Geliebter Krieger - Paige Anderson - E-Book

Geliebter Krieger E-Book

Paige Anderson

4,3

Beschreibung

Schreckliche Visionen plagen die junge Kellnerin Mercy und zwingen sie zu einem Leben auf der Flucht. Als der attraktive Krieger Darian sie vor blutrünstigen Angreifern rettet, scheint ihre Odyssee vorerst beendet. Mercy ist fasziniert von der übernatürlichen und gefährlichen Ausstrahlung Darians. Doch ihr attraktiver Retter hat noch mehr Überraschungen auf Lager. Er ist ein Mitglied des uralten Drachenclans, seit jeher dazu bestimmt, über die Menschen zu wachen. Ihre aufkeimende Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, denn die gemeinsamen Feinde schlafen nicht.

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Geliebter Krieger

Drachenclan 01

Paige Anderson

Geliebter Krieger

Drachenclan 01

Paige Anderson

Copyright © 2013 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

Umschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

ISBN-Taschenbuch: 9783864432279

ISBN-ebook-PDF: 9783864432286

ISBN-ebook-epub: 9783864432293

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Die Autorin

1. Kapitel

„Die Gastfreundschaft auf deinen Partys hat nachgelassen.“ Darians Schädel brummte. Die unregelmäßigen Bass-Schläge stellten eine Beleidigung für sein empfindliches Gehör dar. Wie jemand dazu tanzen konnte, war ihm ein Rätsel.

„Das liegt daran, dass Ihr kein Gast seid“, antwortete ihm sein Gegenüber in ruhigem Tonfall.

„Sag mir, was ich hören will, Lucius, dann kannst du dich weiter mit dem Bodensatz der Gesellschaft amüsieren.“

„Ich amüsiere mich nicht. Ich mache Geschäfte.“

Darians ohnehin dünner Geduldsfaden drohte zu reißen. Schlimm genug, dass er in einem schummrigen Kellerraum festsaß, um Informationen aus einem der verdorbensten Individuen ihrer Art herauszupressen. Jetzt tanzte der ihm auch noch auf der Nase herum. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Der sorgfältig unterdrückte Zorn kroch langsam an die Oberfläche.

„Warum tust du das? Lass mich los“, säuselte Darian, und er wusste, sein Lächeln war alles andere als freundlich.

Lucius runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. Seine Augen huschten in den Höhlen umher, suchten eine Erklärung.

„Das werden deine nächsten Worte sein, wenn du mich weiter für dumm verkaufst“, sagte Darian.

Trotz des spärlichen Lichts sah er jedwede Farbe aus Lucius’ Gesicht weichen. Der bittere Geruch von Angst kitzelte seine Nase.

„Ich veranstalte Raves in der ganzen Stadt. Wir haben über zweihundert Gäste jedes Wochenende. Menschen und Mischwesen gehen ein und aus. Ich kann nicht jeden Einzelnen im Auge behalten.“ Lucius’ Stimme zitterte und er umklammerte die Lehne seines Stuhls so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Darians Schweigen beschleunigte die Atmung seines Gegenübers.

„Ich würde niemals einen Drachenkrieger anlügen. Das wisst Ihr!“

Darian genoss, wie er in einem Netz aus Furcht und nahender Verzweiflung zappelte. Darüber hinaus war es gut zu wissen, dass sogar ein fadenscheiniger Kleinkrimineller wie Lucius den nötigen Respekt vor ihrer Rasse besaß.

„Ich. Habe. Nichts. Gehört.“

Nach einer weiteren Minute der Stille erhob sich Darian zu seiner vollen Größe. Er musste den Kopf einziehen, um nicht über die raue Betondecke zu schaben.

„Ich schwöre, es ist die Wahrheit“, stammelte Lucius mit vor Schreck geweiteten Augen.

Womöglich wusste er tatsächlich nichts. Eine persönliche Stippvisite vom Drachenclan war nicht üblich, viele bekamen nie einen von ihnen zu Gesicht. Es war keine Lüge.

„Nava ist mit den Abläufen vertrauter als ich. Vielleicht weiß sie …“

Dumpfe Schläge, gefolgt von einem femininen Wimmern aus dem Nachbarzimmer, ließen ihn verstummen.

Na toll. Was zur Hölle hatte er sich dabei gedacht, ausgerechnet Liam die Geschäftspartnerin verhören zu lassen. Liams Libido war schwerer in Schach zu halten als ein Sack mit Flöhen. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. War er der Einzige, der diesen Befehl ernst nahm? Normalerweise erhielten sie präzisere Anweisungen, nach was genau sie suchen sollten. Mit dem heutigen Hört euch an den einschlägigen Orten um konnten sie zwar nicht viel anfangen,dennoch war es ein Auftrag.

„Ich bin froh, dass Eure Befragungsmethoden nicht identisch sind.“ Lucius lachte dümmlich und massierte sich den Nasenrücken.

„Du bist nicht mein Typ“, sagte Darian. „Wenn du etwas hörst, du weißt, wie du uns erreichst.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, marschierte er aus dem Zimmer. Auf dem Flur kam ihm Liam entgegen. Breit grinsend steckte er sein Hemd in die Hosen.

„Wenn du mich jetzt nach einer Zigarette fragst, mach ich deine Nase mit dem Fußboden bekannt“, informierte er seinen Kameraden und ging kopfschüttelnd an ihm vorbei.Ihre Tritte hallten von den kahlen Wänden wider.

„Ich habe das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden. Solltest du auch mal versuchen“, murmelte Liam zu seiner Rechten. Typisch. Liam warfen sich die Frauen scharenweise an den Hals. Größe und Statur lagen ihrer Rasse im Blut. Er krönte das Ganze mit strohblonden Haaren, eisblauen Augen, einem Damenslips schmelzenden Lächeln und einem Charme, der die Queen rot anlaufen lassen würde.

„Ach, komm schon.“ Liams schwere Hand schwang auf seine Schulter. „Mennox hat mit Informationen gegeizt, als koste es ihn sein linkes Ei, wenn er uns mehr sagt. Es war ein Verdacht.“

„Ein Verdacht, dem wir nachgehen sollten.“

Die Hierarchie innerhalb ihrer Truppe war klar geregelt. Ihr Anführer Mennox spielte die Chefkarte selten aus, das änderte aber nichts an der Befehlskette.

„Was hast du rausgefunden?“ Liams Stimme klang versöhnlich, das schlechte Gewissen plagte ihn. Gut.

„Fehlanzeige. Lucius hat nichts gesehen oder gehört.“Also kehrten sie ohne brauchbare Ergebnisse zum Hauptquartier zurück. Noch nicht einmal ein ordentlicher Kampf. Was davon ihn mehr störte, konnte er nicht ausmachen.

„Dann hat wenigstens einer von uns beiden was herausgefunden.“

Darian blieb am Treppenabsatz stehen. „Was?“

„Eine entspannte Frau redet wie ein Wasserfall“, erwiderte Liam. Seine Mundwinkel zuckten. Unfassbar. Er hat die Informationen aus der Frau rausgevögelt.

„Was hat sie gesagt?“

„Naja, es war mehr ein Stöhnen.“

„Liam!“

„Man hat nach uns gefragt“, beendete er seinen Satz.

„Uns?“

Sie stiegen die Treppe hoch, und die Luft klarte auf. Das Atmen fiel ihm leichter. Er war froh, den muffigen Keller hinter sich zu lassen.

„Nach dem Clan.“

„Jedes Halbwesen auf der Welt weiß, dass wir in der Stadt sind. Hat etwa ein Mensch nach uns gefragt?“ Soweit sie informiert waren, wussten die Menschen nichts von der Existenz der Übernatürlichen. Sie wiegten sich in dem Glauben, sie seien allein auf der Welt. Und das sollte so bleiben.

„Nein. Es waren Übernatürliche.“

Seltsam.Oben angekommen blieben sie einen Moment stehen. Es war eine vage Spur, aber besser, als mit leeren Händen zurückzukehren.

Wie ein heißer Blitz durchfuhr es seinen Körper, die Glieder verspannten sich und sein Kopf fuhr herum. Ein Geruch, so tief in seinem Geist verankert, dass ein Irrtum ausgeschlossen war, wehte über die Gasse zu ihm.

„Satyr“, flüsterte er und lief los. Liam war dicht hinter ihm. Er spürte die Hitze, die sein Kamerad abstrahlte, in seinem Nacken. Adrenalin jagte durch seine Adern, schärfte seine Sinne. Seine Instinkte jubelten. Endlich konnte er seiner wahren Berufung nachkommen. Ein Abend ohne Kampf war wie eine Woche strikte Diät. Er war am Leben, aber alles brannte auf Sparflamme.

Noch bevor sie um die Ecke kamen, hatte er sein Katana gezogen. Die Klinge wog leicht in seinen Händen, passte sich seinen Fingern an. Jetzt war er vollständig.

Schwerer Blutgeruch überlagerte die Satyrwitterung. Liams Knurren trieb seine Schritte an. Wenn einer dieser dämonischen Bestien an seinem Opfer zugange war, zählte jede Sekunde.

Liam rief ihm etwas zu, doch er verstand die Worte nicht. Sein Blut rauschte in seinen Ohren, an diesem Punkt angelangt, konnte nicht einmal ein Güterzug ihn aufhalten. Neben einem Müllcontainer entdeckte er seine Beute. Die weiße Haut hob sich stechend vom dunklen Grund der Gasse ab. Er packte ihn am Nacken, woraufhin der Satyr quietschend aufheulte. Ein rostiges Messer fiel klappernd auf den Asphalt.

Darian spürte die Wirbel unter seinen Fingern knacken und lockerte den Griff. Er würde den Blutruf seines Katanas nicht ignorieren. Blitzschnell warf er den Satyr gegen die Backsteinwand. Bevor der auf dem Boden aufschlagen konnte, stand er hinter ihm, fasste in den hellen Haarschopf und schwang seine Klinge. Das Geräusch von durchtrenntem Fleisch und splitternden Knochen durchdrang das Rauschen in seinen Ohren. Warmes Blut spritzte ihm ins Gesicht. Das kurze Glücksgefühl, das seinen Körper eroberte, verebbte rasch. Bei allem, was heilig war, er hasste diesen Abschaum. Und gleichzeitig brauchte er sie, um seine Existenz zu rechtfertigen.

„Schon gut“, hörte er Liam sagen. Angewidert warf Darian den abgetrennten Kopf in den Container und drehte sich um. Das Opfer lag noch immer an Ort und Stelle. Eine junge Elfe, kaum hundert Jahre alt. Er konnte das Blut riechen, es war nicht arteriell, sie kam noch einmal mit dem Schrecken davon. Liam beugte sich runter und betastete ihr Gesicht. Sofort hellten sich ihre Züge auf.

„Du hast mich gerettet“, flüsterte sie.

„Das ist unsere Aufgabe, nicht?“ Mit einem Lächeln, das die Arktis zum Schmelzen brachte, half er ihr auf die Füße. Darian verdrehte die Augen und säuberte seine Klinge.

„Dubist vom Drachenclan! Die Beschützer unserer Art!“

Na toll. Darian hatte die Frau nicht gerettet, damit sie an Hyperventilation starb.

„Live und in Farbe“, sagte Liam und half ihr auf die Beine.

„Darf ich ein Foto machen? Meine Freundinnen werden ausrasten, wenn sie das sehen!“ Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern kramte in ihrer Tasche nach dem Smartphone. Die Kopfwunde, die dunkle Gasse, ihr Beinahe-Tod, all das war vergessen. Unfassbar.

„Klar.“ Darian beobachtete, wie Liam einen Arm um die Elfe legte und sie an sich presste, während sie das Handy vor sich hielt.Ein kurzer Blitz erhellte die Gasse.

„Alsonach diesem Schreck könnten wir vielleicht …“ Sie schob ihm einen kleinen Zettel zu.

Genug.„Wir gehen jetzt“, sagte Darian laut und riss Romeo an den Schultern zurück. Das vermeintliche Opfer quiekte erschrocken auf. Sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass Darian da war.

„Ruf mich an!“

Zurück auf der Straße, ließ er seinen Kameraden los.

„Das nenn ich Arbeitsteilung!“

„Ich arbeite, du vögelst und flirtest.“ Er war nicht sauer auf Liam. Dazu kannte er seinen Clangefährten zu gut. Ein einzelner Satyr konnte ihnen ohnehin nicht gefährlich werden. Der Frau ging es gut, alle waren wohlauf. Warum stieg seine Laune nicht?

„Als Beschützer der Welt darf man sich die eine oder andere Annehmlichkeit gönnen. Würde dir auch nicht schaden.“

Darauf hatte er nichts zu sagen. Vielleicht hatte Liam recht. Wann hatte er diesen Punkt erreicht? Es war, als funktionierte er nur noch, statt zu leben. Er bekam einen Auftrag, er erledigte ihn. Er schlief, aß und trank. Nichts schien ihn zu erfüllen. Je mehr er nach einem Sinn suchte, desto verlorener kam er sich vor.

Ein schrilles Piepsen riss ihn aus seinen Gedanken, und er blieb stehen. Liams Gesicht wurde durch den kleinen Bildschirm seines Telefons erhellt, während er die SMS las.

„Was gibt’s?“, fragte Darian, als sein Kamerad die Stirn runzelte.

„Mennox. Wir sollen alle zurückkommen. Besprechung in einer halben Stunde in Konferenzraum eins.

„Wird auch Zeit, dass er uns erklärt, was los ist.“

„Yep.“

Es passte nicht zu ihrem Anführer, sich in Schweigen zu hüllen. Zudem ging seine Laune die letzten beiden Tage auf Talfahrt.

„Ich fahre.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg er ein. Liam ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und fingerte sofort am Radio rum. Es dauerte keine zwei Minuten und das Innere des Wagens wurde von Banjo undGitarrenklängen erfüllt. Mittlerweile hatte sich Darian an den seltsamen Musikgeschmack seines Kameraden, der ausschließlich Country und Folk beinhaltete, gewöhnt. Von gut finden war er dennoch meilenweit entfernt.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Ihr Hauptquartier lag ein wenig außerhalb, aber war von jedem Punkt der Stadt rasch erreicht. Via Fernbedienung öffnete er das weiße Tor zur Tiefgarage und parkte den Wagen.Als er ausstieg, dröhnte neben ihm eine Suzuki auf.

„Angeberin“, rief Liam von der anderen Seite und schlug die Tür zu.

Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte Darian. Die Kabbeleien zwischen Liam und Callista waren notorisch und existierten, seit sie dem Clan angehörig war. Das Leder ihrer Kluft knirschte, als sie den Helm abnahm. Sie grinste ihnen zu, zuckte mit den Schultern und ging voraus zum Aufzug.

„Du bist nur neidisch.“

Darian drückte den Knopf in die zweite Etage.„Auf was? Eine Helmfrisur?“

Callista fuhr sich durch die kurzen, schwarzen Haare. Sie war unwesentlich kleiner als er, aber nicht im Geringsten schwächer.„Schon gut. Leder kann nicht jeder tragen. Du würdest aussehen wie eine aufgeplatzte Salami.“

„Das habe ich überhört.“

„Im Alter lässt das Gehör nach.“

Darian seufzte theatralisch und beschloss, die Beleidigungskaskade zu unterbrechen. „Ist Venor schon da?“

„Es würde mich wundern, wenn er nicht der Erste wäre“, gab Calli zurück und ordnete ihre Haare im Spiegel der Fahrstuhltür. „War viel los bei euch?“

„Nein. Nur ein Satyr auf dem Heimweg.“

„Ich hatte drei insgesamt. Aber in Erfahrung bringen konnte ich nichts.“

Ein Stich der Eifersucht pochte in Darians Schläfen. Sein Blick wanderte zu ihrem Rücken. Der Griff ihres Katanas war blutig. Sie hatte einen Kampf hinter sich. Zu gern hätte er sich mehr ausgetobt. Ein lausiger Satyr war nicht mehr als ein Vorspeisenhäppchen. Er wollte den Hauptgang.

Der Aufzug öffnete sich, und sie gingen raschen Schrittes die breite Galerie entlang. Das bläuliche Schimmern der Monitore jagte tänzelnde Schatten über den Flur, als Darian die Tür zum Konferenzraum öffnete.Drinnen angekommen, nahm er seinen Platz an der modernen Tafelrunde ein. Der Raum wurde von einem überdimensional großen, ovalen Glastisch dominiert. Mennox bestand auf einen Tisch ohne Ecken. Niemand von ihnen sollte das Kopfende beanspruchen. Psychologische Kriegsführung.

Venor saß wie vermutet bereits am Tisch und nickte ihnen zu. Von allen Kameraden war er der Schweigsamste. Und auch der Zurückgezogenste. Darian wollte gerade die Anzeige auf den Monitoren an der gegenüberliegenden Wand studieren, als Mennox eintrat. Die langen, schwarzen Haare wehten hinter ihm her wie ein Umhang. Seine Miene kündigte keine guten Nachrichten an.

„So, da wir nun vollzählig sind, setze ich euch erstmal ins Bild.“ Sobald er anfing zu sprechen, waren alle Augen im Raum konzentriert auf ihn gerichtet. „Ich habe vor einer Stunde mit Charismon gesprochen. Er hat mich informiert, dass wir womöglich ein Orakel in der Stadt haben.“ Schweigen legte sich wie eine dicke Decke über sie. Deshalb sollten sie sich umhören. Jetzt wurde einiges klarer. Der Befehl kam von ganz oben.

„Das hättest du uns gleich sagen sollen“, unterbrach Liam das unangenehme Schweigen. Der sorglose Ausdruck in seinem Gesicht war der Maske eines Kriegers gewichen.

„Ich habe euch sofort hierher zitiert, nachdem ich mit ihm gesprochen habe“, antwortete Mennox ruhig.

„Ein Orakel? Nicht wieder irgend so ein Spinner mit einer Glaskugel?“, fragte Darian.

„Nein. Charismon meinte, sie seien sich alle einig. Und ich glaube nicht, dass sie sich irren.“

Darian nickte. Der Rat der Nephilim irrte sich nicht. Asmodeus, Charismon und Marvae. Sie waren die mächtigsten aller Mischwesen und regierten ihre Welt seit jeher. Darians Brust prickelte, als er an die Mitglieder des Rates dachte. Er vertraute ihnen, so wie jeder im Raum, aber sie hatten etwas an sich, was es ihm eiskalt den Rücken runter laufen ließ.

„Nun gut“, sagte Callista gelassen. „Selbst wenn eins hier ist, haben wir kein Anrecht auf das Orakel. Soweit ich weiß, sind sie lediglich an ihren Wächter gebunden.“ Ein Orakel, das den Clan unterstützte, wäre eine enorme Erleichterung für ihre Arbeit.

„Genau da liegt das Problem. Der Rat meinte, es habe keinen Wächter, somit ist es schutzlos und leichte Beute.“

Ein Orakel war ein machtvolles, aber auch geheimnisumwobenes Wesen. Niemand wusste genau, von wem oder was sie abstammten. Er selbst war noch nie einem begegnet und wusste nur, was er in Büchern gelesen hatte. Sie konnten genaue Vorhersagen treffen, egal, ob es sich um Naturkatastrophen, Unglücke oder Kriege handelte. Das Problem war, dass sie in einer angreifbaren, menschlichen Hülle steckten. Für viele wäre es ein Leichtes, sie für ihre Zwecke zu nutzen. Um dies zu verhindern, bekam jedes Orakel einen Wächter zur Seite gestellt.

„Woher weiß der Rat, dass es keinen Wächter hat?“, fragte Darian.

„Du weißt so gut wie ich, wie selten der Rat eine Frage des Warums oder Weshalbs beantwortet. Sie meinten nur, sie würden es spüren.“ Mennox machte eine wegwerfende Handbewegung. „So, wie sie eben alles irgendwie spüren können.“

Diese Antwort war in der Tat nicht unüblich. Niemand wusste genau, wozu der Rat in der Lage war. Aber Loyalität war das oberste Gebot des Clans. Zweifel waren also nicht angebracht.

„Wir müssen es finden und in Sicherheit bringen. Es ist zu riskant, es weiterhin allein und ohne Schutz zu lassen. Wenn es in die falschen Hände gelangt, können wir einpacken“, sagte Mennox düster.

Die Gesichter aller Krieger verdunkelten sich. Sich vorzustellen, was ein Orakel in den Händen eines Satyrs bedeuten konnte, verdüsterte Darians Laune. Die Satyrn wären immer einen Schritt voraus, wüssten immer wann, wo und wie viele Krieger sie erwarten würden und wo sie ungestört morden konnten.

Nun erhob zum ersten Mal Venor seine Stimme. „Wie gehen wir vor?“

„Wir finden undbringen es her. Dann sehen wir weiter“, sagte Mennox.

Alle nickten.

„Am besten teilen wir uns auf. Wir sollten möglichst alles abdecken. Uns läuft die Zeit davon. Ich schlage vor, dass Venor sich im Exil umschaut.“

Darian mochte das Exil nicht besonders und war froh, dass es ihm erspart blieb, dort zu recherchieren. Es war einer dieser Nobelklubs in der Stadtmitte. Zutritt bekamen ausschließlich Mischwesen aus dem oberen Einkommensviertel. Geld und Ansehen waren auch in ihrer Welt wichtig.

„Darian wird sich das Miracle vornehmen.“

„Also ich würde …“, setzte Liam an, wurde aber von Mennox unterbrochen.

„Nein! Vergiss es. Erinnerst du dich an deinen letzten Einsatz dort?“

Callista verwandelte ihr Lachen in ein gebrochenes Hüsteln. Darian konnte sich nur zu gut daran erinnern. Das Miracle war ein Bordell der besonderen Art. Es wurde ausschließlich von Incubi und Succubi betrieben. Diese verstanden sich ausgezeichnet auf jedwede Art des Liebesspiels und sahen dazu noch verteufelt gut aus. Es lag ihnen im Blut. Sie brauchten die Lust anderer. Ähnlich einem inneren Zwang. Neben übernatürlichen Kunden gingen auch Menschen dort ein und aus. Es war ein gefährliches Spiel. Die Lust, die ein Incubus oder ein Succubus einem verschaffen konnte, machte süchtig. Viele Menschen fanden danach keinerlei Befriedigung mehr mit menschlichen Partnern.

„Das war ein Versehen, und außerdem haben diese Mistviecher echt üble Tricks drauf.“ Brummend ließ sich Liam in seinem Sessel zurückfallen.

Liam sollte vor ein paar Monaten einen auffällig gewordenenSuccubus verhören. Er hatte angeblich einen wichtigen Politiker der Menschen um den Verstand gevögelt. Dieser brabbelte mittlerweile nur noch unverständliches Zeug in einer Rehabilitationsanstalt vor sich hin. Das Ende vom Lied war, dass Liam mit besagtem Succubus volle zwei Tage verschwunden war. Als er wiederkam, war er übersät von Kratzern und blauen Flecken, hatte jedoch ein seliges Lächeln auf den Lippen. Verschnupft über eine derartige Undiszipliniertheit, hatte Mennox Liam verboten, dort nochmal einzukehren.

„Du wirst mit Callista zur Polizei fahren.“

„Ich brauche keinen verfluchten Babysitter“, murrte Callista.

„Er ist nicht dein Babysitter, sondern du bist seiner.“

Liam schnaubte, sagte aber nichts. Callista wirkte zwar nicht glücklich, aber ihre Miene hellte sich etwas auf, als sie Liams beleidigtes Gesicht sah.

„Meldet euch, sobald ihr zurück seid. Ich schicke euch die aktuellen Daten auf eure Handys.“ Mit diesen Worten erhob sich Mennox und gab somit das Zeichen, dass das Treffen beendet war.

Langsam erhob sich Darian ebenfalls, um sich auf den Weg zu seinem Zimmer zu machen. Jeder hatte ein Quartier hier im Hauptsitz des Clans. Im Grunde waren sie wie eine Familie, obwohl nicht blutsverwandt, gehörten alle zur selben Rasse und kämpften für ein gemeinsames Ziel. Da sie ohnehin die meiste Zeit im Clan verbrachten, lag es nahe, dass alle hier wohnten.

In seinen Räumen angekommen, sprang er kurz unter die Dusche, um sich vom Blut und Schmutz des Abends zu befreien.

Dann bereitete er sich für seinen Auftrag im Miracle vor. Seine Haare waren rasch getrocknet und er klemmte sie sich hinter die Ohren. Aus dem Waffenschrank nahm er seinen Pistolengurt mit den beiden P30. Mit einem Öltuch reinigte er sein Katana und hob es über seinen Kopf, um es in die in den Mantel eingearbeitete Scheide gleiten zu lassen. Es verschwand fast zur Gänze darin, was gut war. Denn es war nicht immer klug, jedem zu zeigen, wie schwer man bewaffnet war. Die Aussicht, den Abend im Miracle zu verbringen und ein ominöses Orakel zu suchen, verhagelte ihm die ohnehin schon schlechte Laune. Ein ordentlicher Kampf wäre eher nach seinem Geschmack. Der Adrenalinrausch des Kampfes verdrängte die düsteren Gedanken, die seinen Geist in letzter Zeit aufsuchten, und gab seinem Dasein wenigstens für ein paar Augenblicke einen Sinn. Doch heute blieb ihm die Jagd verwehrt. Er schnappte sich noch sein Handy, steckte es ein und ging zur Tür hinaus.

*

„Hey Süße, wann schiebst du deinen hübschen Hintern mal hierher? Wenn du dich ein bisschen auf Onkel Bucks Schoß setzt, gibt’s auch nen extra Dollar.“

Mercy hörte das versoffene Gegröle nur mit halbem Ohr. Sie hatte vieleJobs dieser Art und war letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass besoffene Idioten besser waren, als nüchterne Idioten. Diese behielten zwar selten ihre Finger bei sich, waren in der Regel aber schon zu abgefüllt, um gefährlich zu werden. Außerdem brauchte sie das Geld. Nicht, dass sie nicht versucht hätte, auch ohne Ausbildung einen halbwegs anständigen Job zu finden, aber das war daran gescheitert, dass sie nie lange genug am selben Ort blieb, um wirklich versiert in einer Arbeit zu werden. Selbst wenn sie mit falschem Namen, falscher Adresse und gefälschten Papieren mal einen Job in Aussicht hatte, der keine versoffenen oder grabschenden Kerle mit sich brachte, kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie weiterziehen musste, weil irgendjemand bemerkte, dass sie anders war.

Lauter werdendes Gebrüll, dicht gefolgt von derbem Gelächter, riss sie aus ihren Gedanken. Sie füllte zwei Gläser mit Bier, stellte sie auf das Tablett und ging zu den Tischen.

„Na endlich, das hat ja ewig gedauert, Süße.“

Mit ordentlichem Abstand zu eventuell zupackenden Händen stellte sie die Gläser auf einen der runden Tische. Die Männer gehörten zu den Stammkunden der Bar. Ein bisschen einfältig, aber harmlos.

„Hey Katie, Schätzchen, warum denn so böse? Lächel doch mal für uns.“

„Aber nur, weil du so nett gefragt hast“, sagte Mercy mit zuckersüßer Stimme und setzte ihr Standard-Zahnpasta-Lächeln auf. Sie wusste, wenn sie ein wenig mitspielte, ließen sie sie weitestgehend in Ruhe. „So Jungs, das war’s aber trotzdem für heute. Letzte Runde.“ Sie drehte sich um und ging zum nächsten Tisch. Ohne auf die Kommentare hinter sich zu achten, räumte sie den Tisch ab, um mit einem feuchten Tuch die Oberfläche zu reinigen. Ganze fünfzig Cent Trinkgeld. Wow.

„Ziemlich schwache Ausbeute heute Abend, was Kate?“Der falsche Name klang immer noch fremd in ihren Ohren, also dauerte es einen Augenblick, bis sie realisierte, dass sie damit gemeint war. Blinzelnd sah sie von ihrem Tablett hoch zu Jim, dem Barkeeper.

„Ja, wie immer.“ Müde lächelte sie zu ihm hoch. Jim war älter als sie. Wie alt genau, wusste sie nicht. Hier wurden nicht viele persönliche Fragen gestellt. Sie sah in seine braunen Augen, mit denen er sie unter seinem zerwühlten Haarschopf ansah. Er hatte ihr nie übel genommen, dass sie seine Einladung auf ein Abendessen abgelehnt hatte. Er war ein netter Kerl und hatte ihr „Es tut mir leid, aber ich gehe grundsätzlich nie mit Arbeitskollegen aus“ akzeptiert. Es war keine Lüge, weil sie bisher niemandem vertraut hatte. Mit ihm hätte sie sich einen netten Abend sogar vorstellen können. Aber sie würde ihn sowieso eines Tages ohne Vorwarnung verlassen müssen. Also hatte sie ihm und sich selbst die unnötige Pein einer Trennung erspart.

„Wenn du willst, mach ich deinen letzten Tisch fertig. In fünf Minuten gehen hier ohnehin die Lichter aus. Du kannst für heute Schluss machen.“

„Wirklich?“ Das klang gut.

„Ja klar. Du hast die Tische soweit fertig. Die beiden Suffköpfe kann ich auch allein abkassieren.“

„Das ist wirklich lieb von dir.“ Mit schmerzendem Rücken bückte sie sich unter die Bar, um ihre übergroße und schon etwas mitgenommene braune Handtasche darunter hervor zu ziehen. „Dann gute Nacht und bis morgen“, sagte sie, während sie in Richtung des hinteren Bereichs der Bar ging.

„Komm gut nach Hause, Kate“, rief er ihr nach.

Mercy ging zu den Toiletten, um sich umzuziehen. Für jede Minute, die sie nicht das Ensemble aus kurzem schwarzen Rock und tief ausgeschnittener Bluse in Pink, ihre Arbeitskleidung, wie ihr Chef das nannte, tragen musste, war sie dankbar. Müde blickte sie in den schmutzigen Spiegel über dem Waschbecken. Braune Augen blickten sie aus einem viel zu mageren Gesicht an. Ihre Augen, und doch die einer Fremden. Make-up trug sie schon lange nicht mehr. Zum einen, weil es schlichtweg zu teuer war, und zum anderen, weil sie keine Veranlassung dazu sah. Je durchschnittlicher sie aussah, je weniger sie in einer Menge auffiel, desto besser. Ihre Augen fingen an zu brennen, woraufhin sie die Lider zusammenkniff. Die billigen Kontaktlinsen machten sich abends immer bemerkbar. Mit fahrigen Fingern öffnete sie ihr Haar, welches sie mit einer alten Haarspange hochgesteckt hatte. Nach einigen Bürstenstrichen fielen ihre dunkelbraunen Haare locker über die Schultern. Anfangs hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sie zu färben, aber sie beschloss, dass das Braun unauffällig genug war. Jede andere Haarfarbe hätte vielleicht einen Blick zu viel auf sie gezogen.

Erschöpft spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, zumindest einen Teil des Schweißes abzuwaschen, den sie auf ihrer Haut spüren konnte. Sobald sie die kühlen Tropfen spürte, breitete sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper aus. Schnell zog sie Jeans und Pullover an und stopfte die Nuttenuniform in die Handtasche. Die Haare steckte sie in die Kapuze ihrer Jacke. Um die kalte Oktoberluft abzuhalten und sich noch ein kleines Stückchen mehr vor der Welt zu verstecken, zog sie den Reißverschluss der Jacke bis fast unter die Nase. Als sie in die Nachtluft heraustrat, wehte ihr ein frischer Wind entgegen. Trotzdem nahm sie sich eine Minute, atmete tief durch und schaute in den von der Stadt erleuchteten Nachthimmel. Als ihr die kühle Luft unter die Jacke fuhr, fröstelte sie.Ihre Wohnung war nicht weit weg von der Bar, also ging sie zu Fuß. Es war eine schäbige Gegend, aber die Miete erschwinglich. Kakerlaken sowie kaltes Wasser inbegriffen.

Es waren kaum noch Leute auf der Straße unterwegs, was ihr recht war. Sie hatte immer eine Waffe griffbereit, auch wenn sie hoffte, diese nicht benutzen zu müssen. Dennoch ging sie niemals ohne aus dem Haus. Das schwere Metall in ihrer Tasche wirkte beruhigend.

Der Wind peitschte heftiger über die Straße und zwang sie, ihre Jacke enger an ihren Körper zu pressen. Sie beschleunigte ihre Schritte und sah schon bald ihr Apartmenthaus dunkel vor sich aufragen. Ein schlichtes Gebäude aus vom Alter ergrauten Backsteinen, welche mit zahllosem Graffiti besprüht waren. Die Feuerleiter war nur noch zum Teil erhalten. Die meisten Streben waren dem Rost über viele Jahre hinweg zum Opfer gefallen. Manche Fenster waren beschädigt und nur mit Pappe notdürftig verschlossen. Home, sweet Home.Das Haus fügte sich fast nahtlos in eine Reihe ähnlich trostloser Behausungen in das Straßenbild ein. Innen machte das Gebäude auch keinen besseren Eindruck. Der Bodenbelag war nicht mehr eindeutig zu identifizieren, bestand er doch aus mehreren Schichten festgetretenen Drecks. Auch hier waren die Wände bunt besprüht und stark verschmutzt. Als sie das Treppenhaus betrat, stieg ihr der mittlerweile vertraute Geruch von kaltem Tabakrauch in die Nase. Zusammen mit dem beißenden Gestank nach Urin bildete sich ein einmalig scheußliches Geruchserlebnis. Wenigstens roch es jetzt nicht mehr nach toter Katze. Beim Treppensteigen war sie stets bedacht, das Geländer nicht zu berühren, denn die darauf klebenden Substanzen wollte sie lieber nicht an ihren Händen haben. In den letzten zwei Jahren hatte sie durchaus schlimmere Behausungen bewohnt.

An ihrer Tür angekommen, blieb sie stehen und horchte angespannt in die Stille. Nach ein paar Minuten, als sie sich vergewissert hatte, dass sich niemand außer ihr im Treppenhaus befand, ging sie vor ihrer Haustür in die Hocke. Was sagte ihre Alarmanlage? Zugegeben, sie war nicht auf dem neuesten technologischen Stand, aber sie erfüllte ihren Zweck. Ein Haar, an jedem Ende mit einem durchsichtigen Streifen Klebeband versehen. Jeden Tag klebte sie, wenn sie die Wohnung verließ, eine Seite an die Tür, die andere Seite an den Rahmen. Beide Klebestreifen sowie das Haar waren intakt. Vorsichtig löste sie alles und stopfte die Reste in ihre Jackentasche. Zur Sicherheit legte sie nochmals ein Ohr an die Tür. Man konnte sie vielleicht paranoid nennen, aber sie nannte es lieber Vorsicht. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und betrat ihre Wohnung. Diese bestand aus zwei Zimmern. Ein erschreckend winziges Badezimmer, in dem nur das Nötigste stand, und ein größeres Zimmer mit einer Couch, einem kleinen Fernseher, einem niedrigen Tisch, einer Küchenzeile mit einer Spüle und einem alten Elektroherd. Auf der Couch lagen einige zerschlissene Wolldecken sowie ein großes Kissen, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die wenigen Kleidungsstücke, die sie besaß, lagen auf einer großen, schwarzen Reisetasche. Wenn man darauf angewiesen war, schnell einen Ort verlassen zu können, blieb keine Zeit für Schöner Wohnen. Sie verschloss die Tür und ging ein paar Schritte in den Raum hinein. Langsam ließ sie die Handtasche auf die Couch gleiten.

Max schlief wohl wieder in der Badewanne. Tatsächlich. Sie spähte durch die Tür und sah das Wolldeckenknäuel in der Wanne liegen. Als sie vorsichtig mit einem Finger hineinpikte, brummte der Knäuel sie müde an. „Hey, Schlafmütze.“

2. Kapitel

Das Miracle war alles andere als ein durchschnittliches Bordell und das lag nicht nur am Personal. Es befand sich zwar im Außenbezirk von Silversprings, aber es war keine schlechte Gegend. Die Straßen waren sauber und von außen betrachtet schien es sich um einen edlen Klub zu handeln.

Der rote Samtteppich unter seinen Sohlen verschluckte den Schall seiner Schritte. Es gab keine leicht bekleideten Frauen am Eingang, welche die Männer locken mussten, um sie zum Eintreten zu verführen. Das hatte der Laden nicht nötig. Wer hierher kam, wusste, was ihn erwartete. Als Darian durch die Tür ging, nickte ihm der bullige Türsteher zu. Nicht, dass Darian öfter herkam, aber einen Drachenkrieger wies man nicht ab, wenn man noch alle Sinne beisammenhatte. Auch seine Waffen würde man ihm nicht abnehmen, ganz davon abgesehen, dass niemand ihm sein Katana jemals abnahm, ohne bei dem Versuch seine Hand zu verlieren.

Durch den kurzen Flur ging er, vorbei an neugierigen Blicken, zielstrebig zur Bar. In den Augen des Barkeepers lag unverhohlene Neugier.„Einen schönen guten Abend, Krieger. Was kann ich Euch anbieten?“

„Jack Daniel’s ohne Eis und ich will mit Santana sprechen.“ Darian wandte sich um, ohne den Barkeeper eines weiteren Blickes zu würdigen, und inspizierte den Barraum.

„Ich werde ihr ausrichten, dass Ihr hier seid. Um was geht es?“

„Sag ihr, sie soll sich einen neuen Barkeeper suchen, denn der alte hat zu viele Fragen gestellt.“

Sofort stammelte er Entschuldigungen und verlor jedwede Gesichtsfarbe. Darian winkte ab. Als würde er sich tatsächlich die Mühe machen, diesen Typen Anstand zu lehren. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den anderen Gästen zu. Es gab viele kleine Separees, die mehr oder weniger gut einzusehen waren. Man musste nicht alles sehen, um zu wissen, was im Verborgenen geschah. Die Luft war geschwängert vom schweren Geruch der Lust, und hier und da klang gedämpftes Stöhnen zu ihm durch. Während er den Bedienungen zusah, trank er seinen Whiskey. Zweifellos waren sieSuccubi. Er konnte es riechen. Aber auch ohne seinen ausgezeichneten Geruchssinn war es nur schwer zu verkennen, dass diese Frauen den Rahmen des Normalen lange gesprengt hatten. Sie bewegten sich anmutiger und flüssiger als jedes andere Wesen. Sie wussten nur zu gut, wie sie ihren Körper einsetzen mussten, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber auch die männlichen Gegenstücke, die Incubi, wussten ihre Reize einzusetzen. Er beobachtete, wie ein ebensolcher mit kraftvoller Eleganz auf ihn zukam. So manche Frau war diesen Reizen schon erlegen.

„Guten Abend“, erklang die ebenso reine wie klangvolle Stimme. „Lady Santana empfängt Euch nun. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.“

Sie gingen an der langen Bar entlang, woraufhin sich alle Köpfe staunend zu ihnen wandten. Aber nicht, um den Incubus anzusehen. Darian wusste, dass die Blicke ihm galten. Der Incubus schien dies zu bemerken, denn er bemühte sich, noch verführerischer zu wirken. Im Vorbeigehen streifte er leicht die Schulter einer Frau, und sofort blickte sie ihm sehnsuchtsvoll hinterher. Incubi waren schrecklich eingebildet und sehr schnell beleidigt. Darian musste schon die Überreste einer armen Frau betrachten, die einen Incubus verschmäht hatte. Sie konnten in der Tat sehr wütend werden, wenn es um ihren Körper ging. Natürlich wurde der Incubus bestraft, aber bei der Frau kam jede Hilfe zu spät. Zufrieden ging der Incubus weiter zum Ende der Bar und hielt Darian eine Tür auf. Einladend hob er eine Hand, blieb jedoch vor der Tür stehen. „Bitte. Tretet ein.“

Darian ging hinein und hörte zugleich, wie die Tür hinter ihm leise ins Schloss fiel. Wenigstens waren sie diskret.

„Darian, welch Ehre, Euch begrüßen zu dürfen. Ich hatte zwar mit dem Krieger Liam gerechnet, aber Ihr seid mir natürlich auch ein gern gesehener Gast.“Santana saß auf einem mit rotem Samt bezogenen Kanapee. Sie war die Geschäftsführerin des Miracle und natürlich ein Succubus. Darian hatte keine Ahnung, wie alt sie sein mochte, aber sie war unter den ihren eine Ikone. Sie trug ein langes, eng anliegendes, schwarzes Kleid. Der untere Saum war tief eingeschnitten und öffnete den Blick auf ebenmäßig gebräunte, makellose Schenkel, während ihre üppige Oberweite in ein aufreizendes Dekolleté gebettet war. Ihre wilde Mähne roten Haares ergoss sich wie flüssiges Feuer über ihren Rücken und ihre Brüste. Die roten Haare bildeten einen verführerischen Kontrast zu ihren stechend grünen Augen. Darian wusste, dass sie jeden Mann mit diesen Augen in ihren Bann ziehen konnte. Jeden. Außer ihm.

„Also, wie darf ich Euch zu Diensten sein, Krieger? Ich würde mich auch zu gern selbst um einige Belange Eurerseits kümmern, wenn Ihr es wünscht.“ Ihre Stimme hallte merkwürdig im Raum, umfloss ihn wie Seide. Sie lehnte ihren Oberkörper etwas zurück, um ihre prallen Brüste noch mehr zur Geltung zu bringen.

„Es ist ein offizieller Besuch.“ Ausdruckslos sah er zu ihr hinunter. „Gab es in letzter Zeit irgendwelche Neuigkeiten, die ich wissen sollte?“

Santanas Miene änderte sich kurz und er merkte, wie sie die aufkommende Wut über die brüske Zurückweisung verdrängte. Trotz ihrer Herkunft war sie ein Profi. Mit gespitzten Fingern zupfte sie den Ausschnitt ihres Kleides zurecht. „Nun, Krieger, es gibt immer Neuigkeiten. Das wisst Ihr. Ihr müsst schon deutlicher werden.“ Ihre Stimme klang kalt, aber nicht unhöflich.

Er lehnte sich zu ihr hinunter, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten, und sagte leise: „Ich muss dich nicht daran erinnern, was wir mit Leuten machen, die ihren Mund nicht halten können, oder?“

Santana hielt seinem bohrenden Blick stand. „Nein, Krieger. Das weiß ich nur zu gut.“

„Uns sind Informationen zu Ohren gekommen, dass sich ein Orakel in der Stadt aufhält.“ Langsam richtete er sich wieder auf. „Wir wissen weder Geschlecht noch Alter oder Aussehen. Was weißt du darüber?“

„Es gibt andauernd Gerüchte über angebliche Orakel“, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Alles menschliche Scharlatane, wie sich herausstellte.“

„Wir sind diesmal sicher. Unsere Quelle ist zuverlässig.“

Santana nickte schweigend, während sie ihn misstrauisch musterte. Er wusste, dass sie über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nachdachte.

„Ich werde meine Mädchen und Jungs fragen, ob sie etwas gesehen oder gehört haben.“ Als Darian nur die Augenbrauen hob, sich allerdings nicht von der Stelle rührte, seufzte sie. „Gut, ich werde sie jetzt fragen. Macht es Euch so lange bequem. Es könnte ein paar Minuten dauern, bis ich alle gefunden habe.“

Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Der Clan hatte Informationen darüber, dass das Miracle ein großer Laden war und mindestens zwanzig Personen für Santana arbeiteten. Aber ihm war klar, dass er sie mit seiner Zurückweisung gereizt hatte und sie froh war, wenn er wieder verschwand. Also dürfte es verhältnismäßig schnell gehen. Succubi und Incubi waren nicht ohne Grund wenig angesehen. Der Umgang mit ihnen gestaltete sich bisweilen schwierig. Wobei es Darian schwererfiel, mit Elfen oder Dryaden zu reden. Aber ob er sie mochte oder nicht war unerheblich, die Succubi und Incubi waren wichtig in ihrer Welt. Nicht nur, weil einige unter ihnen mächtige Fähigkeiten hatten, sondern weil sie den ihren eine Beschäftigung gaben. Es gab nichts Schlimmeres als ein übernatürliches Wesen mit zu viel Zeit.

Nach etwa fünfzehn Minuten öffnete sich die Tür, und Santana kam mit einem anderen Succubus wieder herein. „Das ist Milena.“ Die Succubus senkte elegant den Kopf und verharrte eine Weile in dieser unterwürfigen Position. Santana musste ihr bereits eingeschärft haben, dass er nicht zum Spielen hier war, denn sie unternahm nichts weiter. „Sie hatte vorgestern einen Kunden, der vielleicht etwas für Euch wäre. Alle anderen haben nichts gesehen oder gehört.“

Santana nahm wieder ihren Platz auf dem Kanapee ein und winkte Milena zu sich. Diese richtete sich langsam auf, wobei ein Träger ihres Oberteils leicht verrutschte. Da sie sich nicht anschickte, diesen Umstand zu korrigieren, war es wohl beabsichtigt. Sie konnten es einfach nicht lassen.Er ging nicht auf ihre Spielchen ein und wartete geduldig, bis Milena sich vor Santana auf das Kanapee gesetzt hatte. Als Santana sanft anfing, den Nacken Milenas zu kraulen, hatte er allerdings genug.„Also, was hast du gehört?“

Sein Ton war schroff genug, sie zum Reden zu bewegen. „Der Kunde war ein Mensch. Kommt öfter hierher. Meistens unter der Woche, wenn seine Frau arbeitet.“ Ein süffisantes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Er bevorzugt unsere Künste im Liebesspiel. Seine Frau langweilt ihn.“

„Das interessiert mich nicht, komm zum Wesentlichen.“

Sichtlich gekränkt sprach sie weiter. „Vorgestern war er schon leicht angetrunken und hat von einer Fügung des Schicksals gesprochen.“ Sie verdrehte arrogant die Augen. „Er war nicht von dieser Frau abzubringen. Ich musste mich fast um seine Aufmerksamkeit bemühen.“

„Was für eine Frau?“

„Er erzählte immer wieder, welch ein Glück er gehabt hatte, weil eine Kellnerin ihm absichtlich Ketchup über sein Hemd geschüttet hat.“

„Und was ist daran eine Fügung des Schicksals?“ Langsam beschlich Darian die Ahnung, dass dies hier pure Zeitverschwendung war.

„Nun ja, er musste nach Hause und sich umziehen. Und nur, weil er nochmal zurück zu seiner Wohnung fuhr, bemerkte er, dass er den Herd angelassen hatte. Seine ganze Bude wäre abgebrannt.“ Sie kicherte. „Geschähe ihm ganz recht. Er ist geizig.“

„Ist das alles?“

„Ja. Sonst hat er nichts gesagt.“

„Wie heißt der Kerl?“ Darian stellte die Frage direkt an Santana.

„Du kannst gehen, mein Liebling. Dein Kunde wartet auf dich“, schnurrte sie zu Milena, die sich erhob, verbeugte und hinausging, aber nicht ohne vorher noch so nah an ihm vorbeizustreichen, dass ihre Brust seinen Oberarm berührte.

„Wir behandeln unsere Kunden diskret.“ Schon wollte er sie daran erinnern, mit wem sie sprach, aber sie redete weiter. „Für Euch mache ich natürlich gern eine Ausnahme.“ Völlig lautlos schritt sie zu ihrem Schreibtisch. „Wir führen Akten über unsere Stammkunden. Wir wissen gern, mit wem wir es zu tun haben.“ Sie zog eine braune Mappe aus einer Schublade und öffnete sie. „Er heißt Hank Johnson. Er wohnt in der Parish Road und betreibt eine Bar im Ostbezirk. Das ist alles, was wir wissen. Er mag seine Partnerinnen unterwürfig und fügsam. Zudem mag er es, wenn …“

„Ich denke, das reicht mir. Wir wissen deine Kooperation zu schätzen, Santana.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging hinaus.

Während er in sein Auto stieg und zurück zum Anwesen fuhr, dachte er über die Informationen nach. Es war unwahrscheinlich, dass an dieser Kellnerin etwas dran war. Orakel waren zu mächtig, um sich mit Bagatellen wie einem angelassenen Herd abzugeben. Zudem sah er keinen Grund, warum ein Orakel in einer Bar arbeiten sollte.

Selbst wenn sie keinen Wächter hatte, dürfte sie wohl kaum Probleme haben, im Lotto zu gewinnen oder sich beim Pferderennen richtig zu entscheiden. An Geld zu kommen war für Orakel kein Problem.

Zurück auf dem Anwesen beschloss er, sich erst anzuhören, was die anderen Krieger herausgefunden hatten, bevor er weitere Schritte unternahm.

„Er ist noch nicht zurück. Genau wie die anderen.“

Nur eine Person schaffte es, sich so lautlos zu bewegen, dass nicht einmal er es hörte.„Lillian! Ich könnte fast so weit gehen, zu sagen, dass ich Elfen nicht besonders mag.“

„Du magst es nur nicht, erschreckt zu werden.“ Als er sich umdrehte, schaute er in Lillians weiches, gütiges Gesicht. „Und du magst tatsächlich keine Elfen.“

„Stimmt beides. Aber du bist eine Ausnahme. Wo ist Mennox?“ Er war über eine Stunde unterwegs gewesen und hatte erwartet, zumindest ihn wieder hier anzutreffen.

„Während einer seiner halbstündigen Kontrollanrufe meinte er, es würde noch eine Weile dauern.“ Seufzend verdrehte sie die Augen.

„Er meint es nur gut. Er sorgt sich um dich.“

„Schon möglich. Er geht mir trotzdem auf die Nerven. Wenn ich mir vorstelle, dass er sich die nächsten fünf Monate so verhält …“ In einer typischen Geste, die alle werdenden Mütter innehatten, legte sie die Hände auf ihren rundlichen Bauch. Als Darian im Geiste die Jahre überschlug, kam er zu dem Schluss, dass er sich schon fast nicht mehr an eine Zeit ohne Lillian erinnerte.

„Ich denke, es wird eher schlimmer werden.“

Gespielt böse sah sie ihn an. Lillian wurde nie sauer, sie war die Sanftmut in Person und liebte Mennox abgöttisch. Dieser wiederum war nicht minder vernarrt in seine Frau. Darian verstand seinen Anführer. Sie kümmerte sich um die Krieger, flickte sie zusammen und hatte stets ein offenes Ohr für jeden. Dank ihrer heilenden Gabe konnte keine Wunde sie überfordern. Und als hätte sie damit nicht genug um die Ohren, betreute sie ehrenamtlich eine Frauenklinik für Übernatürliche.

Ganz anders als die übrigen Mitglieder ihrer Rasse. Statussymbole, Geld und Macht war alles, was die oberen fünftausend ihrer Gesellschaft interessierte und Altruismus war ein Fremdwort.

Noch dazu war Lillian eine Schönheit ihrer Art. Die langen, blonden Haare, karamellfarbene Haut und Augen, die selbst ihn ab und an sprachlos machten. Mennox war wirklich ein Glückpilz. Ein kleiner Stich zuckte seine Wirbelsäule empor. Gemeinschaft, Partnerschaft, Liebe. Neid? Er fragte sich oft, wie es wäre, wenn er eine Gefährtin fände. Aber er verscheuchte die Gedanken, denn er konnte es sich nicht vorstellen. Er lebte zwar nicht abstinent, aber zum einen traf er selten eine Frau, die ihn interessierte, und zum anderen fand er nicht wirklich Gefallen an flüchtigen sexuellen Begegnungen. Eine Bindung auf Lebenszeit? Darauf konnte er getrost verzichten. Und diejenigen, die er liebte, konnten gut auf sich selbst aufpassen. Somit musste er sich keine Sorgen machen.

„Liam und Calli waren vor zwanzig Minuten hier, sind aber sofort wieder aufgebrochen, um etwas zu überprüfen.“ Sie zuckte ahnungslos mit den Schultern.

„Na gut. Dann werde ich mich hinhauen.“ Er wandte sich zum Gehen um. „Gute Nacht.“

„Was ist los mit dir, Darian?“

Abrupt blieb er stehen. Lillian war eine mächtige Heilerin und dazu noch sehr begabt darin, die Probleme anderer förmlich zu riechen. „Nichts. Alles in Ordnung. Es war ein langer Tag.“ Er hoffte, sie hörte seine brüchige Stimme nicht.

„Das glaube ich dir nicht. Du hast dich verändert. Ich weiß nicht warum, aber ich kann es spüren. Du ziehst dich immer mehr zurück. Manchmal vergehen Tage, ohne dass dich jemand im Haus sieht.“ Sie machte eine kurze Pause und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Was bedrückt dich?“

Das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen. Er drehte sich um und nahm ihre Hand von seiner Schulter. „Ich bin ein Krieger. Mich bedrückt nichts“, presste er hervor. „Ich mache meine Arbeit gut, bin mit vollem Einsatz dabei. Niemand hat das Recht, mir etwas vorzuwerfen. Und auf kuschelweiches Psychogerede kann ich gut verzichten.“

Ungerührt nahm Lillian seine harschen Worte hin. „Ich mache mir Sorgen um den Clan, um meine Familie, Darian. Zu der du nun mal gehörst, ob du willst oder nicht.“ Ruhig und gelassen verschwand sie in Mennox’ Arbeitszimmer.

Wie gelähmt blieb er auf dem Flur stehen. So schnell seine Wut kam, war sie auch schon wieder verraucht. Idiot! Kopfschüttelnd fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und fragte sich, was ihn soeben geritten hatte. Sie hatte recht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, aber er wusste selbst nicht was. Er schlief schlecht, seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe, quälten ihn. Familie. Dieses Wort hallte in seinem Kopf wider. Er sah den Clan als seine Familie an, aber etwas fehlte ihm. Die Leere, die er empfand, breitete sich jeden Tag ein Stückchen mehr aus, und nichts schien sie füllen zu können.

*

„Du bist zu spät.“

„Nein, Max“, sagte Mercy sanft und schob die Wolldecke so weit runter, bis sie ein Gesicht sehen konnte. Unwillkürlich musste sie lächeln. Wie fast immer, wenn sie Max sah. Erst recht, wenn er so aussah wie in diesem Moment. Wild zerzauste Haare und den Schlaf noch in den Augen. Mein süßer Junge. Ihr Herz zog sich fast schmerzvoll zusammen.

Er gähnte herzhaft. „Ich wollte auf dich warten, aber“, er gähnte nochmals, „ich wollte nicht auf der Couch einschlafen.“

„Du bist hier sicher, wirklich. Du musst nicht in der Wanne schlafen.“

„Deshalb klebst du immer Haare an unsere Tür?“Mist.

„Und deshalb rufst du mich alle zwanzig Minuten an?“Sie verdrehte die Augen.

„Und deshalb … Hey, ich bin kein Baby mehr.“

Eine Hand unter das Deckenknäuel geschoben, hob sie ihn hoch in ihre Arme. Trotz seiner Bemerkung wehrte er sich nicht. Im Gegenteil, er legte seine dünnen Ärmchen um ihren Hals, als sie ihm einen Kuss auf seine Stirn drückte. Im Wohnzimmer ließ sie sich mit ihm zusammen auf die Couch fallen. Er bewegte sich nicht, sondern blieb auf ihrem Schoß sitzen. Stöhnend streifte sie sich ihre Schuhe von den Füßen. Gott, tat das gut. „Na, was hast du heute Abend gemacht?“

Er spielte mit einer ihrer Haarsträhnen und bettete seinen Kopf an ihren Hals. So unschuldig. Ja, er musste schneller erwachsen werden als andere Kinder. Aber in Momenten wie diesen wurde Mercy bewusst, dass er erst zehn Jahre alt war. „Nichts Besonderes. Hab die meiste Zeit ferngesehen.“

„Hast du weiter gelesen?“

„Das Buch ist bescheuert.“ Er stöhnte. „Es ist total langweilig. Außerdem kann ich schon richtig gut lesen.“

„Wir hatten eine Abmachung. Du musst jeden Tag ein Kapitel lesen, und wenn du das Buch fertig hast, gehen wir ins Kino.“Sie hatte sich nur schweren Herzens auf diesen Deal eingelassen. Kino bedeutete erstens Ausgaben, die sie nicht ohne Weiteres bezahlen konnte, und zweitens Menschen. Viele Menschen. Viele gefährliche Menschen. Aber auf diese Weise konnte sie das Thema Schule umschiffen. Sie wusste, dass er wie andere Zehnjährige zur Schule gehen wollte und den Heimunterricht mit ihr langweilig fand. Eine private Schule befand sich weit außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten. Und eine öffentliche Schule war zu gefährlich. Was blieb ihr also anderes übrig?

„Aber trotzdem“, brummte Max.

„Willst du denn nicht mehr ins Kino gehen?“

„Doch, schon.“

Mercy lehnte ihren Kopf zurück und zog sein Gesicht hoch, sodass sie in seine Augen schauen konnte. „Stimmt etwas nicht?“

„Ich weiß nicht.“ Bedrückt senkte er den Kopf.

„Na komm schon. Was ist los? Sag’s mir oder ich muss es aus dir rauskitzeln.“

Er blieb ernst.„Du bist nicht glücklich.“

Der Ton, in dem Max diese Worte sprach, ließ ihre Brust schmerzen. Er sollte sich um sie keine Sorgen machen. Er war jung. Er sollte spielen. Er sollte Spaß haben. Er sollte … alles, aber nicht solche Gedanken haben. „Du redest Unsinn.“ Mit Schwung nahm sie ihn hoch und warf ihn neben sich auf die Couch. „Ich muss den Unsinn also wirklich aus dir herauskitzeln. Es tut mir leid, aber mir bleibt keine andere Wahl.“

„Nein … Nein!“

Er verschluckte sich fast vor Lachen, als er anfing, sich unter ihren Fingerspitzen zu winden. Er hatte ein wundervolles Lachen. Sie könnte es stundenlang hören. Es hatte etwas Ansteckendes. Wenn er anfing zu lachen, konnte sie meist nicht anders als mit einzustimmen. Der Klang legte sich wie ein beruhigendes Pflaster auf ihre geschundene Seele.

Sie hielt kurz inne. „Und? Wirst du nun aufhören mit dem Trübsal blasen?“

Grinsend schnappte er nach Luft. „Das sind unfaire Mittel!“

„Du zwingst mich dazu, also beschwer dich nicht.“

Er setzte sich, immer noch schwer atmend, aufrecht neben sie und legte seinen Kopf an ihre Schulter. „Ich weiß, dass du nicht gern mit vielen fremden Leuten zusammen bist.“

Er war besorgt um sie. „Okay. Also, was willst du am Wochenende machen?“

„Wie immer“, sagte er lustlos. Ihre Wochenenden bestanden meist aus Fernsehen oder erfundenen Würfelspielen.

„Vielleicht könnten wir mal in den Park gehen. Oder ein Eis essen, dachte ich. Ich verspreche dir, es ist völlig in Ordnung für mich.“ Sie stupste ihn mit den Fingern an.

Max’ Kopf schoss in die Höhe und traf sie schmerzhaft am Kinn.

„Au! War ja nur ein Vorschlag, du musst mich nicht gleich ausknocken“, rief sie lachend.

Doch er schaute sie nur mit weit aufgerissenen Augen an. „Tschuldige! Wirklich? Also so richtig raus gehen? In den Park zu anderen Menschen? Eis essen? So viel ich will?“

„Jaund nein, sonst wird dir schlecht.“

„Und es macht dir wirklich nichts aus?“

Es fiel ihr nicht leicht, aber nun gab es kein Zurück mehr. Sie wusste, dass sie ihr Versprechen halten musste. Doch für Max schluckte sie ihre lähmende Angst runter und nickte tapfer.

„O Mercy!“, rief er. „Das wird super! Hoffentlich regnet es nicht. Obwohl, es könnte schneien! Dann könnten wir Schlitten fahren gehen! Ich war noch nie Schlittenfahren.“

„Ich glaube, es ist noch zu warm für Schnee, mein Kleiner.“

„Ach, vielleicht wird es ja noch kälter. Wenn nicht, können wir ja im Winter nochmal raus gehen und dann Schlitten fahren. Oder einen Schneemann bauen! Oder …“

Eine Stunde später war Max in ihren Armen eingeschlafen. Es hatte lange gedauert, bis sie ihn einigermaßen beruhigen konnte. Ununterbrochen redete er davon, welches Eis er unbedingt probieren wollte und was sie alles tun könnten. Vorsichtig stand sie auf. Sie brauchte einen Moment für sich.Im Badezimmer ließ sie sich resigniert auf den Rand der Badewanne sinken. Wie konnte sie es nur soweit kommen lassen? Der Junge machte sich Sorgen um sie? Völlig absurd. Die letzten zwei Jahre war sie so sehr damit beschäftigt gewesen, ihn zu beschützen, dass sie ihn mehr und mehr in Watte packte. Sie ging kaum noch mit ihm hinaus. Erst wenn ich mir sicher bin. Erst wenn ich mir ganz sicher bin, dass ihm nichts passiert. Erst wenn ich ganz, ganz sicher bin. Das sagte sie sich immer und immer wieder. Aber langsam wurde ihr klar, dass sie diesen Punkt niemals erreichen würde.

Wütend über sich selbst, schlug sie mit der Hand auf den Wannenrand. Sie raubte ihm noch seine Kindheit mit ihrer übertriebenen Vorsicht. Sie gab ihm zu essen, selbst wenn sie selbst tagelang nichts Richtiges aß. Sie kaufte ihm neue Kleider, während sie selbst ihre Kleider trug, bis sie ihr förmlich vom Körper fielen. Sie tat alles, was in ihrer Macht stand, um ihn glücklich zu machen. Und doch reichte es nicht. Er verdiente ein besseres Leben. Ein Leben ohne Angst. Mit Freunden und Geburtstagspartys und der Freiheit, ein Kind zu sein. Tränen rannen ihre Wangen hinab.War sie verrückt? Stimmte tatsächlich irgendetwas nicht in ihrem Kopf? Sie sah Dinge. Nicht oft, aber es raubte ihr das letzte bisschen ihres Verstandes. Wie sollte man auch nicht krankhaft paranoid werden, wenn man im Teenageralter bereits die verstörenden Bilder seines eigenen Todes sah?

Vor einigen Wochen hatte sie gedacht, dass endlich alles in Ordnung käme, denn die Vorahnungen blieben aus. Wie eine Kerze, die man ausgepustet hatte. Einerseits war sie dankbar darüber, andererseits genügte nun bereits der seltsame Blick eines Fremden, um sie zu verunsichern. Als sie mit dem Gedanken spielte, aus Silversprings wieder wegzuziehen, kam ihr Fluch zurück. Zum ersten Mal sah sie etwas, was nur indirekt sie selbst betraf. Kein Mord. Kein Blut. Keine Entführung. Sondern ihren Chef. Sie sah, wie sein Haus abbrannte. Also kippte sie ihm Ketchup über das Hemd, um ihn zum Umziehen nach Hause zu locken. Sie wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber der Fluch ließ ihr keine Wahl. Für gewöhnlich sah sie die grausigen Szenen nur mit sich selbst in der Hauptrolle. Sie sah sich in einem feuchten Keller hocken, blutverschmiert und in Ketten gefesselt. Ein anderes Mal sah sie Max, bleich und leblos in ihren Armen. Also lief sie davon. Die schrecklichen Bilder im Nacken, zog sie in eine andere Stadt, nahm eine andere Identität an. Aber wohin sie auch ging, irgendwann fand es sie. Was genau dieses es war, wusste sie nicht. Nacht um Nacht hatte sie sich das Hirn zermartert. Wer machte Jagd auf sie? Und vor allem warum? Oder war alles nur ein Hirngespinst? Eine wirre Realität, von einem kranken Geist konstruiert?

„Mercy?“ Erschrocken riss Max’ Stimme sie aus ihrer Grübelei.

„Ich komme gleich!“, rief sie. Hastig wischte sie sich die Tränen mit ihren Ärmeln ab. Sei stark! Für ihn! Die ungeklärte Frage, ob sie verrückt war oder nur eine Laune der Natur, im Hinterkopf behaltend, ging sie wieder ins Wohnzimmer. „Schlaf jetzt, mein Kleiner“, sagte sie leise zu ihm, als er sich wieder an sie kuschelte.Bald darauf konnte sie seinen regelmäßigen Atem hören. Sie grübelte aber noch lange in die Nacht hinein, bis der Schlaf sie endlich übermannte. Noch nicht einmal ein richtiges Bett, waren ihre letzten Gedanken.

*

„Absolute Fehlanzeige“, sagte Callista. „Der Typ war ein Hochstapler. Hat behauptet, er könne in die Zukunft blicken und hat so leichtgläubigen Leuten ihr Geld aus der Tasche geleiert.“

„Ja, er hat ihr prophezeit, dass sie mal vier Kinder haben wird. Ihr hättet ihr Gesicht sehen sollen!“, rief Liam und brach in schallendes Gelächter aus.

„Halt den Schnabel oder ich stopf ihn dir!“

Immer noch lachend winkte er ab. „Nein, lass lieber. Heb dir deinen Zorn für deine Sprösslinge auf.“

„Du blöder …“

„Sonst noch etwas von Bedeutung, Calli?“, fragte Mennox mit lauter Stimme über den Konferenztisch hinweg und brachte sie beide zum Schweigen.