Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach mehreren Jahren Haft in einem Berliner Gefängnis kehrt Tianhong zurück in sein taiwanisches Heimatdorf: Yongjing, was ewiger Frieden bedeutet, doch für Tianhong alles andere ist als das. Als jüngstes von sieben Geschwistern wuchs er mit Aberglauben, Klischees und unverrückbaren Rollenbildern auf und floh nach Berlin, in der Hoffnung, dort ein freies, selbstbestimmtes Leben als homosexueller Mann führen zu können. Doch seine Ehe mit einem Deutschen beendet er mit dem Mord an ihm. Wie konnte es dazu kommen? Am Tag des Geisterfestes, just dem Tag seiner Rückkehr ins Dorf, beschwört Tianhong einen vielstimmigen Chor aus Lebenden und Verstorbenen, gegenwärtigen und vergangenen Erfahrungen herauf, und Stück für Stück bildet sich ein Mosaik der Leben zwischen den Extremen ab: Dort ist die tote Mutter, die sich immer nur wünschte, einen Sohn zu gebären, doch zuerst nur fünf Töchter bekam; der Ehemann, der aus Hoffnung auf einen großen Preis Orchideen züchtete; die Schwester, die sich aus Angst vor dem, was sich hinter den Fenstern verbirgt, ins Dunkel zurückzog, und der Dorfdepp, der der Schlaueste von allen war. In einem wirbelnden Sog verknüpft Kevin Chen Geschichten von Familiengeheimnissen mit freundschaftlichem Zusammenhalt, von Neugier nach der Fremde mit einem unbegreiflichen Heimweh, von Armut und Macht mit dem unermüdlichen Kampf für die eigene Identität.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 552
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kevin Chen
Aus dem Chinesischen und Taiwanischen von Monika Li
Gewidmet meiner Heimat,
dem Yongjing, das nicht existiert.
ERSTER TEIL Mama ist verschwunden
1. Die erste Reihe Einfamilienhäuser
2. Der Riss im Boden
3. Ohne Plastiktüte
4. Sachbearbeiterin Chen für Haushaltsregistrierung
5. Das Nesthäkchen auf dem Sternfruchtbaum
6. Die lebenfressende dritte Tochter
7. Geistersprech
8. Das Weiße Haus ohne Ausblick
9. Der Bürgermeister an der Fabrikwand
10. Danke, Paris
11. Kommt, kommt, kommt!
12. Der Neihu-Changhua-Freundschaftsverein
13. Sojasoßen-Zikadina
14. Schon hat der Kutter die Berge passiert
15. Der Abschiedsbrief
ZWEITER TEIL Tianhong ist zurück
1. Das Yonghsing-Schwimmbad
2. Du bist nach Hause gekommen
3. Feuer finden
4. Der Tag an dem die Nacht starb
5. Die McDonalds-Pommes von 1984
6. Schlangensuppe
7. Der Berliner Herbst klebt an ihrem Körper
8. Ionische Säulen
9. Auf der Suche nach noch mehr einsamen Handschuhen
10. Der Stolz Yongjings
11. Nicht auf dem Berg und nicht im Wind
12. Das Kino bei der Frau am Fuße der Mauer
13. Nilpferde sind gefährlich
14. Das sind wilde Schwäne
15. Die roten Blumen unter der Haut ausgraben
DRITTER TEIL Weine nicht
1. Verloren im Labyrinth der Handfläche
2. Ich will hier nur meinen Tanz üben
3. Der verdammte Regen ist wie winzige Nadeln
4. Einen Mann
5. Japanische Vitamine
6. Die Münder der fünf Schwestern zunähen
7. Schlange, Drache, Phönix und Tiger auf dem Dach
8. Reinheit und Schmutz sind auf ihm vereint
9. Mit der Nachbarskatze im Meer schwimmen
10. Am besten hört es auch Paris
11. U-995
12. Wenn ich nichts gesagt hätte
13. Zwei Abschiedsbriefe aus der Trockenhaltebox
14. Die Polizei hat ein homosexuelles Verbrecher-Pärchen aufgedeckt
15. Wo entspringt der Wind?
Personenübersicht
Nachwort des Autors
Anmerkung der Übersetzerin
»Woher kommst du?«
Das war die erste Frage, die T ihm gestellt hatte. T hatte ihm viel gegeben: einen deutschen Pass, ein neues Zuhause, eine Fluchtmöglichkeit und jede Menge Zweifel. Am Anfang liebte T es, Fragen zu stellen: Wie sieht deine Heimat aus? Wie viele Geschwister hast du? Wie heiß ist der Sommer auf der Insel? Gibt es dort Zikaden? Oder Schlangen? Wie sehen die Bäume aus? Wie lauten ihre Namen? Gibt es dort Flüsse? Oder Kanäle? Wann ist Regenzeit? Gibt es Überflutungen? Ist der Boden fruchtbar? Was wird angebaut? Warum kann ich dich nicht auf die Beerdigung deines Vaters begleiten? Warum willst du nach Hause? Warum willst du nicht nach Hause?
Diese Fragezeichen zogen an seinen Haaren und schnitten ihm in die Haut. Sie waren so schwer zu beantworten, dass er sich ihnen gar nicht stellen wollte. Er wich ihnen aus, erfand Lügen, bis seine ausgedachte Lebensgeschichte so voller Lücken klaffte und so viele Widersprüche aufwies wie ein schlecht geschriebener Roman. Also versuchte er, einen zu schreiben. Das erste Kapitel begann mit einem Tisch, auf dem eine Pistole, zwei Messer und drei Tagebücher lagen. Die Pistole sollte im nächsten Kapitel abgefeuert, mit dem Messer sollte zerstückelt und geschält werden und die Tagebücher sollten das Rätsel der Geschichte lösen. Aber der Roman über sein Leben war ein einziges Chaos. Während er schrieb und schrieb, vergaß er die Pistole, das Messer und die Tagebücher.
Stattdessen dachte er an den Krimskrams und Müll, der auf dem Tisch verteilt war. Unentwegt schrieb er über unwichtige Details, wie über das Poster, das an der Wand klebte, über Hongduanku und das mit einer Plastiktüte bedeckte Gesicht. Eine verdorbene Person brachte einen verdorbenen Roman hervor, der genauso durchlöchert war wie sie selbst. Löcher, in die er all das stopfte, über das er nicht sprechen wollte, all die Erlebnisse, die aus seiner Erinnerung ein Schlachtfeld gemacht hatten, von denen er vorgab, sie vergessen zu haben. Wenn die Löcher weiter aufrissen, fiel eine Unzahl an Geschichten heraus. Wie sollte er sie erzählen? Oder aufschreiben? Unfähig, sie auszusprechen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie weiter aufzuschreiben: Ich komme aus einer kleinen Ortschaft.
Meine Heimat ist ein kleines Dorf namens Yongjing im Landkreis Changhua in Zentral-Taiwan. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts besiedelten es zunächst Menschen aus der Provinz Guangdong und errichteten auf dem ebenen Brachland ihre sporadischen Behausungen entlang einer großen Straße.
Es gab tatsächlich einen kleinen Fluss in seinem Heimatdorf, einen von Menschen gegrabenen, so wie das, was T wohl mit einem »Kanal« gemeint hatte. Der älteste der »Kanäle«, von denen die meisten eher schlichten Gräben glichen, bezog sein schlammiges Wasser aus dem Zhuoshui Fluss, mit dem die Bauern seit dem 18. Jahrhundert ihre Felder bewässerten. Weil die Ortschaft schon in den ersten Gründungsjahren von Kämpfen zwischen verschiedenen Siedlergruppen sowie Feuersbrünsten und Flutkatastrophen geplagt war, wählte man für sie den Namen »Yongjing«, in der Hoffnung, den »ewigen« (yong) »Frieden« (jing) zu bewahren. Das Land war flach, ohne den kleinsten Hügel, doch wenn man Richtung Osten in die Ferne blickte, konnte man die jadegrünen Bergreihen der Insel erkennen. Richtung Westen, war der Zhuoshui Fluss nicht zu sehen, noch nicht mal zu hören. Liefe man immer weiter nach Westen, so behaupteten die Älteren, käme man irgendwann an die Formosastraße, jene Meerenge, die Taiwan von China trennt. Nur wenige waren je so weit gekommen. Die Bewohner bewirtschafteten das Land und hatten es noch nie verlassen. Sie hatten weder jemals einen Berg bestiegen noch je das Meer gesehen. Der feuchte Boden war fruchtbar und erbrachte Blumen, Betelnüsse und Reis. Die dörfliche Landschaft mit ihren niedrigen Bauernhäusern ist nach jahrhundertelanger Kultivierung bis heute erhalten geblieben. Die traditionellen Dreikanthöfe waren zu nationalen Denkmälern ernannt worden, doch Touristen kamen nur selten für einen Besuch vorbei. Der Wohlstand war hier noch nicht angekommen.
In den Siebzigerjahren erwarb eine Baufirma von außerhalb ein Stück Land in Yongjing und begann die erste Reihe Einfamilienhäuser zu bauen. Zehn eng beieinanderstehende Reihenhäuser, jedes mit mehreren Stockwerken, sollte einen Vorgeschmack auf den baldigen Wohlstand des kleinen Ortes geben. Sobald die Gebäude in die Höhe schossen, würde auch er aufstreben. Damals hatten viele Einwohner Yongjings noch nie ein mehrstöckiges Gebäude gesehen, geschweige denn eines aus Stahlbeton, mit Terrazzoböden oder Toiletten mit Spülung.
In einem der Häuser aus der ersten Reihe war Tianhong aufgewachsen. Das fünfte von links war sein Zuhause, das sechste von links stand mittlerweile leer, hatte früher aber einmal seiner ältesten Schwester gehört. Im siebten Gebäude von links war einmal eine Videothek gewesen, jetzt war es völlig verkohlt und am Balkon baumelte ein »Zu verkaufen«-Schild. Das »Zu verkaufen«, chushou, hing dort schon einige Jahre, sodass Teile des zweiten Zeichens shou für »verkaufen« bereits abgeblättert waren und nun stattdessen das Zeichen kou für »Mund« zu sehen war, wodurch die zwei Zeichen zu chukou, also »Ausgang«, wurden. Vor lauter Flecken war die Telefonnummer darunter kaum zu erkennen. Gedankenverloren starrte er auf das Ausgangsschild. So viele Jahre hatte er im Gefängnis verbracht, wo er wirklich einen Ausgang gebraucht hätte, nun aber war er hierher zurückgekehrt. Das hier konnte unmöglich sein »Ausgang« sein, das wusste er selbst am besten. Wenn er dem fleckigen Ausgangsschild immer weiter folgen würde, könnte es ihn dann vielleicht zurück führen zu Hongduanku?
Die älteste Schwester war die einzige, die hiergeblieben war. Shumei wohnte jetzt im fünften Haus von links, seinem alten Zuhause. Für ihn war die kleine Ortschaft ein Geisterdorf, weit abgelegen von jeglicher großen zivilisierten, internationalen Metropole. Seine Heimat war eine Einöde, niemand hatte je von ihr gehört. Als Taiwans Wirtschaft in den Siebzigerjahren verrücktspielte, konnte die kleine Ortschaft nicht mithalten. Die Jungen und Gebildeten gingen fort und kamen nicht wieder. Sie vergaßen den Namen des Ortes und ließen die Alten und Schwachen, die nicht wegkonnten, zurück. Der Ortsname, ursprünglich als Ausdruck der Hoffnung gewählt, war zu einem Fluch geworden. Er hatte sich verwirklicht, aber statt ewigem Frieden herrschte ewige Stille.
Dieses Jahr war der Sommer in Zentral-Taiwan sehr trocken. Nachmittags wurde die Straßenoberfläche zum Herd, man musste gar kein Gas im Ofen anstellen, sondern konnte einfach auf der Fahrbahn Eier und Reis braten oder Reisbrei schmoren. Tianhong war lange nicht mehr zurückgekehrt, doch alles, was er sah, entsprach seiner Erinnerung. Es war so heiß. Die Nachmittagshitze ließ die Zeit langsamer vergehen, die Bäume machten Mittagsschlaf, der Wind wehte nur träge. Hielt man die Luft an, konnte man den Boden atmen hören, der aus seinem Tiefschlaf bis zum nächsten Regen nicht erwachen wollte. So ein Wetter hatte ihn in seiner Kindheit oft unter einem Baum in einen tiefen Schlaf versetzt, aus dem ihn weder das Krähen des Hahnes, das Gebrüll der Zikaden, das Quieken der Schweine noch das Blöken der Ziegen aufwecken konnten. Als Erwachsener fand er keinen Schlaf mehr. Im Gefängnis war es zu ruhig gewesen, kein Regen war zu hören, kein Wind oder herabfallende Blätter.
Es sei zu leise, wie er da einschlafen solle, hatte er den Gefängnisarzt gefragt.
Helfe denn das Schlafmittel?
Wenn er es einnähme, könnte er dann den Klang des Regens hören?, hatte er den Arzt fragen wollen, es aber nicht über die Lippen gebracht. Zu Hause schlug der Regen auf das Metalldach wie laute, feierliche Trommeln und Becken. Sobald Tianhong das Regengeräusch hörte, schlief er ein. Für diesen Klang des Regens war er zurückgekommen.
Doch jetzt hörte er nicht den prasselnden Regen, sondern das Klicken der Nähmaschine. Das war seine älteste Schwester.
Shumei trat auf die Pedale, während im Fernseher eine mittägliche Seifenoper lief, in der die böse Schwiegermutter gerade die arme Schwiegertochter geohrfeigt hatte. Die Hühner gackerten, der Ventilator summte, aus einem anderen Dorf tönte das Knallen von Feuerwerkskörpern herüber. Tianhong hatte mehrere Tage am Stück nicht mehr richtig geschlafen, viele Male war er während der Flugreise umgestiegen. Seine Wahrnehmung war vernebelt. Wo genau befand er sich? Er war sich nicht sicher. Es war das Klicken der Nähmaschine, das ihm unmissverständlich klarmachte, dass er wirklich in das Geisterdorf zurückgekehrt war.
Geisterdörfer sind verlassene Orte, doch gab es hier wirklich Geister?
Auf dem Land wimmelte es von Geistern, die in den Erzählungen der Menschen lebten. Im dichten Bambuswald gegenüber der Häuserreihe spukte ein Frauengeist, dem man sich unter keinen Umständen nähern durfte. Es war der Geist einer Frau, die während der japanischen Besatzung vergewaltigt worden war. Da ihre eheliche Treue deshalb Schaden genommen hatte, wurde sie von der Familie ihres Ehemannes verbannt und erhängte sich im Bambuswald. Seitdem lauerte ihr Geist vor allem jungen Männern auf.
Wenn Hunde zum Anbruch der Nacht begannen zu heulen, »bliesen sie auf der Hunde-Trompetenschnecke«, ein taiwanisches Sprichwort, das besagte, dass sie einen Geist gesehen hatten, erklärte die Mutter. »Also schlaf schnell ein und öffne deine Augen ja nicht, sonst siehst du den Geist! Das darf nicht geschehen! Wenn du ihn doch gesehen hast, sprich unter keinen Umständen darüber! Renn dann schnell weg, immer weiter, irgendwohin, wo der Geist dich nicht mehr verfolgen kann!«
Die Kinder erzählten sich, dass sich die meisten Geister bei den jahrhundertealten Wassergräben neben den Feldern versteckten. »Auf den Weiden der Ufergräben leben weibliche Baumgeister, deswegen fasse bloß nicht die herunterhängenden Weidenblätter an! Wenn du sie trotzdem berührst, wirst du vom Geist heimgesucht und mit Sicherheit null Punkte in der Klausur bekommen!« Die einzige Möglichkeit, dem Fluch zu entgehen, sei eine Heirat mit dem Frauengeist.
Die Frauengeister in den Weiden seien alles alte Jungfern, erzählte man sich, die zu Lebzeiten keinen Ehemann abbekommen hatten und deswegen nach dem Tod heiraten wollten. In den Weiden warteten sie auf den Unglücksvogel, der sie zur Frau nehmen würde.
In den Wassergräben lebte der Geist einer wunderschönen Frau, die von japanischen Soldaten verfolgt worden war. Als sie sich in einem Brunnen versteckte, wurde sie gerettet, doch der Arzt, der sie behandeln sollte, vergewaltigte sie. Schließlich brachte sie sich um, indem sie in den Zhuoshui sprang. Ihr Geist folgte nicht dem Flussverlauf ins Meer, sondern trieb in die Bewässerungsgräben bis hin zu der kleinen Ortschaft, wo er sich niederließ und nicht mehr verschwand. Das Moos an den Wassergräben sei das frisch vergossene grüne Geisterblut der Frau, erzählten sich die Kinder. Der widerliche Geruch, der einem dort in die Nase zog, sei der faule Gestank des Geistes. Auch die wild wachsenden Pilze an den Ufern der Wassergräben sollte man ja nicht anfassen und erst recht nicht essen. »Das sind alles die Brustwarzen des Geistes, sobald du sie berührst, wirst du Pech haben! Und wenn du sie isst, verwandeln sich deine Gedärme zu einer Geisterbehausung, Blut wird aus deinen Pupillen spritzen, bis du elendig verreckst!« Außerdem dürfe man einen roten Umschlag, der auf der Straße läge, auf keinen Fall aufheben. Darin befänden sich die acht Zeichen, die für den Geburtstag des Frauengeistes stünden. Nähme man den Umschlag an sich, müsse man den Geist heiraten.
Aus Tianhongs Familie stammte der Geist einer Frau, die heulend mit wilder Haarmähne umhergeirrt war und sich im Bewässerungsgraben ertränkt hatte.
Als Tianhong noch ein Kind war, starb der alte Familienhund. Und weil ein Sprichwort besagte, »Tote Katzen hängt man in die Baumkrone, tote Hunde übergibt man dem Wasserlauf«, fuhr seine Mutter auf dem Motorrad mit ihm auf dem Rücksitz, den alten Hund im Arm, zum Wassergraben, um ihn dort hineinzuwerfen. Aus Angst vor dem Geist im Wassergraben weinte Tianhong ununterbrochen, doch seine Mutter drängte ihn, den Hund so schnell wie möglich in den Graben zu schmeißen. Das Wasser darin war bereits versiegt und floss nicht mehr. Vollgestopft mit toten Schweinen, Hundeleichen, verrotteten Melonen, alten Autos und einem kompletten, verlassenen Betelnussstand, stieß all das in der brennenden Sonne einen bestialischen Gestank aus. Mit einem Freudentanz feierten die Fliegen das reichhaltige All-you-can-eat-Bankett. Als Tianhong die verrottete Leiche des Nachbarhunds Hsiao Huang erkannte, musste er so weinen, dass er es nicht übers Herz brachte, den alten Hund daneben zu schmeißen. Er wolle ihn begraben und einen Grabstein für ihn errichten, jammerte er. Daraufhin riss die Mutter den Hund an sich und warf ihn mit einem dumpfen Aufprall in das versiegte Wasser. Die Fliegen stoben auseinander, um sofort wieder zurück zu flirren und sich mit einem ohrenbetäubenden Summen zu bedanken: Sie hatten das ganze vergammelte Fleisch noch gar nicht aufgegessen, und schon bekamen sie frisches Hundefleisch serviert.
Wie hätte er T erklären sollen, dass er aus so einem Geisterort kam? Wie hätte er seine bizarre Lebensgeschichte erzählen können? Von fünf älteren Schwestern, einem großen Bruder, von einem Vater, der nicht sprach, einer Mutter, die wie ein Wasserfall redete, von einem Nachbarn, der Schlangen tötete, einem Dorfdepp, der knallrote Shorts trug und deshalb auch Hongduanku genannt wurde, von dem Wassergraben, der Hochzeit, dem Bischofsbaum, vom »Weißen Haus«, dem Nilpferd, dem Yonghsing-Schwimmbad, dem Keller, dem Sternfruchtgarten, dem Tempel für die Frau am Fuße der Mauer, der Morgen-Buchhandlung, der silbernen Wasserzisterne?
Während seiner Zeit im Gefängnis hatte er oft vom Dorfdepp und dem Hundefriedhof hinter Ts Zuhause geträumt. Als Kind hatte T drei Hunde gehabt, die nach ihrem Tod im Hinterhof begraben worden waren. Fotos auf hölzernen Grabtafeln zeigten die Hunde zu Lebzeiten. Genau das hatte sich Tianhong für seinen Hund gewünscht, in Deutschland hatte er seinen Kindheitstraum verwirklicht gesehen. Oft träumte er auch von dem Wassergraben, in den der Hund hineingeworfen worden war, aber diesmal gab es dort keine Gespensterschatten. Als Erwachsener fürchtete er sich auch nicht mehr vor Geistern. Sie jagten ihm keine Angst mehr ein, denn am grausamsten waren die Menschen selbst.
In seinen Träumen stank der Wassergraben nicht, die Lotusblumen standen in voller Blüte, die Pilze wuchsen dicht aneinandergedrängt und an der Farbe und der Wärme der Weiden und des Schilfs spürte er, dass es Sommer war. In seinen Träumen schöpfte sein Vater Wasser aus dem Graben, um das Land zu bewässern. Er sah jung aus, braun gebrannt, mit weißen Zähnen, der ehrenwerteste Mann des ganzen Ortes, der in seiner Jugend strahlend die Sonne anlachte, sodass sich die Lotusblumen in seiner Gegenwart zierten.
Leider hatte Tianhong T umgebracht.
Wenn T noch da wäre, um zu fragen, dann würde Tianhong auf die Reihe Wohnhäuser zeigen und antworten: »Ich komme von diesem verlassenen Ort. Das ist mein Zuhause. Heute ist das Geisterfest, an dem die Geister hervorkommen. Ich bin auch zurückgekommen.«
Sujie rief an und schrie: »Was soll ich machen? Was soll ich nur machen? Mama ist verschwunden!« Shumei legte den Hörer auf und glitt zu Boden. Ob sie aufgelegt hatte oder nicht, machte letztlich keinen Unterschied. Sie wusste, dass Sujie es überhaupt nicht bemerken würde. Sie würde den Hörer einfach weiter anschreien: »Mama ist nicht da! Mama ist nicht da!«
Keine einzige Regenwolke am Himmel. Bei brütender Hitze brannte die Sonne jeden Tag unbarmherzig auf die kleine Ortschaft. Es war wirklich zum Verrecken heiß. Dennoch zögerte Shumei, die Klimaanlage anzuschalten. Diesen Monat hatte es nur wenig Arbeit gegeben, deshalb zwang sie sich, Strom zu sparen. Vom Terrazzoboden kam eine angenehme Kühle. Shumei presste sich auf die Keramikfliesen, um ihrem verschwitzten Körper ein bisschen Annehmlichkeit zu bieten. Vor einigen Jahren war Zentral-Taiwan von einem großen Erdbeben erschüttert worden, das einen riesigen Spalt in den Fußboden gerissen hatte. Shumei hatte beschlossen, ihn nicht zu reparieren. In dem alten Haus war ohnehin alles kaputt oder von Schimmel befallen, ungehemmt huschten die Ratten umher, die Wasserrohre waren häufig verstopft und das Blechdach im dritten Stock war vom Taifun bereits mehrfach weggeweht worden. Sie erinnerte sich noch an das Haus in seinem brandneuen Zustand: Die äußeren Fenstergitter so weiß wie Reis, die Innenwände erstrahlten im frisch gestrichenen Schneeweiß, der Terrazzoboden, gerade erst poliert, war ebenmäßig und glänzend. Obwohl er aussah, als sei er voller pieksigem Kies, war er glatt wie eine Rutsche, wenn man ihn betrat. Der Boden war eiskalt. Shumei drehte sich auf den Bauch und wandte die Augen zum Riss im Boden.
Heute war das Geisterfest. Einen halben Monat standen die Tore zur Geisterwelt nun schon offen, zügellos strichen die Geister überall umher. Vielleicht würde sie einen Blick in die Hölle erhaschen können, überlegte sie, wenn sie den Spalt im Boden weiter anstarrte. Der Riss befand sich direkt neben der Nähmaschine, ein Lebenszeichen. Jedes Mal, wenn sie den Kopf drehte, um auf den Boden zu blicken, schien der Riss ein bisschen größer geworden zu sein. Bewusst schaute sie immer wieder dorthin, in der Hoffnung, die Kluft würde noch weiter werden. Vielleicht könnte sie sich eines Tages in den Riss hineinpressen, niemand würde sie dann mehr finden.
Sie erinnerte sich an das große Erdbeben: Am helllichten Tag hatten plötzlich Boden und Wände angefangen zu wackeln. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, war ihr Mann in den Hinterhof gehastet, hatte sich ein paar Töpfe mit Orchideen geschnappt und war nach draußen gerannt. Shumei hatte sich nicht mal ansatzweise erhoben, sondern arbeitete einfach weiter an der Nähmaschine. Die Kleiderladung musste morgen geliefert werden, Erdbeben hin oder her. Ob die Wände einbrachen oder das Haus einstürzte, war egal, solange der Strom bitte nicht ausfiel, wäre alles gut. Ohne Strom stünde die Nähmaschine still, ohne Lieferung gäbe es kein Gehalt, und die Monatsrechnungen waren noch nicht bezahlt. Damals hoffte sie, dass ihr Mann mit den Orchideen im Arm einfach immer weiter und weiter rennen würde, den kleinen Ort verlassen, verschwinden und nie wiederkommen würde. Als sie jung war, hatte sie gehofft, selbst eine Orchidee zu sein. Doch am Tag des Erdbebens hatte sie Mitleid für die Orchideen empfunden.
Wie alt war das Haus? Im Jahr, als ihr jüngster Bruder geboren wurde, hatte die ganze Familie endlich den Dreikanthof verlassen und war in eines der neuen Reihenhäuser gezogen, mit Fischteich nach hinten hinaus und Reisfeldern davor, von links gezählt das fünfte. Damals waren die zehn Häuser ein Bauprojekt, das in die Zukunft weisen sollte. Das Fengshui sei ausgezeichnet, sagten die Bauunternehmer, eine Drachenhöhle, in der man eine Familie gründen und es zu Wohlstand bringen könnte. Zöge man dort ein, stiege man mit dem kleinen Dorf auf, das sich erst zu einer Kleinstadt und dann zu einer Metropole mausern würde. Auf den Reisfeldern würden die Hochhäuser in den Himmel schießen und Neonlichter erstrahlen! Damals fuhr der Vater einen schrottigen Transporter, mit dem er Wassermelonen, Setzlinge, Kleider und vor allem Betelnüsse und Betelblätter transportierte, nachdem er herausgefunden hatte, dass der Bedarf daran auf dem Markt besonders hoch war. In den nahegelegenen Dörfern trieften die Münder der Männer vom blutigen Betelnusssaft. Auch er biss in die von Blättern umwickelten Betelnüsse und kaute sich mit blutrotem Mund einen Geschäftsplan zurecht. Yongjing war reich an Betelnussblättern, und auch wenn sie an Qualität und Geschmack nicht mit denen aus dem mittleren Teil der Insel mithalten konnten – die Blätter waren dünner, der Geschmack schaler –, so blieb die Produktion dennoch stabil und die Preise waren niedrig, sodass alle Betelnussstände in Zentral-Taiwan auf ihn angewiesen waren.
Er betrieb einen mittelständischen Großhandel, kaufte die Betelnüsse gesammelt von den Bauern aus der Gegend ein, fuhr dann zu den Betelnussständen in den Dörfern und bot sie dort an, verhandelte und machte Profit. So konnte er nach einem Jahr das Schulgeld seiner fünf Töchter pünktlich bezahlen, abends gab es nun weißen Reis und Schweinefleisch zu essen und zum Jahresbeginn wurde endlich sein erster Sohn geboren, zum Jahresende kam ein zweiter hinterher. Mit sieben Kindern wurde der Dreikanthof zu eng. Als er seine Auszahlung bekam, verabschiedete er sich von seiner Mutter und kaufte eines der Reihenhäuser.
Als sie am Tag des Einzugs ihr neues Zuhause betraten, trug Shumei den kleinsten Bruder auf dem Arm. Es war der erste glückliche Tag in ihrem Leben, an den sie sich erinnern konnte. Endlich hatte die Mutter zwei Söhne geboren und musste die Großmutter nicht mehr jeden Tag sehen. Zum ersten Mal betrat Shumei ein Gebäude, das mehr als ein Stockwerk hatte. Es gab tatsächlich eine Treppe nach oben, und wirklich drei Stockwerke und sie hatte – wow! – ihr eigenes Zimmer! In der ersten Nacht schlief der ältere Bruder mit den Eltern zusammen, die große Schwester Shumei war zusammen mit der zweiten Schwester Shuli dafür verantwortlich, sich um den kleinsten Bruder zu kümmern. Vor lauter Aufregung konnten sie nicht schlafen, heimlich krochen sie aus ihren Betten und schnüffelten, mit dem kleinen Bruder auf dem Arm, den Geruch der frischen Wandfarbe, sprangen die Treppen rauf und runter, wälzten sich auf dem Terrazzoboden, betasteten unentwegt das erste Telefon der Familie und nahmen den tutenden Telefonhörer ab. Sie hielten ihn ans Ohr des kleinen Bruders, der lachte, als er das Tuten hörte. Die Toilette ihres neuen Zuhauses war eine Kloschüssel, auf die man sich setzen konnte. Im Sitzen pinkeln, wie angenehm! Auf dem Dreikanthof hatte sich die Toilette, eine stinkende Latrine, draußen befunden. Wenn man mitten in der Nacht mit drückendem Bauch zum Klo rannte, sah man oft im Mondschein, wie sich eine Schlange auf der Latrinentür wand. Dabei gruselte man sich gar nicht vor der Schlange, sondern vor dem furchteinflößenden Klogeist eines Mädchens, von dem sich alle erzählten. Die Toilette im neuen Zuhause konnte man verschließen und mit einem Drücken die Spülung bedienen, sodass alles sofort verschwand. Alles duftete, weder Geist noch Schlange weit und breit.
Wenn der kleine Bruder nachts weinte, bereiteten ihm die Schwestern schnell etwas Babymilch zu, wobei sie damals überhaupt nicht wussten, wie man das machte. Hauptsache sie nahmen das hochwertige japanische Milchpulver aus der Apotheke. Ein paar Löffel mehr davon und weniger Wasser würden die Milch nahrhafter machen, dachten sie, was zur Folge hatte, dass der kleine Bruder alles gierig verschlang, um es dann wieder komplett auszuspucken. Shumei und Shuli fanden das unglaublich lustig. Für sie, die sie die kleine Ortschaft noch nie verlassen und noch nie einen echten Wasserfall gesehen hatten, war der spuckende kleine Bruder die spektakulärste Fontäne, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatten.
Mit einem Mal musste Shumei an den kleinsten Bruder denken. Wie es ihm wohl erging? Immer, wenn sie an ihn dachte, überkam sie das starke Verlangen, einen Joint zu rauchen.
Die Tore zur Geisterwelt standen bereits seit einem halben Monat offen, doch ein Geistergelage war ihr nicht aufgefallen, nur Sujie hatte angerufen und, passend zum Anlass, ein Geheul und Geistergebrüll abgelassen. Shumei blickte auf die vielen Opfergaben vor der Tür. Den ganzen Tag hatte sie nichts gegessen. Den fremden Geistern wurde hier ein üppiges Bankett bereitet, während sie selbst zum hungrigen Geist wurde. Die Räucherstäbchen waren abgebrannt, die einsamen Seelen und wilden Geister hatten sich also sicher schon satt gegessen. Shumei stand vom Boden auf, öffnete eine Packung Kekse und begann zu mampfen. Die Kekse schmeckten überhaupt nicht. Unbegreiflich, wie sie so beliebt sein konnten. Sie waren so trocken, wie der Boden unter der brennenden Sonne, so süß, dass man von einem Bissen bereits Diabetes bekam, und so salzig, dass man mit dem zweiten Biss direkt an die Dialyse befördert wurde. Natürlich hatte sie die Kekse nicht selbst gekauft, das war ihr Mann gewesen, im großen Supermarkt des Nachbardorfs. Er könne alles Mögliche zum Opfern kaufen, hatte sie ihm gesagt, nur nicht die besagte Keksmarke, woraufhin ihr Mann mehrere Packungen von genau diesen Keksen besorgt hatte. Sie wusste, dass er das mit Absicht getan hatte. Die Kekse waren wie Backsteine. Warum nur aßen alle so gerne Backsteine? Immer höher hatte man die Backstein-Kekse in der kleinen Ortschaft hier gestapelt, bis daraus das luxuriöse Weiße Haus entstanden war.
Die Kekse waren ungenießbar, trotzdem zwang sich Shumei, alle aufzuessen. Nahrungsmittel durfte man nicht verschwenden. Kauen war für sie kein Genuss, sondern ein Befehl. Alles musste hinuntergewürgt werden, egal wie widerlich oder schwer zu schlucken es war. Auch längst abgelaufene Nahrungsmittel waren noch essbar. Vom verdorbenen Neujahrskuchen konnte man zum Beispiel einfach die schimmeligen Ecken abschneiden. Zu lebendig waren ihre Erinnerungen an das nagende Hungergefühl in ihrer Kindheit, für den Rest ihres Lebens würde sie sich davor fürchten.
Als älteste Schwiegertochter hatte die Mutter damals auf dem Dreikanthof die Aufgabe, drei Mal täglich für die Großmutter zu kochen. Die fand das Essen oft ungenießbar. Einmal schüttete sie sogar ihre Schüssel heißer Suppe über der Mutter aus und schlug vor, den Rest an die Schweine zu verfüttern. Mal schauen, ob die das fressen! Beim Hereintragen der Suppe hatte die Mutter ihre Töchter vor Hunger schreien hören. Nun nahm sie den Topf und ergoss den Rest über ihnen. Shumei spürte damals gar nicht, wie brühend heiß die Suppe war, sie empfand nur Bedauern. Den ganzen Tag hatte sie nichts gegessen, der Topf voll Suppe hätte gereicht, um sie alle satt zu machen. Sie leckte die Flüssigkeit von ihrem Körper und hätte sich am liebsten hingekniet, um all das, was noch auf dem Boden verschüttet war, aufzuschlürfen. Damals war gerade die vierte Schwester Sujie geboren worden. Schon wieder ein Mädchen! Die Brüder des Vaters hatten alle zuerst einen Jungen bekommen, aber in ihrer Familie kamen vier nutzlose Mädchen hintereinander. Der Vater hatte kein Geld, weil keines seiner Geschäfte erfolgreich lief. Der Esstisch war nur karg gedeckt, ohne Reis oder Fleisch.
Damals auf dem Dreikanthoft hielt die Großmutter einen großen schwarzen Hund. Shumeis Schwester Shuli war dafür zuständig, ihn zu füttern. Manchmal gab ihm die Großmutter einen Nachschlag, sodass sein Abendessen üppiger ausfiel als das der Schwestern. Schließlich schlachtete die Großmutter den Hund, briet ihn in einem großen Topf mit Knoblauch an und rief die Neffen des Vaters herbei, damit sie alle einen Happen davon essen konnten, nur sie, seine eigenen Töchter, mussten im Zimmer bleiben. Als sie den Duft des saftigen Fleisches rochen, mussten sie heimlich weinen, wobei sie nicht wussten, ob es wegen ihres Riesenhungers war oder weil sie mit eigenen Augen zugesehen hatten, wie die Großmutter den Hund mit einem Backstein erschlagen und in das kochende Wasser geworfen hatte. Den blutbefleckten Backstein hatte sie einfach vor den Schrein geschmissen. Auch Jahre später klang Shumei beim Anblick eines Backsteins noch immer das jämmerliche Hundejaulen in den Ohren.
Das heutige Geisterfest erinnerte Shumei daran, dass sie die einzige Tochter der Familie war, der die Mutter beigebracht hatte, wie man alle Opfer darbrachte. Seit ihrer Kindheit hatte Shumei die Mutter in den Tempel begleitet, mit allen Tabus und Gepflogenheiten der unterschiedlichen Festtage war sie vertraut. Sie stellte den großen runden Klapptisch nach draußen, legte die Instantnudeln mit Hühner-, Schweine- und Entengeschmack und andere Trockenware darauf. Der Tisch stand vor dem Haus zur Straße hin ausgerichtet, daneben ein Eimer mit sauberem Wasser und einem kleinen Handtuch, damit sich die vorbeikommenden Geister erst Hände und Füße waschen konnten, bevor sie sich über das reichhaltige Buffet hermachten. Drei Räucherstäbchen pro Teller steckten in jedem Gericht. Je härter das Jahr, desto opulenter der Gabentisch. Um die vorbeiziehenden Geister darum zu bitten, nicht ins Haus einzudringen, musste Geld verbrannt werden, wie eine Schutzgeldzahlung an die Mafia der Unterwelt. Den ganzen siebten Monat des Mondkalenders durfte man außerdem keinen Hausbau beginnen, umziehen oder weit reisen.
Einmal wollte Shumei im siebten Monat des Mondkalenders die Arbeitsstelle wechseln, von der einen Textilfabrik zur anderen, das Gehalt ebenso wie die Arbeitsbedingungen wären dort besser gewesen, aber die Mutter hatte es ihr verboten. Wenn sie während des Geistermonats die Arbeit wechselte, würde sie den Rest ihres Lebens nur an Versager geraten und garantiert den Falschen heiraten. Shumei gehorchte und blieb. Und traf dann Hsiao Gao.
Heute Morgen war Shumei um vier Uhr von der Hitze geweckt geworden. Die alte Klimaanlage gab nach zwei Stunden einfach den Geist auf, sodass man sie immer wieder anschmeißen musste, und sie brauchte ewig, erst nach einem halben Tag funktionierte sie wieder richtig. Vielleicht sollte Shumei einfach aufstehen und eines der Hühner schlachten, die sie im Hinterhof hielt. Gestern hatte sie einen Hahn ausgewählt, den sie heute töten wollte, und zur Verkündigung seines Todesurteils seine Beine zusammengebunden. Es war ein Hahn mit glänzenden Federn, der ordentlich Krach machte und oft über die Mauer flog, um sich mit dem Nachbarhund zu zanken. Fast jeden Tag beschwerten sich die Nachbarn über sein elendes Krakeel. Wenn sie ihn jetzt schlachtete und opferte, würde sie sich selbst und der ganzen Nachbarschaft Ruhe und Frieden verschaffen. Der Gockel wusste, dass er ausgewählt worden war und wehrte sich mit all seinen Kräften, pickte ihr in die Hand und gab ein jämmerliches Gekreische von sich. Mit einer Schnur zog sie seine Füße fest zusammen, während die anderen Hühner, so gut es ging, Abstand von ihm nahmen, um sich vom Geruch des Todes fernzuhalten. Auch wie man ein Huhn schlachtet, hatte ihr die Mutter beigebracht: am Nacken packen, mit einem Messerstich die Kehle aufschneiden und das frische Blut in den Reisbehälter abtropfen lassen, um so nebenbei Blutreiskuchen herzustellen. Die Federn entfernen, den Körper in heißem Wasser abbrühen, und mit einer Pinzette übrige einzelne Federn herauszupfen.
Shumeis Freunde sagten immer, dass sie dumm im Kopf, aber geschickt mit den Fingern sei. Ihr Gehirn war einfach an der falschen Stelle gewachsen, es befand sich in ihren Händen. Patchwork, Nähen oder Schneidern war alles kein Problem für Shumei. Hühnerfedern zupfte sie so schnell und geschickt, dass das Huhn glatter und schöner war als die Hühner, die man auf dem Markt kaufen konnte. Aber was nutzten ihr die geschickten Hände? Sie wusste, dass sie eine altmodische Frau war, die von ihrer eigenen Generation abgelehnt wurde. Mit fünfzehn Jahren war sie von der Schule abgegangen und hatte als Näherin in Shalu bei Taizhong gearbeitet. Mittlerweile war sie sechzig Jahre alt und hatte durch die Fabrikzuarbeit, die sie im Akkord zu Hause leistete, Schwielen an den Händen. Sie nähte Hunderte von Kleidungsstücken, die nach Europa exportiert wurden, und konnte sich von ihrem Gehalt noch nicht einmal ein neues Kleid kaufen. Oft fantasierte sie darüber, was wohl all die Europäer machten, die ihre Kleidung trugen. Tranken sie Kaffee am Straßenrand? Machten sie eine Bootstour auf dem Fluss? Rauchten sie einen Joint? Bummelten sie im Urlaub mit einer Markentasche durch die Straßen? »Nee«, hatte ihr kleiner Bruder Tianhong gemeint: »Die Europäer müssen genauso hart arbeiten wie du.« Aber sie selbst war noch nie dort gewesen, wie sollte sie ihm da glauben? Immerhin konnten sie sich, im Gegensatz zu ihr selbst, die von Shumei genähte Kleidung leisten.
Um vier Uhr war Shumei aufgestanden und hatte sich das Gesicht gewaschen, wobei sie die Seife benutzt hatte, die über dreißig Jahre alt war. Vor einer Weile hatte sie den Dachboden aufgeräumt und dabei einige Kisten mit alter Seife in verschmierter Papierverpackung entdeckt. Wenn man die purpurroten Seifen mit Wasser einrieb, schäumten sie tatsächlich noch und der starke künstliche Blumengeruch drang einem in die Nase. Damals hatte ihr Mann behauptet, man müsse in die Seifenfabrik investieren und das ganze Familienvermögen hineingesteckt, woraufhin sie nach ein paar Tagen einen Telefonanruf bekamen. Die Fabrik stünde still, die Investitionen seien verschwunden und konnten nur gegen ein paar Kisten voller stark riechender Seifen eingetauscht werden. So sehr Shumei die Seifen auch hasste, wegschmeißen konnte sie sie dennoch nicht. Immerhin war das etwas, womit man Kleidung, sich selbst oder den Hund waschen konnte. Der kräftige Seifengeruch verteilte sich im ganzen Haus. Nach ein paar Jahren bemerkte sie im Supermarkt, dass dort ein ganzes Regal voll bepackt mit diesen Seifen stand, die Produktion war also überhaupt nicht eingestellt worden. Als sie ihren Mann zur Rede stellte, fand sie heraus, dass die Seifenfabrik von Anfang an ausgedacht gewesen war. Mit dem Geld hatte er seine Spielschulden beglichen. Die Fabrik und die Investition hatten niemals existiert, die paar Kisten Seife hatte er extra gekauft. Shumei erinnerte sich an den Gesichtsausdruck ihres Mannes, als sie ihn ausfragte: »Wer hätte schon gedacht, dass du das tatsächlich glaubst?« Daraufhin hatte sie die Seife in die Suppe zum Abendessen gestreut, einen ganzen Topf voller seltsamer Farbe, den ihr Mann ungerührt einfach ausschlürfte. Er wurde weder krank noch starb er, sondern rülpste nur einmal laut. Sie würde ihn nicht tot bekommen, darüber war sich Shumei im Klaren. Ihren Mann mit eigenen Augen sterben zu sehen, war Shumeis größter Ansporn, selbst weiterzuleben.
Ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht.
Ihr Gesicht ohne Plastiktüte.
Ich kann mich nicht an ihr Gesicht ohne Plastiktüte erinnern. Erinnerungen sind flüchtig, unzuverlässig, trügerisch, werden von mir verwischt, verdrehen die Tatsachen. Aber einige Erinnerungen kleben fest auf der Haut. Als in Zentral-Taiwan im hochsommerlichen Juli der Schweiß aus den Poren schoss, klebte ihr die Plastiktüte fest auf der Haut, ihr Gesicht darunter war verschwommen, still.
Ich kann mich gut an bestimmte Fakten, wie zum Beispiel Zahlen, erinnern. Nachdem wir den Dreikanthof verlassen hatten, habe ich mir die erste Telefonnummer in unserem neuen Zuhause gemerkt. Ich bin der erste Sohn einer Familie vom Land, ich habe drei Brüder, fünf Töchter, zwei Söhne und habe einmal geheiratet. Wie viel mir irgendwelche Kunden in irgendeinem Jahr schulden, wie viele Kleintransporter ich gekauft habe, die Leberwerte vor meinem Tod – das alles weiß ich noch. Aber ihr Gesicht habe ich vollkommen vergessen.
Stand ihre Nase hervor? Wie weit waren ihr Haaransatz und die Augenbrauen voneinander entfernt? Ihre Augen, waren sie groß oder klein? Hatte sie volle Lippen? Wie reihten sich ihre Zähne aneinander?
Aber an verschiedene Zahlen, die mit ihrem Leben zu tun hatten, erinnere ich mich noch gut: an den Tag, Monat und das Jahr ihres Geburtstags, dass sie die fünfte Tochter war, an ihr Ergebnis bei der Oberstufenprüfung, an das Kennzeichen ihres Motorrads, an das Zimmer in der Nähe des Balkons im zweiten Stock, an ihr allergisches Niesen jeden Morgen nach dem Aufwachen – ihr Rekord war fünfzehn Mal –, sechs Mal wurde sie nach einem Selbstmordversuch ins Krankenhaus eingeliefert, sie war 165 cm groß.
Ihre Körpergröße habe ich erst im letzten Moment erfahren, als ich bei unserem Nachbarn einen Sarg bestellte und der Sargbauer kam, um ihre Leiche zu vermessen. »165«, meinte er, »gute Knochen und schöner Körperbau.« Die Kosmetikerin trug ihr Lippenstift und Lidschatten auf und obwohl das Make-up dick und sicherlich gut war, dachte ich immer nur an die Plastiktüte.
Wir waren damals die erste Familie, die in eines der Reihenhäuser einzog. Auf dem Dreikanthof war ich der älteste Sohn. Bevor die Japaner verschwanden, nahm mich meine Mutter an die Hand und zeigte mir auf dem Schulweg all die Grundstücke, die seit Generationen unserer Familie gehörten und für die wir Pacht eintrieben. Ums Essen müssen wir uns keine Sorgen machen. Lern du nur ordentlich in der Schule, in der Zukunft wird das alles dir gehören! Nachdem die Japaner fort waren, wurde ich in ein Internat geschickt und die Kuomintang-Regierung setzte ihre Landreform um. Als ich nach dem Schulabschluss nach Hause zurückkehrte, hatte meine Familie keinen großen Landbesitz mehr, ihr Vermögen war geschrumpft.
Yongjing war damals zwar kein Brachland, aber überall wucherte das Unkraut, die Straßen waren schlammig und es wimmelte von fetten Schlangen und grausamen Mücken. Eines Tages kam eine Baufirma, die Stahlbeton heranschaffte und einen Schotterwagen stationierte. Eine Ankündigung der Zivilisation. Auf der Fläche vor dem Fischteich wurde ein Bambuswald gefällt und zu Bauland umgewandelt, bald würden dort mehrstöckige Reihenhäuser errichtet werden. Die Baufirma suchte Zeitarbeiter, die das Bauland säuberten, und so fällte ich gemeinsam mit den anderen Arbeitern den Bambus. Alle hatten sich immer erzählt, dass in dem Bambuswald ein Frauengeist wohnte, tatsächlich hingen dort aber nur ein Haufen toter Katzen und kunterbunte Schlangen. Der jahrhundertealte Bambuswald verschwand innerhalb einer Woche fast komplett, nur ein kleines Stück wurde belassen. Wer wollte damals schon einen Wald sehen? Ein Haufen Grün bedeutete Rückständigkeit, er war wertlos und essen konnte man ihn auch nicht. Beton ersetzte den grünen Bambus, Staub und Rauch wehten über die Baustelle. Ich nahm einen tiefen Atemzug, die Nase voll mit trockenem Metallstaub. So roch der Fortschritt! Oh, wie er duftete!
Als ich meinen Lohn ausgezahlt bekam, fragte ich den Vorarbeiter, wie ich eines der Häuser kaufen könnte. In einem dreistöckigen Gebäude könnte man viele Zimmer unterbringen, ich würde mir eines mit Zikadina teilen, jedes der Kinder bekäme eines, und nach unserem Tod würde der Älteste alles erben. Unsere Familie Chen würde sich hier etwas aufbauen, das ahnte ich damals. Wir waren keine Großgrundbesitzer mehr, und auch ich als Ältester hatte kein Geld, aber ich war überzeugt, dass das Haus unseren Ausstieg aus der Armut bedeuten würde. Wir waren die Ersten, die in die Häuserreihe einzogen. Es folgte ein Sarggeschäft und nach kurzer Zeit eröffnete daneben ein Gemischtwarenladen. Wenn eine der Töchter heiraten oder eine Schwiegertochter einheiraten würde, könnten wir dort die nötigen Heiratsutensilien kaufen: Kissen mit den Zeichen für doppeltes Glück, Seidenbänder, bunte Schleifen, Namensschilder, Geschenkkörbe, Kerzen. Wenn jemand von den Älteren sterben würde, gingen wir in das Sarggeschäft, um dort Holzart und Modell auszuwählen. Wie praktisch, dass das Geschäft, in dem ich alles für die Hochzeiten meiner fünf Töchter und zwei Söhne kaufen konnte, gleich nebenan war. Und wenn sie dann ihre Mutter und mich beerdigen müssten, könnten sie alle Angelegenheiten in derselben Häuserreihe erledigen. Nirgendwo musste man hingegen, hier konnte man leben, hier konnte man sterben.
Ich hätte nicht gedacht, dass wir sie als Erstes beerdigen würden.
Ich habe keinerlei Erinnerungen an ihr Gesicht, aber ich weiß noch, dass alle sagten, sie sei die schönste meiner fünf Töchter.
Damals, als ich Zikadina heiratete, hat auch irgendjemand gesagt, dass sie die Schönste im Dorf sei.
Die jüngste und schönste Tochter sah Zikadina am ähnlichsten: große Augen, große Brüste, volle Augenbrauen, weiße Haut. Doch die, die sich am ähnlichsten waren, hassten sich am meisten. Meine Frau war die Mörderin meiner Tochter.
Es ist also besser, dass ich das Gesicht meiner Tochter vergessen habe. Aber das bedeutet auch, dass ich das Gesicht meiner Frau vergessen habe.
Erst als Shuli das Büro verlassen hatte, bemerkte sie, dass heute Geisterfest war. Viele Geschäfte hatten Opfertische aufgestellt und verbrannten Papiergeld, um der wandernden Geister zu gedenken. Shuli hatte das schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Wie hätte sie das auch anstellten sollen, in der kleinen Wohnung, in der sie in Taipeh wohnte? Als Shuli gerade hierhergezogen war, hatte sie einen kleinen Tisch auf den Balkon gestellt, aber dort war es so eng, dass sie befürchtete, das verbrannte Geld könnte das Haus anzünden. Deswegen opferte sie nur ein in Salzlake eingelegtes Huhn, saisonales Obst, ohne Räucherstäbchen anzustecken, und bat mit gefalteten Händen um Segen für ihre Familie. In der Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite der engen Gasse wurde auch geopfert, allerdings fürchtete sich dort niemand vor Feuer, sondern verbrannte Papiergeld in rauen Mengen. Ein Windstoß wirbelte die Asche auf und durchzog die enge Gasse mit einer grauen Regenschicht. Shuli sah, dass die Leute gegenüber einen Tisch voller Kekse aufgestellt hatten. Warum um alles in der Welt kauften alle immer ausgerechnet diese Keksmarke als Opfergabe? Die Weiße-Haus-Kekse erinnerten Shuli an die Beerdigung ihrer jüngsten Schwester.
Die kleinen Stapel aus Papiergeld hatten schnell Feuer gefangen, als der Vater sie angezündet hatte. Die Schwestern waren dafür zuständig gewesen, die Kleidung der jüngsten Schwester in die Flammen zu werfen, die mit ungezügelten Feuerzungen gierig ihre Tränen leckten. Auf Taiwanisch rief die Mutter am Feuer: »Komm als Geist zurück und schnapp ihn dir!« Die Mutter brachte ihre Trauer in einer melodischen Beschwörung zum Ausdruck, vielleicht weil sie so lange in einer Rezitationsgruppe gewesen war. »Komm zurück und schnapp ihn dir!«, wiederholte sie unentwegt, jedes Mal mit einem anderen Ton. Das Wort »Ihn« wurde beim Singen immer schriller, lauthals wiederholte sie es. Wie ein langer, scharfer Flachbohrer stach es Löcher in ihre Trommelfelle. Das Feuer brannte einige Stunden. Ein kräftiger Windstoß erfüllte den Himmel und den Mund der Mutter mit umherfliegender Asche, doch sie hörte nicht auf. Unermüdlich hallte das »Ihn« im ganzen Dorf wider, je kraftvoller ihr Dantian, desto lauter wurde es. Nur, dass der Besagte im Weißen Haus es gar nicht hören konnte. Die Asche folgte dem gejammerten »Ihn«, das die Beerdigung verließ und vom Wind überall hingetragen wurde, zu jedem niedrigen Haus des Dorfes, zu jeder Betelnusspalme, jedem mit Asche verunreinigten Bewässerungsgraben – überall war das »Ihn« zu hören. Nur das Weiße Haus wurde von der Asche verschont – die Mauer, die Säulen, das Dach waren unverändert blütenweiß, ohne ein einziges Staubkorn erstrahlte es in einem prächtigen Goldglanz.
Der Boden war feucht. Hatte es heute in Taipeh geregnet? Die ganze Zeit über hatte Shuli erboste Telefonanrufe entgegengenommen, pausenlos hatte sie sich entschuldigt, sodass sie keinen Regen gehört hatte. Sie hob den Kopf und schaute zum Himmel, wo niederdrückende, dicke schwarze Wolken einen weiteren Regenguss ankündigten. Sie liebte es, dem Regen zu lauschen. Wenn er auf dem Land auf den Boden niederprasselte, trieb das allerlei Krabbelgetier heraus, in der Luft verteilte sich der Geruch von frischem Gras, Kletternattern wälzten sich im Schlamm und in den Spinnennetzen hingen unzählige Wassertropfen. In Taipeh gab es überall Wellblechdächer, über die der Regensturm hinwegdonnerte und vorübergehend den Lärm der Autos unter sich begrub.
Shuli hatte ihren kleinen Bruder Tianhong gefragt, was er aus Taiwan vermisste. Ich kaufe es und schicke es dir nach Deutschland!
Keine Ahnung warum, hatte er zurückgeschrieben, aber oft vermisse ich das Geräusch des Regens auf dem Land und in Taipeh. Hier gibt es keine Wellblechdächer, den Regen kann man drinnen nicht hören, es ist so still, zu still.
Den Klang des Regens, wie hätte sie ihn kaufen sollen? Shuli wollte ihn mit dem Smartphone aufnehmen und Tianhong schicken, aber er durfte keine SMS empfangen und sie wusste nicht, wie sie die Aufnahme von ihrem Telefon auf den Computer übertragen konnte. Wie sollte sie nur den Klang des Regens versenden?
Als Shuli auf den Bus wartete, wich sie einem Fahrrad aus und trat dabei in eine Pfütze auf dem Bürgersteig. Knöcheltief versank sie in schmutzigem Dreckwasser. Sie stellte sich vor, wie der rußige, saure Regen durch ihre Lederschuhe drang, die Socken durchtränkte und wie sich der Schimmel zwischen ihren Fußzehen absetzte. Doch sie wollte den Fuß nicht aus der Pfütze ziehen. In der sengenden Sommerhitze bot das Dreckwasser eine unverhoffte Kühle und ließ sie in Erinnerungen an ihre Kindheit schwelgen, als sie auf dem Land durch den Schlamm gestapft und dabei bisweilen auf eine rutschige Gekielte Kletternatter getreten war. Nachdem Shuli den ganzen Tag in einem stickigen Raum ohne Klimaanlage verbracht hatte, war eine dreckige Pfütze gerade die einzige Erfrischung, die sich ihr bot. Die Achseln des Kollegen rechts neben ihr verbreiteten einen kräftigen, säuerlichen Geruch. Er hatte zum Mittag allen Ernstes an seinem Schreibtisch zwei Portionen stinkenden Tofu gegessen. Links von Shuli hatte eine Kollegin die Schuhe ausgezogen. Ihre Füße stießen immerzu stinkende Acetonbälle ab, die zielsicher auf Shulis Nasenschleimhaut trafen. Ein Gestank mit der Kraft, eine ganze Zivilisation auszulöschen! Während der Beamte Shuli als unflexibel beschimpfte, brach aus seinem Mund ein Fluss voll Müll hervor. Kratzte sich der Chef an der dünnen Kopfhaut, schien er einen Schweinetrog mit fauligem Wasser umzustoßen. Ein Hundegeruch haftete der Menschenmenge an, die auf Shuli zeigte und sie beschimpfte, sie respektiere keine Tiere. Der Gestank der Menschen war eine Mordwaffe, die Shuli die Kehle durchschnitt. Dabei hatte sie eigentlich überhaupt nichts gegen Hundegeruch, die wilden Hunde auf dem Land stanken noch viel mehr und dennoch liebte sie es, ihr Gesicht in ihrem Fell zu vergraben oder die Pfoten der Vierbeiner hochzuheben und den Geruch tief einzuatmen. Als sie noch auf dem Dreikanthof wohnten, hatte die Großmutter einen schwarzen Hund gehalten. Shuli war dafür verantwortlich gewesen, ihn zu füttern, bis zu dem Tag als die Großmutter ihn mit einem Stein erschlagen und gekocht hatte. Shuli wusste, dass die Großmutter eigentlich gar nicht so gerne Hundefleisch aß. Sie hatte den Hund wegen Shuli getötet.
Shuli war jetzt in einem kleinen Apartment in Taipeh zu Hause. Die drei Schlafzimmer und das eine Wohnzimmer, die sie sich mit Ehemann, Tochter und Sohn teilte, hätten sich überfüllt angefühlt, wäre auch nur noch eine einzige Kakerlake eingezogen. Dort war es unmöglich, einen Hund zu halten. Die Tochter hatte ihren Job verloren, der Sohn ging an keine Universität und wartete jeden Tag darauf, dass Shuli heimkam, um das Abendessen zu kochen. Shuli mochte Hunde, und trotzdem hatte sie es heute wegen eines Hundes in die Nachrichten geschafft. Der Vorwurf lautete, sie würde Hunde diskriminieren.
Shulis Abteilung war zuständig für Haushaltsregistrierungen, Personalausweiserneuerungen und Ausstellungen von Haushaltsbescheinigungen. Ihre Arbeit war einfach, ein idealer Job. »Ideal«, weil es wenig Veränderungen gab und das Gehalt stabil blieb. Die Aufgaben waren unkompliziert, sobald man sich mit den Inhalten vertraut gemacht hatte, war es immer dasselbe. Es war das Leben, das Shuli sich immer gewünscht hatte. Jeden Morgen stand sie um sechs Uhr auf, bereitete das Frühstück für die ganze Familie zu, verließ vor halb acht das Haus, um rechtzeitig die Metro zu erwischen und dann in den Bus umzusteigen. Vor halb neun kam Shuli im Einwohnermeldeamt an, setzte sich an ihren Platz und kochte sich eine Tasse Tee, schaltete den Computer an, und wartete darauf, dass die Leute hereinkamen, eine Nummer zogen und sich geduldeten, bis sie aufgerufen wurden.
Alles verlief geordnet. Dieses Jahr jedoch war das »ideal« ins Wanken geraten, als Shulis eigentlich simple Arbeit einige Veränderungen erfahren hatte. Sachbearbeiterinnen ihrer Generation waren in ihrer Jugend in keinerlei Form mit Computern in Berührung gekommen, die Gelegenheit dazu hatte sich einfach nie ergeben. Als die Technologiewelle auch Shulis Abteilung überrollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und sich die ganze neue Bürosoftware anzueignen. Nachdem alles auf Elektronik umgestellt worden war, nahm die Arbeitsgeschwindigkeit zu. Eine Aufgabe, für die sie früher einige Tage gebraucht hatte, wollte der Vorgesetzte nun innerhalb einer Stunde erledigt wissen, sonst hieß es, Sachbearbeiter seien ineffizient. Ihre Geschwindigkeit konnte Shuli erhöhen, aber sie war nicht in der Lage, die allgegenwärtigen Kameralinsen abzuwehren, die die Technologisierung mit sich gebracht hatte. Viele Menschen, die an Shulis Fenster traten und herausfanden, dass sie die gewollten Unterlagen nicht ausgestellt bekommen konnten, schalteten prompt ihr Smartphone an mit der Begründung, dass sie »Beweise sammelten«, um der ganzen Welt zu zeigen, wie unglaublich schäbig Taiwans Sachbearbeiter seien. Jeder hatte nun sofort eine Kamera zur Hand, mit nur einer Fingerbewegung konnte man zu filmen beginnen und damit drohen, die Aufnahmen an die Medien weiterzureichen, wenn das Anliegen nicht schleunigst erledigt würde.
Einmal war eine sehr hübsche, junge Frau zum Schalter gekommen, mit großen Augen und langen Haaren, die Shuli an ihre jüngste Schwester erinnerte. Sie sah schüchtern und unbedarft aus, als hätte sie noch nie etwas Schlimmes erlebt. Sie wollte Geburtsgeld beantragen, hatte aber nicht alle benötigten Unterlagen dabei, sodass es nicht möglich war, die Formalitäten noch am selben Tag zu erledigen. Die junge Frau verlor die Kontrolle, schmiss die Dokumente hin, und schrie: »Mein Kind kommt bald! Ich habe kein Geld! Und ihr helft mir nicht!« Es war nur ein kurzer Moment, in dem sie laut gewesen war. Shuli und ihre Kollegen kamen sogleich hinter dem Schalter hervor, um sie zu beruhigen, kochten ihr einen Tee und plauderten mit ihr darüber, was bei der Geburt zu beachten wäre. Herzlichen Glückwunsch! Im Wochenbett gut aufpassen! Wovon sie mehr essen sollte, welcher Frauenarzt für die Geburt besonders empfehlenswert sei und so weiter. Sowie sie auf die junge Frau einsprachen, lachte sie, ihre Augen leuchteten, und sie sagte, sie käme am nächsten Morgen wieder. Abends erschien sie dann heulend in den Fernsehnachrichten. Einige Zeugen hatten den Vorfall mit dem Smartphone gefilmt und direkt hochgeladen. Die unkontrollierte junge Frau platzte in den langweiligen Alltag der Leute. Das Video ging viral. Der jungen Frau wurde in den Nachrichten die Auszeichnung der »beklopptesten und nervigsten Kundin« verliehen. Die Reporter brachten sogar ihre Identität in Erfahrung, suchten ihre Mutter auf dem Markt auf, die gerade dabei war, ein Huhn zu schlachten, als sie ihr das Mikrophon unter die Nase und die Kamera vors Gesicht hielten und fragten: »Wissen Sie, dass Ihre Tochter bald ein Kind bekommt? Haben Sie schon das Video gesehen, das im Internet viral gegangen ist?« Die Reporter nahmen ihren Laptop hervor und spielten den Clip der im Einwohnermeldeamt tobenden jungen Frau ab. Die Mutter sah schockiert aus. In ihrer Hand hielt sie das Huhn, dessen Kehle sie gerade durchgeschnitten hatte und aus dem ununterbrochen das Blut strömte.
Damals hatte sich Shuli im Bad versteckt, wo sie den Clip mit der schreienden jungen Frau immer und immer wieder anschaute und an ihre jüngste Schwester dachte. Am nächsten Tag war die junge Frau nicht mehr gekommen und auch danach nie wieder aufgetaucht.
Als Reaktion auf das Bedürfnis der Leute, »Beweise« zu filmen, wies ihr Vorgesetzter alle Sachbearbeiter der Abteilung an, neben der Sicherheitsüberwachung, auch sich selbst zum eigenen Schutz zu filmen.
Heute hatte Shuli jedoch vergessen, die Kamera anzuschalten. Sie stand gerade am Kopierer, als es plötzlich zu einem Tumult in der Warteschlange kam und ein Kind zu weinen begann. Shuli kam hinter dem Schalter hervor, um nachzusehen, was passiert war. Jemand hatte fünf große Hunde mit hereingenommen, eine Nummer gezogen und war nun aufgerufen worden. Das Kind hatte die Hunde erblickt und weinte vor Angst. Als die Eltern Shuli bemerkten, wollten sie, dass sie sich um die Angelegenheit kümmerte, das Kind fürchtete sich wirklich schrecklich.
»Seid ihr hier nicht ein öffentliches Amt? Sollten da Hunde nicht draußen bleiben? Die dürfen doch nicht reinkommen, oder?« Shuli ging nach vorne, um mit dem Besitzer zu reden, doch der nahm sofort sein Smartphone heraus und begann Shuli zu filmen.
»Das hier sind alles Blindenhunde«, verkündete der Mann laut. »Ich bin Trainer für Blindenhunde.«
Shuli missverstand die Situation, sie dachte, dass der Herr blind sei, und entschuldigte sich sofort, woraufhin er noch lauter erwiderte: »Was? Du hältst mich für nen blinden Krüppel? Ich hab doch gerade gesagt, dass ich ein Trainer für Blindenhunde bin. Wie sollte ich denn bitteschön Hunde trainieren, wenn ich selbst blind bin? Die Hunde müssen bei mir bleiben, ich kann sie nicht draußen lassen. Ich werde mich darüber beschweren, dass ihr hier etwas gegen Blindenhunde habt.« Der Mann brüllte, die Hunde blieben, das Kind heulte. Shuli kehrte an den Kopierer zurück und dachte nicht weiter über die Angelegenheit nach. Doch nach ein paar Stunden begann das Telefon für die Sachbearbeiterin Chen für Haushaltsregistrierung ohne Unterlass zu klingeln. Sobald die Anrufe zu ihr durchgestellt worden waren, tönten Beschimpfungen aus dem Hörer. Reporter klopften an, auch sie wollten zur Sachbearbeiterin Chen für Haushaltsregistrierung, um ihr die Mikrofone hinzuhalten: »Warum diskriminieren Sie Blindenhunde?«
Gleich nachdem der Blindenhundetrainer aus der Tür getreten war, hatte er die Aufnahme in ein Forum für Blindenhunde hochgeladen. Shulis Kollegen spielten ihr den Clip vor, der geschickt bearbeitet und mit Untertiteln und Spezialeffekten ergänzt worden war. Auf Shulis Gesicht zeigte ein roter Pfeil, neben dem stand: »Sachbearbeiterin Chen für Haushaltsregistrierung, die Blindenhunde diskriminiert«. Der Blindenhundetrainer konnte ziemlich gut schneiden. Der Teil, in dem er »blinder Krüppel« sagte, tauchte im ganzen Clip nicht auf und Shulis zusammengezogene Augenbrauen verwandelten sie in das Gesicht der Diskriminierung, indem der Clip zunächst die ängstlichen Blicke der Hunde und dann im nächsten Bild Shulis apathische Miene zeigte.
Eine Welle der Beschimpfungen brach über Shuli herein: Du Dreckstück! Du miese Hundehasserin! Wegen Sachbearbeitern wie dir macht Taiwan keine Fortschritte! Parasit! Dein Gehalt wird von meinen Steuern gezahlt! Kündige! Beschissene Sachbearbeiterin! Hure! Ich lasse meine Hunde auf dich los, sie werden dich zerfetzen! Du hast nicht das geringste Mitgefühl! Fellnasen sind die besten Freunde der Menschen, hast du das kapiert? Als Shuli vor Feierabend den letzten Anruf entgegennahm, klang wütendes Hundegebell aus dem Hörer, und schließlich: »Verfickte Scheiße, pass besser auf, wenn du rausgehst!«
Shuli musste ihre reguläre Arbeit einstellen. Der Chef wies sie an, einen Bericht zu schreiben, den sie am nächsten Tag einreichen sollte. Shuli war klar, dass es ein Reuebrief sein musste, ihre diesjährige Leistungsbewertung hatte sich damit auch erledigt. Der Chef mit dem Mundgeruch klopfte ihr auf die Schultern: »Frau Chen, Sie haben überhaupt nicht geweint, echt beeindruckend.« Was hätte Weinen schon gebracht, dachte Shuli sich, ich wurde immer schon beschimpft, was soll ich deswegen heulen?
Der Bus ließ auf sich warten. Shuli konnte nicht anders, als sich den Clip noch ein weiteres Mal anzuschauen. Bei der Nahaufnahme auf ihr Gesicht stoppte sie. So sah sie also aus. Ihr teilnahmsloses Gesicht, ihre schlaffen, schulterlangen Haare und ihr eiskalter Blick standen im scharfen Kontrast zu den eifrigen Mienen der Hunde. Kein Wunder, dass jeder glaubte, sie würde Hunde diskriminieren.
Auf der Straße wurde Papiergeld verbrannt. Shulis Augen scannten die Opfertische, auf fast allen lagen die Kekspackungen des Weißen Hauses. Man konnte ihnen einfach nicht entkommen. Als sie vorletztes Jahr mit einer Reisegruppe in China unterwegs gewesen war, hatte der lokale Reiseleiter auf dem wolken- und nebelverhangenen Huangshan eine der Packungen hervorgeholt und gefragt, ob sie nicht einen dieser Kekse aus Taiwan essen wollten. Das sei doch der Geschmack ihrer Heimat! Keiner aus der Reisegruppe hatte sich gemeldet. Als der Reiseleiter meinte, sie seien kostenlos, wollten plötzlich alle einen Keks haben. Bei einem Spaziergang durch Hongcun in der Provinz Anhui entdeckte sie in einer kleinen Gasse ein Mädchen, das gerade genau diese Kekse mampfte. Als Shuli am Westsee Krabben aß, lagen die Kekse ebenfalls auf dem Tisch. Auch in einer Drogerie, in der sie letztes Jahr Vitamine für ihren Mann gekauft hatte, fand sie im Regal einen Haufen dieser Kekse. Sie hatte dem kleinsten Bruder geschrieben und gefragt, sag mal, bei dir im Gefängnis, gibt es die Kekse da auch? Es hätte sie nicht überrascht. Sprachen nicht alle von Globalisierung?
Ein paar Mittelschülerinnen, die neben der Bushaltestelle standen, hatten ihre Smartphones herausgeholt und so laut eingestellt, dass sie den Clip hören konnte, Sachbearbeiterin Chen für Haushaltsregistrierung war nun offensichtlich berühmt. Sie trat aus der Pfütze, näherte sich den Mittelschülerinnen und hörte, wie sie über die beschissene Sachbearbeiterin schimpften, die Hunde diskriminierte.
Eine von ihnen hob den Kopf und streifte sie mit ihrem Blick, der zu sagen schien »Was kommt diese alte Trulla so nah an uns ran? Ihre Füße sind voll schmutzig!« Aber dass Shuli die Hauptperson des Clips war, erkannte sie nicht. Nachdem Shuli den ganzen Tag am Telefon beschimpft worden war, hatte sie sich schon Sorgen gemacht, dass sich das Gleiche auf der Straße fortsetzen würde, aber Shuli quetschte sich in den Bus, stieg in die Metro um, kaufte auf dem Abendmarkt ein und ging nach Hause, ohne von irgendjemandem erkannt zu werden. »Das Gleiche wie gestern«, sagte sie zum Fleischer auf dem Markt, der Shuli ansah und in seinem Gedächtnis nach einem vertrauten Kundengesicht kramte, vergeblich. Seltsam, sie kaufte hier doch oft Fleisch ein. Nicht besonders geschäftstüchtig, dachte Shuli. Ihr war nicht im Geringsten bewusst, dass sie ein völlig farbloser Mensch war, durchsichtig, diejenige, die in einer Menschenmenge am ehesten übersehen wurde.
Vor ein paar Tagen hatte sie auf dem Schlafzimmerboden Yogaübungen gemacht, als ihr Mann hereinkam, sich, ohne Shuli zu bemerken, aufs Bett legte und anfing, auf dem Computer Pornos zu schauen. Er zog die Hose bis zu den Knien herunter und begann zu zucken. Sie verharrte regungslos im herabschauenden Hund und wagte nicht, tief zu atmen. Nach kurzer Zeit gab ihr Mann ein leichtes Stöhnen von sich und griff nach der Decke, um sich abzuwischen. Es dauerte nicht lange, bis das sanfte Stöhnen zu einem lauten und klaren Schnarchen wurde. Beruhigt erhob sich Shuli und schlich, ohne einen Blick auf ihren Mann zu werfen, auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Die Bettwäsche werde ich dann wohl mit erhöhter Temperatur waschen müssen, dachte sie bei sich. Ich habe doch direkt neben dem Bett auf dem Boden gelegen! Wie kann es sein, dass er mich überhaupt nicht bemerkt hat? Wobei, vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht.
Als sie mit dem Fleisch in der Tasche den Abendmarkt verlassen hatte und auf dem Weg nach Hause war, klingelte ihr Smartphone. Auf dem Display erschien ein Anruf von Sujie. Als Shuli abhob, brüllte es aus dem Telefon: »Shuli! Komm schnell nach Hause! Was soll ich nur machen? Mama ist verschwunden!«
Shuli atmete tief durch und antwortete so gleichgültig wie möglich: »Mama ist schon längst gestorben.«
Sujie hörte ihr überhaupt nicht zu, sondern schrie einfach weiter: »Hallo? Shuli! Hallo? Komm schnell nach Hause! Hast du gehört, Mama ist verschwunden!«
Shuli wusste nicht, dass Sujie ihre Antwort überhaupt nicht gehört hatte. Sie wusste nicht, dass sie ein so farbloser Mensch war, dass selbst ihre Stimme zu schwach war, sich über das Telefon verflüchtigte, kein Gewicht hatte, dass sie Sujies Ohren nicht erreichte. Immer wieder sagte Shuli: »Mama ist tot. Mama ist tot. Du brauchst sie nicht zu rufen. Mama ist tot. Ich bin in Taipeh und muss arbeiten, ich habe keine Zeit, nach Hause zu kommen.«
Sujie hörte nichts davon und brüllte immer weiter.
Die Sachbearbeiterin Chen für Haushaltsregistrierung war wie ein Geist, der unsichtbar dahinschwebte, automatisch ausgeschlossen von der visuellen und akustischen Wahrnehmung der Menschen. Tatsächlich war es genau das Leben, das Shuli immer wollte: unsichtbar in der Menschenmenge, mit dem Hintergrund verschmolzen, ohne Reflexion im Spiegel, ohne Spuren am Boden, noch nicht verschwunden, und doch nicht existent.
Tianhong wollte T erzählen, dass es bei ihm zu Hause Bäume gab, sehr viele Bäume. Einige Felder waren mit Betelnussbäumen bepflanzt worden, aber ihre Ernte war nicht besonders ergiebig, sodass sie letztlich alle gegen Betelpfeffer ausgetauscht wurden. Die Grundschule, die Tianhong besucht hatte, war mehr als hundert Jahre alt. Auf ihrem Gelände wuchsen Ananasbäume. Wenn die hohen Temperaturen im Sommer den Flammenbaum entzündeten und seine knallroten Blüten über Nacht aufsprangen, sammelten die Kinder die Blütenkelche und die roten Blütenblätter auf. Sie fügten sie zu lauter Schmetterlingen zusammen, die Blütenkelche verwendeten sie als Körper, die Blüten als Flügel. Als Kind zog er jedes Wochenende mit seiner ganzen Familie los, um Unkraut zu jäten und die Felder zu bewässern. Zur Mittagszeit kaufte die Mutter auf der Straße klebrige Reisbällchen mit Fleischfüllung, Reispudding und Suppe mit frittiertem Tofu. Gemeinsam saßen sie unter dem Flammenbaum und bastelten Schmetterlinge aus seinen Blüten, während sie auf die Mutter warteten. Wie sie so vor sich hin werkelten, kam plötzlich ein Schwall kleiner weißer Schmetterlinge herübergeflogen. »Nicht bewegen!«, gab die älteste Schwester mit tonlosen Mundbewegungen zu verstehen. Alle standen still, ohne sich zu rühren, woraufhin die kleinen weißen Schmetterlinge sich auf ihren Körpern niederließen. Erst als sie das Motorgeräusch von Mutters Roller hörten und der Geruch der Fleischbällchen zu ihnen herüberzog, wagten sie es, die Schmetterlinge zu verschrecken, um nach dem Essen zu greifen. Tianyi, der ältere Bruder, bekam immer als Erster sein Mittagessen, noch dazu eine besonders große Portion. »Männer brauchen Kraft«, sagte die Mutter. »Iss noch ein Fleischbällchen, nimm dir noch zwei weitere Schüsseln mit Suppe!« In Tianyis Suppe schwamm selbstverständlich ein Schweinefleischbällchen und Tofu, in der Suppe der Schwestern nur Tofu und manchmal war es auch einfach nur klare Suppenbrühe. Zwar war Tianhong ebenfalls ein Junge, aber seine Mutter schien schon sehr früh etwas bemerkt zu haben: »Der Jüngste bekommt wie die Schwestern Tofusuppe.«