Gemeinsam allein - Christoph Hackl - E-Book

Gemeinsam allein E-Book

Christoph Hackl

4,9

Beschreibung

Isabell und Victoria. Zwei Frauen mit der gleichen, verstörenden Vergangenheit: das Schulinternat und seine Erzieher. Beste Freundinnen, denen das Gleiche angetan wurde und die noch nie darüber gesprochen haben. Freundinnen, die bereits ein langes Stück ihres Lebensweges gemeinsam gehen und deren Leben dennoch nicht unterschiedlicher sein könnten. Doch nun kann Isabell die Augen nicht länger verschließen. Sie muss herausfinden, ob da wirklich etwas läuft zwischen ihrer besten Freundin und ihrem Mann. Doch um die Zukunft zu bewältigen, muss sie sich erst der Vergangenheit stellen...

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An die geneigte Leserin, den geneigten Leser!

In meiner Jugendzeit war es noch in Mode, bei einem der Hitsender anzurufen und über das Telefon einen Song zu bestellen, den man gerne wieder einmal hören wollte. Auch ich habe voller Elan diese Nummer gewählt und gebannt der Ansage gelauscht, die mich sodann aufforderte, mir einen kreativen Text auszudenken, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass mein Wunsch auch berücksichtigt wurde. Da der Piepton mich unmittelbar danach erinnerte, meine Ansage zu beginnen, blieb mir nicht viel Zeit zum Nachdenken. Und mein spontaner Text enthielt sodann in etwa den Wortlaut, dass der Song für mich sein sollte, für mich, und zwar nur für mich. Ich denke, ich habe die Ansage nie im Radio gehört.

Warum erzähle ich Ihnen das?

Mit dem Buch ist es mir ähnlich ergangen. Ich hatte nicht geplant, ein Buch zu schreiben. Ich habe eines geschrieben, weil das behandelte Thema mich berührt. Mir die Schicksale von jungen Menschen, die in der Hand von Erwachsenen liegen und so in hohem Maße von ihnen beeinflusst werden, nahegehen. Und weil ich versuchen wollte, daraus eine Geschichte zu machen. Weil es mich fasziniert hat, mir einen Inhalt auszudenken, verschiedene Teile zu recherchieren und andere wiederum allein aus meinem Kopf herauszuholen. Ohne Konnex zur Realität, ohne Anspruch auf fundierte historische Tatsachen. Und so bitte ich Sie als Leser, das Buch auch zu betrachten. Es ist eine Geschichte. Eine mit Ecken und Kanten, mit Wahrem und mit Erfundenem. Ich hoffe, dass sich niemand dadurch verletzt, in die Enge gedrängt oder gar angegriffen fühlt, sondern dass jeder Leser etwas davon mitnimmt, und seien es nur ein paar gebannte, mit Lesen gefüllte Stunden.

Inhaltsverzeichnis

Szene 1: 1982 – irgendwo in Wien: Der Kakao

Szene 2: 2011 – südlich von Wien: Guten Morgen

Szene 3: In der Arbeit

Szene 4: Victoria

Szene 5: Guten Abend

Szene 6: Victoria und Gregor

Szene 7: 1982: Ohnmacht

Szene 8: Isabell und Victoria

Szene 9: Wochenende

Szene 10: Elternabend

Szene 11: Victoria & Thomas

Szene 12: Isabells Vater

Szene 13: Geschäft vorbei – alles vorbei?

Szene 14: So einfach?

Szene 15: Victoria & Isabell

Szene 16: Alternativen

Szene 17: Bei den Schwiegereltern

Szene 18: An- und Abpfiff

Szene 19: Kündigung

Szene 20: Alles oder nichts

Szene 21: Auszeit

Szene 11982 – irgendwo in WienDer Kakao

„Isabell, Isabell, wo steckst du? Es ist Zeit für den Abendkakao! Nun komm schon, wir trinken jeden Abend einen zusammen, du weißt, dass er gut fürs Einschlafen ist.“

Isabell hörte sein Rufen, so wie beinahe jeden Tag in den letzten eineinhalb Jahren. Sie hatte die Geschichte von den älteren Schülerinnen gehört. Sobald er sieht, dass sich bei dir was entwickelt, bist du fällig. Sie wollte die Geschichten nicht glauben, so was gab es doch höchstens noch in den 60er-Jahren oder vielleicht im Film. Hatte sie so was überhaupt schon mal in einem Film gesehen? Nicht einmal die trauten sich, das zu zeigen! Und dann sollte das ausgerechnet hier im Agustaheim passieren. In diesem Heim, das ihr nach zwei Jahren endlich zur Heimat geworden war. Nachdem ihre Eltern den glorreichen Entschluss gefasst hatten, dass sie in einem Internat besser aufgehoben wäre, weil sich eine junge Frau doch dort viel besser entwickeln und selbstständig werden könnte.

Sie hatte nie verstanden, warum die Leute glaubten, man wäre mit zehn schon eine junge Frau. Heute wünschte sie sich, sie wäre mit ihren zwölf Jahren immer noch keine. Dann würde heute nicht wieder Kakaotrinken auf dem Programm stehen. Und ihre Eltern ahnten nichts davon, obwohl sie nur einen Steinwurf von hier entfernt wohnten. Wenn Isabell sich jetzt aus ihrer dunklen Höhle, die sie sich im Kasten gebaut hatte, rauswagen, den Weg zur Halle erfolgreich überstehen würde und irgendwo draußen über den Zaun klettern könnte – das Tor wurde ja abends immer versperrt, man weiß ja nie welch üble Subjekte draußen herumschleichen – dann könnte sie noch die S-Bahn um halb Zehn erreichen.

Mit der wäre sie in einer halben Stunde bei der Haltestelle Siebenhirten. Von dort wären es zehn Minuten zu Fuß nach Hause. Sie könnte ihrem Vater das Herz ausschütten, ihm alles erzählen.

Ihm alles erzählen? Was sollte sie ihm erzählen?

Dass Herr Kaminski jeden Abend seinen Kakao in ihre Tasse entleerte? Dass er dabei röhrte wie ein brunftiger Hirsch und sie sich immer wunderte, dass ihn niemand hörte. Dass er danach über ihr zusammenbrach und diese zwei Minuten viel ärger waren als der körperliche Schmerz davor. Wenn er sie ansah, anlächelte, ihr sanft über die Wange streichelte und fragte, ob es ihr auch wieder so gut gefallen habe. Sie fragte sich manchmal, ob er das auch wirklich glaubte. Es sah nicht gespielt aus. In diesen Momenten wirkte ihr Erzieher so glücklich, gelöst, nicht so verkniffen wie sonst, wenn er untertags, während sie alle von der Schule kamen, auf den Gängen herumschlich. Und gerade das machte es unerträglich: Diese Momente hatten keinen Funken Glück in sich. Sie waren der physische Ausdruck dafür, was sich in ihr den ganzen Tag abspielte. Der schwere Männerkörper auf ihr, der ihr fast die Luft abschnürte, zeigte ihr, dass es kein Entkommen gab, sie konnte nur warten und hoffen, dass die Schule bald vorbei war – schließlich war sie schon im vorletzten Jahr und es war bereits Februar – oder andere junge Mädchen heran reiften und sie dann in Ruhe gelassen wurde.

Gleichzeitig erfüllte sie der Gedanke mit Entsetzen. Sie wünschte sich, dass einem anderem Kind das gleiche Schicksal widerfuhr wie ihr, nur damit sie befreiter atmen konnte. Das war nicht schicklich und schon gar nicht gottgefällig! Und all das sollte sie ihrem Vater erzählen? Auf keinen Fall! Es würde schon vorbeigehen, jetzt kamen erst mal die Semesterferien, eine Woche zu Hause und dann…

„Isabell, hör auf, Verstecken zu spielen, ich muss auch noch die anderen Mädchen ins Bett bringen!“

Die anderen Mädchen, das war unter anderem Victoria. Victoria war Isabells beste Freundin. Das war nicht immer so gewesen. Am Anfang hatte Isabell Victoria für zu verrückt gehalten. Ständig versuchte sie, irgendwelche Streiche zu machen, im ersten halben Jahr war sie zudem zweimal aus dem Internat weggelaufen. Und das mit zehn?

So was machte ein Mädchen nicht. Aber vor einiger Zeit hatte sich etwas geändert. Victoria hatte begonnen, sie mit einem merkwürdigen Blick zu bedenken. Prüfend und gleichzeitig auch mitfühlend. Zuerst hatte Isabell sich dabei unwohl gefühlt, aber weil Victoria keine bohrenden Fragen stellte, hatte sie Vertrauen gefasst und dabei festgestellt, dass sie keine üble Zeitgenossin war. Vielleicht sogar im Gegenteil: Wenn Victoria dabei war, schien die Zeit wie im Flug zu vergehen. Selbst Studierstunden gerieten dabei zu kleinen Abenteuern. Wer sonst würde es schon wagen, der Aufsicht zerriebene, getrocknete Motten auf den Kaffee zu streuen, wenn man wieder einmal dran war, welchen zu holen, und dann auch noch zu behaupten, dass man in der Küche einen Kakaostreuer gefunden habe und nur Gutes tun wollte. Wo hatte sie überhaupt die ganzen Motten her? Und wo trocknete sie die?

Sie wohnten schon seit zweieinhalb Jahren im gleichen Zimmer, aber das war ihr noch nie aufgefallen. Sie musste sie bei Gelegenheit einmal fragen. Aber da war auch noch eine andere Seite an Victoria: Manchmal war sie am Morgen einsilbig, in sich gekehrt, sprach in der Schule nur, wenn sie direkt dazu aufgefordert wurde, normalerweise hatte sie die Hand ja schon oben, bevor überhaupt eine Frage gestellt wurde. Ob sie wohl auch gelegentlich zum Kakaotrinken gehen musste? Aber Isabell fragte nicht nach, wie auch Victoria sie nicht danach fragte. Es war doch viel besser, sich die Zeit mit angenehmeren Dingen zu vertreiben und sich von den Nächten abzulenken, und mittags war Victoria auch schon wieder ganz die Alte.

„Isabell, verdammt mir reichts jetzt. Soll ich das ganze Haus zusammentrommeln und danach deine Eltern informieren, dass ich alle Leute aufwecken musste, nur weil du nicht zu Bett gehen wolltest?!“

Sie wollte schon zurückschreien: Ja, vielleicht geschieht dann endlich mal etwas. Aber dann wusste sie, dass es nichts ändern würde, außer dass er beim nächsten Mal noch brutaler sein würde. Er würde es an ihr auslassen, vielleicht an Victoria oder an einem anderen Mädchen, dass das Unglück hatte, zum falschen Zeitpunkt Ansätze von Brüsten zu zeigen.

Sie seufzte tief und tat, was sie in den letzten Monaten immer wieder geübt hatte: Sich von sich selbst zu entfernen. Victoria hatte ihr das gezeigt, sie hatten zwar nicht darüber gesprochen, woher sie wusste, wie das geht, und warum beide das so dringend brauchten, aber sie hatten in regelmäßigem Einklang geübt. Gedanklich war sie bei ihren Großeltern am Land, die hatten ein Haus am Traunsee. Der See, der im Herbst so friedlich dalag, und wenn das ganze Land von Nebel durchzogen war, kam plötzlich untertags die Sonne hervor und tauchte das Schloss Orth und den dahinterliegenden See in gleißendes Sonnenlicht, als würde alles von Gott persönlich beleuchtet werden. Dort gab es keine Schmerzen, keine Vergewaltigung zum Kakao, nur heiteres und ausgelassenes Kinderlachen, ein paradiesisches Stückchen Welt.

Ihre Füße erhoben sich aus der hockenden Stellung, die sie in der letzten halben Stunde in ihrer Höhle im Kasteneck zugebracht hatte. Ihre Hände stießen die Tür von innen auf und ihr Körper bewegte sich raus auf den Gang, wo Herr Kaminski sie schon mit einer Mischung aus Ärger und Vorfreude in Empfang nahm und in das Erzieherzimmer mitnahm, in dem es außer dem Schreibtisch und den Bücherregalen auch noch ein Klappbett gab, welches die Erzieher benutzten, wenn es in den Zimmern der Mädchen ruhig wurde und sie sich eine Stunde Schlaf gönnen konnten.

Szene 22011 – südlich von WienGuten Morgen

„Guten Morgen zusammen. Guten Morgen, Schatz!“

Als Viktor in die Küche kommt, sitzen die Kinder bereits beim Frühstück. Isabell drückt auf den Kopf der neuen Espressomaschine. Ein Geschenk von Viktor letztes Jahr zu Weihnachten. Großer Brauner mit viel Milch, aber ohne Zucker, so wie er ihn seit – ja wie lange eigentlich schon –trinkt. Eigentlich, solange Isabell denken kann. Isabell kennt Viktor schon seit frühester Kindheit.

Er war einer der Nachbarsjungen, sogar ein Jahr jünger als sie, aber das hatte nie eine große Rolle gespielt und nach der Ausbildung waren sie sich nähergekommen. Das ist schon achtzehn Jahre her, vor zwölf Jahren haben sie geheiratet. Viktor war in jeder Hinsicht der Mann, den sich Isabell wünschen konnte. Liebevoll, aufmerksam – meistens zumindest – und er nahm Rücksicht. Rücksicht auf ihre Bedürfnisse und Wünsche, aber vor allem auf die Erinnerungen, die seine Frau nach wie vor heimsuchten und die ihr gemeinsames Leben von Anfang an bestimmt hatten.

Aber der Morgen gehört nicht den Erinnerungen, sondern den Vorbereitungen auf einen neuen Tag. Elsbeth, ihre dreizehnjährige Tochter, verdrückt schweigend wie jeden Morgen ihre Marmeladensemmel und schlürft Tee mit Honig. Als sie noch klein gewesen war, hatte es öfter Diskussionen gegeben, weil Elsbeth Tee langweilig gefunden hatte und viel lieber mal einen Kakao wie bei der Oma getrunken hätte, aber Kakao war in diesem Haushalt tabu, wieder eine dieser Erinnerungen. Henrik war hingegen fast nicht am Esstisch in der Küche zu halten. Die normalen Mahlzeiten wurden immer am kleineren Tisch in der Küche eingenommen. Der große Esstisch im Wintergarten wurde nur Sonntag Mittag genutzt und wenn mehr Leute eingeladen waren. Henrik war es egal, wo genau gegessen werden sollte, er war so oder so mehr auf den Beinen als auf dem Hosenboden. Mit seinen neun Jahren begann er immer mehr, die Interessen seines Vaters aufzunehmen. Isabell hatte anfangs verzückt bemerkt, dass der Junge im Aussehen mehr nach ihr schlug. Sein Wuschelkopf, seine verträumten braunen Augen – die an manchen sonnigen Tagen grüne Sprenkel bekamen – und seine stille Art, das alles machte ihn für seine Mutter unwiderstehlich. Aber in letzter Zeit ließ er sich immer weniger drücken und stellte immer häufiger Fragen, die sie nicht beantworten konnte.

Als sein Vater die Küche betritt, springt er sofort auf und will wissen, wann es endlich mit seiner Taschengelderhöhung soweit ist. Mit fünf Euro könne man als Neunjähriger schließlich keine großen Sprünge machen. Er habe schließlich mittlerweile dreimal pro Woche auch am Nachmittag Schule und müsse in der Mittagspause über die Runden kommen. Viktor hingegen – ganz der Finanzer in der Familie – sieht die Sache naturgemäß anders: Was genau soll eine Mittagspause in der Volksschule mit dem erhöhten Verbrauch von Geld zu tun haben?

An der wortreichen Erklärung über die Notwendigkeiten, Süßes und Saures beim Supermarkt zu kaufen, um vor den Anderen nicht als armer Schlucker dazustehen, merkt Isabell wieder einmal, dass es mit der stillen Art des kleinen Henrik vorbei zu sein scheint. Dennoch stutzt sie bei der Erwähnung des „armen Schluckers“. Das ist heute nicht das erste Mal, dass Henrik eine derartige Bemerkung fallen ließ. Sie sind ja beileibe keine armen Leute und Henrik musste auch nie gebrauchte Sachen auftragen, schließlich war seine große Schwester ja eine Schwester und kein Bruder, entsprechend gab es wenig, das hier Verwendung finden könnte. Früher schon, aber daran hatten weder Henrik noch seine Schulgenossen jedwede Erinnerung. Und an mangelnder Markenware konnte es auch nicht liegen. Er rannte natürlich nicht in Klein und Hilfiger herum, aber wer würde einem Neunjährigen ein solches Gewand auch kaufen. Bei den Wachstumsschüben auch pure Verschwendung. Woran konnte es dann liegen? Wer wusste schon, was die Jungen heutzutage als Statussymbole verwendeten und ihr Henrik nicht hatte? Sie musste sich bei Gelegenheit einmal mit der Klassenlehrerin über ihre Beobachtungen unterhalten.

„Viktor, bitte mach ihnen die Jause fertig!“

Es hatte sich zu Hause eingebürgert, dass Isabell eine halbe Stunde früher als Viktor aufstand, die Kinder aufweckte und das Frühstück vorbereitete. Im Gegenzug dazu bereitete Viktor die Pausenbrote – oder was auch immer er dafür hielt – vor und fuhr die Kinder zur Schule. Sie zum Schulbus zu schicken, war leider keine Option, da ihr Haus innerhalb der für die Schulfreifahrt geltenden Zone von zwei Kilometern lag und die Kosten pro Schuljahr mit 560 Euro pro Kind nicht unerheblich waren. Wer hatte wohl so einen Unsinn eingeführt?

Da Viktor aber normalerweise um acht im Büro sein musste, bedeutete es keinen großen Aufwand, die Kinder vorher an der Schule abzusetzen. Es machte ihm sogar richtig Freude, so konnte er auch morgens etwas Zeit mit ihnen verbringen. Vor allem, wenn es abends wieder länger wurde, im Büro oder beim Feierabendbier, war diese Zeit ein Fixpunkt mit seinen Kindern. Ein Fixpunkt, den er auch gerne nutzte, um zu erfahren, ob seinen beiden Lieblingen gutging.

Bei Henrik ist das an diesem Tag wieder unschwer zu erkennen, der Mund scheint fast nicht stillzustehen, aber bei Elsbeth wird das immer schwieriger zu erfahren. Selten, dass sie ihm wirklich mitteilt, was in ihr vorgeht. Er macht sich aber nicht allzu große Gedanken, das war wohl üblich bei Dreizehnjährigen.

An diesem Tag ist aber – so scheint es – ein Ausnahmetag und sie offenbart ihm kurz vor dem Aussteigen, dass sie heute einen Ausflug zur Berufsschulmesse unternehmen würden und sie dafür zwanzig Euro brauchen könne. Man wisse ja nie, was da so passiert. Als er die Beiden abgesetzt hat, geht ihm auf, dass er keine Ahnung hat, für welche weiterführende Schule sich Elsbeth wohl heute interessieren könnte.

Einmal gefragt, hätte er sich nicht eingestanden, dass die Gespräche mit seinen Kindern oberflächlich waren, aber irgendwie war er nie auf die Idee gekommen, dass seine Kleine sich jetzt schon mit dem Thema Berufswahl auseinandersetzen würde und sollte. Er musste abends mit Isabell darüber sprechen, wobei, vielleicht hatte Elsbeth ja ihre Wahl auch schon getroffen, dann würde das sowieso beim Abendessen zur Sprache kommen. Er musste seinen Terminplan checken, damit da nichts dazwischenkam, und Victoria absagen.

Szene 3In der Arbeit

Als alle aus dem Haus sind, räumt Isabell schnell noch das Geschirr in den Spüler und geht sich umziehen. Sie muss um kurz nach neun im Geschäft sein und, da sie die Einzige in der Vormittagsschicht ist, auch den Drogeriemarkt aufsperren. Ein Zuspätkommen ist da nicht drin. Aber zu spät war Isabell noch nie dran gewesen. Auch wenn ihr der Job nicht wirklich Spaß macht, sie macht ihn gut. Sie ist immer pünktlich da, arbeitet genau und in der Kasse gab es in den vergangenen sieben Jahren nie Unregelmäßigkeiten.

Sie denkt – wie jeden Wochentag – zuerst daran, die Beleuchtung im Laden einzuschalten, nachts sind ja nur die Lichter im Schaufenster an, die eventuellen Einbrechern zeigen sollen, dass sie jederzeit beobachtet werden können. Oder sollen sie nur zeigen, dass das ein simpler Drogeriemarkt ist, in dem nicht viel zu holen ist? Ist es für einen Dieb nicht sogar hilfreich, wenn eine etwas schummrige Beleuchtung bei seinem Bruch leuchtet? Dann müsste er nicht mit einer Taschenlampe herumfuchteln, deren Lichtkegel in der Nacht viel auffälliger wäre als das gedämpfte Licht an der Fensterfront. Welche Fragen ihr manchmal durch den Kopf schwirren, ob das wohl ein Zeichen der Langeweile in dem Job ist?

Während sie die nächtliche Lieferung einräumt, wandert ihr Blick aus der Auslage zur gegenüberliegenden Straßenseite. „Mode für die Dame von Welt“ gibt es dort. Ob wohl Frau Portalek, welche das Geschäft seit 40 Jahren führt, auch manchmal diese irren Gedanken heimsuchen?

Ein Wagen mit Waschmitteln und anderen Dingen der vorgestrigen Bestellung stand noch im Gang. Die Lieferung kam jeden zweiten Tag aus der Zentrale in Wiener Neudorf und wurde vom Fahrer irgendwann in der Nacht geliefert. Er hatte einen Schlüssel zur Außentüre, schob die Waren in den Zwischengang und nahm die leeren Wagen, die von Hanni oder Erni aus der Nachmittagsschicht nach draußen gebracht worden waren, wieder mit. In das Geschäft konnte er nicht gelangen, da sperrte nur der Zentralschlüssel, den die Verkäuferinnen und Bernd der neue Regionalleiter hatten.

Einen eigenen Filialleiter gab es hier nicht oder besser gesagt nicht mehr. Die Christiane war damals noch Leiterin gewesen, als Isabell hier vor sieben Jahren angefangen hatte. Aber mit Beginn der Wirtschaftskrise hatte die Konzernleitung beschlossen, Läden mit einem Tagesumsatz von weniger als 1.500 Euro von der Regionalleitung führen zu lassen. Das bedeutete, dass die Kassa am Abend von der Nachmittagsschicht in den großen Tresor gesperrt und der genaue Stand in das elektronische Kassabuch getippt werden musste. Dieses war nur über die Intranethomepage des Konzerns zu erreichen und wurde daher tagesaktuell an die Zentrale und die Regionalleitung übermittelt, die somit gemeinsam mit dem elektronischen Kassasystem auch Hunderte Kilometer entfernt exakt ermitteln konnten, ob der Kassastand korrekt war.

Jeden zweiten Tag kam Bernd dann für zwei bis drei Stunden in die Filiale, sah sich die Lagerstände an, überprüfte die Kassa persönlich und nahm sich der Probleme und Anregungen seines Personals an. Für die Mitarbeiterinnen hatte diese Umstellung nur Mehrarbeit nach sich gezogen. Keine hatte bis jetzt für sich einen Vorteil daraus erkannt. Aber Bernd war ein sehr aufmerksamer junger Chef, über den man nichts sagen konnte.

Soweit Isabell wusste, hatte er auf der Wirtschaftsuniversität studiert und war von dort direkt als Managementtrainee in die Firma eingestiegen. Nachdem er achtzehn Monate im Zentrallager, in der Administration in Wiener Neudorf und an der Kassa in verschiedenen Filialen zugebracht hatte, war ihm ein eigener Rayon zugeteilt worden. Einer mit vielen Filialen mit einem geringen Tagesumsatz, als junger Regionalleiter musste man sich seine Sporen redlich verdienen. Aber er beschwerte sich nicht, zumindest nicht bei Isabell. Das wäre aber auch schwierig gewesen, da sie nur das Nötigste mit ihm sprach. So wie mit allen Männern außer ihrem eigenen, Viktor.

Der war der einzig vertrauenswürdige Mann und daher würdig, dass sie ihm alles erzählte. Er wusste, was in ihr vorging, was sie erlebt hatte, sowohl vor vielen Jahren als auch heute Morgen. Viktor war ihr bester Freund. Das hieß nicht, dass er für all ihre Empfindungen und Wünsche Verständnis hatte oder sie gar guthieß, aber er hörte ihr zu.

Ehrlich, Bernd war schon ein gut aussehender Junge, verträumte Augen, Wuschelkopf, eigentlich gar nicht der Typ gestrenger Chef. Da er ihrem Henrik ähnlichsah, ertappte sie sich öfter mal dabei, ihn etwas länger als nötig anzustarren. So würde ihr Sohn also in 15 Jahren aussehen? Schon richtig erwachsen, aber halt immer noch 14 Jahre jünger als sie. Nein, wieso machte sie sich überhaupt Gedanken wie hoch der Altersunterschied zwischen ihnen war?

Kurz nach Mittag kam Erni in den Dienst, das war die netteste Zeit im Geschäft. Sie hatten zwei Stunden gemeinsam Schicht und wann immer kein Kunde hier war, nutzten sie die Zeit für einen kleinen Plausch. Nicht, dass sie dabei nicht produktiv gewesen wären, sie unterhielten sich halt über die Regalreihen hinweg, es war schließlich ihr Laden. Erni war ein feinsinniger Mensch und Isabell mochte sie wirklich gern. Gerade hatten sie wieder etwas zum Kopfschütteln: Eines dieser jungen Dinger, die wohl noch nie was von Verhütung gehört hatten – wie auch immer das in der heutigen Zeit überhaupt noch möglich war – und darum schon mit siebzehn Mutter geworden waren, war gerade hier gewesen.

Erni und Isabell machten sich einen Sport daraus, zu erkennen, was die Kunden sonst noch in ihren Einkaufstaschen herumtrugen. Bei der Letzteren war es zu einfach gewesen. Sie war vollgestopft mit Fertiggerichten. Alles namhafte Marken, aber das waren doch keine „Lebens“-Mittel. Voll mit Emulgatoren und anderem künstlichen Zeug. So konnte man doch keine Familie gesund ernähren.

Und dann hatte sie bei ihnen auch noch nach einem Plastiksackerl gefragt. Das einfältige Mädchen. Es gab bei ihnen schon seit über einem Jahr keine Einkaufstasche aus Plastik mehr. Nicht weil der Nachschub aus dem Zentrallager nicht vorhanden gewesen wäre, aber man musste sie ja nicht auslegen. Erni war auf die Idee gekommen, als sie wieder einmal über die Umweltverschmutzung diskutiert hatten: Vom Reden wird’s nicht besser, lass uns etwas dagegen machen. Und von da an, gab es bei ihnen in der Filiale nur mehr Papiertragetaschen. Die kosteten aber auch nur sechs Cent mehr als die aus Plastik und es beschwerten sich nur selten Kundinnen. Auch aus der Zentrale hatte noch nie jemand nachgefragt, warum diese nie auf der Bestellung aufschienen.

Und Bernd?

Ja, bei Bernd hatte sie manchmal das Gefühl, er sähe die leeren Haken, auf denen stand „Plastiktasche 0,19 €“. Aber es schien ihm kein großes Anliegen zu sein, den Verkauf dieses Produktes anzukurbeln. Zumal es ja dem Geschäft zuträglich war: Papier kostete 0,25 Euro und somit war man mit jeder Einkaufstasche dem Zielumsatz von 1.500 Euro täglich einen Schritt näher. Wer brauchte allerdings schon einen Filialleiter? Ihnen ging es ohne Chef ganz gut und noch hatten sie nicht gehört, dass jemand an das Zusperren dieser Filiale dachte.

Als Isabell um halb drei das Geschäft verlässt, fällt ihr Blick wieder auf das Modegeschäft gegenüber.

Henrik ist an diesem Nachmittag in der Schule, daher war noch keine Eile geboten und Frau Portalek hat nie etwas gegen ein paar Sätze einzuwenden.

Nicht, dass sie etwas dort gekauft hätte, aber es gab auch keinen Kaufzwang. Wobei die Sachen ja eigentlich schon ihrem Kleidungsstil entsprachen. Es gab fast nur Grau-, Schwarz- und Erdtöne. Schlichte Kleidung, hohe Krägen, lange Röcke. Und so kleidete sich Isabell auch für gewöhnlich. Sie selbst hielt sich nicht für eine graue Maus, sie verstand aber auch nicht, warum man mit aller Gewalt auffallen musste.

So wie Victoria etwa, sie war immer noch der lebhafte Paradiesvogel, der sie schon in der Schule gewesen war. Sie sahen sich zwar nicht mehr ganz so oft, als noch vor den Kindern der Fall gewesen war, aber sie hielten regelmäßig Kontakt und trafen sich auf ein Schwätzchen. Dabei konnte Isabell recht gut mitverfolgen, dass Victoria immer auf dem neuesten Stand der Mode war. Manchmal sogar etwas zu viel des Guten. Sie klapperte ja tatsächlich auch noch den VeroModa oder gar den NewYorker ab. Was sollte man da als Frau mit knapp Vierzig kaufen, ohne den guten Geschmack zu verletzen. Isabell war viel lieber auf den Shoppingseiten von Univeral oder Otto-Versand unterwegs. Das war ja auch viel bequemer. Man konnte sich in Ruhe etwas aussuchen, ohne dabei beobachtet oder gar belächelt zu werden. Die Sachen wurden nach Hause geliefert und die Teile, die man nicht mochte, konnte man ohne Zusatzkosten retour senden. Weshalb sollte man sich also der Tortur durch Einkaufszentren und -straßen aussetzen?

Gut, in Frau Portaleks Geschäft wurde man höchstens von der Inhaberin persönlich beobachtet, aber wie gesagt: Da hatte sie noch nie gekauft. Überhaupt hatte Isabell das Gefühl, dass die alte Dame das Geschäft nur noch aus Langeweile führte. Seit ihr Mann verstorben war, schien dass die einzige Chance auf zwischenmenschlichen Kontakt zu sein. Da Frau Portalek im Stockwerk über dem Laden eine Wohnung hatte, konnte Isabell gut mitverfolgen, ob sie jemals Besuch bekam, und sofern ihr nicht am Sonntag die Tür eingerannt wurde, würde sie diese Frage eher verneinen.

So schien es nicht unplausibel, dass sie einfach das Geschäft offenhielt. Solange sie nicht regelmäßig ihr Sortiment erneuerte, was Isabell getrost verneinen konnte, würden sich die Kosten im Rahmen halten, denn soweit Isabell informiert worden war, gehörte ihr sowohl das Geschäft als auch die Wohnung. Und Erni war bei so etwas immer auf dem Stand der Dinge.

Frau Portalek ist tatsächlich alleine anzutreffen und hat es sich auf dem erhöhten Hocker hinter ihrer Kassa gemütlich gemacht.

„Isabell, schön Sie einmal wiederzusehen! Ich hatte schon gefürchtet, Sie würden die alte Schachtel vergessen.“

„Natürlich nicht Frau Portalek, wie könnte ich. Sie wissen ja, dass ich immer noch neugierig bin, wie Sie es schaffen, immer mehr zu wissen als meine Erni. Wer sind ihre Quellen?“

Und alte Schachtel war auch übertrieben. Gewiss, das Alter hatte seine Spuren tief in das Antlitz der älteren Dame eingegraben, aber der verschmitzte Zug um ihre Mundwinkel, die hellwachen Augen und der gerade Sitz auf dem Hocker zeigten, dass Frau Portalek noch längst nicht ans Aufhören dachte und sich in dem Geschäft rundum wohlfühlte.

Und schon begann sie, Isabell über Neuigkeiten auszufragen, wie es zuhause so stünde und wies dem gnädigen Papa ginge. Währenddessen sah sich Isabell zum wiederholten Male in dem schlichten Raum um.

Gut, das Sortiment war veraltet, aber das Inventar, das war zeitlos. Die dunklen Regale waren früher gar nicht so dunkel gewesen, aber da sie nicht lackiert worden waren, waren sie wohl mit der Zeit nachgedunkelt. An manchen Ecken waren sie abgeschlagen, aber es schien ihnen mehr Charme zu verleihen.

Zudem gab es alte Singer-Nähmaschinen, die als dekoratives Element genutzt wurden. Zumindest nahm Isabell das an. Frau Portalek würde doch nicht noch immer auf diesen nähen?

Vielleicht hatte sie das aber früher einmal getan. Die Schaufensterpuppen konnten diese Theorie unterstützen. Sie waren nicht wie diese modernen Plastikfiguren, die möglichst lebensecht ein Gesicht nachahmen und mit Sixpack oder Traumkörpern prahlen, auf denen dann die Kleider hängen, die nie ein Mensch in echt so tragen kann. Zumal dann meist mit Stecknadeln nachgeholfen wird, sodass jeder Pullover, der in echt wie ein Jutesack an Einem runterhängt, die Puppe zum begehrten Designerobjekt werden lässt.

Nein, das hier waren Schneiderpuppen, Modelle, an denen man noch tatsächlich die Kleidungsstücke anprobiert hat. Schade nur, dass so wenige Kunden das hier sahen. Man müsste eine neue Klientel ansprechen. Eine sanfte Runderneuerung machen.

Isabell beschließt, Frau Portalek in dieser Hinsicht etwas genauer zu befragen.

Szene 4Victoria

Victoria war schon wieder spät dran. Warum nur eigentlich immer? Hat sie da einen Defekt? Hatten sie ihnen nicht auf der Schule eingebläut, dass es nichts Unschicklicheres für eine Frau gibt, als zu einem Mann zu spät zu kommen. Gut, vielleicht liegt genau da das Problem, sie hat nie viel auf die Inhalte gegeben, die im Unterricht vermittelt wurden und dann noch dazu in Zusammenhang mit Männern, was wussten die schon.

Die Lektionen rund um die Schule – das sogenannte echte Leben – die hat sie jedoch drauf und daher war sie auch dort, wo sie jetzt war. Nämlich auf dem Weg zu einem wichtigen Auftrag. Der Typ hatte wohl ihren Internetauftritt gesehen, ohne den kam man ja als Selbstständige heute überhaupt nicht mehr zu einem Geschäft. Wer dort nicht professionell vertreten war, der war überhaupt nicht vorhanden. Mag schon sein, dass jemand das Logo in einer Werbung, auf einem Flyer oder auf einer Messe sieht, aber wenn er dich dann bei Google nicht findet und auf deiner Seite nicht sieht, was er sucht, dann gibt es auf der Suchseite im Durchschnitt noch 250.000 andere Treffer, durch die er sich durchklicken kann und bestimmt jemanden findet, der zehnmal professioneller agiert.

Aber das Problem hatte sie ja nicht. Ihre Homepage hatte eine hübsche Stange Geld und auch das eine oder andere Lächeln gekostet, gut, es war nicht immer bei einem Lächeln geblieben, aber sie war sich sicher, dass sie auch nie zu weit gegangen war. Auf jeden Fall war es das Ergebnis wert und obwohl im Grafik- und Designgeschäft die Konkurrenz groß war, brauchte sie sich mit ihrem Auftritt nicht zu verstecken. Und das erstreckte sich auch auf sie persönlich.

Sie wusste, wie sie ihre Vorzüge zur Geltung brachte. Dabei war sie nie die klassische Schönheit gewesen. Der Mund etwas zu hart geschnitten, die Wangen etwas zu hoch angesetzt. Aber ihre Augen waren leicht schräg gesetzt und leuchtend blau. Das ließ sich durch gut gezupfte Brauen noch unterstreichen und mit dem richtigen Lidstrich sah man ihr tatsächlich zuerst in die Augen. Was ja bei männlichen Geschäftspartnern durchaus nicht immer üblich ist.

Sie tat natürlich auch etwas für den Rest ihres Körpers. Regelmäßiges Training hielt ihn fit und ließ auch ihre Problemzonen nicht zu weit wuchern. Das Geld, dass sie bei ihren Aufträgen einnahm, reinvestierte sie zu einem Gutteil in Kleidung und Schuhe. Sie war sich bewusst, dass der Prozentsatz beinahe lächerlich hoch war und mehr betrug, als ihr guttat, aber was sollte es. Wofür das Geld sonst ausgeben?

Sie war mit ihren neununddreißig immer noch - oder wieder - Single, die Wohnung hatte sie von ihren Eltern als Wiedergutmachungsgeschenk bekommen, und sie fuhr ein Auto. Das war nicht neu, aber sie liebte es und sie sah es als Teil ihres Lebens an. Also wofür das Geld sparen? Da war es doch in der Mode viel besser aufgehoben!

Doch jetzt war schon noch ein bisschen Konzentration gefragt. Der Mann führt offensichtlich so eine Art Gemischtwarenladen. Es gab Mani- und Pediküre, Solarium und Massagen und man konnte sich auch stechen lassen. Musste ein interessanter Mann sein, wenn er all die Geschäfte – und vor allem Mitarbeiterinnen – unter einen Hut bringen konnte. Er wollte all diese Details in einem Logo vereinen und dann das Geschäftslokal neu designen. Zudem benötigte er Flyer für seine Messeauftritte, und wenn sie ihn richtig verstanden hatte, wollte er auch seinen Internetauftritt redesignen. Letzteres war ja nicht ihr Kerngeschäft, aber sie würde da schon noch ein paar Euro für sich herausschlagen. Sie kannte ja einige Leute, die das professionell machten, und wenn sie denen einen Auftrag zuschanzen konnte, würden sie sich schon erkenntlich zeigen.

Huttererstraße, da war es. Einbahn, verdammt, also noch mal um den Block und rechtzeitig einen Parkplatz suchen. In der Stadt war ja um diese Jahreszeit nie etwas zu finden.

„Was gibt es da zu hupen? Siehst doch, dass ich nicht von hier bin.“

Gut, sie hatte etwas Schwierigkeiten mit dem Parken, aber wen juckte das schon. Dass mit Vorwärtseinparker, neben Turnsackerlvergessern und Beckenrandschwimmern die übelsten Weicheier bezeichnet wurden, konnte ihr doch wirklich egal sein. Hauptsache, das Auto war abgestellt. Offensichtlich hatte der Geschäftsinhaber einen halben Straßenzug gemietet – oder besaß er die Läden wohl alle selbst? Zumindest waren das fünf Geschäfte, die hier seinen Namen trugen. Victoria hatte sich das Ganze ja als eine Art One-Man-Show mit einem Eingang vorgestellt, das schien sich aber jetzt doch zu einem handfesten Deal auszuwachsen. Sie musste hier unbedingt einen guten Eindruck machen. Welche Tür dann wohl das Büro verbarg?

Sie entschied sich für das Tattoostudio, konnte ja nicht schaden, zu sehen, welche Leute da ein- und ausgingen, das gab ihr vielleicht auch noch die Gelegenheit, ein paar Hinweise für die grafische Ausarbeitung mitzunehmen.