Geister der Vergangenheit - Olaf Hauke - E-Book

Geister der Vergangenheit E-Book

Olaf Hauke

0,0
0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Valentin soll sich nur ein paar Tage im Ferienhaus seines Freundes und Chefs erholen. Schließlich hat ihn der englische Fußballtrainer verprügelt – aber das ist das Risiko in seinem Job. Danach geht es, ebenfalls auf Kosten der Firma, nach Jamaika. Ausgerechnet in diese rosigen Aussichten stolpert der Journalist in einen Fall mit gefälschter Markenware. Die attraktive Chefin des Unternehmens behauptet natürlich, dass alles ein Irrtum sei. Und diese wunderschönen Augen können unmöglich lügen ... oder etwa doch?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

Ende

Geister der Vergangenheit

Olaf Hauke

2017

Copyright 2017 by Olaf Hauke

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

T. 01575-8897019

[email protected]

Cover Shutterstock CYC

Prolog

In den letzten Tagen war es deutlich kühler geworden. Der Himmel zeigte sich ebenso bedeckt wie das schmale Gesicht des jungen Mannes hinter dem Tresen vom Empfang. Ein unangenehm süßlicher Geruch nach einer Art Möbelpolitur stieg Valentin Phillip in die Nase, als er sich nach vorne beugte und seinen Wunsch wiederholte.

„Ich möchte doch nur wissen, ob Herr Clerk bereits eingetroffen ist.” Die verdammte Schminke begann, an seinem Hals zu jucken, doch er widerstand dem Drang, sich dort zu kratzen. Es hatte lange genug gedauert, sich die blödsinnige Maskerade zu verpassen, er wollte nicht mit einer unbedachten Bewegung alles zerstören. Es war nicht einfach, die Haut einen Ton dunkler zu schminken, ohne dass es einem Außenstehenden auffiel.

Der junge Mann machte ein merkwürdig schmatzendes Geräusch mit den Lippen. „Und ich habe Ihnen erklärt, dass ich Ihnen keinerlei Auskünfte über unsere Gäste geben kann.” Dabei warf er einen betont kühlen Blick an Valentin vorbei in die Lobby des teuren, aber in die Jahre gekommenen Hotels.

Der junge Mann, dessen goldenes Schild über dem Herzen ihn als Herrn Schmitt auswies, trug ein merkwürdig steifes, hellgraues Hemd, das bis zum Adamsapfel zugeknöpft und trotzdem ohne Krawatte geblieben war. Dadurch wirkte er ein wenig wie ein Überbleibsel aus einer Siebziger-Jahre-Science-Fiction-Serie.

Unauffällig griff Valentin in die Tasche seiner viel zu weit sitzenden Hose und zog einen Geldschein heraus, den er unter einen Prospekt schob. Der Prospekt wanderte über das polierte Holz der Rezeption. Während Herr Schmitt einem Gast zunickte, verschwand der Schein mitsamt seinem Versteck im Bruchteil einer Sekunde.

„Warten Sie bitte in der Lobby, Herr ... “

„al Karrakh”, sagte Valentin mit ruhiger Stimme und wandte sich um, ohne Herrn Schmitt weiter Aufmerksamkeit zu schenken. Der Mann liebte offenbar die diskrete, altmodische Art einer Zuwendung für Informationen.

Während Valentin über den dicken, dunkelroten Teppich zu den Sitzgruppen schlenderte, die man hinter Grünpflanzen versteckt um kleine Säulen gruppiert hatte, sah er sich in den Empfangsräumen des Hauses um. Er hasste diese großspurigen, mit billiger Vergoldung überzogenen Räume, die mehr scheinen wollten, als sie in Wirklichkeit waren. Aber im Grunde spiegelten sie nur die Menschen wider, die sich in ihnen bewegten.

Valentin musste instinktiv an dieses kleine Hotel denken. Es war irgendwo in der Nähe einer größeren Stadt gewesen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an den Namen des Dorfes erinnern, an dessen Ausfallstraße er und Carina das Hinweisschild entdeckt hatten. Wo hatten sie damals hingewollt? Bis heute fehlte ihm die Erinnerung an jene Stunden, doch die Bilder von Carina waren auf eigenartige Weise präsent und tauchten häufig in Situationen auf, in denen er unter Druck stand.

Er ließ sich vorsichtig in einen der Ledersessel sinken, um seine Kleidung nicht mit dem Make-up an seinem Hals zu beschmieren. Behutsam legte er die Arme auf die schweren Lehnen. Carina! Das war schon so lange her, eine halbe Ewigkeit, die Zeit heilte jede Wunde.

Im letzten Moment widerstand er dem Impuls, sich mit Zeigefinger und Daumen über die Augen zu reiben. Jetzt war kaum der richtige Zeitpunkt, über Dinge nachzudenken, die man sowieso nicht ändern konnte. Er holte einige Male tief Luft und starrte nach draußen in den düsteren, verregneten November-Tag vor dem Fenster des Hotels. Nur wenige Passanten huschten vorbei, obwohl der Bahnhof nur einige hundert Meter entfernt lag. Feine Regenschleier tanzten über die Straße.

Die Kastanien, die die Straße säumten, hatten unter dem Wind und dem Regen längst die meisten ihrer Blätter eingebüßt. Die Früchte der Bäume lagen achtlos und zertreten auf dem Asphalt, kein Kind hatte sich die Mühe gemacht, sie einzusammeln und daraus lustige, kleine Figuren zu basteln.

Valentin schüttelte den Kopf über seine düsteren Gedanken. Sein Vorhaben war auch so schon nicht einfach, solche Ablenkungen würden es nur noch schwerer machen. Aber manchmal überfielen ihn einfach diese Sentimentalitäten, er konnte sich nicht dagegen wehren. Vielleicht waren sie einfach ein Zeichen, dass man älter wurde, mehr erlebt hatte, natürlich auch etliche Narben, die das Leben hinterlassen hatte.

Er schreckte aus seinen Gedanken, als er die Gestalt neben sich sah. Zunächst dachte er an Clerk, doch dann begriff er, dass es lediglich ein Kellner war, der auf eine Order wartete. Um ein Haar hätte er einen Cognac bestellt, doch er orderte zum Glück noch rechtzeitig schlicht Kaffee.

„Traditionell?” fragte der Ober, Valentin nickte ruhig. Der Kellner ließ ihn allein. Valentin atmete noch einmal durch und schüttelte mit einem schmalen Lächeln über sich selbst den Kopf. Solche dämlichen Fehler durften ihm einfach nicht passieren. Nicht jetzt, nicht, wo er so weit gekommen war.

Die Vorbereitung für dieses Treffen hatte Wochen gedauert. Er griff unwillkürlich an seine Brille. In beiden Bügel waren kleine, aber erstaunlich leistungsstarke Kameras eingebaut worden. Das Mobiltelefon, das die Aufnahmen aufzeichnete, steckte in seiner Tasche. Die Zeiten der Kabel waren lange vorbei.

Er sah, wie der Kellner sich näherte und alles für einen traditionellen Kaffee vor ihm auf dem niedrigen Tisch aufbaute. Er musste sich dafür tief bücken. Bestimmt gefiel das vielen der Gästen in diesem Haus, dachte Valentin und hätte um ein Haar bitter gegrinst.

Er goss schließlich vorsichtig den in einem kleinen Kupfer-Topf gekochten Kaffee ab, so dass kaum Pulver mit in die Tasse floss. Valentin sah beleidigt auf das Milch-Kännchen und runzelte die gefärbte Stirn. Der Ober räumte alles auf ein wuchtiges Tablett und verließ geräuschlos die Sitzgruppe. War es nur Zufall oder ein Test gewesen?

Valentin wollte nach der Tasse greifen und beugte sich leicht nach vorne. Im gleichen Moment sah er Clerk aus den Augenwinkeln. Die Türen des Fahrstuhls neben der Rezeption glitten auseinander und spuckten neben einem älteren Ehepaar auch die massige Gestalt des Fußball-Trainers aus.

Valentin, der seine Bewegung für einen Moment unterbrochen hatte, griff zu seiner Tasse. Jetzt kam es darauf an, dachte er und merkte, wie alle dunkle Gedanken aus einem Kopf gewichen waren. Das Jagdfieber hatte jede Faser seines Körpers ergriffen, und die Beute machte sich daran, die Lobby zu durchqueren, nachdem ihm Herr Schmitt den Weg gewiesen hatte.

1

„Sie haben überhaupt keinen Akzent”, stellte Clerk fest und winkte mit einer herrischen Geste dem Kellner. Er trug ein zu enges, schwarzes Shirt mit einem furchtbar geschmacklosen, glitzernden Aufdruck. Valentin wusste, dass der Designer dieser Kleidungsstücke mit seinen lächerlichen Motiven jede Menge Geld schaufelte, weil neureiche Idioten ihm den Mist aus den Händen rissen.

„Ich habe nur drei Jahre in Pakistan gelebt”, sagte Valentin mit ruhiger Stimme und betrachtete den dicklichen Mann. „Ich ging zuerst in England auf ein Internat, später auf eine deutsche Universität.”

Der Fußballtrainer nickte. Er wollte etwas sagen, doch das Erscheinen des Obers unterbrach ihn. Er orderte ein Bier. „Sie trinken wohl keinen Alkohol?” fragte er in Valentins Richtung und zog dabei die Augenbrauen zusammen.

Valentin lächelte nur leicht, Clerk lachte laut auf. „Sie wissen nicht, was Sie verpassen!” Er lehnte sich zurück mit einer entspannten Geste, als wolle er die Welt umarmen.

„Ich war über Ihr Angebot schon überrascht”, kam er gleich zur Sache. Valentin wusste nicht recht, ob er darüber begeistert sein sollte oder nicht. Auf der einen Seite würde es ihm das Material liefern, das er wollte. Auf der anderen Seite ging ihm die Sache zu schnell und zu glatt. Im Laufe der letzten Jahre hatte er für diese Dinge ein untrügliches Gespür entwickelt.

Clerk machte den Eindruck eines Idioten, zweifellos war er das auch. Aber er war nicht ohne Grund ganz nach oben gekommen. Es gab viele talentierte Fußball-Trainer. Doch wenn man in diesem Geschäft, in dem es um viele Millionen Dollar oder Euro ging, nicht knallhart und mit einer gewissen Schläue gesegnet war, würde man es auch mit noch so viel Talent zu nichts bringen. Und ein schlechter Geschmack in Sachen Kleidung war kein Beweis für einen Trottel, es war höchstens ein Anhaltspunkt.

„Ich freue mich, dass das Treffen hier in Deutschland geklappt hat”, sagte Valentin und schlürfte seinen Kaffee. Beim Ober, der das bestellte Bier servierte, orderte er noch einen Pfefferminz-Tee.

„Na ja, in England hätten wir uns kaum treffen können, da kennt mich schließlich jedes Kind.” Das war sicherlich übertrieben, aber natürlich hätten sie sich in London kaum unerkannt in ein Hotel setzen können.

„England ist ein wundervolles Land”, sagte Valentin und machte eine weit ausholende Geste, als stände er an der Küste und blickte über das Meer.

Der Trainer sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Verachtung an. „Ich war nie in den Kolonien”, stellte er mit einer erstaunlichen Portion Arroganz fest, die Valentin vermutlich getroffen hätte, wäre er Pakistani gewesen. „Aber abgesehen von der Regenzeit ist es dort sicherlich erträglicher.”

Nein, dachte Valentin, er war tatsächlich ein Trottel, dazu ein bestechlicher. Manchmal, dachte er, hatte er bei seinen Jobs sogar Mitleid mit den Männern und Frauen, die er quasi verführen sollte. Bei Clerk hielt sich dieses Gefühl in engen Grenzen. Er machte ganz den Eindruck eines Mannes, der, weil die Gesellschaft es so gewollt hatte, zu Geld gekommen war. Und er hielt diese Gnade für ein besonderes Talent, was er seine Umwelt deutlich spüren ließ. Wie zum Beweis nippte er an seinem Bier und prustete übertrieben, als hätte er soeben vergorene Milch getrunken.

Mit einer aggressiven Geste winkte er nach dem Kellner. „Dieses deutsche Gesöff können Sie vorsetzen wem Sie wollen, aber nicht einem stolzen Löwen.” Er orderte eine britische Sorte. Ausdruckslos nahm der Ober das Glas fort und verschwand.

Valentin ließ den Vorfall unkommentiert. „Hätten Sie Interesse an einer Reise in mein Land?”

Clerk massierte sich sein energisches Kinn. Am Ringfinger der rechten Hand trug er einen massiven Ehering. „Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt wohl wenig ratsam”, meinte er nachdenklich. „Mein Besuch hier ist durch das Qualifikations-Spiel in der nächsten Woche gegen Deutschland leicht zu erklären. Aber was sollte ich der Presse-Meute sagen, weshalb ich nach Pakistan fahre?” Sein Lachen hatte etwas Fahriges.

Valentin merkte, dass er mit der harmlos gedachten Frage einen Fehler gemacht hatte. Clerk war sich plötzlich bewusst, was er hier vorhatte. Er bedachte den Kellner mit einem irritierten Blick, der ihm das Bier servierte. Kein Zweifel, er verdächtigte ihn, nicht das zu sein, was er vorgab. Ironischerweise nahm er dagegen Valentin den Pakistani tatsächlich ab.

„Hier gibt es einfach zu viele Augen und Ohren”, sagte er, nachdem er einen tiefen Schluck von dem schaumlosen, golden schimmernden Getränk genommen hatte. Unvermittelt sprang er auf. „Wir sollten unser Gespräch da fortsetzen, wo wir ungestörter sind.”

Valentin unterdrückte einen lautlosen Fluch. So schnell konnte es gehen. Eine falsche Bemerkung, einmal zu wenig nachgedacht, unkonzentriert – schon lief alles aus dem Ruder.

„Kein Problem”, sagte Valentin und hoffte, dass er äußerlich völlig gelassen blieb. „Was schlagen Sie vor?”

„Kommen Sie, der Schuppen hier hat eine Tiefgarage, da steht mein Mietwagen. Wir fahren dahin, wo ich mich sicher fühle!” Sein breites Grinsen hinterließ ein ungutes Gefühl bei Valentin, aber wenn er die Story nicht versauen wollte, blieb ihm nichts übrig, als Clerk zu folgen.

Er fühlte sich wie ein Angler, der einen dicken Fisch an der Angel hatte, der nun sein Eigenleben entwickelte und ihn samt Rute hinter sich her ins offene Meer zog.

2

„Deine Mutter ist jetzt an einem besseren Ort!”

Jasmins Kopf ruckte herum. Sie holte tief Luft und presste ihre Handflächen gegeneinander, bis sie den Schmerz in den Gelenken fühlte. „Meine Mutter ist tot!”

Jedes einzelne dieser vier Worte versetzte ihr einen Stich in die Brust, die auch der Schmerz in ihren Händen nicht überlagern konnte. Sie glotzte die ihr völlig unbekannte Frau, irgendeine entfernte Verwandte, an. Der Mund der alten Frau war aufgeklappt, als wolle sie eine Fliege fangen.

„Ich muss hier raus”, flüsterte sie und drückte sich von dem langen Tisch hoch, an dem sie gesessen hatte. Augenblicklich verstummten die leisen, geflüsterten Gespräche um sie herum.

„Sie sollte sich etwas mehr im Griff haben”, sagte ein greiser Mann, der sich auch im Sitzen an seinen Stock klammerte.

„Ich habe mich im Griff, sonst hättest du deinen Stock längst ... ach, Scheiß drauf!” Der Mann zuckte unter dem Fluch zusammen. Jasmin verlor jedes Gefühl von Zeit und Raum. Sie merkte nur, wie ihre Füße sie nach draußen trugen, durch den Korridor, der zu dem Hinterzimmer führte, an fremden und bekannten Gesichtern vorbei, bis sie endlich auf eine Tür traf, die sich zum freien, offenen, erleichternden Himmel hin öffnete.

Sie stolperte, denn sie hatte die beiden Stufen übersehen. Im letzten Moment fing sie sich wieder. Mit einer wilden Geste zog sie sich die beiden schrecklichen Spangen aus den Haaren, die ihre Locken gefangen gehalten hatten. Sie schüttelte den Kopf, wie Mutter es immer getan hatte.

Als sie auf ihre Hände sah, bemerkte sie, wie sie zitterten. Sie ging in die Hocke, auch wenn der schreckliche, schwarze, enge Rock sie daran hindern wollte. Sie starrte auf die kleinen Kiesel zwischen ihren hässlichen, drückenden, schwarzen Schuhen, die sich langsam dunkel färbten. Erst nach einem Augenblick realisierte sie, dass es die Tränen aus ihren Augen waren und nicht der Regen, der sie befeuchtete.

Ein besserer Ort? Welcher geistig umnachtete Idiot hatte sich eine derartige Formulierung ausgedacht? Mutter existierte nicht mehr, sie war fort, erstarrt, grau und leblos geworden.

Jasmin hatte die Zeit der Krankheit nicht mitbekommen, sie hatte die letzten Formalitäten ihrer Scheidung in London hinter sich gebracht. Um sie nicht zu beunruhigen, hatten sowohl Vater als auch Mutter sie belogen. Und sie hatte es nicht verstanden, sie hatte es einfach nicht verstanden. Im Gegenteil, sie hatte mit ihren oberflächlichen, dummen Problemen ihre Mutter vollgelabert.

Hilflos sank sie auf die Kiesel der Einfahrt und schlug mit der flachen Hand auf die spitzen Steine, bis ihre Hand anfing zu bluten. „Scheiße, Scheiße, Scheiße”, stammelte sie immer wieder.

Fast hätte sie aufgeschrien, als sie eine Berührung an der Schulter fühlte. Sie kreiselte herum und starrte in Vaters Gesicht. Ohnmächtig streckte sie ihm die blutende Hand entgegen. „Ich war nicht da”, brachte sie hervor.

Er griff ihr unter die Schulter. „Komm, Kind, wir sollten fahren”, sagte er leise.

3

„Ah, das ist meine Welt!” Clerk winkte zwei jungen Männern zu, die in Trainingsanzügen einige Runden um das Spielfeld drehten, in dessen Mittelkreis sie standen. Valentin, der nur beschränkt Ahnung von Fußball hatte, kannte die beiden dunkelhäutigen Männer: Es waren Spieler der englischen Nationalmannschaft. Der leichte Nieselregen hatte wieder eingesetzt und benetzte das Gras um sie herum. Sie standen unweit des Mittelkreises in dem großen Stadion, in dem die englische Nationalmannschaft trainierte.

Es war wie eine Vorlage, Valentin konnte ihr einfach nicht widerstehen. „Ich habe gehört, es hätte Ärger zwischen Ihnen und einigen Spielern, darunter den beiden, gegeben?” fragte er und verfiel dabei ganz in die Rolle eines sorgenvollen Geschäftsmannes.

„Ärger? Den gab es erst, als sich einige dieser Bananenfresser an die Öffentlichkeit wandten. Was haben die sich eingebildet? Dass sie eine Sonderbehandlung bekommen?”

„Bei uns würden Sie es nur mit farbigen Spielern zu tun haben”, stellte Valentin kühl fest.

„Ach, nun kommen Sie, ich weiß, dass jedes Volk solche Sprüche hat, die bedeuten doch nix. Außerdem, die Bengels können laufen wie die Teufel.” Er drehte sich ein wenig und sah Valentin von der Seite an. Irgendwie beunruhigte ihn der Blick des Trainers. Die Spieler trabten ungerührt weiter und schenkten den beiden Männern nicht die geringste Beachtung.

„Ich habe mir im Vorfeld einige Spiele Ihrer Nationalmannschaft angeschaut, das ist gutes Rohmaterial”, lachte Clerk. „Aber Sie wissen auch, dass ich mich in England nicht mehr blicken kann, wenn ich bei Ihnen unterschreibe.”

Valentin sah an ihm vorbei. „Wir sprechen von vier Millionen Schweizer Franken”, stellte er ruhig fest.

„Dafür müsste ich einen Grund finden, dass man mich aus dem Vertrag feuert. Das ist nicht so einfach, wie Sie denken.” Keine Frage, er pokerte und war dabei, sein Blatt zu sortieren.

„Man munkelt, bei Arsenal seien Sie auch mit einem Trick aus dem Vertrag gekommen.” Valentin hielt die Luft an. Es war der Moment, wo er die Angel mit einem Ruck einholte. Jetzt musste der Haken sitzen. Er hatte einen Hauch Bewunderung in seine Stimme gelegt, was seine Wirkung nicht verfehlte.

Clerk kicherte geschmeichelt. „Das Management von Arsenal besteht aus einer Horde von schwulen Trotteln”, sagte er. Valentin bezweifelte das, denn er hatte zumindest zwei der Herren persönlich kennengelernt.

„Ich habe ihnen nicht verziehen, dass sie sich bei dieser Geschichte mit der Sekretärin nicht hundertprozentig hinter mich gestellt haben. Und dann kam das Angebot von den roten Teufeln, was hätte ich tun sollen? Und so suchte ich mir einen Arzt, der meine Geschichte bestätigte. Hat mich eine Stange Geld gekostet, aber sie konnten nichts machen.”

Valentin fühlte sich wie erstarrt. Es konnte doch nicht sein, dass dieser Mann in seiner Geldgier so viele Hemmungen verlor. Doch dann überlegte er sich, dass er dieses Phänomen nicht zum ersten Mal erlebte. Der alte Spruch ‚Gier frisst Hirn’ hatte noch immer seine Gültigkeit.

Nein, schrie es in ihm, du darfst nicht weitermachen, das ist zu lächerlich. Aber der Teufel auf seiner Schulter hatte ihn fest in seinen Griff genommen. „Die Sache mit der Sekretärin war doch von der Presse erfunden, oder?” Er erschreckte fast über den Klang seiner eigenen Stimme hier im weiten Rund des Stadions.

Die beiden Fußballer liefen noch immer, sonst waren sie nur von uniformen Sitzreihen mit Plastiksitzen umgeben, die an im Beton verankerten Eisenstangen befestigt worden waren. Von hier unten konnte man sehen, dass die Sitzreihen das Logo des örtlichen Fußballvereins bildeten. Die Engländer trainierten hier, um sich auf das kommende Spiel gegen die Deutschen vorzubereiten.

Clerk machte nur eine wegwerfende Handbewegung. „Die hat sich nach oben gebumst, was soll’s? Und als es nicht mehr klappte, da hat sie sich an die Schmuddel-Presse gehängt.” Er kratzte sich am Kinn. „Und sie war für die härtere Tour durchaus aufgeschlossen.”

Valentins Herz schlug so schnell, er hatte das Gefühl, es musste jeden Moment aus seiner Brust brechen und hämmernd auf den Rasen fallen. Seine Hände wurden feucht.

Clerk sah sich um. „Hören Sie, ich habe nicht mehr lange Zeit, muss bald ins Hotel zurück. Ich habe mir die Sache überlegt. Ich kenne einen Anwalt, der kann mich aus allem rausholen. Aber ich brauche eine weitere Millionen.”

Valentin räusperte sich. „Das dürfte das kleinste Problem sein.” Seine Hand fuhr in die Tasche seiner Hose. Er drückte den kleinen Knopf an seinem Handy, mit dem er die gespeicherte Datei auf seiner Cloud sicherte. Es war eine rein instinktive Geste, für die es keinen äußeren Anlass gegeben hatte, außer seinem Spürsinn, den er über die letzten Jahre hinweg perfektioniert hatte.

Clerk hatte vorher völlig ruhig am Mittelkreis gestanden, ziemlich lässig, fast ein bisschen unbeteiligt gewirkt. Doch ohne jede Vorwarnung schoss seine Hand vor und umklammerte das Handgelenk von Valentin. Der schrie nur auf, ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm. Clerk drückte unbarmherzig zu. Ehe sich Valentin wehren konnte, war er bereits in die Knie gegangen.

„So schnell geht das mit den Millionen? Da stimmt doch was nicht!” Er riss an Valentins Hand und förderte das Mobiltelefon zu Tage, es fiel auf den Rasen. Sofort holte Clerk aus und trat es mit seinen Sohlen in das Gras. Es knackte leise.

„Verdammte Schwuchtel”, zischte Clerk. Er holte aus und schlug Valentin, der immer noch in der Hocke war und sich nicht wehren konnte, mit der Hand ins Gesicht. Valentins Kopf wurde zurückgerissen, er fühlte einen brennenden Schmerz, als ihm der schwere Ring die Wange aufriss.

„Was ist das? Schminke? Du Hurensohn bist nur angemalt?” Valentin versuchte, auf die Beine zu kommen, doch ein Tritt in den Bauch beförderte ihn nach hinten. Die Brille hatte er längst verloren.

„Wer bist du? Woher kommst du?” Valentin wollte sich wegdrehen und endlich wieder auf die Füße kommen, doch da kam bereits der nächste Schlag, dieses Mal in die Gegend seiner Nieren. Valentin schrie vor Schmerz auf. Das schien den Mann nur noch mehr anzustacheln. Valentin hatte nicht mal die Chance, eine Antwort zu geben. Sie schien Clerk nicht mal sonderlich zu interessieren.

Valentin wurde herumgerissen. Er begriff nur noch verschwommen, dass er in das Gesicht eines der millionenschweren Spieler starrte. Dann traf etwas seinen Kopf, der Schmerz wich einer gnädigen Ohnmacht.

4

Jasmin sah sich in der riesigen Empfangshalle um. Sie hörte, wie Vater in einem der Nachbarzimmer mit einem Handwerker sprach und ihm Anweisungen wegen des Abbaus der Möbel erteilte. Er tat dies in seiner gewohnt sicheren, ruhigen Art, die jedoch keinen Widerspruch duldete. Wann sollte sie mit ihm sprechen?

War es eine kluge Entscheidung, dieses Haus nach Mutters Tod aufzugeben? Jasmin legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den herrlichen, herausgearbeiteten Stuck an der hohen Decke über der Treppe, die in den ersten Stock führte. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie sich oft im Kreis gedreht, den Punkt auf den stilisierten Frauenkopf gerichtet, der den Mittelpunkt der aufwendigen Arbeit bildete. Sie hatte die Arme ausgestreckt, als wären sie die Tragflächen eines Flugzeugs.

Immer schneller hatte sie sich gedreht, bis der Kopf zu einem verschmolzenen Punkt geworden war. Dann war sie unvermittelt stehengeblieben, hatte die Luft angehalten.

Mit einem dumpfen Poltern ging Jasmin zu Boden, ihr Kopf dröhnte, alles drehte sich; die Treppe, das Geländer, die Kacheln, die wuchtigen Gemälde. „Was ist denn passiert?”

Sie brauchte einen Moment, ehe sie Vaters Gesicht wahrnahm, das sich besorgt über sie beugte. „Bist du gestürzt?”

Jasmin hielt sich den wirren, brummenden Schädel. „Ich habe nur noch mal das Spiel gespielt, das du mir als Kind verboten hast.” Sie lachte leise.

Vater sah sie mit einem ernsten Kopfschütteln an. „Du wirst Dreißig, da ist die Zeit solcher Albernheiten vorbei.” Dann lachte er auf und drückte sie an sich. „Das ist wirklich nicht so ganz ungefährlich, du wirst ohnmächtig und kannst dir den Kopf aufschlagen – was du übrigens tatsächlich mal getan hast, wenn ich mich recht erinnere. Aber da warst du acht oder neun.”

Jasmin fuhr sich durch die Locken und ging ins Nebenzimmer, wo die Handwerker dabei waren, behutsam einen der alten Schränke in seine Einzelteile zu zerlegen. „Du willst mich also ganz charmant darauf hinweisen, dass ich in die Jahre komme, was?”

Ihr Vater schüttelte den Kopf. Niemand konnte ihn aus der Fassung bringen, außer seine eigene Tochter mit solch frechen Bemerkungen. „Aber nein, du hast viel durchgemacht in letzter Zeit. Deine Scheidung, der ... die Tatsache, dass Mutter nicht mehr bei uns ist. Nun will ich das Haus verkaufen. Es ist immerhin dein Elternhaus.”

Jasmin ging zu ihm und fasste ihn zärtlich am Arm. „Es ist ein Haus, Vater, nicht mehr und nicht weniger. Im Gegensatz zu vielen Menschen klammere ich mich nicht an Dinge. Im Gegenteil, wenn man sich zu sehr an Dingen festhält, vergisst man die Menschen um sich herum.”

Sie beobachtete die Männer dabei, wie sie die Scharniere einer Tür lösten und sie danach nach draußen trugen. „Die Sachen hier willst du mitnehmen”, fragte sie.

Vater trat an das Skelett des Schrankes. Ohne die handbemalten Türen sah er seltsam nackt und kalt aus. „Im Gegensatz zu dir hänge ich an manchen Dingen. Und das neue Haus wird nicht alles aufnehmen, was ich hier besitze, aber manche Sachen werden mir das Gefühl geben, nicht fremd zu sein.”

„Ja, hier ist in den letzten Jahren viel passiert.” Jasmin durchmaß mit kurzen, langsamen Schritten den Raum, der noch vor wenigen Wochen das Speisezimmer gewesen war. „Ich habe hier John geheiratet. Und weißt du noch, wie die Polizei hier war, weil diese Frau Tabletten genommen und sich mit Martins Auto tot gefahren hat?”

Über Vaters Gesicht huschte ein dunkler Schatten. „Deine Ehe ging schief, diese Frau ist gestorben. Es sieht so aus, als wäre dieses Haus kein guter Ort.” Es musste die Erinnerung an die tote, junge Frau sein, die ihn getroffen hatte. Ihr Tod schien ihn schon damals getroffen zu haben.

Jasmin rollte mit den Augen. „Ach, sei nicht so melodramatisch, wir hatten hier wunderschöne Zeiten.” Sie beendete ihren Rundgang mit einem Blick aus dem großen Fenster. Dann drehte sie sich unvermittelt um.

„Ich habe meine Stellung in London gekündigt”, sagte sie leichthin. Vater brauchte einen Moment, ehe er die Tragweite der Aussage seiner Tochter begriffen hatte.

„Heißt das ... ?”

„Nun ja, Mutter ist nicht mehr da, um dich in der Firma zu unterstützen. Und nicht nur ich werde älter, wie du gerade so charmant festgestellt hast. Ich werde mich in den nächsten Tagen an eine förmliche Bewerbung setzen, die ich der Firma zuschicken werde.”

Vater ging mit weit ausholenden Schritten auf sie zu, nahm sie in den Arm und drückte sie innig. „Ich hätte nie gewagt, dich zu fragen.” Seine Tränen kamen ganz spontan.

„Wo willst du wohnen?”

„Na, ich suche mir eine kleine Wohnung, aber vielleicht weißt du für die Zwischenzeit eine Lösung?” Sie sah ihn mit einem Augenzwinkern an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich von ihrer Seele ein Druck löste, der dort die letzten Wochen wie ein schwerer Stein gelegen hatte.

5

„Natürlich hat Clerk mich angezeigt, was hast du erwartet?” Valentin merkte, wie sein Verstand nur eingeschränkt funktionierte. Vermutlich hing das mit den Spritzen zusammen, die man ihm gegen die Schmerzen gegeben hatte.

Richard Mattheis verzog besorgt das Gesicht. „Im Grunde ist mir das egal. Wichtig ist nur, dass du wieder auf die Beine kommst. Was sagen die Ärzte?”

Valentins Hand suchte nach der Fernbedienung, die den oberen Teil des Bettes ein Stück in die Höhe brachte. „Er hat mich ziemlich verprügelt, aber die Verletzungen sind nur oberflächlich. Eine Rippe ist angebrochen, dagegen habe ich diese schicke Binde. Ich vermute, die beiden Spieler haben ihn zurückhalten können, ehe er mir den Schädel einschlagen konnte.”

„Wer hätte gedacht, dass sich der Trainer der englischen Fußball-Nationalmannschaft genauso verhält wie dieser Zuhälter damals, dem du einige Dinge über das Milieu vom Straßenstrich entlocken konntest.”

Valentin wollte sich die Arme reiben, doch der Tropf in seiner Hand hinderte ihn daran. Vielleicht hatten die Schwestern Angst, dass er ihnen davonlaufen würde. Seine Hand und seine Brust schmerzten um die Wette. Er war sich noch nicht sicher, wer von beiden gewinnen würde.

„Und was hat es gebracht? Jeder brave Familienvater fährt nach wie vor zum Straßenstrich, sucht sich eine drogensüchtige Vierzehnjährige oder eine Frau aus Osteuropa, an denen er dann seine dreckigen Fantasien auslebt, die er zu Hause geheim hält. Und der Zuhälter damals kam mit einer Bewährungsstrafe davon, verbreitet unter den Frauen wieder Angst und Schrecken. Inzwischen taucht er übrigens hochoffiziell in irgendwelchen Billig-Shows im Ramsch-Fernsehen auf.”

Valentin verzog schmerzhaft das Gesicht und griff nach den Tabletten und dem Glas Wasser auf dem Tisch neben dem Bett. Richard rückte mit seinem Stuhl ein Stück näher an ihn heran. „Du hast wohl deinen Moralischen, was? Aber es waren ja auch harte Wochen, du hast dir eine Auszeit verdient.”

Valentin merkte, wie wenig ihn die Worte seines Freundes und Arbeitgebers berührten. Er fühlte sich nicht nur voller Schmerzen, sondern leer und ausgebrannt. Das kalte, weiße Zimmer passte im Grunde genommen hervorragend zu seiner düsteren, verlorenen Stimmung.

„Ich weiß, dass es dich wenig aufheitert, aber ich habe dir das doppelte Honorar überwiesen. Kathrin arbeitet gerade die Geschichte aus, allein in Deutschland gab es acht Anfragen. Aber in England sind die ersten Bilder und Ausschnitte eingeschlagen wie eine Bombe. Vor allem seine Äußerungen über Schwarze kamen gar nicht gut an. Die Spieler haben erklärt, dass sie unter Clerk nicht auflaufen werden.”

„Na toll, ich habe also auch noch ein Spiel ruiniert.”

Richard wollte auflachen, doch in diesem Moment streifte sein Blick den Kalender an der Tür des Krankenzimmers. Sein Gesicht versteifte. „Ach so”, sagte er in einer leiseren Tonlage. „Nun verstehe ich.”

Valentin, der seinem Blick gefolgt war, fühlte einen Stich in seiner Brust, der nicht auf die Schläge des durchgedrehten Trainers zurückzuführen war. „Gar nichts verstehst du.”

„Valentin, ich habe es dir schon oft gesagt und wiederhole es noch einmal: Du bist nicht schuld an ihrem Tod, der sich heute jährt. Sie hat das Zeug genommen und sich hinters Steuer gesetzt.”

Der Reporter setzte sich ruckartig auf und ignorierte das Brennen. „Ich hätte auf sie achten müssen, ich war auch auf dieser Feier. Und ehe du zu deiner üblichen Belehrung ansetzt: Ich bin nach wie vor der Meinung, dass man ihr das Zeug ins Glas gab, ohne dass sie davon wusste.”

„Nein, Valentin, ich habe die Akte der Polizei gelesen. Dafür gibt es nicht den geringsten Beweis. Auch hat man die Gäste der kleinen Feier gründlich unter die Lupe genommen. Du hast zwar viele Feinde, aber niemand von den Leuten, die dort waren, hatte ein Motiv, dich oder ihr zu schaden. Das ist belegt, Valentin!”

Valentin wollte etwas erwidern, doch er klappte nur den Mund auf, schloss ihn wieder. Er wusste, dass die Polizei damals gut gearbeitet hatte, nicht einseitig, gründlich, alle Möglichkeiten abwägend. Eventuell hatte man auch ein klein wenig Angst vor ihm, dem bekannten Enthüllungs-Journalisten gehabt, der selbst zur Schlagzeile geworden war.

Richard, der ein ganzes Stück älter war als Valentin, stand auf und legte ihm mit einer freundlichen, etwas ungelenken Geste, die Hand auf die Schulter. „Ich habe eine kleine Hütte in einem Dorf bei Naumburg, dahin wirst du ein oder zwei Wochen ziehen. Kein Telefon, kein Internet, kein Computer – nur du und ein Koffer voll Bücher. Vor Weihnachten sammele ich dich dann ein, und wir machen uns ein paar nette Wochen über die Feiertage auf Jamaika. Weißt du noch, diese Bedienung damals, die immer besoffener war als ihre Gäste?”

Gegen seinen Willen musste Valentin auflachen. „Ich weiß noch, wie der alte Schwede ständig etwas fallen ließ, damit sie sich bückte, weil er genau wusste, dass sie unter dem kurzen Rock kein Höschen trug.”

„Aber er hat ihr für die Einblicke einen Hunderter als Trinkgeld gegeben”, meinte Valentin trocken, fing dann allerdings sofort an zu lachen. Die Erinnerung an die braunen Beine und den schwarzen Rock vertrieb für einen Moment den bitteren Schmerz der Erinnerung.

„Also abgemacht”, meinte Richard. „Du meldest dich, wenn das hier vorbei ist. Dann schicke ich dir den Fahrdienst aus dem Büro. Zu Hause packst du ein paar Sachen, dann geht es Richtung Naumburg. Und ich glaube, aus dem Kaff, wo die Hütte liegt, führt höchstens zwei Mal die Woche ein Bus heraus. Du hast also Zeit genug, Kräfte für Jamaika zu tanken. Und dieses Mal wirst du der hübschen Bedienung nicht entkommen! Ich fülle sie wieder ab, dann lässt sie sogar dich ran!”

6

„Ich denke, der hochwertige Textilmarkt, den wir bedienen, wird nach wie vor auf Fachgeschäfte angewiesen sein”, sagte der Leiter des Vertriebs und schaute dabei in die Runde, als hoffe er auf Verbündete, die seiner Aussage zustimmten.

Doch da war niemand, der seinen Blick erwiderte. Die einzigen Personen, die ihn ansahen, waren Hartmut Jäger und seine Tochter. Die drei leitenden Angestellten, die der Konferenz weiterhin beiwohnten, wichen ihm aus und beschäftigten sich auffallend intensiv mit ihren Papieren.

„Wir müssen mit der Zeit gehen”, sagte Hartmut Jäger und schürzte dabei die Lippen. „Welcher Zwanzigjährige geht denn heutzutage noch in eines der klassischen Fachgeschäfte, die für die Generation ab Fünfzig gemacht worden sind. Das ist ein absterbender Ast, auf den wir uns gesetzt haben. Jasmin hat doch die Zahlen erhoben.”

Der Vertriebsleiter setzte sich und griff nach seinem Kuli. Doch was er über diese Erhebung dachte, war leicht an seinem Gesicht abzulesen. Jasmin schwieg und fühlte sich unwohl. Einerseits glaubte sie an ihre Zahlen, andererseits wollte sie hier nicht als Tochter des Chefs auftreten, der niemand zu widersprechen wagte.

Vater diskutierte Produktionszahlen und Jasmin merkte, wie ihr der Faden des Gespräches mehr und mehr entglitt. Sie hätte bei ihrer ursprünglichen Idee bleiben sollen und sich einen Job suchen, der weit weg lag von der Firma ihrer Eltern, die jetzt nur noch ihrem Vater gehörte – ihrem Vater und ihr, korrigierte sie sich selbst.

---ENDE DER LESEPROBE---