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Dieter Lenzen

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Beschreibung

Die Geschichten dieses kleinen Bandes erzählen von Leben und Tod, Liebe und Einsamkeit, Souveränität und Schwäche, Erwartungen und Enttäuschungen - und von dem Gleichgewicht, das zwischen beidem zu halten ist. Dieter Lenzens Figuren eint ihr Bedürfnis nach Liebe, Nähe und Geborgenheit. Mit feiner Beobachtungsgabe schildert er scheinbar alltägliche Begegnungen und Einsichten und bewahrt so alte Wahrheiten davor, in Vergessenheit zu geraten.

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Seitenzahl: 113

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Dieter Lenzen

Geliebt

Erzählungen

Hoffmann und Campe

Lift nahe der Bar

Etwa auf der Mitte der nördlichen Kathete des Dreiecks, das King’s Cocktailbar im Zentrum der Hotellobby bildet, sitzt eine blonde Engländerin, die Salat isst. Ein Barkeeper putzt Weingläser und sagt etwas über Manchester United. Die blonde Engländerin, die bis zu dem Zeitpunkt, als er ihr den Salat reicht, den Blick nicht von der Tastatur ihres Mobiltelefons wandte, schaut ihn an, um dem Sinn seiner Worte nachzugehen. Sie lächelt ihn an und zeigt, dass eins oben rechts regulierungsbedürftig gewesen wäre. Sie verlangt ein zweites Glas Bitter Lemon. Der Keeper lässt eine Flasche mit deutschem Etikett aus dem Kühlschrank unter dem Bierzapfhahn aufsteigen, fängt sie mit der Linken in der Höhe seiner Augen, nachdem die Rechte sie in Gürtelhöhe emporgetrieben hatte, öffnet den Flaschenhals mit einer ausladenden Bewegung, füllt ein Glas von der gleichen Art, das bereits neben ihrem Salatteller steht, lässt die Flasche zurückgleiten und präsentiert das Getränk an der anderen Seite ihres Salattellers auf einer kleinen Serviette, die der Schriftzug der Bar ziert.

Er wendet sich der Hypotenuse zu, deren Mitte von zwei Bierhähnen in Messing markiert wird. Er zapft zwei Pils für die beiden jungen Österreicher, die über ihre Firma reden.

Der Merlot schmeckt nach Korken, findet die Engländerin. Der Barkeeper sagt etwas zu dem Deutschen am spitzen Winkel der Bar. Etwas von einem Urlaub, den er in den nächsten Tagen beginnt, etwas von fehlendem Geld, das ihn seiner Familie in Kalabrien entfremdet. »Da kann man nichts machen.« Sein münzgroßer Kinnbart reibt bei jedem Wort unsichtbare CO2-Wolken. Die Cohibas beziehe er über Freunde direkt aus Kuba, erzählt der Deutsche. Deswegen bezahle er nur neun Euro. Der linke Messingbierhahn leckt. Der Barkeeper sagt etwas von policy, die blonde Engländerin lächelt. Ihr Salatteller ist leer. Sie hat sich eine Zigarette angezündet und bläst den Rauch aus ihrem rechten Mundwinkel. Dabei gibt die heruntergezogene Unterlippe den Blick auf vier und fünf unten rechts frei. In zehn Jahren wird sie Probleme mit den Zahnhälsen haben. Ihre Augenlider sind weiß geschminkt.

Ein rotköpfiger Amerikaner setzt sich neben sie und klagt stimmlos über den Verlust seiner Stimme. Er war in den Bergen und hat sich erkältet. Während er mit ihr redet, wendet sich sein Kopf in kurzen Abständen und beschreibt immer ein 90-Grad-Segment des imaginären Kreises, der seinen ganzen Kopf umgibt. Sein Gesicht wendet sich in dichter Folge abwechselnd seinem Whiskeyglas und den langen bleistiftförmigen Auswüchsen des linken Ohrschmucks seiner englischen Nachbarin zu. Sie trägt ein violettes T-Shirt mit einem V-Ausschnitt. Darüber noch ein schwarzes T-Shirt mit einem V-Ausschnitt.

Der Barkeeper reinigt ein Weißbierglas. Er nimmt seine quadratische Brille ab, um seine Augen zu reiben. Als er damit fertig ist, zeigt er im Profil eine Stirn, die geradlinig in der Spitze seiner Nase mündet und mit einer gedachten Linie zum unteren Rand seiner Augen einen 45-Grad-Winkel beschreibt. Die beiden Österreicher reden über die Arbeitsmoral eines Mitarbeiters. Sie sagen »Interesselosigkeit«.

Die blonde Engländerin ist blass. Die Cohiba ist trocken.

Ein dicker und ein dünner 35-Jähriger treten aus dem benachbarten Zimmer an die Bar. Sie tragen Laptops unter ihren Armen, mit denen sie nebenan im Internet gesurft haben. Sie möchten, dass ihre Rechnung auf Zimmer 207 lautet. Der rotköpfige Amerikaner trägt ein Polohemd mit einer Aufschrift, die irgendwie auf Amerika referiert. Die blonde Engländerin zieht an einer zweiten Zigarette und zeigt an der Hand, die diese hält, vier silberne Ringe unterschiedlicher Größe. Die Ringe verdecken fast die schlanke Hand, die abwechselnd die Zigarette zum Munde führt und die Tastatur des Mobiltelefons bedient, um eine Buchstabennachricht zu komponieren. Ihre Haare sind in der Länge von zwei Händen abgeschnitten.

Die Österreicher kennen einen Klaus, der Karriere gemacht hat.

Die Zigarre ist erloschen.

Der Barkeeper druckt eine Rechnung aus, die er der Engländerin übergibt, und sagt jetzt etwas über Juventus Turin. Sie zahlt bar und lässt beim Blick in ihre Geldbörse ein weiteres Mal das obere Weiße ihres Augapfels sehen. Wie eine Somnambule. Er darf 80 Cent behalten.

Die Engländerin erhebt sich von ihrem Barhocker, nimmt Telefon und einen Roman in die Hand, den sie die ganze Zeit auf dem Schoß gelagert hat, und wendet sich dem Lift zu. Sie trägt eine schwarze Stoffhose und braune Schuhe mit mittelhohen Absätzen, die sich bei jedem Schritt auf dem Travertinboden entschlossen äußern. Als ihr vor dem Lift der Roman entgleitet, beugt sie den Oberkörper, um ihn vom Boden aufzulesen.

Die Österreicher haben eine Gesprächspause eingelegt. Der Barkeeper hat die ausgebrannte Zigarre des sicher einen Meter neunzig großen Deutschen entsorgt, der ihm seine Zimmernummer zugerufen hatte, bevor er mit seinem Körper die gebeugte schwarze Stoffhose für die Blicke derer verdeckt, die, für einen Augenblick schweigend, zurückbleiben. Die Engländerin und der große Deutsche betreten gemeinsam den Lift. Sie schauen einander für einen Augenblick an, bevor die Tür sich schließt.

Der Barkeeper entdeckt, als er ein Weinglas putzt, eine schadhafte Stelle am Trinkrand und wirft es in den Mülleimer. Der rotköpfige Amerikaner hustet. Die beiden Österreicher reden irgendetwas von einem Fernstudium. Ein grauhaariger Mann mit einer karierten Hose bestellt ein Bier. An der Rezeption klingelt ein Telefon. Eine Weißbierflasche zischt beim Öffnen. Der Barkeeper pfeift durch eine Zahnlücke zwischen eins unten links und eins unten rechts. Als er aufhört, seufzt er kurz. Irgendwo hört man die Stimme eines Nachrichtensprechers. Es ist Donnerstag. Dreiundzwanzig Uhr einunddreißig.

Batterien im Kamin

Sie hatte mehrere Wochen daran gearbeitet. Alles vorbereitet für diesen Tag. Es war Winter. Ihre Vorbereitungen waren unbemerkt geblieben. Trotzdem hatte sie die Demontage der Wegweiser für den letzten Tag vor seinem Besuch aufbewahrt. Falls es doch jemand bemerken sollte, obwohl das, mitten im Februar, hier in den Bergen eher unwahrscheinlich war. Sie war schon manchen Winter hier oben gewesen und hatte selbst in dem alten Schnee, der schon wochenlang lag, keine Fußspuren gefunden. Deswegen konnte sie damit rechnen, dass selbst zwanzig, dreißig Kilometer entfernt aufgestellte Schilder niemand vermissen würde, weil niemand hierherkam an den See, der auch im Winter nicht zufror, weil eine warme Quelle ihn speiste. Deswegen hatte sie auch das Ruderboot kurzerhand versenkt, sodass ein Fluchtweg über das Wasser ausgeschlossen war. Mit ihrem Jeep hatte sie in den Schnee auf etlichen langen Holzwegen immer neue Spuren gefahren, damit es so aussah, als ob täglich Fahrzeuge zur Berghütte hinauffahren würden, wohin sie Frank eingeladen hatte. »Für die Feiertage, bis zum Neujahr vielleicht?«

Aufwendig war die Anfertigung neuer Schilder gewesen, die auf eine Bahnstation verwiesen, welche aber nicht existierte, und auf zwei Bergdörfer. Damit er bei einer Flucht keinen Unterschlupf in einer der beiden kleinen Hütten im Umkreis von fünf Kilometern finden konnte, hatte sie diese angezündet und so weit niedergebrannt, dass sie unbewohnbar waren. Sie hatte dafür gesorgt, dass alle Langlaufskier und sogar der kleine Schlitten aus ihrem Haus verschwanden, damit er nicht ein Hilfsmittel besäße, falls er dachte, er könnte zu Fuß flüchten.

Das war alles sehr einfach gewesen, wenngleich es Kraft kostete, die sie eigentlich nicht besaß, denn sie war angestrengt von den zurückliegenden Monaten, mehr psychisch allerdings als physisch. Andererseits hatte diese Anstrengung ihren Willen gestärkt, sodass die zahlreichen Vorbereitungen ihr letztlich leichtfielen. Schwierig, so dachte Alice, könnte es mit seinem Geländewagen werden. Ihren eigenen hatte sie schon fahrunfähig gemacht. Eine Tüte Zucker im Tank und dann versucht zu zünden. Das hatte sie in ihrer Kindheit von den Jungen gehört, und es funktionierte. Der Motor gab schon nach kurzer Zeit auf und war nicht mehr zu starten.

Für seinen Wagen hatte sie einen Kanister Benzin bereitgestellt. Sie wollte ihn einfach in Brand setzen.

Weihnachten kam, und am Nachmittag gegen 15 Uhr hörte sie das Geräusch vom Motor seines Autos. Er fuhr vor, holte seine Reisetasche aus dem Heck und betrat den unteren Raum der Hütte. Frank lachte über das ganze Gesicht, als er sie sah, und sie bemühte sich, ihre Erregung zu unterdrücken. Sie machte sich an einer Flasche Wein zu schaffen, ließ sich flüchtig auf die Wange küssen und bereitete ein Brett mit Käsestückchen und ein paar kleinen Oliven vor.

Sie nahmen vor dem Feuer Platz und sprachen über das Versicherungsbüro, für das sie beide arbeiteten, Frank in Vancouver und Alice in Quebec. Sie trafen sich selten. Er bat sie oft, doch mehr Zeit für ihn zu haben, und wollte sich öfter in einer der Städte mit ihr treffen, aber das wäre ihr zu viel gewesen. Sie hatte ihm das auch immer wieder gesagt, und jedes Mal war er enttäuscht. Darum war er nun ganz heiter, als er die Hütte betreten hatte – mehr als eine Woche mit ihr allein, hier oben. Hier konnte sie ihm nicht ausweichen; alles würden sie gemeinsam machen.

Es dauerte nicht lange, bis ihm Zweifel an seiner Zuversicht kamen. Alice begann, kaum dass Frank von dem Käse gegessen hatte, ihre Beziehung zu thematisieren. »Es wäre besser gewesen, wenn wir auf diese Reise verzichtet hätten«, eröffnete sie das Gespräch, während Frank sich selbst und ihr Rotwein einschenkte und mit der Gabel nach einer Olive griff. – »Ich weiß gar nicht, wie ich das aushalten soll, eine Woche hier. Ich habe versucht, dich noch im Büro anzurufen, aber du warst schon losgefahren. Ich wollte dir sagen: ›Bleib, wo du bist.‹ Hier gibt es nichts mehr zu tun.« – »Zu tun?« Frank machte ein fragendes Gesicht. »Ich bin nicht gekommen, um zu arbeiten, sondern um die Tage mit dir zu genießen.« – »Das meine ich ja.«

Alice nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Glas. »An unserer Beziehung gibt es nichts mehr zu arbeiten. Man müsste sie umformen, aber ich weiß auch nicht, wie. Am besten ist es, wenn du morgen gleich wieder zurückfährst. Die Nacht kannst du bleiben. Um acht ist es hell, dann findest du auch den Weg. Ich gebe dir noch eine Decke, dann kannst du auf dem Sofa hier schlafen. Ich gehe nach oben. Du musst mich nicht wecken. Fahr einfach los. Wir sehen uns dann ja bestimmt im neuen Jahr wieder.« Frank schwieg. Das schien ihm das Beste zu sein. Früher hatte er bei solchen Äußerungen problematisiert, gekämpft, widersprochen. Jetzt wollte er einfach, dass etwas geschah. Sie schwiegen eine Weile, nahmen ab und zu einen Schluck Wein aus ihren Gläsern und schauten in das offene Feuer. Irgendwann griff Alice Frank zwischen die Beine, stimulierte ihn, und sie schliefen miteinander auf dem Sofa, das zu seiner Übernachtung dienen sollte. Danach nahm Alice ihr Weinglas, verabschiedete sich und ging nach oben. Frank starrte in den Kamin. Alice warf eine Decke über die Brüstung und sagte noch einmal »Gute Nacht!«. Frank leerte die Flasche, die noch halb voll war, und schlief, ermüdet von der Hitze des Feuers und dem Rotwein, sofort ein. Es gab einen lauten Knall, der ihn weckte und aufspringen ließ. Draußen war es hell. Etwas brannte vor dem Haus. Als er, halb bekleidet, hinauslief, sah er, dass es sein Auto war. Er lief zurück ins Haus und rief nach Alice, aber sie gab keine Antwort. Er stürzte die Treppe hinauf. Ihr Schlafzimmer war leer, das Bett unbenutzt. Frank lief zurück nach unten, zog sich Hose, Hemd, Pullover und Schneejacke an und sprang in seine Fellstiefel, um Alice draußen suchen zu können. Dort rief er erneut, etliche Male, aber in den Brandgeräuschen ging seine Stimme unter.

Er sah Fußspuren im Schnee, die in den Wald führten, und befürchtete das Schlimmste. Frank suchte in der Küche nach ihrem Wagenschlüssel, um den Spuren folgen zu können und sie zu finden, nach Hause zu bringen. Er fand sie in der Besteckschublade und saß schon in ihrem Jeep, aber es gelang ihm nicht, ihn zu starten. Also entschloss er sich, nach einer Lampe zu suchen, um den Spuren im Schnee zu Fuß folgen zu können. Er fand eine leidlich geladene Akku-Lampe mit einem Band, sodass er sie um seinen Hals hängen konnte. Frank lief in westlicher Richtung, wohin die Fußspuren führten. Nach zwanzig Minuten gelangte er an eine Weggabelung. Ein Schild wies in die Richtung einer Bahnstation, das andere hinunter zum See. Rad- und Fußspuren gab es auf beiden Wegen. Frank entschloss sich, zuerst hinunter zum See zu laufen. Nachdem er eine Viertelstunde diesem Weg gefolgt war, endete er mitten im Wald. Die Fußspuren zeigten wieder zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.

Die Angst macht uns blind zu sehen, dass Spuren auch zurückführen, dachte er und kehrte zurück zu der Weggabelung, um von dort in Richtung Bahnhof zu laufen. Erst nach dreißig Minuten gelangte er an das Ende des Weges und sah hier das Gleiche: Die Spuren führten zurück, ihm entgegen. Als er das wahrgenommen hatte, erlosch seine Lampe vollends, die er immer nur für wenige Sekunden eingeschaltet hatte, um den Weg nicht zu verfehlen und um zu sehen, ob Alice oder die Person, welche die Spuren hinterlassen hatte, vielleicht vom Weg abgewichen war.

Frank entschloss sich, zurückzugehen zur Hütte und dort auf den Tagesanbruch zu warten. Als er