie tritt rasch zurück, und ihr Herz überschlägt sich fast, als sie die Gardine erschrocken loslässt. Zu alt zum Weglaufen. Was sie wohl machen, wenn sie einfach nicht öffnet? Ob sie dann die Tür aufbrechen? Oder einfach annehmen, sie sei nicht zu Hause, und ein andermal wiederkommen? Sie könnte sich hier verstecken, bis sie wieder weg wären, und dann … Sie stutzt. Was dann? Wo soll sie denn hingehen, ohne früher oder später Misstrauen zu erwecken? Und was soll sie ihrem Sohn erzählen, wo sie ist?

Wieder klopft es, lauter diesmal.

Joan ringt die Hände vor der Brust, als ihr aufgeht, sie könnten sie womöglich bei ihrem Sohn zu Hause suchen, wenn sie sie hier nicht antreffen. Siedend heiß überläuft es ihren Nacken bei dem Gedanken daran, einer von Nicks Söhnen könnte die Tür aufmachen, mit Dreck in den Haaren und schmutzigem Fußballdress, und nach hinten ins Haus rufen, dass da Leute sind, die zu seiner Granny wollen. Würde Nick die beiden sehen, adrett, amtlich und mit schwarzem Wagen, würde er sicher denken, sie wären da, weil ihr etwas zugestoßen ist. Joan versetzt es einen Stich, sich vorzustellen, dass sie ihm einen Schrecken einjagen.

Und wie viel größer, wie viel schrecklicher wäre der Schreck, wenn er erst erfuhr, dass sie mitnichten gekommen waren, um ihm eine Todesnachricht zu überbringen.

Welcher Schreck wohl der schlimmere wäre?

Schleichend schlängelt sich ein Gedanke in ihren Kopf, undenkbar eigentlich und doch naheliegend, klammheimlich und kaum merklich, und es ist, als führe ihr die Angst mit eiskalten Fingern den Rücken hinunter. Ja, denkt sie, nun versteht sie, warum William sich entschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sie könnte es ihm gleichtun, das Christophorus-Medaillon aus ihrem Nachtkästchen nehmen und es aufschnappen lassen, damit die Nadelspitze hervorschaut, und dann könnte sie sich ein letztes Mal ins Bett legen und hätte mit alldem nichts mehr am Hut. Es wäre alles aus und vorbei, und wenn sie sie dann fanden, würde sie genauso daliegen wie William, friedlich und unschuldig. Wie leicht das wäre.

Aber leicht für wen?

Unter Umständen könnte das Curare in ihrem Blut noch nachweisbar sein – wenn damals vor sechzig Jahren noch nicht, dann vielleicht heute. Bei einer Autopsie könnte es möglicherweise entdeckt werden. Vielleicht würde es auch nicht wirken, vielleicht war es zu alt, vielleicht würde es seinen Zweck nur halb erfüllen. Und ob nachweisbar oder nicht, gut möglich, dass sie ihre Untersuchungen trotzdem weiterführen würden. Nick würde den Anschuldigungen ganz allein entgegentreten müssen. Und da weiß Joan plötzlich mit absoluter Gewissheit, dass er nichts unversucht lassen würde, um den Namen seiner Mutter von sämtlichen Anschuldigungen, die gegen sie erhoben werden könnten, reinzuwaschen. Er ist Rechtsanwalt, und sein Gerechtigkeitssinn war immer schon genauso ausgeprägt wie sein Beschützerinstinkt. Bis zum letzten Atemzug würde er sie verteidigen, wenn er der Überzeugung wäre, im Recht zu sein. Das wäre alles zu weit hergeholt, zu unglaublich, zu unvereinbar mit dem Bild, das er sein ganzes Leben lang von seiner Mutter gehabt hat.

In der Spiegelung im Fenster sieht sie, wie der Mann und die Frau den schmalen Weg zur Straße zurücklaufen und sich dann auf dem Bürgersteig vor dem Haus noch einmal umdrehen und zu den Fenstern hochschauen, bevor sie endgültig gehen. Sie weicht noch ein bisschen zur Seite. Sie kann es kaum fassen, was da gerade passiert. Nicht jetzt. Nicht nach all den Jahren. Eine der Autotüren klickt beim Öffnen und wird wieder zugeknallt, und dann die andere. Sie steigen ins Auto, wohl, um dort auf sie zu warten. Oder um zu Nick zu fahren. Sie weiß nicht, was von beidem wahrscheinlicher ist.

So hatte es nicht enden sollen. Unvermutet überkommt sie die Erinnerung an eine Zeit, als sie noch ein junges Mädchen war – ein grellbuntes Technicolor-Bild eines Lebens, von dem sie aus der Ferne der Jahre betrachtet kaum glauben kann, es selbst gelebt zu haben. Es scheint so weit weg von der beschaulichen Existenz, die sie heute führt, mit ihrem Aquarellmalkurs am Dienstagnachmittag und dem Tanztee am Donnerstag. Ein Alltag, der nur unterbrochen wird durch die gelegentlichen Besuche von Nick und seiner Familie. Ein ruhiges, friedliches, zufriedenes Dasein, wenn auch nicht unbedingt jenes außergewöhnliche Leben, das sie sich einmal ausgemalt hatte. Aber trotzdem ihr Leben. Ihr einziges Leben. Und sie hat nicht so viele Jahre lang geschwiegen, um es sich jetzt, so kurz vor dem Ende, aus den Händen reißen zu lassen.

Sie holt tief Luft und marschiert flott durchs Zimmer. Sie achtet nicht mehr darauf, ob man sie von der Straße aus sehen kann. Sie muss das regeln, jetzt sofort, allein. Sie darf nicht zulassen, dass Nick auf diese Weise davon erfährt. Die Sonne scheint wie ein zartweißer Lichtstrauß durch das Fenster über der schmalen Treppe, als sie die Stufen zur Haustür hinuntereilt. Sie schiebt die silberne Sicherheitskette zurück und zieht energisch die Tür auf, gegen den Widerstand der Fußmatte, die sich nur zu gern unter dem Holz verhakt. Blinzelnd schaut sie ins helle Sonnenlicht, bis ihre Augen sich daran gewöhnt haben, dann tritt sie über die Schwelle. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie sieht, wie die Frau sich nach ihr umdreht, gerade als das Auto losfahren will, und für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich ihre Blicke.

»Warten Sie«, ruft sie ihnen nach.

Sie bringen sie in ein großes Gebäude in einer schmalen Seitenstraße, nicht weit von Westminster Abbey und dem Parlament entfernt, vierzig Autominuten von Joans Zuhause. Sie sagen kein Wort, außer, um sich zu vergewissern, dass Joan nichts fehlt, und sie abermals zu fragen, ob sie nicht lieber einen Rechtsbeistand anrufen möchte. Sie antwortet, es sei alles in bester Ordnung, und danke nein, sie möchte keinen Anwalt bei der Vernehmung dabeihaben. Sie braucht keinen. Sie ist doch nicht etwa verhaftet worden, oder?

»Streng genommen nicht, aber …«

»Sehen Sie. Dann brauche ich auch keinen.«

»Es geht hier um gravierende Fragen der Staatssicherheit. Ich würde Ihnen also dringend raten …« Die Frau zögert. »Ihr Sohn ist Anwalt, soweit ich weiß, Mrs Stanley. Sollen wir ihn informieren?«

»Nein«, entgegnet Joan mit schneidender Stimme. »Ich möchte ihn nicht stören.« Kurzes Schweigen. »Ich habe nichts Unrechtes getan.«

Für den Rest der Autofahrt sagt keiner mehr ein Wort, und Joan hat die Hände wie zum Gebet im Schoß gefaltet. Aber sie betet nicht. Sie denkt nach. Sie versucht angestrengt, sich an alles zu erinnern, um sich nicht überrumpeln zu lassen.

Als sie ankommen, wird der Sitzgurt für sie gelöst. Sie folgt der Frau, Ms Hart, aus dem Wagen, während der Mann, Mr Adams, hinter ihnen her die Stufen hinauf zu einer kleinen Holztür in einem behauenen Steinrahmen geht. Wortlos streckt er den Arm aus und hält seinen Ausweis vor einen kleinen schwarzen Kasten. Es klickt, und er drückt die Tür auf.

Ms Hart geht voraus durch einen schmalen Gang und führt Joan in einen quadratischen Raum mit einem Tisch und drei Stühlen, Mr Adams’ Aktenkoffer in der Hand. Der folgt ihnen nicht nach drinnen, sondern wartet draußen und schließt die Tür hinter ihnen. Auf dem Tisch stehen Mikrofone, und in der hinteren Ecke des Raums hängt eine Kamera von der Decke herab. Ein Glasfenster spiegelt Joans Blick. Schnell wendet sie sich ab, aber den Schatten von Mr Adams hinter der Scheibe kann sie trotzdem ausmachen. Ms Hart setzt sich an den Tisch und bedeutet Joan, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

»Sind Sie sich ganz sicher, dass Sie keinen Anwalt möchten?«

Joan nickt.

»Also gut.« Ms Hart nimmt zwei Mappen aus dem Aktenkoffer. Sie legt sie auf den Tisch und schiebt die schmalere der beiden Joan zu. »Fangen wir hiermit an.«

Joan lehnt sich zurück. Sie würdigt die Mappe keines Blickes. »Ich habe nichts Unrechtes getan.«

»Mrs Stanley«, fährt Ms Hart fort. »Ich würde Ihnen raten zu kooperieren. Unsere Beweise reichen für eine Verurteilung. Der Innenminister kann nur dann Gnade vor Recht ergehen lassen, wenn wir ein Geständnis oder ein Schuldbekenntnis bekommen. Informationen.« Sie hält kurz inne. »Ansonsten können Sie unmöglich auf Strafmilderung hoffen.«

Joan sagt kein Wort. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt.

Ms Harts Blick geht zu dem auf Hochglanz polierten Fußboden im Vernehmungsraum, und sie schiebt den Aktenkoffer mit ihrer makellosen Schuhspitze gerade hin. »Ihnen werden siebenundzwanzig Verletzungen der Verschwiegenheitspflicht vorgeworfen, was de facto den Tatbestand des Landesverrats erfüllt. Sicher ist Ihnen bewusst, dass diese Anschuldigungen nicht auf die leichte Schulter genommen werden können. Sollten Sie uns keine andere Wahl lassen, als Sie vor Gericht zu stellen, erwartet Sie eine Mindeststrafe von vierzehn Jahren.«

Schweigen. Joan zählt im Kopf die Jahre, und bei jedem einzelnen krampft sich ihr Herz schmerzlich zusammen. Doch sie verzieht keine Miene.

Ms Hart schaut verstohlen hinüber zu Mr Adams’ Schatten hinter der Glasscheibe. »Es wäre zu Ihrem eigenen Vorteil, wenn alles, was Sie eventuell aussagen möchten, dokumentiert worden ist, bevor wir am Freitag Ihren Namen im Unterhaus bekannt geben.« Sie unterbricht sich kurz. »Außerdem sollten Sie wissen, dass man von Ihnen erwartet, eine öffentliche Erklärung dazu abzugeben.«

Freitag. Der Tag von Williams Beerdigung. Sie wäre ohnehin nicht hingegangen. Mit aller Macht reißt sie sich zusammen, und als sie schließlich etwas sagt, klingt ihre Stimme ruhig und entschlossen. »Ich weiß immer noch nicht, was Sie eigentlich von mir wollen.«

Ms Hart zieht ein Foto aus der Seitentasche des Aktenkoffers und legt es auf den Tisch zwischen sie. Joan wirft einen flüchtigen Blick darauf und schaut gleich wieder weg. Natürlich erkennt sie es. Es ist das Foto aus dem Nachruf.

Ms Hart stützt sich mit den Händen auf den Tisch und beugt sich nach vorn. »Sie kannten Sir William Mitchell aus Cambridge, soweit ich weiß. Sie beide haben dort ungefähr zur gleichen Zeit angefangen zu studieren.«

Joan schaut Ms Hart verständnislos an, ohne das Gesagte zu bestätigen oder zu leugnen.

»Wir versuchen in dieser Anfangsphase nur, uns ein grobes Bild zu machen«, fährt Ms Hart fort. »Alles in einen Gesamtzusammenhang zu setzen.«

»Ein Bild wovon?«

»Wie Sie sicher wissen, ist Sir William letzte Woche recht unerwartet verstorben. Mitten in den gegen ihn laufenden Ermittlungen, weshalb zahlreiche Fragen bedauernswerterweise unbeantwortet geblieben sind.«

Joan runzelt die Stirn und fragt sich, wie man eine Verbindung zwischen ihr und William herstellen wollte. »Ich weiß nicht, wieso Sie der Ansicht sind, ich könnte Ihnen in dieser Angelegenheit weiterhelfen. So gut kannte ich ihn nicht.«

Ms Hart sieht sie mit kritisch hochgezogener Augenbraue an. »Die Ermittlungen gegen Sir William sind nur eine Fußnote in den Ermittlungen gegen Sie, Mrs Stanley. Sie haben die Wahl. Entweder wir sitzen hier und schweigen uns an, bis Sie mit uns zusammenarbeiten, oder wir bringen es möglichst schnell und schmerzlos hinter uns.« Sie wartet kurz. »Erzählen Sie uns von Ihrer Studienzeit.«

Joan rührt sich nicht. Ihr Blick huscht zu der undurchsichtigen Scheibe und dann zu der verschlossenen Tür hinter Ms Hart. Das hier ist nicht das Ende – das wird sie nicht zulassen –, aber ein gewisses Maß an Kooperation könnte vielleicht von Vorteil sein. Womöglich könnte sie so ein bisschen Zeit schinden, um herauszufinden, wie viel sie tatsächlich wissen. Irgendwelche Beweise gegen William müssen sie wohl in der Hand gehabt haben.

»Studiert habe ich«, sagt sie. »Ab 1937.«

Ms Hart nickt. »Und welchen Studiengang haben Sie belegt, welchen akademischen Grad haben Sie erworben?«

Joan kann den Blick plötzlich nicht mehr von Ms Harts Händen losreißen, und es dauert einen Moment, bis ihr aufgeht, was daran so ungewöhnlich ist. Sie sind sonnengebräunt. Sonnengebräunt im tristen englischen Januar. Und unvermittelt trifft sie die Sehnsucht nach Australien wie ein Schlag in die Magengrube. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr nach England wünscht Joan, sie wäre dortgeblieben. Sie hätte wissen müssen, dass sie hier nicht sicher ist. Sie hätte sich nicht von Nick überreden lassen dürfen.

»Abschluss«, sagt sie schließlich.

»Wie bitte?«

»Frauen machten nur einen Abschluss, sie bekamen keinen akademischen Grad verliehen. Damals.« Wieder eine Pause. »Ich habe Naturwissenschaften studiert.«

»Mit Schwerpunkt Physik, soweit ich weiß.«

»Ist das so?«

»Ja.«

Joan schaut Ms Hart kurz an und wendet den Blick wieder ab.

»Also gut.« Eine Pause. »Und warum wollten Sie studieren? Das muss doch damals alles andere als alltäglich gewesen sein.«

Joan atmet ganz langsam aus. Sie weiß, sie sollte jetzt etwas Naheliegendes, Nachvollziehbares erwidern. Nein, alltäglich war das gewiss nicht, aber die einzige andere Alternative wäre gewesen, zu heiraten oder Lehrerin oder Sekretärin zu werden, und keine dieser Möglichkeiten kamen für sie als junge Frau in Betracht. Sie schließt die Augen und denkt zurück. Denkt zurück an das Jahr, als sie von zu Hause ausgezogen ist. Sie will erst die Erinnerung glasklar vor dem inneren Auge haben, bevor sie etwas sagt. Und dann ist plötzlich alles wieder da, und sie kann sich haargenau an dieses Gefühl erinnern, wie es war in diesem Jahr: als schnürte es ihr die Kehle zu zu wissen, wenn sie nicht irgendwo hinginge und irgendwas machte, dann würde ihr womöglich das Herz im Leib zerspringen. Eigenartig, sich jetzt daran zu erinnern: an dieses längst vergessene Gefühl atemloser Enge. Noch nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches empfunden, und nie wieder danach. Und doch fällt ihr jetzt, als sie darüber nachdenkt, plötzlich wieder ein, wie ihr Sohn mit achtzehn Jahren war: genauso rastlos und knisternd vor statischer Energie wie sie damals. Noch nicht erwachsen, aber auch kein Kind mehr. Ein Alter, in dem man leicht zu beeinflussen und zu beeindrucken ist, wie ihre Mutter immer sagte.

Joan verlässt ihr Elternhaus im Herbst 1937, um am Newnham College in Cambridge zu studieren. Sie ist achtzehn Jahre alt und kann es kaum erwarten, endlich in die weite Welt hinauszuziehen. Ihre Ungeduld hat keinen bestimmten Grund, bis auf das unterschwellige Gefühl vielleicht, dass das wahre Leben anderswo wartet, weit weg vom efeubewachsenen Schulhaus des privaten Mädcheninternats in St Albans, wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Das Internat ist ein bodenständiges Institut, in dem besonderer Wert auf Mannschaftssport gelegt wird, durch den die Mädchen (laut der schuleigenen Broschüre) eine gewisse Gerechtigkeitsliebe entwickeln sollen ebenso wie die Fähigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen und würdevolle Verlierer abzugeben. Und so muss Joan jede Woche mehrere Stunden im Trägerkleidchen und mit einem hölzernen Schläger bewaffnet auf einem Schulsportplatz diesen hehren Idealen hinterherhecheln.

Als Töchter des Schuldirektors sind Joan und ihre jüngere Schwester Lally keine gewöhnlichen Schülerinnen – ihr Bett steht nicht in einem der Schlafsäle, sie spielen nicht in den Schultheateraufführungen mit und bekommen keine Fresspakete mit der Post –, und obwohl ihre Eltern das alles beharrlich als Privilegien zu verkaufen versuchen, kommt es Joan eher vor, als stünden sie unter unablässiger Überwachung, wovon sie irgendwann, davon ist sie felsenfest überzeugt, sicher einmal beide Asthma bekommen werden. Sie weiß, eigentlich müsste sie unendlich viel dankbarer sein. Oft genug wird sie daran erinnert, wie glücklich sie sich schätzen kann, dass ihre Generation nicht in den Schützengräben verheizt wird und dass sie nicht von zu Hause weglaufen und Krankenschwester im Lazarett werden muss, so wie ihre Mutter damals mit sechzehn Jahren. Aber gleichzeitig übt die Verlockung jugendlicher Eigenständigkeit einen beinahe unwiderstehlichen Reiz auf sie aus, was sie nur noch rast- und ruheloser werden lässt.

Da draußen lockt ein unendliches, unbekanntes Universum, das von der heilen, watteweichen Welt in St Albans kaum auszumachen ist. Das weiß sie, weil sie es gesehen hat, im Humpeln ihres Vaters, in den Gesichtern der walisischen Kohlearbeiter in der Wochenschau im Kino und in den verwaisten Schiffswerften im Norden, in Zeitungen und Büchern und Filmen, in den Bildern, auf denen kleine Kinder mit zerschrammten Knien und ohne Schuhe in den Türen stehen. Sie hat einen Blick darauf erhascht, als der große Hungermarsch vor einigen Jahren durch St Albans ging, eine stolpernde Prozession abgerissener Männer und Frauen, so schmutzig und verwahrlost, dass ihre Haut fast kohleschwarz war. Joan weiß noch genau, wie einer der Protestmärschler morgens, als die Kolonne die Stadt verließ, vor dem Schulhaus stehen geblieben war, sich gegen den Gartenzaun gelehnt hatte und von einem schrecklichen Hustenanfall geschüttelt wurde.

»Was hat er?«, hatte Joan ihren Vater gefragt. »Sollen wir nicht lieber den Arzt rufen?«

Ihr Vater hatte nur den Kopf geschüttelt. »Das kommt vom Kohlenstaub«, hatte er erklärt. »Dagegen kann man nichts machen. Staublunge. Verklebt die Lungenbläschen, und das Gewebe stirbt allmählich ab. Und er marschiert mit den anderen nach London, weil er seine Arbeit zurückhaben will.«

»Warum sucht er sich nicht einfach eine andere?«

Die Frage hatte ihr Vater nicht gleich beantwortet. Er hatte zugesehen, wie der Mann das Glas Wasser, das Lally ihm gebracht hatte, ohne abzusetzen austrank und dann mühsam versuchte, wieder zu den anderen Protestmarschierern aufzuschließen. Er hatte sich umgedreht, war aus dem Zimmer gehinkt und hatte gebrummt: »Ja, warum eigentlich nicht?«

Aber am nächsten Tag hatte sie eine Antwort bekommen. Ihr Vater hatte den Kaplan unterbrochen, der eigentlich gerade das Schulgebet sprechen wollte, wie es sich nur der Schuldirektor höchstpersönlich erlauben konnte. Er hatte die Tageszeitung über dem Kopf geschwenkt und die Regierung mit ihrer Weigerung, die harsche Wirklichkeit in, wie er es nannte, den »Sonderregionen« Großbritanniens anzuerkennen, für kriminell erklärt. Es müsste entweder Versagen oder willentliche Blindheit sein, aber so oder so sei es ein Verrat an den Bürgern dieses Landes. Dann hielt er alle Schülerinnen und alle Lehrer seiner Schule an, für einen Moment die Augen zu schließen und sich das Leben in den Schiffsbaustädten vorzustellen, die vernagelten Läden und die Bedürftigkeitsnachweise, um die zu bekommen eine Familie erst den letzten Teppich verkauft haben musste, ehe ihr irgendwelche Hilfe zustand. Sich diese Not und diese Entbehrungen vorzustellen. Und zu allem Übel noch den Winter dazu.

Er zitierte Ramsay MacDonald, den Koalitionsführer, der das Land vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch bewahren sollte. »Hat jedermann«, soll Ramsay MacDonald im Unterhaus als Antwort auf die Bitte der Marschierer, angehört zu werden, gefragt haben, »der nach London kommt, zu Fuß oder in einer Staatskarosse, das von der Verfassung verbriefte Recht, mich zu sprechen, meine Zeit in Anspruch zu nehmen, ob es mir nun gefällt oder nicht?«

Es war eine rhetorische Frage, und viele der jüngeren Schülerinnen verstanden ihre Tragweite nicht, aber Joans Vater ließ diese Worte in der polternden Stille nachhallen, die auf seinen Ausbruch folgte, um die Zeitung schließlich angewidert zusammenzufalten. »Unser Premierminister mag es vielleicht nicht wissen, aber wir alle haben die Pflicht«, betonte er und bedachte ein paar Mädchen aus der Mittelstufe, die miteinander getuschelt hatten, mit einem strengen Stirnrunzeln, »diese armselige, hungernde Welt für alle darin ein wenig besser zu machen. Verantwortung zu übernehmen.«

Wieder folgte eine Pause, länger noch als die vorangegangene, und als ihr Vater schließlich wieder das Wort erhob, hallte seine Stimme dröhnend in den Deckenbalken der Aula wider.

»Jeder« – sie kann sich noch ganz genau an seine Worte erinnern – »wie er oder sie am besten kann.«

Zu Joans großer Enttäuschung schien sie am besten Hockey spielen und Hausaufgaben machen zu können. Zunächst wusste sie nicht so recht, wie sie irgendwas davon, wie von ihrem Vater verlangt, zum Wohl der Menschheit zur praktischen Anwendung bringen sollte, aber irgendwann kam ihr der Gedanke, eines von beidem könne sich womöglich als nützlicher erweisen denn das andere. Ihre Naturwissenschaftslehrerin Miss Abbott war die Erste, die sie auf den Gedanken brachte, sie solle doch versuchen, einen Studienplatz an einer Universität zu bekommen. Auf ihr Drängen hin bewarb Joan sich schließlich für ein Ehrendiplom in Naturwissenschaften in Cambridge. Jenem wettergepeitschten Städtchen, in dem Miss Abbott einmal ihre glücklichsten Jahre verbrachte, bevor der Krieg alles überrollt und das Leben, das sie sich erträumte, unter sich zermalmt hatte.

Joan ist ganz aufgeregt bei der Vorstellung, dort zu studieren. Wobei sie sich weniger für den Abschluss interessiert als für die Chance, weggehen zu können, irgendwohin. Und auch die Möglichkeit, Dinge zu lernen, die sie nie erfahren würde, wenn sie hierbliebe. Morgens Vorlesungen zu besuchen, nachmittags Bücher zu lesen und abends ins Kino zu gehen und zuzusehen, wie Mary Brian und Norma Shearer sich von Gary Cooper hoch zu Ross entführen ließen, um dann ihre Frisuren zu kopieren, nur für den Fall, dass ihr einmal Ähnliches widerfahren sollte.

Wobei sie natürlich weiß, dass es eher unwahrscheinlich ist, Gary Cooper ausgerechnet in Cambridge über den Weg zu laufen. Da gibt es nur echte Männer. Männer, deren Zähne nicht im Mondschein blendend weiß strahlen und die, statt auf Pferden zu reiten, Fahrrad fahren, aber trotzdem, unzählige, unendlich viele Männer. Jungs noch, zumindest einige, aber sogar die wären eine willkommene Abwechslung nach all den Jahren unter Mädchen im Internat. Ihrem Vater gegenüber lässt Joan das allerdings lieber unerwähnt, und auch bei den Vorbereitungstreffen mit Miss Abbott, in denen sie ihre Antworten für das Vorstellungsgespräch probt (»Und warum möchten Sie unbedingt an der University of Cambridge studieren?«), sagt sie davon kein Wort. Aber unterschwellig sprudelt sie fast über vor Vorfreude. Sie weiß, dass es ein Privileg ist, dort angenommen zu werden, woran man sie auch unablässig und unermüdlich erinnert, ihr Vater genauso wie der Stipendienfonds des Colleges. Aber ehrlich gesagt würde sie überall hingehen.

Joans Vater platzt fast vor Stolz, als seine Tochter angenommen wird. Es sei etwas ganz Wunderbares, sagt er, in der Religion der Rationalität unterrichtet zu werden. Das sind seine Worte, nicht ihre, aber sie weiß, was er damit meint. Sie verstehen einander, Joan und ihr Vater, und sie teilen eine Art verschwiegener Komplizenschaft, die für ihre Mutter und für Lally nicht schwatzhaft genug ist. Von anderen hört Joan immer wieder, wie ähnlich ihre kleine Schwester ihr doch sei, sie könnten glatt Zwillinge sein, von den fünf Jahren Altersunterschied einmal abgesehen, und Lally errötet jedes Mal vor Freude, wenn sie das hört. Joan hingegen findet das zum Augenverdrehen dumm, versucht allerdings, sich vor Lally nichts anmerken zu lassen. Ihre Schwester ist lieb und süß und rehäugig. Und während Joan sich nicht daran erinnern kann, irgendwann einmal fröhlich mit ihrer Mutter Stoff zum Nähen ausgesucht oder im Garten Gänseblümchenketten geflochten zu haben, scheint Lally kaum eine größere Freude zu kennen. Nur ihr Vater sieht, wie unähnlich die Schwestern einander sind, und brummt ungehalten, wenn jemand etwas anderes behauptet. Er ist Joans Verbündeter bei ihren Fluchtplänen, und Joan liebt ihn dafür nur umso mehr.

Joans Mutter dagegen steht dem ganzen Vorhaben entschieden skeptisch gegenüber. Man sieht ihr an, dass sie am liebsten wutschnaubend in die Schule marschieren und Miss Abbott zur Rede stellen würde, was, um alles in der Welt, sie sich bloß dabei gedacht hatte, Joan zu einem Leben als alte Jungfer zu verdammen, nur weil sie bald zu klug sei, um jemals glücklich werden zu können. Und sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie unter keinen Umständen zulassen wird, dass mit Lally etwas Ähnliches passiert. O nein. Sie wird ihre jüngere Tochter von Miss Abbott fernhalten.

Als Joan einmal bemerkt, zu studieren sei auch nicht schlimmer als auszureißen und Krankenschwester zu werden, schüttelt ihre Mutter nur den Kopf und erklärt beharrlich, das sei etwas ganz anderes. »Das waren beispiellose, nie dagewesene Zeiten, Joanie. Du machst dir keine Vorstellung. Du kannst dir nicht ausmalen, was für Geräusche sie von sich gegeben haben, all diese jungen Männer, die uns an die Krankenhaustür gebracht wurden, wie sie nach ihren Müttern schrien, als sie von den Karren und Ambulanzen abgeladen wurden, bis sie alle Korridore füllten. Entsetzliche, entsetzliche Zeiten waren das.«

Joan hört das nicht zum ersten Mal, sie kennt diese Litanei ihrer Mutter und weiß, es ist besser, nicht zu sagen, was sie wirklich denkt. Nämlich, dass das tatsächlich entsetzlich klingt, aber dass alle Zeiten beispiellos und nie dagewesen sind. Doch sie weiß auch, dass ihre Mutter sie nicht aufhalten kann, und während sich also die einen Mädchen aus ihrer Klasse zum Herbst im Sekretärinnen-College einschreiben und die anderen heiraten und ihren eigenen Hausstand gründen, ist Joan die Einzige, die an einer Universität studieren wird.

Vor ihrer Abreise gilt es allerdings, eine neue Garderobe für sie zusammenzustellen. Als Kompromiss, als kleines taktisches Ablenkungsmanöver, überlässt Joan ihrer Mutter bei sämtlichen Ausstattungsfragen die alleinige Entscheidungshoheit. Gemeinsam erstellen sie eine lange Liste all dessen, was Joan brauchen wird, und dann wird Joan zum örtlichen Warenhaus geschickt, um meterweise Stoff einzukaufen, damit sie für den Aufbruch in ihr neues Leben angemessen ausstaffiert und aufgerüscht ist. Ein Tweed-Ensemble ist ein Muss, dazu ein Matrosenanzug, ein Twinset für die Vorlesungen, eine modische Hose (modisch ist das Wort, das ihre Mutter verwendet, auch wenn sich keine der beiden darunter etwas Genaues vorstellen kann), ein Macintosh, ein schlichtes Wollkleid und ein schickes Tanzkleid. Ihre Mutter besteht außerdem auf einem Pelzmantel. Davon ist sie nicht abzubringen. Das ist zwar eine himmelschreiende Extravaganz, aber für sie gibt es keine Frage: Ein Pelz muss her.

»Der erste Eindruck ist entscheidend, Joanie«, erklärt ihre Mutter nachdrücklich, umgeben von Stecknadeln und Schnittmustern und Stoffen, die – zu unerklärlichen Formen zurechtgeschnitten – auf dem Wohnzimmerteppich ausgebreitet sind, auch wenn keine von beiden so recht weiß, wie dieser erste Eindruck aussehen soll. Sie wissen nur, dass sie es nicht wissen, aber damit kommt man nicht allzu weit.

Kein Wort davon, die Pflichtlektüre oder die erforderlichen Instrumente für die praktischen Versuche oder irgendwelche anderen Utensilien zu kaufen, von denen Joan annimmt, sie könnten sich für ihr Studium als nützlich erweisen. Die Universität, so scheint es, ist hauptsächlich eine Kleiderfrage.

In diesen ersten Tagen allein in Cambridge ertappt Joan sich dabei, wie unbeschreiblich, ungeheuerlich glücklich sie ist, einfach nur dort zu sein. Sie ist ganz vernarrt in ihr neues Zuhause, ein rotes Backsteingebäude aus der Zeit von Queen Anne, umgeben von akkurat gestutzten Rasenflächen, Sportfeldern und Tennisplätzen. Körperlich erinnert sie das Flattern im Magen daran, wie es sich anfühlt, ganz schnell über die gewölbte Brücke hinter dem Clare College zu radeln, und wie der Magen sich plötzlich hebt und alles kribbelt, wenn es dann rasant bergab geht.

Morgens besucht sie die Vorlesungen. Sie lehnt ihr Fahrrad an das Geländer vor dem Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät und huscht dann mit der Büchertasche unter dem Arm in die letzte Reihe des Hörsaals. Die Tage, als Frauen noch einen männlichen Begleiter brauchten, sind zwar vorbei, aber die Dozenten ignorieren ihre weibliche Zuhörerschaft noch immer weitestgehend und sprechen ihr Publikum nur mit »Gentlemen« an. Gern stehen sie unmittelbar vor dem, was sie an die Tafel geschrieben haben, murmeln etwas von »dieses zum Quadrat« und »jenes subtrahiert«, um dann die Tafel zu wischen, ehe auch nur einer der Anwesenden überhaupt verstanden hat, was sie eigentlich tun sollen. Doch davon lässt Joan sich nicht ins Bockshorn jagen. Jede Vorlesung ist für sie wie ein klitzekleiner Wissenspunkt, der sich früher oder später mit einem weiteren Wissenspunkt verbinden wird, und noch einem, und noch einem, bis sie eines schönen Tages endlich zumindest eine der Formeln verstehen wird, die in verschmierten Schnörkeln an die Tafel gekritzelt werden. Sie hofft allerdings inständig, das möge noch vor den Prüfungen im Sommer geschehen.

Ihr Zimmer in Newnham liegt im Erdgeschoss von Peile Hall, einem recht neuen Gebäudeteil mit modernen Badezimmern und kleinen Kochnischen und einem Blick über die makellos manikürten Gärten. Es ist so groß wie der Salon zu Hause, mit einem kleinen Klappbett an der einen Wand und einem dick gepolsterten Sofa an der anderen, mit unendlichen Weiten in der Mitte, wo nur ein Teppich liegt und sie den Handstand üben kann, ohne auch nur im Geringsten Gefahr zu laufen, dabei irgendwas kaputt zu machen. Die Kochnische verfügt über einen einzelnen Gaskocher, auf dem sie bisher noch nicht zu kochen versucht hat. Das Frühstück lässt sie meistens ausfallen und isst stattdessen auf dem Weg zur Vorlesung rasch einen Apfel. Zum Mittagessen gibt es krosses Brot mit Käse oder Kochschinken, und abends isst sie dann im Studentenwohnheim, in einem großen, hellen Saal mit traumhaft schönem Deckenfries und langen Gemeinschaftstischen. Auch wenn sie sich nicht gleich mit ihren Kommilitonen anfreundet, ist sie trotzdem nie allein. Jedermann ist erstaunlich freundlich, und das Abendessen verläuft stets sehr gesellig, laut und fröhlich. Noch die Cliquen und strengen Hierarchien der Schulzeit gewohnt, ist das für Joan ein unerwartetes Vergnügen, das sie der Tatsache zuschreibt, dass hier in Cambridge jeder irgendwie ein Streber ist, weshalb sie ausnahmsweise einmal nicht unangenehm auffällt.

In der dritten Nacht wird Joan von einem brüsken Klopfen gegen das Fenster geweckt, gefolgt von Rascheln und Scharren auf dem Fensterbrett, als versuche eine enorm dicke Katze, in ihr Zimmer zu gelangen. Sie beugt sich aus dem Bett, nimmt die untere Ecke der Gardine zwischen Zeigefinger und Daumen und zieht sie ganz langsam ein wenig zurück. Ihr Hockeyschläger lehnt gleich neben ihr an der Wand, was irgendwie sehr beruhigend ist. Sie räuspert sich, um notfalls laut schreien zu können, und späht vorsichtig hinaus.

Zwei feuerrote hochhackige Schuhe stehen draußen auf dem Fenstersims.

Sie zieht die Gardine noch ein bisschen weiter zurück und schaut nach oben. Eine junge Frau, halb stehend und halb kauernd, herausgeputzt mit schwarzem Seidenkleid und weißem Schultertuch. Als sie sieht, wie die Gardine gelüftet wird, grinst sie und legt einen Finger auf die Lippen. Sie bückt sich, bis ihr Gesicht fast auf gleicher Höhe mit Joans ist.

»Schnell, mach auf«, formt sie hinter der Scheibe lautlos mit den Lippen.

Joan zögert einen Augenblick, dann schlüpft sie aus dem Bett und entriegelt das Fenster, und die junge Frau macht einen Schritt durchs Fenster und hinein in Joans Zimmer. »Mein Zimmer ist im dritten Stock«, verkündet sie, wohl zur Erklärung. Sie zieht erst den einen, dann den anderen Schuh aus, dann springt sie vom Fenstersims. »Verflixte Sperrstunde«, murmelt sie und massiert sich die Zehen, wo die Schuhe wohl gedrückt haben. »Entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Das Fenster zur Wäscherei war verriegelt.«

Joan reibt sich die Augen. »Halb so wild.«

Neugierig schaut die junge Frau sich im Zimmer um, betrachtet die schweren grünen Vorhänge und das Sofa mit den vielen bunt zusammengewürfelten Kissen. Haare und Augen sind dunkel, die Wangen zart und rosig gepudert, und auf den Lippen trägt sie grellroten Lippenstift. Joan fällt auf einmal siedend heiß ein, wie sie wohl aussehen muss, wie sie so dasteht, barfuß und im Nachthemd, die Haare mit kleinen Musselinstreifen aufgedreht, und wird ganz verlegen. Rasch huscht sie wieder zu ihrem Bett, in der Annahme, das werde die junge Frau zum Gehen veranlassen, aber die scheint es überhaupt nicht eilig zu haben.

»Bist du auch Erstsemester?«

Joan ist ganz erstaunt zu hören, dass die junge Frau wohl genau wie sie selbst zu den Neuankömmlingen gehört. Sie wirkt so selbstsicher, so vertraut mit den Regeln, dass es Joan schwerfällt zu glauben, sie sei nicht schon seit Jahren hier. »Ja.«

»Englische Literatur?«

Joan schüttelt den Kopf. »Naturwissenschaften.«

»Ach. Deine Kissenbezüge haben mich auf die falsche Fährte gelockt.« Sie unterbricht sich. »Ich studiere Sprachen. Mehr modern als mittelalterlich. Sag mal, du hättest nicht zufälligerweise einen Morgenmantel, den du mir ausborgen könntest? Ich möchte nicht erwischt werden, wenn ich in dieser Aufmachung durchs Haus geistere. Ich tue lieber so, als hätte ich den ganzen Abend heiße Schokolade getrunken oder was auch immer die anderen Hühner so machen.«

Joan nickt und wendet sich ab, um nicht zugeben zu müssen, dass sie vor dem Zubettgehen genau das getan hat, dass sie eines von diesen Hühnern ist. Sie geht zum Wandschrank und zieht ihren Morgenmantel heraus.

»Ist das ein Nerz?«, fragt die junge Frau und lugt über Joans Schulter. Ihre Neugier scheint geweckt.

»Hmm, ja, ich glaube schon.« Joan zuckt ganz leicht mit den Schultern. Es ist ihr peinlich, so etwas im Schrank zu haben. Es ist eine Dauerleihgabe ihrer Cousine zweiten Grades, die keine Verwendung mehr dafür hatte, wobei Joan sich nicht vorstellen kann, je mutig genug zu sein, ihn tatsächlich zu tragen. »Hübsch hässlich, was?«

»Na ja, irgendwie ziemlich fin de siècle«, meint die junge Frau mit einem schiefen Grinsen und tritt zu Joan an den Schrank. Sie streckt die Hand aus und streicht über den Mantel, zieht ihn vom Bügel, legt den Kopf schief, um ihn genauer zu betrachten, und wirft ihn sich schließlich über die Schulter. »Wenigstens kein Polarfuchs. Vor denen kann man sich gerade gar nicht mehr retten.«

»Außer am Polarkreis.«

Die junge Frau lacht kurz und hell und etwas verdutzt auf. Sie dreht sich um und betrachtet sich im Spiegel. Dann hebt sie den Arm und drehte eine Pirouette, und das Seidenkleid klebt ihr am Körper, und der Nerzmantel bauscht sich wie bei einem Flapper Girl: wundersam verwandelt, unerwartet mondän und glamourös, wie Joan es sich nie hätte ausmalen können. So muss man ihn tragen, denkt Joan. Nicht drapiert oder zugeknöpft oder gegürtet. Nur übergeworfen.

»Ich finde ihn gar nicht hässlich«, meint die junge Frau. »Nur anders.«

Joan lächelt. Vermutlich ist er anders, weil er schon so alt ist, dass man den Schnitt heutzutage gar nicht mehr kennt. Aber er wirkt wirklich prächtig, wie er sich da bauscht und plustert, luxuriös und weich, sodass sie nicht umhinkommt, ihn zu bewundern, als die junge Frau ihn auf Joans Bett wirft. In ihrem nächsten Brief muss sie sich unbedingt angemessen bei ihrer Mutter dafür bedanken. »Na ja, so schlecht ist er wirklich nicht«, gibt Joan zu. »Nur so ungewohnt.«

»Ich bringe dir deinen Morgenmantel morgen wieder«, sagt die junge Frau, schleicht auf Zehenspitzen zur Tür und dreht den Knauf. Vorsichtig späht sie hinaus, um sich zu vergewissern, dass niemand auf dem Gang ist, dann schaut sie sich noch mal um und weist mit einem Nicken auf die knallroten Stilettos, die sie achtlos mitten im Zimmer hat liegen lassen. »Und dann hole ich auch meine Schuhe ab, wenn du nichts dagegen hast? Wenn ich erzähle, dass das meine Hausschuhe sind, glaubt mir das keiner.«

»Natürlich.« Joan wartet, bis die junge Frau die Tür hinter sich geschlossen hat. Sie nimmt den Pelzmantel und hängt ihn zurück in den Schrank, und dann geht ihr Blick zu den Schuhen – ein grellroter Farbklecks auf ihrem beigen Teppich. Wie, um alles in der Welt, fragt sie sich, kann irgendjemand in diesen Dingern laufen, geschweige denn auf ein Fenstersims klettern? Während sie noch darüber nachdenkt, schlüpft sie mit den Füßen in die verführerischen knallroten Lederstilettos. Sie sitzen eng, aber nicht unbequem. Sie erhascht einen Seitenblick von sich im Spiegel und bleibt einen Moment stehen, mit einem Mal gar nicht mehr schläfrig, sondern aufgeregt und kribbelig, bis sie wieder zu Sinnen kommt, die Schuhe auszieht und sie neben ihre ausgelatschten, flachen, vernünftigen Schnürschuhe stellt und schließlich wieder ins Bett schlüpft.

Sonntag, 14:39 Uhr

Ms Hart nimmt ein Foto aus der Akte und legt es auf den Tisch neben das Bild von William. »Erkennen Sie das wieder?«

»Oh«, wispert Joan. Es ist das Bild ihres Laborausweises aus ihrer Studienzeit in Cambridge. Das hat sie seit Jahren nicht gesehen, und doch ist es ihr so vertraut, dass sie fast das Gefühl hat, in den Spiegel zu schauen. Zugegeben einen sepiafarbenen, angelaufenen Spiegel, aber trotzdem ein Spiegel. Das Gesicht auf dem Foto ist geschmackvoll geschminkt, trägt Puder und Rouge, und der Blick ist verträumt in die Ferne gerichtet; die Augen schimmern silbergrau in diesem Schwarz-Weiß-Spektrum. Und Lippenstift hat sie immer getragen; dunkel und wie gemalt wirkten ihre Lippen damit, die auf dem Bild ganz leicht geöffnet sind. Wie anders sie damals ausgesehen hat, verglichen mit heute. So jung und unschuldig und, na ja, hübsch. Das Wort ist ihr seit Jahren nicht mehr in den Sinn gekommen, um sich selbst zu beschreiben. »Natürlich erkenne ich es wieder.«

»Dieses Foto wird am Freitag zusammen mit der Presseerklärung veröffentlicht.«

Joan schaut zu ihr auf. »Aber warum sollte die Presse ein Foto von mir haben wollen?«

Ms Hart verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich glaube, das wissen Sie sehr genau, nicht wahr, Mrs Stanley?«

Joan schüttelt den Kopf, immer darauf bedacht, die ratlose Miene nicht zu vergessen. Sie kann sich nur zu gut vorstellen, dass die Presse sich auf dieses Foto stürzen und ganz sicher großes Interesse an der Geschichte haben wird, wenn sie tatsächlich so viel wussten, wie William wohl angenommen hatte. Plötzlich hat sie einen Kloß im Hals, und zum ersten Mal flackert in Ms Harts Augen ein Anflug von Mitgefühl auf.

»Wo haben Sie das her?«, flüstert Joan.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Das sind vertrauliche Informationen.« Sie bricht ab. Mit verschränkten Armen sitzt Ms Hart da. »Was ich Ihnen sagen kann, hängt davon ab, wie viel Sie mir sagen.«

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

»Ich bitte Sie, das stimmt doch nicht, oder?«

Joan flattert das Herz in der Brust, aber sie wendet den Blick nicht ab. Ihre Stimme ist lauter geworden. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie glauben, was ich getan haben soll.«

Ms Hart wirft einen Blick in ihre Notizen. Sie blättert eine Seite um, kreist etwas ein und sagt dann: »Sie sagten, Ihr Vater sei Sozialist gewesen …«

»Das habe ich nie gesagt«, unterbricht Joan sie.

»In anderen Worten.«

Joan zuckt die Schultern. Sie ist wütend auf sich, weil sie Worte gesagt hat, die man ihr im Mund herumdrehen kann, um ihren Vater mit hineinzuziehen in … in was eigentlich? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, sie muss ganz genau aufpassen, was sie dieser Frau erzählt. »Aber das habe ich nicht gesagt.«

»Also? Was war er dann?«

Joan runzelt die Stirn und denkt über Ms Harts Frage nach. Sie möchte ganz sicher sein, dass sie die Ansichten ihres Vaters präzise wiedergibt, denn er selbst war darin immer sehr genau. »Dieses Wort hätte er nie verwendet, um sich selbst zu beschreiben. Er war der Meinung, die Regierung müsse mehr tun, um den Menschen zu helfen. Politisch wie sozial. Mein Vater hielt große Stücke auf Institutionen. So war er. Privatschule, Universität, Offizier in der Armee, Schuldirektor. Er fand, dass die Regierung als Institution die Menschen im Stich lässt.«

»Er war also kein Mitglied irgendeiner politischen Vereinigung?«

»Nein.«

»Und Ihre Mutter?«

Joan kann es sich nicht verkneifen, eine Augenbraue hochzuziehen. »Ganz bestimmt nicht.«

»Dann würden Sie also nicht sagen, dass Sie von jemandem im Speziellen dazu ermuntert wurden, sich für Politik zu interessieren?«

Joan sieht sie an und fragt sich, wann sich das geändert hat. Seit wann gilt man als subversives Subjekt, wenn man sich für Politik interessiert? Soweit sie sich erinnern kann, wurde das damals in ihrer Jugend als ganz selbstverständlich erachtet. Es war nicht wie heute, wo die Nachrichten nur noch Klatschgeschichten brachten über Menschen, die nie etwas Außerordentliches geleistet oder erreicht hatten, die keinen blassen Schimmer von Grammatik hatten oder von der Bedeutung des Wortes prominent, die zu puppenhaft wirkten, zu bunt und doch alle irgendwie gleich. Was für eine Gesellschaft stellt solche Menschen auf ein Podest? Sie weiß ganz genau, was ihr Mann dazu gesagt hätte: Die Wurzel allen Übels sei die Thatcher-Ära gewesen, und womöglich hatte er sogar recht, aber sie wusste, dass es bei den Linken nicht besser war, nach dem ganzen Rummel mit den Gewerkschaften in den Siebzigern. Es gibt einfach nichts mehr, woran man heutzutage noch glauben kann, und diese Erkenntnis macht sie traurig, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch, weil ihr aufgeht, dass das die Gedanken einer alten Frau sind. Überflüssig und unnötig. Sie schüttelt den Kopf.

»Bitte sagen Sie es laut für die Aufnahme«, fordert Ms Hart sie freundlich, aber bestimmt auf.

»Es hat mich niemand ermuntert. Niemand im Speziellen.«

Ohne zu blinzeln, sieht Ms Hart sie an, als hätte sie eine andere Antwort erwartet. Sie wartet noch einen Augenblick ab. »Also gut«, sagt sie schließlich. »Ich dachte, Sie erzählen mir jetzt von Ihrer Freundschaft mit Sonya Galich, wie sie damals hieß. Vorausgesetzt, wir wollen chronologisch vorgehen.«

Joan zittert. Ihr Blick geht zu ihren Füßen, und sie versucht abzuwägen, wie viel sie ihnen sagen kann und wie viel sie ohnehin schon wissen.

Wie versprochen kommt die junge Frau am nächsten Morgen vorbei und bringt Joan den geliehenen Morgenmantel zurück. Joan ist gerade dabei, einen Essay über Beugungstechniken bei der Untersuchung atomarer Partikel zu schreiben und hört die junge Frau erst gar nicht ins Zimmer kommen. Als sie aufschaut, sieht sie sie im Türrahmen lehnen, in einem blauen Hosenanzug und Wollslippern. Die Haare hat sie aufgetürmt und mit einem schokoladenbraunen Tuch hochgebunden; eine Frisur, die Joans Mutter sicher geringschätzig als Waschweiber-Schick abgetan hätte, aber mit der die junge Frau aussieht, als sei sie gerade einem Filmset entstiegen. Sie nimmt ein schmales silbernes Etui heraus und lässt es lässig aufschnappen. Es schimmert und funkelt in ihrer Hand. »Zigarette?«

Joan raucht gelegentlich, aber immer nur in Gesellschaft und nie auf ihrem Zimmer. Und sie fühlt sich dabei auf eine halb angenehme Art befangen. Sie mag den Schmollmund, den man unvermeidlich beim Ziehen an der Zigarette macht, die schmalen Katzenaugen, die Rauchkringel. Der Gedanke daran erheitert sie, dass ihre Mutter außer sich wäre, wenn sie sehen könnte, wie sie an einem Wochentag vor dem Mittagessen eine Zigarette raucht – Für wen hältst du dich? Eine Femme fatale? –, aber ihre Mutter sieht sie nicht, also zuckt sie zustimmend mit den Schultern, was die junge Frau als Einladung zu verstehen scheint hereinzukommen. Sie reicht Joan eine Zigarette, und Joan steckt sie sich zwischen die Lippen, wie sie glaubt, dass eine Femme fatale es tun würde. Die junge Frau reißt ein Streichholz an, zündet sich die Zigarette an und hält dann Joan das Streichholz hin, damit sie es ihr nachtun kann. Joan beugt sich nach vorn, schließt die Augen und zieht behutsam an der Zigarette, bis diese glüht.

Kurzes Schweigen macht sich breit, das aber nicht unbehaglich ist. Die junge Frau schaut sich im Zimmer um und bemerkt belustigt, dass die Schuhe ordentlich aufgereiht neben der Tür stehen. »Danke für gestern Abend. Entschuldige, falls ich dich erschreckt habe.«

Joan grinst. »Ja, das hast du.« Sie geht in die kleine Küche und sucht einen Aschenbecher, kramt in den Schränken über dem Gaskocher und entdeckt schließlich ein Keramikschälchen, das sie einmal im Töpferkurs an der Schule gemacht hat. Sie klopft die Asche hinein, während sie wieder zurückgeht, und stellt es dann zwischen sich und die junge Frau auf den Schreibtisch. »Wo warst du eigentlich? Hattest du Spaß?«

»Ich war mit meinem Cousin und ein paar seiner Freunde unterwegs.«

»Studiert er auch hier?«

»Am Jesus College. Er macht gerade seinen Doktor.«

Joan erwartet eigentlich, dass sie das noch ausführt, aber sie sagt nichts weiter dazu. Stattdessen beugt die junge Frau sich über Joans halb fertigen Essay und überfliegt ihn rasch, die Hand in die Hüfte gestemmt. Zu Joans Erstaunen ist sie plötzlich sehr froh, dass die junge Frau letzte Nacht ausgerechnet durch ihr Fenster geklettert ist. Ihr imponiert dieses Selbstbewusstsein, diese Lässigkeit. Joans Blick fällt auf eine Einladung, die in ihrem Bücherregal lehnt. »Gehst du heute Abend auch zu der Sherry-Party?«, erkundigt sie sich.

»Die Sherry-Party der Tutoren?« Die junge Frau schnaubt vor Lachen, und Joan schämt sich ein wenig dafür, es überhaupt angesprochen zu haben. Die junge Frau drückt die Zigarette aus, dann dreht sie sich um und sieht Joan an. »Nur, wenn ich deinen Pelzmantel tragen darf.«

Sie heißt Sonya. Ein exotischer, außergewöhnlicher Name, der gut zu einer jungen Frau passt, die nicht durchs Leben geht, sondern segelt, die ins Zimmer schwebt und wieder hinaus, ohne je zu stolpern oder zu stocken. Ganz normale Menschen werden unversehens zu ihrem Publikum, ob sie es nun wollen oder nicht. Sie glauben, sie agierten, aber das tun sie nicht. Nicht richtig. Nicht wie Sonya. Sie ist nicht wie die meisten anderen jungen Frauen in ihrem Alter mit Bescheidenheit geschlagen. Sie scheint ganz genau zu wissen, dass sie anders ist, und es scheint ihr nichts auszumachen. Sogar ihre Aufmachung ist anders, aber nicht so wie Joans. Joans Sachen sind zu neu, zu selbst gemacht, um stimmig zu wirken. Wenn Joan sich im Spiegel betrachtet, scheint es ihr, als trüge sie die Kleider einer anderen, die ihr nicht so recht passen wollen. Die Kleider und Röcke sind zu lang, die Taille sitzt zu locker. Ein unschöner Gedanke, den sie lieber nicht denken würde. Aber ganz gleich, wie oft sie sich auch einzureden versucht, dass sie ihrer Mutter dankbar sein sollte für all die Zeit und Mühe, die sie für ihre Universitätsgarderobe verwendet hat, das Zupfen und Zerren und Nähen bis in die späte Nacht, sie bekommt den Gedanken einfach nicht aus dem Kopf.

Sonya hingegen trägt, was ihr gefällt: schwarze Seidenkleider am Abend, und am Tag einteilige Hosenanzüge und seltsame senfgelbe Kleider, formlos, ohne Abnäher und Falten und Biesen, die an jeder anderen wie ein Kartoffelsack aussehen würden, notdürftig von einem viel zu schmalen Gürtel zusammengehalten, aber an Sonya sehen sie irgendwie schick und modisch aus. Nicht direkt elegant, aber außergewöhnlich. Und dann die hohen Absätze, das Kopftuch, die knallroten Lippen. Es ist beinahe ein Anti-Mode-Bekenntnis, ein verächtliches Schulterzucken, mit dem sie Strumpfhalter und Mieder und das adrette Aussehen abtut, und das zu einer Zeit, lang bevor jedes Kleid ein Mode-Statement sein musste. Beinahe antimodisch, aber nur beinahe. Denn es wird nicht lang dauern, bis alle so aussehen wollen wie sie.

Abends kommt Sonya zu ihr aufs Zimmer, als Joan sich gerade für die Party zurechtmacht, und bietet ihr einen Tausch an: Wimperntusche gegen Nerzmantel. Joan protestiert, sie wolle nichts dafür haben, Sonya könne sich den Mantel einfach so ausleihen. Tauschgeschäfte braucht es nicht. Wimperntusche könne sie ohnehin nicht tragen, also lässt sie es lieber gleich bleiben.

Sonya wischt ihre Bedenken mit einer Handbewegung beiseite und rauscht ins Zimmer. »Papperlapapp, natürlich kannst du das. Richtig aufgetragen wird niemand merken, dass du Wimperntusche trägst. Sie werden nur alle hin und weg sein, was du plötzlich für große Rehaugen hast. Komm her, setz dich, ich zeig’s dir.« Und dann erklärt sie Joan, wie sie die Wimperntusche auftragen muss. Sie tupft ein paar Tropfen Wasser auf die harte schwarze Farbe und trägt die Mischung dann mit einem kleinen Bürstchen und langen Strichen auf Joans Wimpern auf. »Siehst du! Wie findest du es?«

Joan betrachtet sich im Spiegel und muss zugeben, dass die Verwandlung atemberaubend ist. Sie hat ihre Wimpern schon mit Brillantine gebürstet, aber das hatte nicht einmal annähernd einen solchen Effekt. Ihre Wimpern sind lang und sanft geschwungen, und wenn sie das Kinn senkt und dann aufschaut, wie Sonya es ihr vormacht, dann klimpern sie ganz automatisch. So macht man das also, denkt sie verzückt.

»Was habe ich dir gesagt? Du siehst aus wie Greta Garbo in Anna Karenina.« Zufrieden grinsend schaut Sonya sie an, dann marschiert sie schnurstracks zu Joans Kleiderschrank und zieht den Pelzmantel heraus, ihren Teil des Tauschgeschäfts, um ihn sich dramatisch über die Schulter zu drapieren und sich mitten im Zimmer um die eigene Achse zu drehen.

»Aber du musst gut auf ihn aufpassen«, ermahnt Joan sie. »Ich würde einen Heidenärger bekommen, wenn ich ihn verliere.«

Sonya lacht. Sie zieht ein Tuch aus ihrer Tasche – purpurrot mit kleinen weißen Blüten – und bindet es sich um den Kopf. »Natürlich passe ich auf ihn auf. Und jetzt mach voran, Garbo. Sonst kommen wir noch zu spät.«

Ihre Schuhe klappern auf dem Kopfsteinpflaster, und der Nerzmantel bauscht sich hinter ihnen, als sie beim Anchor den Fluss überqueren. Aus der offenen Tür des Pubs hört man Pfiffe und Gejohle, halb im Scherz, aber auch sehr anerkennend, während sie weiterlaufen, die Silver Street hinunter und weiter auf die King’s Parade. Joan ist so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt, und erstaunt stellt sie fest, dass einiges davon auch ihr gilt: der Abglanz der Göttin. Sie fragt sich, ob es sich wohl so anfühlt, Sonya zu sein. Stets bestaunt, stets bewundert.

Die Sherry-Party findet in einem alten Gebäude im Herzen der Stadt statt, in einem imposanten quadratischen Raum mit Holzvertäfelung, voller Bücher und Kerzen, und das Gelehrtenvölkchen, das plaudernd inmitten der Szenerie steht, bemerkt Joans und Sonyas Ankunft kaum. Sonya geht zur Garderobe, um den Pelzmantel abzugeben, und weist Joan an, schon mal einen Drink zu besorgen. Kellner in schwarzen Uniformen mit gestärktem weißem Kragen tragen Silbetabletts mit winzigen Gläschen herum, in denen der Sherry funkelt und schimmert.

»Dry oder medium?« Plötzlich steht einer der Kellner vor ihr.

»Oh.« Joans Blick geht zu seinem Tablett mit den unzähligen Gläsern und dann wieder zurück zu ihm. »Das weiß ich nicht.«

Der Kellner guckt zuerst ganz streng, aber als er sieht, wie verdattert sie dreinschaut, grinst er breit und bekommt dabei kleine Lachfältchen um die Augen. Vertraulich beugt er sich zu ihr nach vorn. »Neu hier, was?«

Joan nickt.

»Nehmen Sie den trockenen. Medium ist zwar süßer, aber wenn Sie sagen, dass Sie trockenen Sherry bevorzugen, denkt jeder, Sie hätten Ahnung und wüssten, wovon Sie reden.« Sein Blick geht zu den versammelten Akademikern, die ins Gespräch vertieft zusammenstehen, dann hält er ihr das Tablett hin. »Und das scheint das Einzige zu sein, was hier zählt. Die Gläser links, von Ihnen aus gesehen.«

Joan lächelt dankbar und nimmt zwei Gläser vom Tablett, eines für sich und eines für Sonya. »Danke.«

Sie sieht Sonya herüberkommen und winkt ihr zu, und dann beobachtet sie, wie Sonya und der Kellner sich anschauen. Der Kellner verbeugt sich ganz leicht zur Begrüßung, kaum merklich, aber es ist nicht zu übersehen, dass er sie erkennt, dann wendet er sich ab und begrüßt die nächsten Neuankömmlinge.

»Woher kennst du den denn?«, fragt Joan verwundert, kaum dass sie außer Hörweite sind.

Sonya nippt an ihrem Sherry. »Wen, Peter? Den habe ich gestern Abend kennengelernt. Mein Cousin kennt ihn vom Kellnerstreik letztes Jahr. Er hat ihnen mit den Flugblättern geholfen.«

»Warum haben sie gestreikt?«

»Das Übliche. Bezahlung, Überstunden, Urlaubstage.«

Sie werden von einer der Tutorinnen unterbrochen, einer großen, schlanken Frau mit langen grauen Haaren, die Joan unbedingt dazu überreden will, sich für ihr Zoologieseminar anzumelden. Erst kürzlich hat sie einen Artikel im Journal of Animal Ecology veröffentlicht, in dem ihre Forschungsarbeit zu wirtsuchenden parasitären Insekten umrissen wird, und die Feinheiten eben jener Studien scheint sie unbedingt irgendjemandem en detail darlegen zu wollen. Und Joan ist viel zu höflich, um sich wie Sonya einfach zu entschuldigen und aus dem Staub zu machen, als immer deutlicher wird, dass ihre Abhandlung nicht gerade die kürzeste ist. Sie sieht, wie Sonya sich zu einem Grüppchen junger Mädchen aus ihrem Jahrgang gesellt, mit denen Joan am ersten Abend im Speisesaal zusammengesessen hat. Sie erinnert sich noch sehr gut an dieses Gespräch: Pferde, Lacrosse spielen im Internat, Segelregatten im Solent. Mit angestrengt interessierten Gesichtern lauschen sie Sonyas Erzählungen, und Joan sieht, wie Sonya im Gegenzug höflich lacht. Aber ihr entgeht auch nicht die distanzierte Art Sonyas, als wisse sie nicht ganz genau, was sie mit ihnen anfangen soll. Nach einigen weiteren, quälend langen Minuten parasitenlastiger Unterhaltung entschuldigt Joan sich höflich bei der Tutorin und huscht dann rasch hinüber zu Sonya.

»Dem Himmel sei Dank, dass du da bist«, wispert Sonya erleichtert und reicht ihr noch einen Sherry, den sie von einem vorbeischwebenden Tablett geangelt hat. »Hier, trink aus, und dann verschwinden wir. Irgendwo in dieser Stadt muss noch was Aufregenderes passieren.«

Joan zögert. »Lass uns noch ein bisschen bleiben. Ich möchte nicht unhöflich erscheinen.«

Mit kaum verhohlener Verärgerung sieht Sonya sie an, doch dann zuckt sie die Schultern und grinst ganz leicht. »Also gut. Noch eine Stunde, aber dann müssen wir hier weg.«

Am Ende bleiben sie aber doch den ganzen Abend, denn noch ehe die versprochene Stunde vorbei ist, hat Sonya in einigen Sprachstudenten ein dankbares Publikum gefunden, das hingerissen an ihren Lippen hängt und sie anhimmelt, weil sie so wunderbar Deutsch spricht. Sonya nimmt die bewundernden Komplimente nur allzu gern huldvoll entgegen. Joan hingegen wird von einem jungen Mädchen in ein Gespräch verwickelt, das sie noch nie zuvor gesehen hat: Margaret, eine junge Altphilologie-Studentin, die ihr in aller Ausführlichkeit und ganz im Vertrauen von ihrer heimlichen Verlobung mit einem jungen Mann erzählt, der auf dem elterlichen Hof arbeitet, und als sie Margaret endlich entkommen ist, ist schon die Nächste da, die ihr unbedingt von einer faszinierenden neuen Studie berichten muss, die sie gerade durchführt, über den Kontakt zwischen den Rentier-Tungusen und den russischen Kosaken in der nordwestlichen Mandschurei. Joan bemüht sich, Interesse zu heucheln, aber es fällt ihr nicht leicht, und sie verliert allmählich den Überblick, wie viele winzige Gläschen Sherry sie sich im Laufe des Abends zu trinken genötigt sieht. Als Sonya schließlich kommt, um sie abzuholen, ist sie erleichtert, endlich eine gute Entschuldigung zu haben, sich zu verabschieden.

Untergehakt gehen sie nach Hause, beide beschwipst vom vielen Alkohol, und kichern ausgelassen darüber, wie eines der anderen Mädchen sich mokiert hatte, als Sonya deutsche Gedichte vortrug. Sonya äfft sie nach: »Auf welchem Internat in Surrey sagtest du noch mal, bist du gewesen?«

Joan lacht, obwohl sie neugierig ist und die Antwort auf diese Frage selbst zu gern wüsste. Sonya spricht Englisch ohne den leisesten Hauch eines ausländischen Akzents, aber ihre etwas gedehnte, breite Aussprache klingt eher amerikanisch als europäisch, und Joan ist sich ziemlich sicher, dass Sonya keine gebürtige Engländerin ist.

Als könnte sie ihre Gedanken lesen, erklärt Sonya unvermittelt: »Ich war nur zwei Jahre dort.«

»Im Internat?«

Sie nickt. »In Farnham war das, in Surrey.« Sie unterbricht sich kurz. »Aber geboren wurde ich in Russland.«

Es wird ganz still, und Joan ist erst mal ein wenig verdutzt, als sie das hört. Irgendwas an Sonyas Tonfall verrät ihr, dass das ein gut gehütetes Geheimnis ist. »Sind deine Eltern auch in England?«, erkundigt Joan sich.