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Carolyn J. Cherryh

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Beschreibung

Jeder Mensch ist einmalig

Ariane Emory leitet Reseune, das modernste gentechnische Institut der Menschheit. Sie ist auf ihrem Fachgebiet absolute Spitze, und als sie sich entscheidet, einen Klon von sich selbst herzustellen, scheut sie keine Kosten und Mühen, um ideale Bedingungen zu schaffen, damit ihr Replikat total mit ihr übereinstimmt. Doch jeder Mensch ist einmalig. Er ist nicht nur die Summe seiner Erbanlagen, sondern das Produkt vielfältiger Einflüsse, die sich nicht gänzlich kontrollieren lassen und überraschende Folgen haben können …

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C. J. CHERRYH

GEKLONT

DIE CYTEEN-TRILOGIE

in einem Band

Roman

Das Buch

Ariane Emory leitet Reseune, das modernste gentechnische Institut der Menschheit. Sie ist auf ihrem Fachgebiet absolute Spitze, und als sie sich entscheidet, einen Klon von sich selbst herzustellen, scheut sie keine Kosten und Mühen, um ideale Bedingungen zu schaffen, damit ihr Replikat total mit ihr übereinstimmt. Doch jeder Mensch ist einmalig. Er ist nicht nur die Summe seiner Erbanlagen, sondern das Produkt vielfältiger Einflüsse, die sich nicht gänzlich kontrollieren lassen und überraschende Folgen haben können …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

THE CLONING-PROJECT ARIANE EMORY

CYTEEN: THE BETRAYAL

CYTEEN: THE REBIRTH

CYTEEN: THE VINDICATION

Aus dem Amerikanischen von Michael K. Iwoleit

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1988 by C. J. Cherryh

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Thomas Menne

INHALT

Erster Teil – Der Verrat

Zweiter Teil – Die Wiedergeburt

Verbaltext aus:

DIE MENSCHLICHE REVOLUTION

›Die Konsortiums-Kriege‹: Teil 1

Reseune Bildungsprogramm: 4668-1368-1

zugelassen für 80 +

Stellen Sie sich die ganze Vielfalt der menschlichen Rasse auf eine Welt beschränkt vor, eine Welt, die mit den versteinerten Knochen der Vorläufer des Menschen übersät ist, ein Planet, gesprenkelt mit den Ruinen von zehntausend Jahren vergessener menschlicher Zivilisationen – ein Planet, auf dem zu der Zeit, da menschliche Wesen erstmals ins All aufbrachen, noch immer Menschen eine Vielzahl von Tieren jagten, Wildpflanzen sammelten, nach uralten Methoden Ackerbau betrieben, in Handarbeit Naturfasern sponnen und über Holzfeuern kochten.

Die Erde schuldete einer Vielzahl von Vorsitzenden, Räten, Königen, Ministern und Präsidenten ihre Untergebenheit; Parlamenten und Kongressen und Ausschüssen, Republiken, Demokratien, Oligarchien, Theokratien, Monarchien, Hegemonien und politischen Parteien, die sich seit Tausenden von Jahren in aller Fülle entwickelt hatten.

Dies war die Welt, die zum ersten Mal die Sternsonden hinausschickte.

Eine Sol-Station existierte bereits, eine sehr viel primitivere Sol-Station, aber alles in allem autark; und begünstigt durch ein System von Steuererleichterungen als Gegenleistung für wissenschaftliche Errungenschaften nahm sie eine Reihe ehrgeiziger Projekte in Angriff, darunter die erste Großturbinen-Sternsonde, und schließlich die erste bemannte Schubschiff-Formation auf dem Weg zu den nächsten Sternen.

Das erste der Schub-Module war natürlich die ehrwürdige Gaja, deren Aufgabe darin bestand, die Alpha-Station-Komponente zu dem Stern zu bringen, der damals als Barnards Stern bekannt war, und dreißig Wissenschaftler und Techniker, die sich freiwillig gemeldet hatten, in einer zu dieser Zeit unvorstellbaren Isolation zurückzulassen. Sie sollten ihre Station aus dem Gewirr an Fels und Eis errichten, das im Orbit des Sterns vermutet wurde, wissenschaftliche Untersuchungen durchführen und über die enormen Entfernungen hinweg den Kontakt mit der Erde aufrechterhalten.

Die erste Konzeption hatte einmal verwendbare Schubschiffe vorgesehen, kaum mehr als robotische Sternsonden; aber die menschlichen Passagiere votierten für eine Möglichkeit, Nutzlast abwerfen und zurückkehren zu können, was schließlich dazu führte, dass man sich unter Berücksichtigung aller denkbaren Katastrophen auf eine uneingeschränkte Rückflugmöglichkeit einigte. Dies war der Ausgangspunkt für die Idee eines bemannten Schub-Moduls, das in Bernhards Sonnensystem verbleiben sollte, falls der Stern nicht genügend Rohstoffe zur Verfügung stellte, um die Autarkie des Alpha-Moduls zu sichern; in diesem Fall würde Gaia sich einige Jahre dort aufhalten, dann die Station bis auf die notwendigsten Aggregate demontieren und die Mission zur Erde zurückbringen. Wenn der Stern sich als eine dem Leben förderliche Heimat für die Station herausstellte, würde Gaia nur etwa ein Jahr bleiben, bis das Alpha-Station-Modul reibungslos funktionierte und sich in seinem Orbit stabilisiert hatte. Dann würde sie mit ihrer kleinen Restmannschaft nach Sol zurückkehren und das Gaia-Modul einer zweiten Mission übergeben, die nach der Neuausrüstung mit solchen Vorräten wie Spurenelementen und Materialien, die der jungen Station nicht zur Verfügung stehen mochten, wieder hinausfliegen würde. Ebenso wichtig wie die Vorräte, lautete eine Theorie dieser frühen Pioniere, war die menschliche Bindung, die Beruhigung durch den persönlichen Kontakt mit anderen menschlichen Wesen über die Weiten des Weltraums hinweg, die damals noch unvorstellbar einsam waren.

Auf der Erde, wo man dank des ständigen Datenflusses von Gaia und der Alpha-Station schon Jahre im Voraus wusste, dass die Mission außerordentlich erfolgreich war und Gaia sich auf dem Rückflug befand, wurde eine Ersatzmannschaft ausgebildet und pflichtgemäß die Folgemission vorbereitet.

Aber die Mannschaft der Gaia, die aufgrund des relativistischen Effekts einem Informationsfluss entgegenflog, der auf immer größere Veränderungen auf der Erde hindeutete, die sie verlassen hatte, fühlte sich inzwischen mehr auf dem Schiff zu Hause als in der Hauptströmung einer terranischen Kultur, die ihnen sehr fremd geworden war. Ihr vorübergehender Aufenthalt in der Sol-Station verlief äußerst unangenehm, und sie nahmen Gaia in einer überraschenden Aktion wieder in Besitz, die die Verantwortlichen der Station außerordentlich bestürzte, ihnen aber schließlich ihr Schiff sicherte und die Folgemannschaft dazu degradierte, auf das nächste Schubfahrzeug zu warten.

Andere Mannschaften späterer Missionen gelangten zu derselben Entscheidung und betrachteten sich als unaufhörlich Reisende. Sie sahen ihre kleinen Schiffe als ihr Zuhause an, hatten Kinder an Bord, und als immer mehr Sternstationen und begleitende Schubschiffe den Betrieb aufnahmen, erbaten sie von der Erde und den Stationen lediglich Treibstoff, Proviant und Verbesserungen ihrer Schiffe in Form größerer Kabinen oder modernerer Triebwerke – was auch immer seit ihrem letzten Ankoppeln verfügbar geworden war.

Sternstationen im Orbit eines halben Dutzends Sterne standen miteinander durch den regelmäßigen Verkehr solcher Schiffe in Verbindung. Aber in der Isolation der damaligen Zeit, in der Nachrichten gerade mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs waren, und Schiffe noch sehr viel langsamer, hinkte jede Station in der Zeit mindestens vier oder fünf Jahre hinter jedem anderen menschlichen Lebensraum her, sei es ein Schiff oder eine Station, und lernte in diesem seltsamen Fließen der zeitlichen Bezugspunkte zu existieren, das der breiteren Öffentlichkeit der Erde unendlich fremd war.

Die Entdeckung von intelligentem Leben auf einem Planeten von Pells Stern, den man auf der Erde einmal Tau Ceti genannt hatte, lag schon über zehn Jahre zurück, als die Nachricht die Erde erreichte. Menschen hatten bereits zwei Jahrzehnte Erfahrung im Umgang mit den Bewohnern von Downbelow, den Downern, ehe die sorgfältig ausgearbeiteten Anweisungen von der Erde Pell erreichen konnten; und noch sehr viel länger dauerte es, bis terranische Wissenschaftler auf Pell eintreffen konnten, über die lange Route, die sie von Station zu Station in eine menschliche Kultur führte, die ihnen fast so fremdartig wie die der Downer erschien.

So wie es aus unserer Sicht schwierig ist, sich die Erde in der damaligen Zeit vorzustellen, so war es für Erdbewohner praktisch unmöglich, die Gedankengänge von Raumfahrern nachzuvollziehen, die sich weigerten, ihre Schiffe zu verlassen, und ihrerseits die (ihrer Ansicht nach) überfüllten Korridore der Sol-Station chaotisch und erschreckend fanden. Es war selbst für Leute in der Sol-Station so gut wie unmöglich, das Leben ihrer Zeitgenossen in den Tiefen des Drüben zu verstehen – Zeitgenossen, deren Kultur auf einer Geschichte und Erfahrungen und Legenden fußte, die viel mehr mit der Härte des Lebens in abgelegenen Stationen und berühmten Schiffen zu tun hatte als mit Ereignissen in einer grünen und chaotischen Welt, die sie nur von Bildern kannten.

Die Erde, die unter einer Überbevölkerung und politischen Krisen litt, die in beträchtlichem Maße ihren uralten Rivalitäten zuzuschreiben waren, hatte trotzdem eine Zeit der Blüte erlebt, während sie im Brennpunkt der menschlichen Entwicklung stand. Der unerwartete Ansturm von Stationspersonal auf neue Einrichtungen im Orbit von Downbelow, den die Aussicht auf reichlich vorhandenes Biomaterial ausgelöst hatte, eine Bevölkerung primitiver und freundlich gesonnener Eingeborener und verwertbare Ressourcen, die frei im Orbit kreisten, sorgten für panikartige Völkerwanderungen. Stationen zwischen der Erde und dem Pell-System stellten den Betrieb ein, schädigten den Handel im Großen Kreis und riefen auf der Erde und in der Sol-Station ein ökonomisches Chaos hervor.

Die Erde reagierte mit Versuchen, Einfluss zu nehmen – mit einer zeitlichen Verzögerung von zehn Jahren: Terranische Politiker konnten sich nicht unmittelbar ein Bild von der ökonomischen Stärke machen, die die verbliebenen Stationen in Anbetracht der Vereinheitlichung der Bevölkerung zu erreichen versprachen, die der Ansturm auf Pell geschaffen hatte. Die Konzentration der Bevölkerung und die Entdeckung umfangreicher Ressourcen im Verein mit dem psychologischen Antrieb zur Erforschung liefen darauf hinaus, dass die inzwischen zwanzig Jahre alten Instruktionen von der Erde in einer in solch raschem Wandel begriffenen Situation eintrafen, dass selbst eine Verzögerung von einem Monat bedeutsam gewesen wäre.

Die Erde geriet in zunehmende Isolation, litt unter dem internen Druck eines wankenden Handelssystems und verhängte in einer verzweifelten und unbesonnenen Aktion einen Strafzoll, der zu Schmuggel und einem florierendem Schwarzmarkt führte; welcher wiederum für eine plötzliche Verschlechterung des Handels verantwortlich war. Die Antwort der Erde bestand in der Erklärung eines Bevorzugten-Status für bestimmte Schiffe; was unweigerlich in bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Schiffen von der Erde und solchen mündete, die nicht auf der Erde gebaut worden waren und keinerlei Bindungen mit ihrer verwickelten und sehr vielgestaltigen Politik unterhielten.

Darüber hinaus kam man auf der Erde zu dem Schluss, dass die Emigration von Wissenschaftlern und Ingenieuren aus dem Sol-System die Raumfahrer-Kulturen mit den Besten und Klügsten ausstattete und die Erde ihrer größten Talente beraubte, und erließ deshalb in einem Gewaltakt ein Emigrationsverbot, das nicht nur für Reisen von der Erde und der Sol-Station, sondern auch für Beförderungen von Bürgern in bestimmten Berufen von Station zu Station galt.

Gaia unternahm ihre letzte Reise zur Erde im Jahr 2125 und verließ sie mit dem festen Entschluss, nie mehr zurückzukehren.

Eine allgemeine Welle von Rebellion und Auflehnung erfasste die Sterne; Stationen wurden ausgeschlachtet und verlassen; Sonden und Missionen erforschten jetzt nicht mehr nur aus ökonomischen Motiven entferntere Sterne – sondern weil immer mehr Menschen darauf brannten, auszuwandern, politische Freiheit suchten, bevor die Restriktionen sie trafen.

Die Viking-Station und Mariner entstanden spontan, als für die Bewohner der Stationen selbst Pell zu angreifbar im irdischen Einflussbereich lag und Pells inzwischen etablierte Wirtschaft weniger Gelegenheit für hochprofitable Investitionen in gerade in Angriff genommene Projekte bot.

Um 2201 begründete eine Gruppe kritischer Wissenschaftler und Ingenieure, die von Geldgebern auf Mariner unterstützt wurden, eine Station auf Cyteen, einer Welt, die sich von Downbelow im Pell-System in erheblichem Maße unterschied. Die brillante Arbeit eines dieser Wissenschaftler im Verein mit der ökonomischen Stärke von Cyteens neuen Industrien brachte im Jahre 2234 die erste überlichtschnelle Sonde von Cyteen aus auf den Weg, ein Ereignis, das einen neuen Zeitmaßstab für Raumflüge setzte und die Grundlagen von Handel und Politik für immer veränderte.

Cyteens frühe Jahre waren nicht nur durch ein explosionsartiges Wachstum und eine Flut von Erfindungen gekennzeichnet, zu denen es in der Geschichte der Menschheit keine Parallele gibt, sondern ironischerweise auch durch die Wiedereinführung lang nicht genutzter Technologien aus den Schiffsarchiven: Verbrennungsmotoren, gravitationsabhängige Verfahren, die alle einer weichen Landung der enormen Materialmengen dienten, die für eine Entwicklung im irdischen Maßstab erforderlich waren. Darüber hinaus kamen für Cyteen charakteristische planetengestützte Techniken zum Einsatz, um Enklaven mit atembarer Atmosphäre in der ansonsten tödlichen Umgebung zu schaffen – all diese Anstrengungen erfolgten aus dem Grund, weil Cyteen eine einmalige biologische Chance für die menschliche Rasse darstellte. Es gab dort keine intelligenten Eingeborenen. Cyteen verfügte über ein mannigfaltiges und vollkommen fremdartiges Ökosystem – aufgrund der extremen Isolation seiner beiden Kontinente im Grunde sogar über zwei Ökosysteme, die sich deutlich voneinander und ganz erheblich von der Erde und Downbelow unterschieden.

Es war ein Paradies für Biologen. Und dank des Fehlens von intelligentem Leben bot es der menschlichen Zivilisation die erste neue Wiege seit der Erde selbst.

Es war nicht allein die Politik, die zu den Konsortiums-Kriegen führte. Es war die plötzliche Beschleunigung des Handels und der Mobilität der Bevölkerung, der hartnäckige Einsatz einer von der Zeit überholten Politik durch terranische Vertretungen, die keinen Kontakt mehr mit den Regierten hatten, und schließlich war es die Loyalität einer Handvoll besonders bevorzugter terranischer Handelskapitäne, die ein im Verfall begriffenes Handelsimperium im Dienste einer Mutterwelt zusammenzuhalten versuchten, die im von Menschen durchmessenen Raum an den Rand gerückt war.

Die Anstrengung erwies sich als vergeblich. Cyteen nicht mehr allein im Drüben, sondern seinerseits Mutterwelt für die Esperance-, Pan-paris- und Fargone-Stationen, erklärte im Jahre 2300 seine Unabhängigkeit vom Erd-Konsortium und veranlasste die Erde mit diesem Schritt, über den jetzt mit der Geschwindigkeit der überlichtschnellen Schiffe berichtet wurde, zum Bau und zur Entsendung überlichtschneller Kriegsschiffe, die die abtrünnigen Stationen wieder in die Linien einreihen sollten.

Handelsschiffe mieden bald die Routen in nächster Nähe von Pell, wodurch weniger Vorräte verfügbar waren, während die Erde selbst, nicht einmal mit Hilfe überlichtschneller Technik, keine Möglichkeit fand, das erforderliche Material für ihre Flotte über solche Entfernung hinweg bereitzustellen. Über einen Zeitraum von einigen Jahren degenerierte die Flotte des Erd-Konsortiums zu Piraten und Gewalttätern, die die Handelsschiffe endgültig abschreckten, was schon immer ein Fehler des Erd-Konsortiums gewesen war.

Die Bildung der Handelsschiff-Allianz im Pell-System begründete die zweite Handelsmacht im Drüben und setzte den Versuchen der Erde, ihren verstreuten Kolonien Vorschriften zu machen, ein Ende.

Ohne Zweifel stellen die ironischeren Folgen des Krieges, der Pakt von Pell und die daraus hervorgegangenen ökonomischen Verflechtungen von drei menschlichen Gesellschaften die von drei höchst unterschiedlichen Ökosystemen zehren, heute die treibenden Kräfte einer neuen ökonomischen Struktur dar, die an Bedeutung über alle Politik und Systeme hinausgeht.

Handel und gemeinsame Interessen haben sich am Ende in menschlichen Angelegenheiten als machtvoller erwiesen als alle Kriegsschiffe, die je gebaut wurden.

1. Kapitel

I

Aus der Luft zeigte sich die Unwirtlichkeit des Landes am deutlichsten: ausgedehnte Landstriche, an denen die Menschheit bisher noch nichts geändert hatte, von niemandem beanspruchte Wüsten, kahl wie Monde, Dürrbaum- und Wollholzdickichte, die lediglich vom Orbitradar erkundet worden waren. Ariane Emory blickte durchs Fenster darauf hinab. Sie hielt sich im Passagierabteil auf. Ihr Augenlicht, so musste sie zugeben, war nicht mehr gut genug, ihre Reflexe nicht mehr schnell genug für den Jet. Sie hätte nach vorn gehen können, den Piloten von seinem Sitz stoßen und das Steuer übernehmen: Es war ihr Flugzeug, ihr Pilot, und der Himmel öffnete sich weit. Manchmal tat sie das. Aber es war nicht dasselbe.

Nur das Land war noch dasselbe, der Großteil des Landes zumindest. Und wenn sie aus dem Fenster sah, glaubte sie ein Jahrhundert in die Vergangenheit zu blicken, als die Menschheit sich vor weniger als hundert Jahren auf Cyteen niedergelassen hatte, noch niemand an die Union dachte, der Krieg nur grollende Unzufriedenheit war, und das Land überall genauso aussah.

Vor zweihundert Jahren hatten die ersten Kolonisten diesen unwahrscheinlichen Stern erreicht, mit dem Aufbau der Station begonnen und waren auf dieser Welt gelandet.

Etwas mehr als vierzig Jahre später trafen die unterlichtschnellen Schiffe ein, vereinzelt und einsam, um zu versuchen, ihre Konstruktion und ihren Betrieb auf Überlichtgeschwindigkeit umzubauen; und die Zeit beschleunigte sich, raste mit Translichtgeschwindigkeit dahin, brachte so rasche Veränderungen, dass unterlichtschnelle Schiffe andere Schiffe trafen, die sie für nichtmenschliche hielten – aber das stimmte nicht: Es gab noch schlechtere Neuigkeiten für sie. Es waren menschliche Schiffe. Und das Spiel hatte sich von Grund auf geändert.

Die Sternschiffe drängten hinaus wie Samen aus einer Schote. Die genetischen Labors oben am Fluss in Reseune züchteten Menschen so schnell, wie sie sie aus den Bruttanks entbinden konnten, und jede Generation züchtete weitere und arbeitete in den Laboratorien, die immer mehr hervorbrachten, bis es genug Leute gab, wie Arianes Onkel gesagt hatte, um die leeren Räume zu füllen, die Welt zu kolonisieren, weitere Stern-Stationen einzurichten: Esperance, Fargone. Jeder Ort mit seinen eigenen Labors und seinen eignen Mitteln, um zu züchten und zu wachsen.

Die Erde hatte versucht, ihre Schiffe zurückzurufen. Dafür war es längst zu spät. Die Erde hatte versucht, ihre Kolonien zu besteuern und mit eiserner Hand zu regieren. Dafür war es bei weitem zu spät.

Ariane Emory erinnerte sich an die Sezession, den Tag, an dem Cyteen sich und seine eigenen Kolonien für unabhängig erklärt hatte; den Tag, an dem die Union gegründet wurde und sie alle plötzlich Rebellen gegen ihre ferne Mutterwelt waren. Sie war siebzehn gewesen, als von der Station gemeldet wurde: Wir haben Krieg.

Reseune züchtete daraufhin Soldaten, grimmige, zielstrebige und intelligente Männer, o ja: züchtete, verfeinerte und schliff sie, bis sie durch Berührung und Reflexe wussten, was sie nie im Leben gesehen hatten, vor allem wussten, was ihre Aufgabe war. Lebende Waffen, die eingleisig dachten und planten. Ariane hatte geholfen, diese Muster zu entwerfen.

Fünfundvierzig Jahre nach der Sezession war der Krieg noch immer im Gange, manchmal im Verborgenen, manchmal so weit entfernt im Raum, dass er wie eine historische Tatsache erschien – nur nicht in Reseune. Andere Einrichtungen konnten die Soldaten und Arbeiter züchten, nachdem Reseune einmal die Muster festgelegt hatte, aber nur Reseune verfügte über die Forschungskapazitäten und hatte den Krieg auf seine eigene verborgene Art ausgefochten, unter Ariane Emorys Direktorat.

Vierundfünfzig Jahre ihres Lebens – sie hatte das Ende der Konsortiums-Kriege erlebt, die Teilung der Menschheit, neue Grenzziehungen. Die Flotte des Erd-Konsortiums hatte Pells Stern, die Station im Orbit von Downbelow, besetzt, aber die Handelsschiffe der neugebildeten Allianz hatten sie übernommen und zu ihrer Basis erklärt. Sol hatte seine demütigende Niederlage zu ignorieren und sich in anderer Richtung zurückzuziehen versucht; die übriggebliebenen Schiffe der alten Konsortiums-Flotte hatten sich der Piraterie zugewandt und überfielen noch immer Handelsschiffe, wie sie es immer schon getan hatten, während die Allianz und die Union sie gleichermaßen verfolgten. Aber das war nur ein Zwischenspiel. Der Krieg war wieder zu einem kalten geworden. Er ging an Konferenztischen weiter, wo Unterhändler Linien zu ziehen versuchten, die die Biologie nicht zog, und im grenzenlosen, dreidimensionalen Raum Grenzen errichteten – um einen Frieden zu bewahren, der in Ariane Emorys ganzem Leben nie geherrscht hatte.

All das schien noch nicht geschehen zu sein. Sie schien sich hundert Jahre in der Vergangenheit zu befinden, sah sie davon ab, dass sie in einem schnittigen und eleganten Flugzeug saß, nicht in dem zusammengenieteten Wrack, das zwischen Novgorod und Reseune Frachtgut transportiert hatte: In jenen Tagen hatte jeder auf Plastikballen oder Saatcontainern gesessen oder was immer gerade befördert wurde.

Damals hatte sie gebettelt, an den staubigen Fenstern sitzen zu dürfen, und ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie sollte trotzdem ihren Sonnenschutz aufsetzen.

Nun saß sie, einen Drink in Reichweite, in einem Ledersitz in einem Jet, in dem es angenehm warm war und der einwandfrei gewartet wurde, während ihre Assistenten über Geschäftliches sprachen und ihre Notizen durchgingen, ein Geräusch, das im Turbinenlärm soeben zu hören war.

Heutzutage gab es kein Reisen mehr ohne einen Wust an Assistenten und Leibwächtern. Catlin und Florian befanden sich hinten, verhielten sich ruhig, wie man es ihnen beigebracht hatte, und deckten ihr den Rücken, selbst hier in zehntausend Metern Höhe und unter Reseune-Personal, dessen Aktentaschen voller geheimer Unterlagen waren.

Ganz anders als in den alten Tagen.

Mama, darf ich am Fenster sitzen?

Sie war etwas Ungewöhnliches, ein Kind zweier Eltern, Olga Emorys und James Carnaths. Sie hatten die Laboratorien in Reseune gegründet, den Prozess in Gang gesetzt, der die Union selbst formen sollte. Sie hatten die Kolonisten und die Soldaten hinausgeschickt. Ihre eigenen Gene waren in Hunderte von ihnen eingegangen. Arianes Quasi-Verwandten waren über Lichtjahre hinweg verstreut. Aber das traf in diesen Tagen auf jeden zu. Im Laufe ihres Lebens hatten sich selbst die Grundlagen des menschlichen Denkens verändert: Biologische Abstammung galt als eine triviale Verbindung. Die Familie zählte, je größer, um so weiter verbreitet – um so sicherer und wohlhabender.

Reseune war ihr Erbe. Deshalb auch dieser Jet, eben keine kommerzielle Verkehrsmaschine. Nicht einmal ein Charterflugzeug oder ein Militärjet. Eine Frau in ihrer Position konnte auf derlei verzichten und bevorzugte weiterhin Mechaniker, die dem Haushalt angehörten, einen Piloten, dessen Psycho-Muster sie sich sicher sein konnte, und Leibwächter, die zu Reseunes besten Entwürfen gehörten.

Der Gedanke an eine Stadt, die Untergrundbahnen, ein Leben unter den Angestellten, Technikern, Köchen und Arbeitern, die einander anrempelten und ihren Zeitplänen nachhetzten, um sich Anerkennung zu verdienen – das fand sie ebenso erschreckend wie den luftleeren Weltraum. Sie bestimmte den Weg von Welten und Kolonien. Der Gedanke, sie könne in einem Restaurant eine Mahlzeit zu kaufen versuchen, sich durch die Menge kämpfen, die in eine Untergrundbahn drängte, oder einfach nur oben auf irgendeiner Straße stehen, wo der Verkehr lärmte und ringsum Leute in Bewegung waren – erfüllte sie mit einer irrationalen Panik.

Sie wusste nicht, wie man außerhalb von Reseune lebte. Sie wusste, wie sie einen Flug arrangierte, die Flugpläne überprüfte, ihr Gepäck bestellte, ihre Assistenten, für ihre Sicherheit sorgte, jedes kleinste Detail – und hielt öffentliche Flughäfen für eine Qual. Einen wirklich ernsthaften Fehlschlag. Aber jedem standen ein paar Abneigungen zu, und diese Dinge waren alles andere als ihre Hauptsorge. Es war unwahrscheinlich, dass Ariane Emory jemals eine Untergrundbahn in Novgorod oder das offene Deck einer Station zu Gesicht bekommen würde.

Es dauerte sehr lang, bis sie den Fluss und die erste Pflanzung sah. Das schmale Band der Straße und schließlich die Kuppeln und Türme von Novgorod – einer unvermittelt, bemerkenswert unvermittelt erscheinenden Metropolis. Unter den Flügeln des Jets breiteten sich die Pflanzungen aus, die Türme der elektronischen Schirme und Niederschlagsanlagen beschatteten die Felder, und der Verkehr kroch in erdgebundener Geschwindigkeit über die Straße.

Lastkähne reihten sich auf der Volga bis zum Meer hintereinander, Lastkähne und Schubschiffe säumten die Flussdockanlagen hinter den Pflanzungen. Novgorod hatte noch immer in beträchtlichem Maß etwas Rohes und Industrielles an sich, ungeachtet all der Pracht des Neuen. Dieses Gesicht der Stadt hatte sich in hundert Jahren nicht geändert, es war nur gewachsen. An die Lastkähne und den Verkehr hatte man sich gewöhnt, beides stellte keinen seltenen und wunderbaren Anblick mehr dar.

Schau mal, Mama, da ist ein Lastwagen.

Das Blau des Wollholzdickichts flirrte unter dem Flügel hinweg. Der Asphalt und die Endstreifen der Landebahn schossen vorbei.

Die Räder setzten weich auf, und der Jet kam rollend zum Halt, indem er eine Wende nach links zum Terminal machte.

In dieser Phase wurde Ariane Emory von einer leichten Panik erfasst, obwohl sie wusste, dass sie nie in die überfüllten Hallen gelangen würde. Draußen warteten Wagen. Ihre Mannschaft würde das Gepäck ausladen, den Jet sichern, all diese Dinge. Sie befanden sich nur am Rande der Stadt; und die Wagenfenster erlaubten zwar Blicke nach draußen, aber keine ins Innere.

All diese Fremden. All diese richtungslose und chaotische Bewegung. Aus der Ferne mochte sie es. Es war ihre eigene Schöpfung. Sie kannte die Bewegungen ihrer Massen, wenn auch nicht die ihrer Individuen. Aus der Entfernung, als ein Gesamtzusammenhang betrachtet, vertraute sie ihr.

Aus der Nähe machte sie ihre Hände schwitzen.

Bremsende Wagen und eine Traube aufgeregter Wachen im Sicherheitseingang der Staatshalle verrieten, dass hier nicht bloß Senatoren eintrafen. Mikhail Corain, der auf dem Balkon vor der Ratskammer saß, flankiert von seinen Leibwächtern und Assistenten, machte eine Pause und blickte auf den widerhallenden Stein des unteren Stockwerks mit seinen Springbrunnen, den Bronzegeländern seines großen Treppenaufgangs und seinem goldenen Emblem mit den vielen Sternen an der grauen Steinwand hinab.

Ein aufwendiger Rahmen für aufwendige Vorhaben. Und die Hauptarchitektin dieser Vorhaben hatte gerade ihren Auftritt. Die Rätin von Reseune, in Begleitung des Ministers für Wissenschaft. Ariane Carnath-Emory mit ihrem Gefolge. Spät, zuverlässig spät, weil die Rätin sich ihrer Mehrheit verdammt gewiss war, und sie hatte sich nur zu einem Besuch herabgelassen, weil ein Rat persönlich seine Stimme abgeben musste.

Mikhail Corain starrte sie an und spürte diese Beschleunigung seines Herzschlages, die zu vermeiden ihm seine Ärzte geraten hatten. Beruhigen Sie sich, hätten sie jetzt gesagt. Es gibt Dinge, die sich ihrer Kontrolle entziehen.

Damit meinten sie, nahm er an, die Rätin von Reseune.

Cyteen, die bei weitem bevölkerungsreichste Kolonie in der Union, hatte es geschafft, ständig zwei Plätze in der Exekutive, dem Rat der Neun, zu besetzen. Es war logisch, dass einer der beiden der des Bürgeramts war, in dessen Zuständigkeit Arbeit, Landwirtschaft und kleine Geschäfte fielen. Es war nicht so logisch, dass die wahlberechtigten Vertreter der Wissenschaftler, die weit über die Lichtjahre umspannende Ausdehnung der Union verstreut lebten, darauf bestanden, Ariane Emory wieder zum Regierungsamt zu verhelfen.

Mehr als das. In eine Position, die sie seit fünfzig Jahren innehatte. Fünfzig verdammte Jahre, in denen sie einflussreiche Kreise auf Cyteen und in jeder Station der Union und (laut Gerüchten, die nie bestätigt wurden) sogar der Allianz und Sol bestochen und tyrannisiert hatte. Wollte man etwas erledigt haben? Dann fragte man jemanden, der es von der Rätin für Wissenschaft arrangieren lassen konnte. Was war man bereit zu zahlen? Was hatte man anzubieten?

Und die verdammte Wahlvertretung der Wissenschaftler, die sich aus angeblich intelligenten Menschen zusammensetzte, wählte sie immer wieder, ganz gleich, welche Skandale sie verschuldete, ganz gleich, ob die Reseune-Laboratorien praktisch ihr gehörten, die nach geltendem Recht auf einer Stufe mit einem ganzen Planeten in den Händen der Unionsregierung standen und hinter deren Mauern Dinge geschahen, an deren Enthüllung zahllose Untersuchungen (aus technischen Gründen) gescheitert waren.

Geld war nicht die Antwort. Corain hatte Geld. Es war Ariane Emory selbst. Es war die Tatsache, dass der Großteil der Bevölkerung von Cyteen, der Bevölkerung der Union überhaupt, auf die eine oder andere Weise aus Reseune stammte; und jene, auf die das nicht zutraf, benutzten Bänder – die Reseune konzipierte.

Die diese Frau konzipierte.

Die Sauberkeit der Bänder zu bezweifeln, war paranoid. Oh, es gab durchaus einige, die sich weigerten, sie zu benutzen; und höhere Mathematik und Wirtschaft ohne sie studierten, und die nie eine Pille schluckten und sich hinlegten, um das zu träumen, was die Massen überall in der Union träumten, wenn Wissen sich in ihre Köpfe ergoss, so viel sie in ein paar Sitzungen aufzunehmen vermochten. Ein Drama – ebenso erfahren wie gesehen – mit sorgfältig abgestimmter Intensität. Bestimmte Fertigkeiten – erworben auf der Ebene von Gewebe und Nerven. Man benutzte die Bänder, weil der Konkurrent es auch tat, weil man sich auszeichnen musste, um in der Welt voranzukommen, weil es die einzige Möglichkeit war, sich Dinge schnell genug anzueignen, auf genügend hohem Niveau, umfassend genug, und die Welt in der Lebenszeit eines Menschen grundlegende Veränderungen durchmachte, sich unaufhörlich veränderte.

Das Amt für Information untersuchte diese Bänder. Experten prüften sie. Es gab keine Möglichkeit, dass ihnen irgendwelche unterbewusst wirkenden Impulse entgingen. Mikhail war keiner dieser Extremisten, die die Regierung des Aushorchens der Kommunikationswege verdächtigten, die Allianz der Vergiftung von Frachtgut, und auf den Unterhaltungsbändern unterbewusste Impulse vermuteten, die einen geistig versklavten. Diese Art von Puristen konnten auf eine Rejuvenilisierung verzichten, mit fünfundsiebzig Jahren alt sterben und ihren Lebensunterhalt mit Jobs im öffentlichen Dienst verdienen, denn sie waren Autodidakten der Unkenntnis.

Aber verdammt, verdammt noch mal, diese Frau wurde immer wieder gewählt. Und er konnte das nicht verstehen.

Dort ging sie, ließ allmählich die Schultern etwas hängen und erlaubte einer kleinen grauen Strähne, sich in dem schwarzen Haar zu zeigen, während jeder wusste, der zählen konnte, dass sie älter als die Union war, eine Rejuvenilisierung über sich ergehen ließ und unter der Tönung silbergraues Haar hatte. Assistenten umschwärmten sie. Kameras wurden auf sie gerichtet, als gäbe es kein anderes Zentrum des Universums. Verdammtes dürres Weibsbild!

Wollte man sich einen Menschen wie einen Zuchtbullen entwerfen lassen, dann fragte man Reseune. Wollte man Soldaten, wollte man Arbeiter, wollte man ein starkes Kreuz und einen einfältigen Geist oder ein perfektes, garantiertes Genie, dann ging man zu Reseune.

Und Senatoren und Räte kamen gleichermaßen, um sich zu verbeugen, bei ihr anzubiedern und höfliches Geschwätz von sich zu geben. Lieber Himmel, jemand hatte ihr sogar Blumen mitgebracht!

Mikhail Corain wandte sich angewidert ab und bahnte sich einen Weg durch seine Assistenten.

Zwanzig Jahre lang hatte er als Kopf der Minoritätspartei im Rat der Neun gesessen, zwanzig Jahre lang war er gegen den Strom geschwommen, hatte dann und wann eine kleine Schlacht gewonnen, alle großen verloren, so wie sie die jüngste verloren hatten. Stanislaw Vogel von der Wahlvertretung der Händler war gestorben, und mit Hilfe der Allianz, die den Pakt so schnell verletzte, wie sie ihre Handelsschiffe bewaffnen konnte, hätten die Zentristen in der Lage sein müssen, den Platz an sich zu reißen. Aber nein. Die Wahlvertretung der Händler hatte Ludmilla deFranco, Vogels Nichte, gewählt. Eine entsetzlich gemäßigte Frau, die nur einen vorsichtigen Kurs steuerte. Sie war nicht weniger Expansionist als ihr Onkel. Irgendetwas hatte die Richtung geändert. Irgendjemand war gekauft worden, irgendjemand hatte die Andrus-Gesellschaft zu deFrancos Gunsten beeinflusst, und die Zentristen hatten ihre Chance verpasst, ein fünftes Mitglied im Rat der Neun unterzubringen und zum ersten Mal in der Geschichte die Mehrheit der Exekutive zu stellen.

Es war eine niederschmetternde Enttäuschung.

Und dort, dort unten in der Halle, inmitten der Speichellecker und all der klugen jungen Gesetzgeber, befand sich diejenige, die an den Fäden gezogen hatte, an denen man mit keinem Geld der Welt ziehen konnte.

Also ein politischer Vorteil. Jenes ungreifbare, unauffindbare Gut.

Davon hing das Schicksal der Union ab.

Er hegte nicht zum ersten Mal die erschreckendste aller Wahnvorstellungen, dass es irgendeinem Verrückten gelingen mochte, mit einer Pistole oder einem Messer die Treppe draußen hinaufzustürmen und ihr aller Problem auf einen Schlag zu lösen. Bei diesem Gedanken empfand er eine tiefgehende Beunruhigung. Aber das würde die Union neu formen. Es würde der Menschheit eine Chance geben, bevor es für immer zu spät war.

Ein Leben – in diesen Maßstäben wog es sehr wenig.

Er atmete tief durch. Er ging in die Ratskammer und plauderte höflich mit den wenigen, die gekommen waren, um die Verlierer zu bedauern. Er knirschte mit den Zähnen und ging hinüber, um Bogdanovitch artig zu gratulieren, der als Inhaber des Sitzes für das Staatsamt im Rat den Vorsitz führte.

Bogdanovitch bewahrte einen vollkommen sanften Gesichtsausdruck. Seine freundlichen Augen unter den weißen Brauen entsprachen ganz dem Bild, das jeder von einem durch und durch vornehmen und kultivierten Großvater hatte. Nicht eine Spur von Triumph. Wäre er so gut gewesen, als er die Vereinbarung mit der Allianz aushandelte, wäre die Union jetzt im Besitz des Codes für Pell. Bogdanovitch war bei kleineren politischen Angelegenheiten immer besser. Und er war auch jemand, der sich hielt. Seine Wahlvertretung bestand aus lauter Fachleuten, den Konsuln, den Beamten, den Einwanderern, den Stationsverwaltern – eine winzige Anzahl von Leuten, um ein Büro zu besetzen, das mit weit weniger Einfluss begonnen hatte, als ihm schließlich zuwachsen sollte. Gott, was hatten die Gestalter der Verfassung sich dabei gedacht, mit dem politischen System schöpferische Spielchen zu spielen? Das ›neue Modell‹ hatten sie es genannt; ›eine Regierung, die von einer sachkundigen Wahlvertretung zusammengesetzt wird‹. Und sie hatten zehntausend Jahre menschlicher Erfahrungen über Bord geworfen, ein elender Haufen von Sozialtheoretikern, einschließlich – einschließlich – Olga Emory und James Carnath, damals, als Cyteen fünf Sitze im Rat der Neun und die meisten im Rat der Welten innehatte.

»Bist ein zäher Bursche«, sagte Bogdanovitch, schüttelte ihm die Hand und tätschelte sie.

»Nun ja, die Wahlvertretung will das so«, erwiderte Corain. »Dagegen kann ich nicht an.« Er lächelte völlig beherrscht. »Immerhin haben wir den bisher größten Stimmenanteil gehabt.«

Eines Tages, du alter Pirat, eines Tages werde ich die Mehrheit haben.

Und du wirst noch auf der Welt sein, um das zu erleben.

»Die Wahlvertretung will das so«, sagte Bogdanovitch und lächelte noch immer, und Corain lächelte, bis ihm die Zähne schmerzten, dann wandte er sich von Bogdanovitch Jenner Harogo zu, auch einem von dieser Bande, der den mächtigen Sitz für Innere Angelegenheiten besetzte, und Catherine Lao, die das Amt für Information betreute, welches alle Bänder untersuchte. Natürlich.

In diesem Moment stolzierte Emory herein, und sie ließen ihn mitten im Satz stehen, um sich ihrer Claque anzuschließen. Corain tauschte einen schmerzlichen Blick mit dem für die Industrie zuständigen Nguyen Tien von Viking aus; und mit dem fürs Finanzwesen zuständigen Mahmud Chavez von der Voyager-Station, beides Zentristen. Der Inhaber ihres vierten Sitzes, Admiral Leonid Gorodin, stand drüben im Gewühl seiner eigenen uniformierten Assistenten, denen man ihre Verstimmung anmerkte. Das Verteidigungs-Ressort war ironischerweise das am wenigsten verlässliche – Gorodin neigte am ehesten dazu, seine Position zu überdenken und ins Lager der Expansionisten überzuwechseln, wenn er Gründe fand, die halbwegs dafür sprachen. Gorodin war so einer, Zentrist nur aus dem Grund, weil er die neuen Militärtransporter der Excelsior-Klasse im nahen Weltraum halten wollte, wo er sie benutzen konnte, nicht, wie er es ausdrückte, »draußen am Arsch der Welt, während die Allianz noch ein verdammtes Embargo verhängt. Wollt ihr, dass eure Wahlvertretungen euch die Türen einschlagen, weil sie Vorräte brauchen, wollt ihr noch einen heißen Krieg, Bürger, dann lasst uns diese Transporter einfach ganz weit nach Drüben schicken, und wir sind von den Handelsschiffen der Allianz abhängig.«

Wobei er natürlich nicht den Pakt von Pell erwähnte, in dem vereinbart worden war, dass die Handelsschiff-Allianz Frachtgut transportieren und keine Kriegsschiffe bauen sollte; und dass die Union, die eine beträchtliche Anzahl dieser Frachter gebaut hatte, seine Flotte behalten, aber keine Schiffe bauen durfte, die mit den Handelsschiffen konkurrierten – dies zu verschweigen, war ein diplomatischer Loskauf, ein Lösegeld, um die Versorgung mit Vorräten wieder in Gang zu bringen. Bogdanovitch hatte das allen klargemacht, und selbst Emory hatte dagegen gestimmt.

Die Stationen hatten es durchgehen lassen. Der ganze Generalrat hatte darüber abgestimmt, und es ging um Haaresbreite durch. Die Union war des Kriegs müde, das war alles, müde des unterbrochenen Handels, der Knappheit an Vorräten.

Jetzt wollte Emory eine neue Welle der Erforschung und Kolonialisierung in die Tiefen des Drüben in Gang setzen.

Jeder war sich vollkommen darüber im Klaren, dass man dort draußen auf Schwierigkeiten stoßen würde. Worauf Sol am anderen Ende des Weltraums gestoßen war, bewies das deutlich genug. Es hatte Sol wieder der Allianz in die Arme getrieben, um Handel und Märkte betteln lassen. Sol hatte Nachbarn, und ihr gedankenloses Umhertappen würde in den Hinterzimmern der Allianz und in unmittelbarer Nähe des Raums der Union wahrscheinlich für Ärger sorgen. Gorodin mühte sich unaufhörlich mit dieser Angelegenheit ab. Und verlangte einen größeren Anteil am Budget für das Verteidigungsressort.

Gorodins Position war die schwächste. Er war anfällig für ein Vertrauensvotum. Sie konnten ihn verlieren, wenn es ihm nicht gelang, die Schiffe zu bekommen, die die Flotte wollte, in den Zonen, auf die es ankam.

Und die Neuigkeiten aus der Wahlvertretung der Händler traf sie wie ein Schlag, ein schwerer sogar. Die Zentristen hatten geglaubt, sie hätten diesmal gewonnen. Sie hatten wirklich geglaubt, sie hätten eine Chance, Emory aufzuhalten, und sie konnten jetzt nichts mehr tun, als einen Tagesordnungspunkt durchzusetzen, den Rat davon zu überzeugen, keine Stimme für das Hope-Projekt abzugeben, weil es die Bereitstellung von Schiffen und eine baldige Entscheidung über ein beträchtliches Budget erforderte, ehe deFranco aus Esperance eintreffen und ihren Platz einnehmen konnte.

Oder – sie konnten die beschlussfähige Mitgliederzahl nicht Zustandekommen und den Rat der Welten über die Sache abstimmen lassen. Emorys Clique würde das einen Schreck einjagen. Die Repräsentanten waren wesentlich unabhängiger, vor allem Cyteens großer Block, der zum Großteil aus Zentristen bestand. Sollten sie sich doch an einem derart komplizierten Antrag, mit dem die Neun noch nicht fertig geworden waren, die Zähne ausbeißen, dann wären sie monatelang beschäftigt, würden Veränderungsvorschläge raufschicken, gegen die die Neun ihr Veto erhoben, und so würde es die ganze Zeit weitergehen.

Sollte doch Gorodin noch einmal versuchen, die Expansionisten davon zu überzeugen, die Abstimmung hinauszuschieben. Gorodin verhielt sich neutral, er war der mit den Orden, der Kriegsheld. Sollte er sich doch mit ihnen auseinandersetzen und sehen, ob er sie umstimmen konnte. Wenn nicht, dann würden die Zentristen gehen, alle vier. Es hatte politische Folgen, schwerwiegende Folgen, die beschlussfähige Mitgliederzahl nicht Zustandekommen zu lassen und die Zusammenkunft zu beenden.

Aber sie brauchten Zeit, Zeit, um die maßgeblichen Lobbyisten für sich zu gewinnen, Zeit, um herauszufinden, ob sie ein paar Fäden ziehen und ob sie deFranco, wenn sie ankam, dazu bringen konnten, so gemäßigt zu sein, wie sie vorgab – oder zumindest im Hinblick auf einen Antrag, der für ihre Wählerschaft so kritisch war, für die Seite der Zentristen zu gewinnen. Vielleicht – vielleicht – würde sie am Tisch ihre Entscheidung fällen.

Die Räte schritten auf ihre Plätze zu. Emorys Gruppe kam zuletzt. Vorhersehbar.

Bogdanovitch klopfte mit dem antiken Hammer.

»Die Ratssitzung ist eröffnet«, sagte Bogdanovitch und fuhr mit den Wahlergebnissen fort und der offiziellen Bestätigung von Ludmilla deFranco als Rätin für das Handelsamt.

Catherine Lao und Jenner Harogo wirkten bewegt und erhielten Beistand. Emory saß ausdruckslos da. Sie vollführte niemals gewohnheitsmäßige Bewegungen. Der gelangweilte Ausdruck in ihrem Gesicht, die langsamen Drehungen des Stifts in ihren mit langen Nägeln besetzten Fingern bezeugten eine einstudierte Nachsicht für die Formalitäten.

Keine Diskussion. Eine höfliche Runde pro forma abgegebener Ja-Stimmen, die in die offiziellen Protokolle eingingen.

»Nächster Punkt der Tagesordnung«, sagte Bogdanovitch. »Annahme von Denzill Lals stellvertretendem Stimmrecht für Seherin deFranco, bis sie eintrifft.«

Dieselbe Prozedur. Noch einmal gab die Runde gelangweilt ihre Ja-Stimmen ab, eine kleine Neckerei zwischen Harogo und Lao, etwas Gelächter. Keine Reaktion von Gorodin, Chavez und Tien. Emory bemerkte das: Corain sah, dass sie kurz lachte und dieses Schweigen mit einem Seitenblick zur Kenntnis nahm. Der Stift hielt in seinen Umdrehungen inne. Emorys Blick war jetzt wachsam und scharf, während sie Corains Verhalten beobachtete und ein nachsichtig-mildes Lächeln aufsetzte, das einem zufälligen Blickkontakt das Peinliche nehmen konnte.

Aber ihre Augen lächelten überhaupt nicht. Was wirst du tun?, fragten sie. Was hast du vor, Corain?

Es gab nicht viele Möglichkeiten, und ein Verstand von Emorys Format würde nur kurze Zeit brauchen, um alle zu durchdenken. Ihr starrer Blick haftete an ihm, durchschaute ihn, bedrohte ihn wie eine versteckte Klinge. Corain hasste sie. Er hasste alles, wofür sie stand. Aber, großer Gott, wenn man mit ihr zu tun hatte, war das wie ein telepathisches Experiment: Er starrte sie ungerührt an, gab die Bedrohung zurück, hob spöttisch eine Braue, um sie wissen zu lassen: Du kannst mich an den Rand drängen. Ich werde dich zu Fall bringen. Ja, das werde ich tun. Zersplittere den Rat. Paralysiere die Regierung.

Ihre halb geschlossenen Augen, die Zärtlichkeit ihres Lächelns erwiderten: Ein guter Angriff, Corain. Bist du dir sicher, dass du diesen Krieg willst? Es kann sein, dass du nicht darauf vorbereitet bist.

Die Zärtlichkeit seines Lächelns bestätigte: Ja. So läuft die Sache, Emory. Du willst Krisen, genau dann, wenn über zwei deiner wertvollen Projekte entschieden werden soll, und du kannst sie haben.

Sie blinzelte, senkte kurz den Blick auf den Tisch und sah ihn wieder an, das Lächeln angespannt, die Augenbrauen gewölbt. Krieg also. Das Lächeln wurde breiter. Oder verhandeln. Beobachte meine Schritte, Corain: Du würdest einen ernsthaften Fehler begehen, wegen dieser Sache einen offenen Bruch zu verschulden.

Ich werde gewinnen, Corain. Du kannst mich aufhalten. Du kannst dahin drängen, dass zuerst gewählt wird, verdammter Idiot. Und damit wirst du mehr Zeit verschwenden, als wenn du auf deFranco wartest.

»Wir kommen zur Bewilligung von Mitteln für die Hope-Station«, sagte Bogdanovitch. »Zuerst die vorgesehene Referentin, Sera Lao …«

Emory und Lao gaben sich ein Zeichen. Corain konnte Laos Gesicht nicht sehen, nur die Rückseite ihres blonden Schopfs, die geflochtene Krone, die ihr Markenzeichen war. Lao machte fraglos einen verwirrten Eindruck. Emory rief mit einer Handbewegung einen Assistenten zu sich, sagte ihm etwas ins Ohr, und das Gesicht des Assistenten spannte sich an, der Mund wurde zu einer dünnen Linie, und die Augen spiegelten Bestürzung wider.

Der Mann ging zu einem von Laos Assistenten, und dieser trat heran, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Die Bewegung von Laos Schultern und ihr tiefes Atemholen waren ebenso verräterisch wie ihr nun im Profil sichtbares, erstarrtes Gesicht.

»Ser Präsident«, sagte Catherine Lao. »Ich stelle den Antrag, die Debatte über das Projekt der Hope-Station zu verschieben, bis Sera deFranco ihren Platz persönlich einnehmen kann. Der Handel ist von diesem Faktor zu grundlegend betroffen. Bei allem Respekt vor dem verdienstvollen Herrn von Fargone, dies ist eine Angelegenheit, die warten sollte.«

»Stattgegeben«, sagte Corain scharf.

Ein erschrockenes Murmeln ging durch die Reihen der Assistenten, Köpfe wurden zusammengesteckt, selbst die von Räten. Bogdanovitchs Mund stand offen. Es kostete ihn einen Augenblick, bevor er reagierte und mit dem Hammer für Ruhe sorgte.

»Dem Antrag, die Debatte über die Hope-Station zu verschieben, bis Sera deFranco ihren Platz persönlich einnimmt, ist hiermit stattgegeben. Irgendwelche Einwände?«

Betont beiläufig empfahl Emory den Herrn von Fargone als Stellvertreter. Lao stimmte zu.

Corain bat feierlich ums Wort, um Lao beizupflichten. Er hätte sie etwas necken können. Manchmal taten sie das, Expansionisten mit Zentristen, mit einem ironischen Unterton, wenn die Dinge geregelt waren.

Diese Sache war es nicht. Diese verdammte Emory hatte ihn seiner Waffen und seines Themas beraubt, ihm gegeben, was er verlangte, und sie sah ihn unverwandt an, als er seine ermüdende kleine Liebenswürdigkeit an Denzill Lal losgeworden war und wieder seinen Platz eingenommen hatte.

Beobachte mich ganz genau, sagte dieser Blick. Das wird Folgen haben.

Das Votum fiel einstimmig aus, Denzill Lal nahm selbst als Stellvertreter an der Abstimmung teil, die ihm die Bewilligung von Mitteln für das Hope-Projekt aus den Händen nahm.

»Damit ist die Tagesordnung abgeschlossen«, sagte Bogdanovitch. »Wir hatten drei Tage für Debatten angesetzt. Der nächste Antrag auf der Liste stammt von Ihnen, Sera Emory, Nummer 2405, ebenfalls zur Bewilligung von Geldern, an das Amt für Wissenschaft. Möchten Sie den Termin ändern?«

»Ser Präsident, ich bin bereit fortzufahren, aber ich möchte unter keinen Umständen auf einen Beschluss drängen, ohne dass meine Kollegen Zeit gehabt haben, sich angemessen auf die Debatte vorzubereiten. Mir wäre es durchaus recht, sie auf morgen zu verschieben, wenn meine geschätzten Kollegen keine Einwände haben.«

Ein höfliches Murmeln. Kein Widerspruch. Corain murmelte dasselbe.

»Sera Emory, würden Sie das bitte als förmlichen Antrag vorbringen?«

Stattgegeben und erledigt.

Antrag auf Vertagung.

Stattgegeben und erledigt.

In dem Raum brach mehr als das übliche Durcheinander aus. Corain blieb schweigend sitzen, spürte das Gewicht einer Hand auf seiner Schulter und blickte auf in Mahmud Chavez' Gesicht. Chavez sah zugleich erleichtert und besorgt aus.

Was ist passiert?, fragte dieser Blick. Aber laut: »Das war eine Überraschung.«

»Wir treffen uns in meinem Büro«, sagte Corain. »In einer halben Stunde.«

Das Essen bestand aus Tee und Sandwiches, die von den Assistenten herbeigetragen wurden. Das Treffen war über das Büro hinausgewachsen und füllte den Konferenzraum aus. In einem Anfall von Paranoia hatten die militärischen Assistenten den Raum nach Wanzen und die übrigen Assistenten und die Wissenschaftler nach Recordern durchsucht, während der Admiral mit verschränkten Armen dasaß und in verdrießlichem Schweigen abwartete, bis alles vorbei war. Gorodin war entschlossen gewesen, den Sitzstreik durchzuhalten. Jetzt hatten die Dinge eine unerwartete Wendung genommen, und der Admiral brütete besorgt und wortlos vor sich hin, während sich zeigte, dass sie Emory mit dem Budget für den Hope-Korridor in die Enge getrieben hatten und vielleicht ein Ultimatum stellen konnten.

»Wir brauchen Informationen«, sagte Corain und nahm von einem Assistenten ein Glas Mineralwasser entgegen. Vor ihm, vor ihnen allen und den meisten der Assistenten lagen in gebundenen Kopien achthundert Seiten mit Erläuterungen und Zahlen, die das Wissenschafts-Budget darstellten, bestimmte Abschnitte darin unterstrichen: Es befanden sich Zentristen im Wissenschaftsamt, und es gab beständig Gerüchte über langfristige Auswirkungen des Antrags. Die gab es immer. Und in jedem Jahr standen nicht wenige davon in Zusammenhang mit Reseune. »Diese verdammten Idioten dort bitten ja nicht selbst um Gelder; das einzige, was wir ihnen aufbürden konnten, ist die Versteuerung des Bruttogewinns, und warum, zum Teufel, will Reseune für einen zwanzig Jahre alten Chemiker auf Fargone den Status einer Sonderperson? Und wer, zum Teufel, ist Benjamin P. Rubin?«

Chavez sortierte die Papiere auf seinem Tisch, nahm eins, das ihm ein Assistent unter die Hand schob, und nagte an seiner Lippe, während er dem Finger des Assistenten über die Seite folgte. »Ein Student«, erklärte Chavez. »Keine besonderen Angaben.«

»Ist es denkbar, dass das etwas mit dem Hope-Projekt zu tun hat? Wenn wir unsere Phantasie etwas anstrengen?«

»Es ist auf Fargone. Es liegt auf der Route.«

»Wir könnten Emory fragen«, sagte Chavez säuerlich. »Es könnte verdammt gut sein, dass wir das müssen, wenn die Debatte läuft, und uns mit allen Unterlagen zu befassen haben, die sie vorlegt.«

Von allen Seiten sah man ihn streng an. »Wir haben keinen Sinn mehr für Scherze«, sagte Gorodin.

Lu, der Verteidigungsminister, räusperte sich. »Es gibt einen Kontaktmann, dem wir vertrauen können, zumindest hat er Zugang zu Kontaktleuten. Unser neuer Kandidat fürs Wissenschafts…«

»Er ist Xenologe«, wandte Tien ein.

»Und ein persönlicher Freund von Dr. Jordan Warrick von Reseune. Dr. Warrick ist anwesend. Er kam als ein Mitglied von Rätin Emorys Spitzenpersonal. Er hat durch Byrd um ein Treffen mit … nun ja, bestimmten Leuten aus den Kreisen der Wissenschaftler gebeten.«

Wenn Lu mit solcher Bestimmtheit redete, sagte er oft mehr, als er offiziell mit so vielen Worten sagen konnte. Corain sah ihn unverwandt an, und Gorodin widmete ihm volle Aufmerksamkeit. Der Admiral hatte seine Teilnahme an militärischen Operationen für diese Zusammenkunft unterbrochen, würde wieder zu militärischen Operationen zurückkehren und die administrativen Details des Amts für Verteidigung dem Minister und seinem Personal überlassen: Das stand von vornherein fest – die Räte mochten auf ihren jeweiligen Gebieten Experten sein, aber die Minister lenkten den Apparat, und die Abteilungsleiter wussten genau, wer mit wem gerade schlief.

»Gehört Byrd dazu?«

»Sehr wahrscheinlich«, sagte Lu steif und schloss den Mund.

Notier dir das, dachte Corain.

»Sind sie schon lang befreundet?«, fragte Tien mit gedämpfter Stimme.

»Etwa zwanzig Jahre lang.«

»Wie sicher ist das für Warrick?«, wollte Gorodin wissen. »Was setzen wir aufs Spiel?«

»Sehr wenig«, sagte Lu. »Bestimmt nicht Warricks Freundschaft mit Emory. Warrick hat sein eigenes Büro, betritt selten ihres und umgekehrt. Zwischen ihnen herrscht sogar eine beachtliche Feindseligkeit. Er hat innerhalb von Reseune Selbständigkeit beansprucht. Die ist ihm zugestanden worden. Es gibt keine Zentristen in Reseune. Aber Warrick ist – kein Anhänger von Emory. Er ist sogar hier, um das Amt um eine Versetzung zu bitten.«

»Er gehört zu den Sonderpersonen«, erklärte Corain denen, die nicht von Cyteen stammten und sich vielleicht nicht völlig bewusst waren, wer Warrick war. Ein beglaubigtes Genie. Ein nationaler Wert, von Gesetz wegen. »Über vierzig und kein Freund Emorys. Er hatte ein Dutzend Gelegenheiten, Reseune zu verlassen und seine eigenen Institute zu gründen, und sie legt ihm im Amt ständig Steine in den Weg und schließt ihn aus, wenn er an der Reihe wäre.« Er hatte eine persönliche Studie von Reseune und Emory angefertigt. Es war nur vernünftig. Aber an einige Informationsfetzen kam man einfacher als an andere, und wie Lu Verbindungen aufspürte, gehörte dazu. »Kann Byrd mit ihm Kontakt aufnehmen?«

»Die Zeitpläne sind völlig durcheinandergeraten«, sagte Lu sanft, auf seine gelehrtenhafte Art. »Die Tagesordnung wird wohl ganz neu aufgestellt werden müssen. Ich bin sicher, dass sich da etwas machen lässt. Möchten Sie, dass ich mir das notiere?«

»Auf jeden Fall. Hören wir jetzt auf damit. Das Personal soll sich jetzt an die Arbeit machen.«

»Dann treffen wir uns morgen früh«, sagte Tien.

»Meine Leute werden hier sein«, erklärte Corain. »Es ist schon sehr spät. Wenn sich etwas ergibt, womit wir …« Er zuckte die Achseln. »Wenn sich etwas in der Art ergibt – Sie verstehen schon, worüber wir Bescheid wissen sollten …« Streik war kein Wort, das sie offen benutzten, und nicht alle vom anwesenden Personal wussten, dass einer zu erwarten war, insbesondere die Sekretäre nicht. »Meine Leute werden sofort mit Ihnen Kontakt aufnehmen.«

Und als alle anderen hinausgingen, um die Büros und Personalzusammenkünfte in ihren eigenen Ämtern und Abteilungen aufzusuchen, nahm er Gorodin und Lu stillschweigend zur Seite.

»Können Sie Warrick bekommen?«

»Lu?«, fragte Gorodin, und Lu, wobei er die Schultern wie ein Sekretär hob, sagte:

»Ich denke schon.«

II

Er stellte sich als ein ganz gewöhnlicher Mann heraus, als er im Konferenzraum der Staatshalle erschien, war mit einem braunen saloppen Anzug bekleidet und trug eine Aktentasche, die so aussah, als sei sie einmal zu oft durch die Gepäckbeförderung geschickt worden. Corain hätte ihn aus keiner Menschenmenge herausgreifen können: ein braunhaariger, gutaussehender, sportlicher Typ, der nicht unbedingt wie sechsundvierzig wirkte. Aber diesen Mann hatten Leibwächter begleitet, ehe die Militärpolizei ihn in ihre Obhut genommen hatte, und sehr wahrscheinlich nahmen ihm Dienstboten alles bis auf das Anziehen ab und begleitete ihn Personal bei alltäglichen Erledigungen. Mit Sicherheit war Jordan Warrick in keiner kommerziellen Maschine eingetroffen, und bestimmt hatte niemand von der Gepäckabteilung diese Aktentasche in die Hände bekommen.

Emory war eine Sonderperson. Es gab drei bei Reseune, die größte Anzahl in einer einzelnen Einrichtung. Zu ihnen gehörte dieser Mann, der Psychobandstrukturen, wie behauptet wurde, im Kopf entwarf und überarbeitete. Wenn ein sehr wichtiges Bandprogramm entwickelt oder bearbeitet werden musste, gaben sie es Jordan Warricks Leuten, und wenn ein Problem auftrat, mit dem einzelne oder alle von ihnen nicht fertig wurden, ging es an Warrick selbst. Soviel begriff Corain davon. Der Mann war ein beglaubigtes Genie und ein Schützling des Staats. Wie Emory. Wie die anderen zwölf Sonderpersonen.

Und wenn Emory diesen Status einem zwanzig Jahre alten Chemiker auf Fargone verschaffen und, wie die Gerüchte verlauteten, dort ein Büro eröffnen wollte, um ihn dem Personal von Reseune anzuschließen, und wenn sie gleichzeitig vorzuhaben schien, diesem Projekt einen Vorrang einzuräumen, der seinen Wert etwa in die Maßstäbe ihres mit Eifer betriebenen Kolonisierungsvorhabens hob, dann gab es dafür wahrscheinlich verdammt gute Gründe.

»Ser Lu«, sagte Warrick und schüttelte die Hand, die ihm Lu hinhielt. »Admiral Gorodin. Es ist mir ein Vergnügen.« Und ein besorgter, aber ganz und gar freundschaftlicher Blick, als er Corain bemerkte und ihm die Hand anbot. »Rat Corain. Mit Ihnen hatte ich gar nicht gerechnet.«

Corains Herz machte einen Sprung und schlug etwas schneller. Gefahr, warnte es. Warrick, erinnerte er sich, war keiner dieser hellen Köpfe, die in irgendwelchen nebligen Reichen der abstrakten Logik agierten, die dem Rest der Menschheit nicht zugänglich waren; er war ein Psychochirurg, seine Arbeit bestand im Manipulieren, und wenn er Menschen bis auf ihre tiefsten Beweggründe entblößte, war er ganz in seinem Element. All das verbarg sich hinter dieser nüchternen Freundlichkeit und diesen Augen, die jünger als vierzig wirkten.

»Sie haben vielleicht schon vermutet«, sagte Lu, »dass es hier um mehr geht, als ich Ihnen gesagt habe.«

Warricks Gesicht drückte eine Spur von Besorgnis aus.