Gemma. Sei glücklich oder stirb - Charlotte Richter - E-Book

Gemma. Sei glücklich oder stirb E-Book

Charlotte Richter

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Beschreibung

Glück ist Leben. Glück ist Macht. Glück ist alles. Ohne Glück bist du tot. Die sechzehnjährige Gemma lebt in einer Welt, in der Glück lebensnotwendig ist. Jedem, der nicht glücklich ist, droht nach wenigen Stunden der Tod. Nach ihrer Aufnahmeprüfung in der Akademie, in der junge Menschen lernen, positive Gefühle künstlich zu erzeugen, hat Gemma nur ein Ziel: Sie muss ihren Vater heilen, bevor dessen Glückspegel noch weiter sinkt und er vor Kummer sterben wird. Doch hier, inmitten all der dauerlächelnden Menschen, zieht es Gemma ausgerechnet zu Keno. Er ist ein Grenzgänger und will sich dem Glückszwang entziehen. Er liebt die Existenz am Limit, wandelt zwischen Glück und Trauer, Leben und Tod. Entschlossen versucht Gemma, am Glück festzuhalten - doch ihre Überzeugung bröckelt immer weiter. An Kenos Seite lernt Gemma, was wahre Gefühle bedeuten … und was die Menschen aufgeben, wenn sie das Glück über alles stellen. Hochspannende Near-Future-Fantasy für alle Leserinnen von Suzanne Collins, Ally Condie und Veronica Roth. Unkonventionell, romantisch und berührend.

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Charlotte Richter

begann noch während des Studiums zu schreiben und verfasste ihre ersten Texte für den Hörfunk. Seitdem hat sie mehrere Romane für Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht. Sie erhielt diverse Literaturstipendien und unter anderem den Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied im Hamburger Writers’ Room, einer Arbeits- und Bürogemeinschaft für Schriftsteller, auch wenn sie Hamburg inzwischen verlassen hat. Heute lebt und schreibt sie in Kattendorf in Schleswig-Holstein.

Charlotte Richter

Gemma

Sei glücklich oder stirb

Für Willem und Eliot, Leon und Hanna

Ein Verlag in der

 

© 2021 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

 

Text: Charlotte Richter

Cover und Innenillustrationen: © Carolin Liepins, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (© Paradise Studio, © Arthur Kosyak, © Pushish Images, © Stellari.Studio, © sunfe, © John1966, © Bokeh Blur Background, © Attapon Thana)

Covergestaltung: Juliane Lindemann

Lektorat: Anna Wörner

Satz: Malte Ritter

E-Book-Herstellung: Arena Verlag mit parsX, pagina GmbH, Tübingen

 

E-Book ISBN978-3-401-80941-0

 

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www.arena-verlag.de

Prolog

10. Juni 2025

Die Wolke hinter dem Fenster sah aus wie ein zerbrochenes Herz. In schweren Tropfen goss sie Regen über dem Schulgebäude aus. Damit der Anblick nicht zu viele miese Gefühle hochspülte, wandte sich das Mädchen mit dem braunen Zopf schnell wieder ihrem Buch zu.

Ich 2.0 stand in dicken goldenen Buchstaben auf dem Cover. Kein toller Titel, doch der Inhalt war wirklich spannend.

Mit negativen Gefühlen schadest du dir selbst und anderen. Dagegen macht dich das Glück schön und begehrenswert. Worauf wartest du also? Schmeiß die negativen Gefühle über Bord, mach Platz für dein Glück!

Es war nicht ihr erstes und bestimmt nicht ihr letztes Buch zu dem Thema. Die Bücher halfen, auch wenn sie das anfangs nicht geglaubt hatte. Man musste sich für das Glück entscheiden, das war das Geheimnis.

Es geht nicht darum, das Unglück zu begrenzen und auf einer Skala von −8 auf −2 zu kommen. Es geht darum, wie du dich von −8 auf +10 verbesserst.

Erneut schaute das Mädchen zum Fenster. Der Regen hatte aufgehört, das Dach der Sporthalle glänzte, der Wald zeichnete sich als bucklige Linie vor dem Horizont ab. Graue Wolken trieben vorüber, dazwischen leuchteten erste Flecken von Blau.

Sie wollte es endlich erleben. Sie wollte das Blau nicht mehr nur sehen, sondern es fühlen, wollte die Sonne spüren, überall in ihr. Nicht mehr traurig sein und nicht mehr allein. Diese elende Angst, dass die anderen in ihrer Klasse sie nicht mochten. Dass sie nicht genügte.

Sie wollte … sie wollte glücklich sein.

Unvermittelt wechselte das Licht am Himmel von blassem Blaugrau zu hellem Gold. Vom Mistwetter zu strahlendem Sonnenschein in einer Sekunde.

Das Mädchen zuckte erschrocken zurück, als eine gleißende Helle über den Himmel schoss. Etwas stürzte mit rasender Geschwindigkeit der Erde entgegen. Mit einem Mal war da kein Fenster mehr. Keine Wolken, kein Wald. Nur Licht. Als wäre sie blind geworden oder die Welt verschwunden. Was war das? War da etwas explodiert? Irgendetwas musste passiert sein, etwas Schlimmes, sie …

Sie war nicht allein. Etwas war … eingedrungen. War vom Himmel geradewegs in diesen Raum gefallen. Instinktiv setzte sie sich auf. Sie musste hier raus, weg von diesem … was auch immer. Doch sie konnte sich nicht rühren. Saß stocksteif da. In der Stille. Plötzlich durchzuckte ein Schmerz ihr Auge und fuhr von dort durch ihren ganzen Körper. Sie sah sich von außen, kerzengerade auf dem Sofa, das Buch neben sich, bewegungslos. Das Rauschen ihres Blutes in den Ohren.

Etwas flüsterte. In ihrem Kopf. Ohne Worte. O Gott. Was passierte mit ihr?

Wellen von regenbogenfarbenem Licht schossen aus ihr heraus und strömten in Richtung des Himmels davon.

3. August 2105

Meine schönste Erinnerung an meinen Vater ist die, wie er eines Abends mit einem neugeborenen Kätzchen nach Hause kam. Er hatte es in einem Müllcontainer gefunden. Damals war ich fünf, doch er zögerte keine Sekunde, mir das Kätzchen in die Hände zu legen. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie sich die zarten Pfoten spreizten und Halt auf meiner Haut suchten. Mit einer Fingerspitze strich mein Vater über den Rücken des winzigen Tiers, dessen Augen noch geschlossen waren. »Wir nennen es Fussel und es wird mindestens zwanzig Jahre alt«, versprach er mir.

Meine letzte Erinnerung an meinen Vater ist die, wie er mich ansah, bevor er aus meinem Leben verschwand. Das war vor drei Monaten, als er nach Cloverhill ging, in Quarantäne. Sein Arkanit hatte sich mit dem grauen Nebel gefüllt. Danach war klar, was passieren würde.

Sofort lasse ich die Erinnerung wieder ziehen. Es ist wichtig, an die schönen Dinge zu denken. Zum Beispiel daran, dass Fussel inzwischen elf Jahre alt ist und am liebsten auf meinem Kopfkissen schläft, wo ich sie leise schnurren höre, wenn ich mein Ohr an ihr Fell lege.

Es ist außerordentlich wichtig, dass mein eigener Arkanit golden bleibt.

Schon im Kindergarten lernen wir die Zonen auswendig, in die der Stein geraten kann, den wir an einer Kette um den Hals tragen.

Erste Zone: Dein Arkanit ist golden und sonst nichts. In der Ersten bist du sicher.

In der Zweiten Zone bilden sich im Gold graue Nebelfäden. Jetzt musst du aufpassen, dass es nicht zu viele werden.

In der Dritten Zone hat sich der graue Nebel überall ausgebreitet, vom Gold ist nichts mehr übrig. Das bedeutet: Quarantäne.

In der Vierten Zone tauchen im Nebel die ersten schwarzen Fäden auf. Je mehr es werden, desto weniger Zeit bleibt dir.

In der Fünften ist dein Arkanit vollkommen schwarz.

Unseren Arkanit müssen wir ständig im Auge behalten, das wird uns von klein auf eingebläut. Was er uns zeigt, ist lebensnotwendig. Um jeden Preis müssen wir in den oberen Zonen bleiben, am besten natürlich in der Ersten, aber auch die Zweite wird akzeptiert. Je tiefer wir sinken, desto gefährlicher wird es.

Jeden Morgen haben unsere Kindergärtner es mit uns geübt: Nach dem Aufwachen gilt dein erster Blick dem Arkanit. Wenn er golden leuchtet, ist alles gut. Doch sobald sich ein grauer Nebelfaden darin zeigt, und sei er noch so winzig, musst du sofort mit einem Erwachsenen sprechen.

In der Grundschule lernen wir dann, ein Tagebuch zu führen. Ganz besonders mag ich angegilbte Seiten und altmodische Einbände mit floralen Mustern. Das Schreiben hilft uns, die schlechten in gute Gefühle zu verwandeln und auf diese Weise in den oberen Zonen zu bleiben.

»Stellt euch vor, ihr erzählt jemandem eine Geschichte«, sagte meine Klassenlehrerin damals. »Stellt euch vor, ihr schreibt eine Geschichte für jemanden, den ihr liebt. Und konzentriert euch dabei auf das Positive.«

Weitere Maßnahmen, die empfohlen werden:

1. Schlafe ausreichend.

2. Suche neue Erfahrungen.

3. Ernähre dich gesund.

4. Treibe Sport.

5. Verbringe viel Zeit mit anderen Menschen.

6. Halte dich von Energievampiren fern.

7. Pflege dein Inneres Programm.

Das alles müssen wir beherzigen, damit wir in diesem Krieg überleben, von dem wir nicht wissen, warum er begonnen wurde. Unser Feind beleidigt uns nicht. Er demütigt uns nicht. Er foltert uns nicht. Er tötet uns. Ohne uns je zu berühren. Sein Name ist Glanz. Vor achtzig Jahren tauchte er ohne Vorwarnung am Himmel auf. Er nahm uns das Sonnenlicht, unseren Tag und unsere Nacht. Jetzt ist da nur noch er, der über unserer Welt schwebt. Anfangs ahnten die Menschen nicht, welche Folgen das hätte. Bis die ersten ihr Leben verloren. Heute haben wir verstanden, was der Glanz von uns verlangt. Er hat eine Welt geschaffen, in der wir nur überleben, wenn wir glücklich sind.

Wer nicht glücklich ist, stirbt.

 

Es ist seltsam, wie sich manche Tage entwickeln. Zähne putzen, frühstücken, du holst dein Fahrrad aus dem Keller, fährst los und am Ende des Tages hat sich dein Leben völlig umgekrempelt.

Als ich mein Rad vor dem Appartementhaus abstelle, in dem meine beste Freundin Tilda wohnt, ist die Luft rein, trotzdem schaue ich zur Sicherheit noch einmal nach rechts und links. Niemand zu sehen.

Tu’s nicht, Gemma. Lass es. Für heute reicht dein Vorrat.

Doch da ist auch diese andere Stimme in mir, und die flüstert: Du weißt, was auf dem Spiel steht. Das hier könnte deine letzte Chance vor der Prüfung sein. Na los. Tu es. Mach schon!

Meine Fäuste ballen sich, meine Schultern verkrampfen. Obwohl ich dagegen anzukämpfen versuche, lege ich langsam den Kopf in den Nacken und sehe mit weit geöffneten Augen hinauf. In dem hypnotischen Farbenspiel über mir drehen sich Wirbel und Strudel, vergehen und bilden sich neu. Es ist wunderschön – und wahrscheinlich bin ich die Einzige, die das so empfindet.

Wollte man den Glanz mit etwas vergleichen, dann mit einem regenbogenfarbenen Nebel, der sich in zehntausend Meter Höhe über uns wölbt und die Erde wie eine Hülle umschließt. Sonne und Mond sind dahinter verschwunden, eine trübe Dämmerung ist unser Tag und unsere Nacht. Morgenröte und Sternenhimmel kenne ich nur aus alten Filmen. Was sich oberhalb des Glanzes abspielt, bleibt für uns unsichtbar. Die Wissenschaftler sagen, die Sonnenstrahlung käme trotzdem durch. Auch Wind, Regen und Schnee sind kein Problem, unterhalb der Zehntausend-Meter-Marke gibt es sogar Wolken, bläulich grau wie Wale, die durch ein regenbogenfarbenes Meer schwimmen. Die heute gültige Theorie lautet außerdem, dass der Glanz für Pflanzen und Tiere nicht existiert.

Auf alle Fälle tötet er nur uns Menschen.

Meine Mitschüler, Freunde, Lehrer, Nachbarn, mein Vater und überhaupt alle, die ich kenne, schauen so selten wie möglich hinauf, vermutlich, weil es sie daran erinnert, was geschieht, wenn wir in die Fünfte Zone eintreten und unser Arkanit schwarz wird: Nach 72 Stunden lösen wir uns im Glanz auf. Wir sterben, egal, wie jung oder alt wir sind. Und obwohl ich das weiß, durchströmt mich jedes Mal, wenn ich in den Glanz schaue, ein Gefühl, als würde mich jemand in den Arm nehmen und mir zuflüstern, dass alles gut wird.

Warum ich so fühle und warum das schon immer so war? Ich habe keinen Schimmer.

In einem der oberen Stockwerke beginnt jemand zu singen, irgendwas mit »love« und »forever«. Wie ertappt reiße ich mich von dem Farbentanz los. Vor ein paar Monaten hat mich Tilda erwischt, als ich gerade hinaufgeschaut habe, und mich gefragt, warum ich so breit vor mich hin grinsen würde. »Pass bloß auf«, sagte sie und, ja, seither passe ich auf.

Niemand darf wissen, was ich tue. Niemand darf wissen, dass der Anblick des Glanzes mich glücklich macht und meinen Arkanit nur umso goldener strahlen lässt.

Sie würden es nicht verstehen. Der Glanz sollte mir Angst einjagen, wie jedem vernünftigen Menschen. Doch er tut es nicht.

Ohne das Licht anzuknipsen, sprinte ich die Außentreppe hoch. In der Dämmerung kann ich die Stufen kaum erkennen, aber das muss ich auch nicht, diesen Weg finde ich blind. Automatisch biege ich von einem Laubengang in den nächsten ein. Zwischen Geißblatt und Stockrosen recken Margeriten und Nachtkerzen ihre Köpfe: Chronoblumen, die zu unterschiedlichen Tageszeiten blühen und mit denen die ganze Stadt vollgepflanzt ist. Würden sämtliche Uhren auf einmal versagen, könnten wir zumindest jetzt, im Sommer, trotzdem erkennen, wie spät es ist. Du musst nur die Blumen angucken. Auch das lernen wir in der Grundschule. Seltsam, dass früher ein Blick in den Himmel genügte, um abzuschätzen, ob es Morgen ist, Mittag oder Nacht.

Ich drücke meinen Finger auf den Klingelknopf. Drei Sekunden später reißt Tilda die Tür auf.

Sie ist siebzehn, ein Jahr älter als ich, sieht aber jünger aus, wahrscheinlich, weil sie so klein ist. Ihre kupferroten Kringellocken plustern sich um ein mutwilliges Lächeln. Alles an ihr leuchtet vor Aufregung, sogar die goldene Farbe ihres Arkanits scheint intensiver zu strahlen als sonst. Als sie mich in die Arme schließt, hüllt mich ein Geruch von Jasmin und Bergamotte ein. Wow – Girl No. 1, das in Sachen positive Energie wirksamste Parfum, das in den letzten Jahren entwickelt wurde. Ich sauge den Duft in mich ein.

»Und? Wie teuer?«

»Schweineteuer. Und der Flakon, gerade mal so groß.« Tilda presst Daumen und Zeigefinger aufeinander. »Wie geht’s dir?«

»Bin bereit«, sage ich, bemüht, dass meine Stimme so gleichmütig wie möglich klingt.

Sie mustert meinen Arkanit, der golden leuchtet wie ihrer, nickt zufrieden und zieht mich in die Diele, vorbei an einem Chaos aus Schuhen und Jacken, hinein in die Küche, aus der uns Gelächter und Stimmengewirr entgegenschallen.

»Gemma!«, johlt Tildas Bruder Lennart. Ihre Großmutter Emily kreischt beinahe. Klingt, als hätte jemand zur Feier des Tages eine Runde Fortaxan spendiert, noch mal wow, das letzte Mal habe ich die Pillen gesehen, als mein Vater Anfang des Jahres eine Wochenration mit nach Hause brachte.

Fortaxan, Elektrotherapien, Magnetresonanz – kaum eine Glücksoptimierung, die er nicht durchprobiert hätte. Abgerutscht und nach Cloverhill geraten ist er trotzdem. Jetzt hängt es an mir, ob er überlebt.

Die Küche verschwimmt vor meinen Augen. Das kann ich jetzt echt nicht brauchen. Ich atme tief ein, atme noch länger aus und konzentriere mich auf das, was ist: dieser Augenblick, der Duft nach getoastetem Brot, nach Oma Emilys Lavendelseife und Opa Max’ geliebtem Speck aus der Pfanne, das Grinsen von Tildas Brüdern Sascha und Lennart, die durch die halbe Stadt gegondelt sind, um uns für unsere Prüfung Glück zu wünschen, das Geräusch der Wanduhr, ihr beruhigendes Ticken.

»Gemma, Süße.« Tildas Mutter Giselle, klein wie ihre Tochter und mit der gleichen roten Mähne, schließt mich in die Arme. Ich glaube, in den letzten Monaten hat sie mich weit häufiger umarmt als ihre eigene Tochter, wahrscheinlich findet sie, dass ich es nötiger brauche. Als ich meinen Kopf an ihre Schulter lehne, fällt mein Blick auf das Regal, das Sascha in der Grundschule gezimmert hat und in das Giselle so vernarrt ist, dass sie es Jahre später noch immer hängen lässt, obwohl die meisten Tassen, die sie auf seine schiefen Borde gestellt hat, herausgerutscht und zerbrochen sind. Auch ich liebe das Regal, wie überhaupt alles in dieser Küche, die sonnengelb lackierten Möbel, die Vorhänge in Himmelblau, das alles ist so viel anheimelnder als unsere karge Küche zu Hause.

Ein paar Atemzüge lang genieße ich es noch, wie Giselle mich hält, bevor ich mich behutsam aus ihren Armen löse. Opa Max schwenkt eine blaue Kanne in meine Richtung. »Kaffee, meine Liebe?«

Graue Fäden durchziehen seinen Arkanit. Letzten November ist er in die Zweite Zone geraten, kein Grund zur Sorge, wie Giselle immer wieder versichert, im Alter sei das nicht ungewöhnlich, außerdem stagniert die Zahl seiner Nebelfäden seit Monaten. Hauptsache, er hält sich. Doch Tilda steigt jetzt häufiger zu ihren Großeltern in den fünften Stock hinauf. Zu einem Happy-Hop-Tanzkurs hat sie ihren Großvater bereits überredet, an einer Anmeldung zur Silent-Power-Meditation arbeitet sie noch.

»Henkersmahlzeit.« Sascha wirft mir ein Brötchen zu. Ich erwische es, bevor es im Obstsalat landet, was mir Applaus von Lennart einbringt. Die beiden benehmen sich auch mit über zwanzig noch wie kleine Jungs. Am liebsten würde ich mich zwischen sie und den Rest dieser Chaotenfamilie setzen, stattdessen tippe ich auf meine Armbanduhr und schaue zu Tilda. »Wir müssen los.«

Das große Umarmen beginnt. »He«, ruft Opa Max, »falls ihr durchrasselt …«

»DIP!«, fährt Giselle dazwischen und piekt ihrem Vater revolvermäßig einen Zeigefinger vor die Brust.

Er grinst und salutiert. »Aye, aye, Käpt’n.«

DIP. Denk immer positiv.

Ich schaffe es. Ich schaffe alles. Wenn ich nur will.

 

Auf dem Weg nach unten kommt uns ein Mann mit grauer Haut und hohlen Wangen entgegen, der sich fest in seine beigefarbene Windjacke eingewickelt hat. »Tilda!«, ruft er, doch seine Fröhlichkeit klingt angestrengt. »Ich hab gehört, dass dich die Akademie zur Prüfung –«

»Tut mir leid, Darius, wir sind spät dran.« Giselle schiebt Tilda und mich rasch an ihm vorbei. Ich erhasche gerade noch einen Blick auf seinen Arkanit: Zweite Zone. Doch anders als bei Opa Max sind es nicht ein paar graue Fädchen, es ist ein ganzes Fadengewirr.

»Wenn Darius so weitermacht …« Giselle strafft sich. »Na, er fängt sich schon wieder.«

»Sein Freund«, raunt Tilda mir zu. »Im April.«

»Der Glanz?«, frage ich leise zurück.

Sie nickt.

»Das Schlimme ist, dass er bisher nicht einmal versucht hat, seine Trauer in den Griff zu kriegen«, sagt Giselle.

»Läuft mit einem Gesicht rum wie Gurkenwasser«, ergänzt Tilda. »Ziemlich krass. Als ob er absichtlich in die Dritte abschmieren will. Oder noch tiefer. Alle im Haus gehen ihm schon aus dem Weg.«

Für einen Moment sehe ich meinen Vater an seinem letzten Tag in unserer Wohnung, er hält Fussel im Arm, sie reibt ihr Köpfchen an seiner Wange, grauer Nebel zittert in seinem Arkanit … Stopp. Stopp! Während wir weitergehen, schrumpfe ich meinen Vater behutsam aus dem Fusselbild heraus, lasse ihn immer kleiner werden, bis da nur noch meine Katze mit ihren goldfarbenen Augen ist.

Es ist völlig in Ordnung, wenn du einen Menschen vermisst. Doch allerspätestens nach zwei Wochen solltest du dich wieder auf das Positive konzentrieren. Das Leben ist ein Geschenk, da darfst du deinen Kummer nicht vor dir hertragen. Du darfst deinen Kummer nicht gewinnen lassen. Denn Kummer gewöhnt sich daran. Und dann geht er nicht mehr weg.

Links ziehen die mit Chronoblumen bepflanzten Parks vorbei, dazwischen die First-Class-Wohnanlagen von Novamyne, wo hauptsächlich die Wissenschaftler leben, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Stadt angesiedelt haben. Rechts schillert eine mit Booten getupfte, künstliche Lagune. Die haben sie im letzten Frühjahr ausgehoben und unter der Wasseroberfläche eine Flutlichtanlage installiert, die azurblaue Spiegelfläche sieht unglaublich schön aus.

Weil Tilda beim Autofahren so schnell schlecht wird, sitzt sie vorn. Giselle lenkt den Wagen entspannt durch den Morgenverkehr. Das Wellnesscenter, in dem Tilda und ich uns manchmal eine Massage leisten, gleitet vorüber, gefolgt von dem Flow-Markt mit seinen bunten Ständen, danach die von Lichtherzen umrahmte Fassade unseres Lieblingskinos, in dem sie ausschließlich romantische Komödien zeigen. Im Hintergrund erhebt sich ein ganzes Bergmassiv von imposanten Forschungsanstalten und einschüchternden Instituten, platziert und finanziert von den Regierungen, die sich das leisten können. Überall auf der Welt wird der Glanz erforscht, trotzdem blickt alles auf Novamyne. Die angesehensten Wissenschaftler kommen in unsere Stadt, und die allerbesten zieht es natürlich an die Akademie – der Ort, an dem die internationale Forscher-Elite seit Jahrzehnten um eine Lösung ringt.

Giselle bremst abrupt, als ein wolkenweißer VW Fortuna mitten auf einer Kreuzung stehen bleibt und eine Mutter mit Kinderwagen vorbeischieben lässt. Die Plakate hängen überall: Babys mit blauen Kulleraugen, darunter die Geburtenprämie, zehntausend Euro, was ziemlich cool ist. In der Zeit vor dem Glanz war das Kindergeld ein Witz und eine Geburtenprämie gab es überhaupt nicht, doch damals lebten in Novamyne, dessen alter Name inzwischen nahezu vergessen ist, auch noch eine halbe Millionen Menschen – und über achtzig Millionen in ganz Deutschland, was heute völlig unglaublich erscheint. Die letzte Zählung hat für Novamyne knapp hundertzwanzigtausend Einwohner ergeben, da haben sie die Prämie gleich noch mal hochgeschraubt. Und dabei gilt Novamyne schon als Zentrum der Welt.

Der Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit in dreizehn Worten: Seit der Glanz unser Himmel ist, sterben die, die nicht glücklich genug sind.

Das müssen sie auf kein Plakat schreiben. Das wissen alle, überall auf der Welt.

Giselles Hand liegt locker auf Tildas Oberschenkel. Wie aus einem Zwang heraus muss ich immer wieder hinschauen. Wie fühlt es sich an, wenn deine Mutter am wichtigsten Tag deines Lebens neben dir sitzt?

In mir öffnet sich ein Spalt, durch den alles Warme und Helle aus mir hinausrinnt, während etwas Kaltes und Dunkles in mich einsickert. Für DIP ist diese Empfindung zu heftig, das merke ich sofort. Die siebte Maßnahme also: Pflege dein Inneres Programm.

Okay. Atmen, Gedanken-Upgrade, positives Bild. Das schaffe ich.

Konzentrier dich darauf, wie dein Atem fließt, ein, aus, ein, aus, eine Minute lang, richte dann deine Aufmerksamkeit auf einen guten Gedanken, bevor du ein positives Bild folgen lässt.

Hier ist mein Gedanke: Das Glück ummantelt mich wie …

Scheiße. Was gerade in mir passiert, ist zu stark für das Programm. Aus dem Fenster gucken, mitten in den Glanz? Das wäre die einfachste Lösung, doch Giselle und Tilda könnten etwas merken. Bleibt eine letzte Möglichkeit.

Ich lehne mich gegen die Polster und schließe die Augen. Erst ist da nur Dunkelheit, aber schon mit dem nächsten Atemzug steigt langsam das Farbenspiel des Glanzes in mir auf. Während ich mich in den Anblick hineinsinken lasse, durchströmt mich eine tiefe Ruhe und das wunderbare Gefühl, dass alles gut wird. Wärme breitet sich in mir aus, fließt durch meine Brust und in meine Beine, kümmert sich sogar um meine Ohrläppchen und meine kleinen Zehen, verschließt den Spalt, der in mir aufgebrochen ist.

Vorsichtig öffne ich die Augen. Mein Glück ist wieder eine feste Haut, die mich warm und sicher einpackt. Nichts Negatives kann diese Haut berühren. Schlechte Gefühle dringen nicht durch.

Keine Ahnung, was ich täte, wenn ich wie alle anderen wäre. Ohne den Glanz. Bestimmt säße ich nicht in diesem Auto, wäre bestimmt nicht auf dem Weg zur Akademie.

Die Bebauung hat sich aufgelockert, zwischen Backsteinhäusern aus der Zeit vor der globalen Katastrophe ragen Wohnanlagen mit bunt bepflanzten Dachgärten auf. Riesige Leuchtfenster imitieren das Tageslicht, von einer Bildwand strahlt der Slogan, der in dieser Woche auf Platz eins der Affirmations-Charts steht und den ich wirklich mag: Glück hat man nicht, Glück erschafft man sich.

So, wie ich es gerade getan habe.

An der nächsten Kreuzung biegen wir in das Waldviertel ein, wo die Reichen und Berühmten wohnen. Das war schon vor dem Glanz so, als Novamyne noch eine gewöhnliche Stadt war, für die sich niemand auf der Welt groß interessierte. Rechts und links der Straße erstrecken sich parkähnliche Gärten, unter ausladenden Himmelszelten glitzern Swimmingpools, die Häuser stehen weit auseinander, um keine zusätzlichen Schatten zu werfen. Hier leben Politiker, Schauspieler, Sportler – und natürlich die Mitarbeiter der Akademie.

Ein paar Jugendliche in Reflektor-Trainingsanzügen joggen vorüber. Drei Kinder spielen ein Tanzspiel um eine riesige Standuhr, so ein Antik-Ding aus der Zeit davor, als zwölf Ziffern genügten, damit du zwölf Uhr mittags von Mitternacht unterscheiden konntest. Wir fahren an einem dreistöckigen, mit Lichtergirlanden behängten Café vorbei, Orion steht in schnörkeligem Gold über der Eingangstür, von dem Laden habe ich sogar schon gehört: Dort servieren sie die Top-Happy-Foods, und ein Menü kann locker ein durchschnittliches Monatseinkommen verschlingen.

»Die Modulation und das Luzide Träumen sind ja praktisch dasselbe«, sagt Giselle unvermittelt in unser Schweigen hinein. »Wobei die Modulation für Normalsterbliche wie uns natürlich unbezahlbar ist.« Schwungvoll zieht sie den Wagen in eine Kurve. »Modulation – das heißt, ihr verändert heute nicht euer eigenes Unterbewusstsein, sondern …« Sie lacht nervös auf. »Tut mir leid. Das wisst ihr ja alles.«

Ich stecke meinen Kopf zwischen die beiden Vordersitze. »Wir packen das, Giselle. Auch ohne Camp.«

Die Camps, in denen sie dich auf die Prüfung vorbereiten, sind in diesem Jahr noch einmal teurer geworden und jetzt wirklich nur noch den Söhnen und Töchtern aus reichem Hause zugänglich. In den Camps üben sie das Luzide Träumen bis zum Abwinken, was in meinem Fall bestimmt hilfreich gewesen wäre. LT ist zwar Schulfach, wir trainieren das seit der Grundschule, doch ich war darin nie eine Leuchte. Was wahrscheinlich daran liegt, dass ich fast ausschließlich angenehme Dinge träume und praktisch nie an meinen Träumen herumschrauben musste.

Trotzdem hat mich die Akademie zur Prüfung zugelassen – und das allein zählt. Als Einzige an unserer Schule. Außer Tilda natürlich. Dass sie eingeladen wird, war mir von dem Augenblick an klar, als sie vor neun Monaten zum ersten Mal in unser Klassenzimmer hereinmarschiert ist. Sie gehört zu diesen leuchtenden Menschen, die dir sofort das Herz wärmen, egal, wie kalt dir gerade ist. Doch auch mich hat die Schulbehörde vorgeschlagen, denn ich kann etwas vorweisen, was für die Prüfung Bedingung ist und was kaum jemandem je gelingt.

Eine absolut stabile Erste Zone.

Die habe ich. Dem Glanz sei Dank.

Über die Prüfung wissen wir praktisch nichts, schon gar nicht, wie eine Modulation funktioniert oder wie du einen anderen Menschen durch Modulation in eine höhere Zone holst. Kein Training, der Sprung ins kalte Wasser – Intuition, das wollen sie. Entweder du schwimmst oder du ertrinkst. Ich bleibe auf jeden Fall oben. Ich schwimme. Für meinen Vater. Ich hole ihn aus der Quarantäne heraus.

Giselle biegt noch einmal ab. Unaufhaltsam nähern wir uns der Stelle, an der vor achtzig Jahren alles angefangen hat. Mein Magen schrumpft auf Walnussgröße zusammen. Wo sich in der Ferne die Bäume lichten, ragt eine weiße Mauer empor. Was dahinterliegt, kenne ich nur aus dem Fernsehen.

Über die Akademie weiß natürlich jeder Bescheid, auf der ganzen Welt. Hier erforschen sie den Glanz, hier haben sie den Arkanit entwickelt, hier perfektionieren sie die Therapien gegen die negativen Gefühle. Auch die Modulation ist ein Produkt der Akademie, was ein gewaltiger Durchbruch war. Selbst Medikamente wie Fortaxan helfen nicht jedem, doch mit der Modulation holst du sogar die Leute in eine höhere Zone, die sonst auf nichts mehr ansprechen.

Vor allem aber befindet sich auf dem mehrere Quadratkilometer großen Gelände der Ort, den sie komplett von der Öffentlichkeit abschirmen und den sie uns nicht einmal im Fernsehen zeigen.

Manche sagen, sie sei die Geburtsstätte des Glanzes: jene Kuppel, mit der sich das, was damals auf der Erde gelandet ist, vor unserem Zugriff schützt. Sie ist undurchdringlich – und mehr weiß ich nicht, mehr weiß niemand. Wir erfahren nicht einmal, wie weit die Mitarbeiter der Akademie bisher mit ihren Forschungen gediehen oder ob zum Beispiel schon Leute in das Innere der Kuppel eingedrungen sind. Das alles unterliegt höchster Geheimhaltung. Nur eins ist gewiss: Tilda und ich sind dem Ort jetzt näher als je zuvor in unserem Leben.

Schneller als mir lieb ist, rückt die weiße Mauer heran, bis sie fast unser gesamtes Blickfeld ausfüllt. Dahinter ragt in ebenso strahlendem Weiß ein Rundbau auf: das Hauptgebäude.

Tilda schiebt ihre Hand nach hinten. Als ich sie umfasse und fest drücke, wendet sie den Kopf und sagt mit angespanntem Lächeln: »Wir gehen als Kandidatinnen rein und kommen als Studentinnen wieder raus, okay?«

Giselle schlägt auf das Lenkrad. »Voller Einsatz! Folgt eurer Intuition!«

Vor dem Tor legt sie eine Vollbremsung hin. In das schnörkelige Schmiedeeisen ist das Symbol der Akademie eingearbeitet: das von einem vierblättrigen Kleeblatt umrankte A. Eine Frau mit Brille tritt aus dem Wachhaus, kontrolliert unsere Passierscheine und die Farbe unserer Arkanite und winkt uns hindurch.

Als ich eine halbe Minute später auf dem Parkplatz aussteige, zittern meine Knie; ich dachte immer, das sei nur ein Spruch, doch sie zittern tatsächlich. Schön, ich bin nervös, aber das ist kein Problem. Prüfungen laufen einfach besser, wenn du unter Strom stehst.

»Soll ich euch noch ein Stück begleiten?«, fragt Giselle und zieht uns, als Tilda entsetzt den Kopf schüttelt, in eine letzte Umarmung.

»Du schaffst das«, flüstert sie mir zu. »Für dich. Und für deinen Vater.«

Ein letztes Winken, dann eilen Tilda und ich bereits die von Säulen flankierte Treppe hinauf. Mit jedem Schritt werden wir langsamer. Als wir den Eingang fast erreicht haben, bleibt Tilda stehen.

»Ob wir sie von hier aus sehen können?« Sie reckt den Hals. Ich tue es ihr nach. Doch da sind nur der Parkplatz, die Seitenflügel des Hauptgebäudes und die Bäume, die keinen weiteren Blick auf das Gelände der Akademie erlauben. Von der Kuppel keine Spur.

Wir steigen die letzten Stufen hinauf. Ein Mann und eine Frau kommen uns entgegen, die Frau mit einem Lächeln im Gesicht, der Mann mit den Händen tief in den Hosentaschen. Unvermittelt bleibt er stehen, legt den Kopf in den Nacken und stützt ihn mit einer Hand ab, als sei er ihm zu schwer.

»Wir hätten niemals zustimmen dürfen«, sagt er halblaut. »Was, wenn Kylie bei der Prüfung in die Zweite abrutscht?«

»Pass lieber auf, dass du nicht abrutschst«, gibt die Frau zurück. »Und dass du da raufstierst, hilft unserer Tochter auch nicht.«

Er fährt sich mit einer Hand über die Augen. »Entschuldige.«

Mit einem Nicken gehen sie an uns vorüber. Tilda schließt ihre Hand um meine. »Abrutschen ist keine Option. Nicht für uns.«

»Auf keinen Fall.«

»Wir packen das. Du sowieso. Unser kleines Wunder an positivem Spirit. Der Wahnsinn, wie du das in den letzten Wochen hingekriegt hast.«

»War gar nicht so schwer.« Ich lächele und komme mir schäbig vor, weil ich mein Geheimnis nicht einmal mit Tilda teile. Doch das kann ich nicht. Weil es nicht normal ist.

In der Schule sprechen wir oft darüber, wie wir uns in unserer Zone halten, wenn es hart auf hart kommt. Alle haben ihre Tricks, leisten sich einen Emoji-Drink, ein energetisch aufgeladenes Heilpflaster oder auch die richtig teuren Sachen wie Elektrotherapien oder sogar eine Fortaxan. Und natürlich kennt jeder die Methoden, die gratis sind: mit deinem kleinen Neffen spielen, mit deinem Partner, deiner Partnerin, deinem Haustier kuscheln – solche Sachen. Tricks haben alle. Aber keine Geheimnisse. Es sei denn, sie halten ihre Geheimnisse so geheim wie ich.

Ich wünschte, mich würde etwas anderes in der Ersten Zone halten. Ich wünschte, es wäre etwas anderes als der Blick in den Glanz.

 

In der mit Oleander und Hibiskus bepflanzten Eingangshalle umschiffen wir eine türkisblaue Sitzinsel, steuern an einer Wanduhr im XXL-Format vorbei und ziehen unsere Passierscheine durch den Kartenschlitz. Eine Flügeltür schwingt auf. Stimmengewirr quillt uns entgegen. Die Kandidaten, die schon eingetroffen sind, lehnen an den Bänken oder sitzen auf den Stufen des Hörsaals. Alle reden, gestikulieren, lachen. Ich höre viel Englisch, die Sprache, die in Novamyne und speziell an der Akademie am häufigsten gesprochen wird, fange aber hier und da auch ein paar Brocken Deutsch, Spanisch oder Arabisch auf und etwas, das Chinesisch sein könnte. Die anderen Sprachen kenne ich nicht. Es herrscht eine Stimmung wie auf einer Party. Vielleicht hatte nicht nur Tildas Familie Fortaxan zum Frühstück.

Die Bankreihen fallen in einem Halbrund zu einer Bühne hin ab. An der Wand dahinter leuchtet in goldenen Buchstaben: Positive Gedanken ziehen positive Gefühle ziehen positive Ereignisse an.

Wir schieben uns in eine Bank, in der schon ein Mädchen und ein Junge sitzen. Er mümmelt an einer Banane, entweder weil er wirklich hungrig ist oder weil er zeigen will, wie locker er mit der Situation umgeht. Das Mädchen hat riesige Augen und ein nervöses Zucken im linken Mundwinkel.

»Hi.« Wir setzen uns.

»Hi.« Sie heben eine Hand und lächeln.

Was das angeht, so kenne ich zwei Kategorien von Lächeln: das eine, das aus dem Herzen kommt – und das Mir-ist-zwar-nicht-danach-ich-tu’s-aber-trotzdem-weil-es-gut-für-meine-Zone-ist-Lächeln, das wir von klein auf trainieren. In diesem Augenblick lächeln wir wohl alle auf die zweite Art.

Weitere Kandidaten trudeln ein: sechzehn- und siebzehnjährige Jungen und Mädchen aus allen möglichen Ländern, die mit den besten Zensuren bewertet wurden, sich aber vor allem durch eine stabile Erste Zone hervortun. Die Schulen entscheiden, wen sie für die Akademie vorschlagen. Naturgemäß ist die Gruppe überschaubar, in diesem Jahr sind wir kaum einhundert Kandidaten. Zugehörig fühle ich mich nicht, erstens zeichnen sich meine Zeugnisse durch höchst mittelmäßige Noten aus, zweitens war es nie mein Plan, Protektorin zu werden. Bis vor drei Monaten hatte ich überhaupt keine Pläne. Erst seit mein Vater in Quarantäne ist, haben sich die Dinge geändert. Giselle ist davon überzeugt, dass ich als Einzige mit Sondergenehmigung zugelassen wurde, sie sagt, es sei absolut einzigartig, dass sich jemand von klein auf durchgehend in der Ersten hält.

Einzigartig. Meinem Geheimnis sei Dank.

Ein junger Mann von Mitte zwanzig fegt durch eine Seitentür herein. Die Gespräche verstummen. Leichtfüßig springt er auf die Bühne, das mokkabraune Haar fällt ihm in einer weichen Welle in die Stirn. Er trägt eine Brille mit runden Gläsern, die jeden anderen in eine Eule verwandeln würde, während er locker als Model für teure Armbanduhren durchgehen könnte. Er ist groß, deutlich über einsachtzig, und hat eine Kerbe am Kinn, auch das sieht ziemlich modelmäßig aus. Passend zu seinem Haar trägt er ein mokkafarbenes Jackett mit cremefarbenen Lederflicken an den Ellenbogen; altmodisch, aber irgendwie cool.

»Hallo.« Er nimmt das Mikro aus der Halterung. Auf seinem Gesicht erscheint ein kleines Lächeln, Kategorie eins, aus dem Herzen, das könnte ich schwören. »Ich bin Xavier. Dies ist euer Tag.« Er begrüßt uns auf Englisch, seine Stimme klingt tief und voll, als hätte er extra für diesen Anlass in einem Tonstudio trainiert. Während er spricht, geht er schwungvoll auf der Bühne auf und ab. »Wir haben euch eingeladen, weil ihr über die wichtigsten Eigenschaften in unserem Kampf gegen den Glanz verfügt. Optimismus. Hoffnung. Stärke. Mut.«

Was nun folgt, ist der bei offiziellen Anlässen übliche historische Abriss. Zum Glück wählt Xavier die Kurzversion.

»Vor achtzig Jahren, am 10. Juni 2025, tauchte um vierzehn Uhr einundzwanzig mitteleuropäischer Zeit eine Lichtkugel am Himmel auf und schlug hier in Novamyne ein, genauer gesagt: im Hauptgebäude des ehemaligen Gymnasiums Freyard.«

Ein Raunen läuft durch die Bankreihen.

»Von dem Objekt ging eine so starke Erststrahlung aus, dass alles menschliche und tierische Leben im näheren Umkreis praktisch sofort zu Staub zerfiel. Nur die Pflanzen haben überlebt.«

Weiß ich, weiß ich, hundertmal gehört. Und trotzdem verwandeln Xaviers Worte mein Inneres in Gelee.

»Binnen weniger Minuten breitete sich überall am Himmel dasselbe Phänomen aus: ein regenbogenfarbener Glanz, der unsere Erde seither umschließt.«

Fast kann ich hören, wie die Fragen in der Luft knistern. Xavier rückt die Aufschläge seines Jacketts zurecht.

»Die Einschlagstelle befindet sich hier. In Deutschland. In Novamyne. Auf dem Gelände der Akademie. Die Welt blickt auf uns. Und vielleicht auch bald auf euch.« Wieder erhellt das kleine Lächeln sein Gesicht, winzige Fältchen kräuseln sich um seine Augen. »Seit achtzig Jahren wird das Objekt, das wir Die Kuppel nennen, rund um die Uhr überwacht. Nur ausgesuchte Mitarbeiter der Akademie dürfen sich dem Ort nähern. So viel immerhin glauben wir heute zu wissen: Damals ist eine energetische Präsenz in das Hauptgebäude des Gymnasiums eingedrungen. Und diese Präsenz erzeugt den Glanz.«

Manchmal versuche ich, mir vorzustellen, was für eine Präsenz das sein könnte. Ähnelt sie einer Pflanze, einem Tier, einem Menschen – oder etwas völlig anderem? Bilder geistern mir genügend durch den Kopf, gespeist aus zahlreichen Scifi-Filmen, doch keines der Bilder erscheint passend.

»Der Glanz beeinflusst weder Atmosphäre noch Wetter noch die Tier- oder Pflanzenwelt. Doch er wirkt sich auf uns Menschen aus – und auf alles, was wir je in den Himmel geschickt haben. Funkwellen und Satellitensignale kommen nicht mehr durch. Während Insekten und Vögel weiterhin fliegen können, kennt ihr Flugzeuge nur noch aus dem Museum. Auch darum brachen mit der Ankunft des Glanzes überall auf der Welt die Wirtschaft und die öffentliche Ordnung zusammen, ebenso die Energieversorgung und die digitale Technologie. Schlimmer war jedoch, dass in diesen ersten Jahren nahezu achtzig Prozent der Bevölkerung dem Glanz zum Opfer fielen. Diese Phase konnten wir zum Glück überwinden. Aber noch immer sterben zu viele Menschen.«

Das Licht erlischt. Hinter Xavier fährt eine Leinwand hoch. Ein Flackern, dann erscheint auf der Leinwand eine junge Frau. Sie hat sich auf einem sonnengelb bezogenen Bett zu einer Kugel zusammengerollt.

»Sibylla Garbarek, 19 Jahre. Zum Zeitpunkt der Aufnahme lebt sie seit drei Monaten im Kurzentrum Phoenix und ist vor zweiundsiebzig Stunden in die Fünfte Zone eingetreten.«

Es könnte ein Foto sein, so reglos liegt Sibylla auf der hellen Bettdecke. Das Gesicht hat sie der Wand zugekehrt, die Fäuste hält sie vor der Brust gekreuzt. Doch es ist kein Foto, das erkenne ich an dem Flirren der regenbogenfarbenen Aura um sie herum. Nach einigen Sekunden verstärkt sich das Flirren. Sibyllas Körper beginnt, sich von den Rändern her aufzulösen und verwandelt sich in eine Art schwarzen Nebel, der in Kringeln und Spiralen in die Aura gesogen wird. Kein Laut dringt über ihre Lippen, kein Muskel zuckt, während sie in der Aura verschwindet.

Ich presse meine Hände so fest gegeneinander, dass es schmerzt. Genau das könnte meinem Vater passieren. Doch diese Gedanken darf ich nicht zulassen. Ich werde ihm helfen, ich hole ihn zurück – das ist es, was ich denken, was ich tun muss.

Sibyllas Aura zieht sich zu einer Lichtkugel zusammen, bebt kurz in der Luft und schießt nach oben aus dem Bild. Schnitt, Außenkamera: Die Kugel rast im Steilflug auf den Glanz zu und ist Sekunden später in ihm verschwunden. Die Leinwand verdunkelt sich, das Licht flammt wieder auf. Im Hörsaal ist es so still, dass ich Tilda neben mir atmen höre.

»Mit dem Eintritt in die Fünfte Zone bildet sich um den Betroffenen die sogenannte Aura, die offenbar mit dem Glanz identisch ist.« Xavier drückt einen Knopf und lässt die Leinwand verschwinden. »Nach zweiundsiebzig Stunden löst sich der Infizierte in der Aura auf. Heute wissen wir, dass es diejenigen trifft, bei denen die negative Energie überhandnimmt. Das äußert sich in verschiedener Weise. Depressionen wie bei Sibylla sind typisch. Auch Essstörungen, soziale Phobien, stoffliche und nicht stoffliche Süchte, Krankheiten und Arbeitslosigkeit zählen zu den Symptomen. Zuletzt kommt es zur Auflösung, mit anderen Worten: Der Glanz nimmt die negative Energie dieser Menschen in sich auf. Weil sie aber vollkommen von dieser Energie durchdrungen sind, verschwinden sie in dieser Phase auch selbst.«

Ich kann beinahe spüren, wie sich die Luft im Raum bei Xaviers Worten abkühlt. Tilda legt die Arme um sich, als müsse sie sich wärmen.

»Es ist unsere Aufgabe, jeden Mann, jede Frau, jedes Kind vor dem Glanz und seiner tödlichen Wirkung zu schützen.« Xaviers Blick gleitet über uns hinweg und bleibt kurz an Tilda hängen, was mich nicht groß überrascht. Ihr Gesicht zieht Blicke an wie Honig die Bienen. Dann wendet er sich wieder dem gesamten Auditorium zu. »Dafür stehen wir von der Akademie. Wir entwickeln täglich neue Strategien gegen die negativen Gedanken und Gefühle. In unserem Kampf gegen den Glanz lassen wir niemals nach. Denn noch immer geraten zu viele Menschen in die Dritte, Vierte und in die tödliche Fünfte Zone. Doch die gute Nachricht lautet: Die Zahl derjenigen, die sich ein Leben lang in der Ersten und Zweiten Zone halten, liegt inzwischen bei fünfundsiebzig Prozent.«

Rasch mustere ich die anderen Mädchen und Jungen im Saal. Mir ist schon klar, dass es absolut unsozial ist, aber wenn man dir wiederholt erzählt, du hättest eine Chance von fünfundsiebzig Prozent, dein Leben zu meistern, ohne dass du in eine Kritische Zone gerätst, dann schaust du dich unwillkürlich um und denkst: Okay, drei Viertel der gerade Anwesenden packt es und zu denen möchte ich gehören.

»Die Modulation ist die wirksamste Methode, mit der wir einen Menschen in eine höhere Energiezone holen können – und mehr sollt ihr fürs Erste nicht über diese Technik erfahren. Wir möchten eure Intuition prüfen, euer Gespür für den richtigen Weg. Dazu schicken wir euch heute paarweise in das Unterbewusstsein, das heißt in den Traum einer Testperson, die sich in der Dritten Zone befindet. Ihr betretet den Traum abwechselnd zunächst als Protektor und anschließend als Observer.« Wieder huscht ein Lächeln über Xaviers Gesicht. »Ein ausgebildeter Protektor könnte die Träume einer Testperson so verändern, also modulieren, dass sie nach und nach in eine höhere Energiezone aufsteigt. Aber keine Sorge, das verlangen wir nicht von euch. In einer einzigen Sitzung wäre das selbst für einen geübten Protektor kaum machbar. Es genügt, wenn ihr den Traum der Testperson minimal positiv beeinflusst. Wir kontrollieren das anhand verschiedener physiologischer Werte, zu denen auch die Gehirnfunktionen zählen. Wie ihr dabei vorgeht, überlassen wir eurer Fantasie. Da ihr über keine Erfahrung verfügt, müsst ihr allerdings zweierlei beachten. Erstens: Sprecht die Testperson nicht an. Zweitens: Nehmt weder im Traum noch im Wachzustand Blickkontakt auf. Damit minimiert ihr das Risiko, dass ihr euch mit den negativen Energien infiziert. Und denkt daran: Wer die Prüfung bestehen will, muss sich in der Ersten Zone halten.«

Während Xavier spricht, beuge ich mich immer weiter vor, sauge jedes Wort förmlich in mich hinein. So viel hängt davon ab, dass ich heute alles richtig mache. Mein Vater hat nur diese eine Chance.

»Der Observer steigt weniger tief in das Unterbewusstsein der Testperson ein. Er kann den Protektor und die Testperson zwar beobachten, bleibt in dem Traum jedoch selbst unsichtbar. Maximal zeigt er sich als heller Schatten. Sollte sich der Traum in eine gefährliche Richtung entwickeln, gibt uns der Observer ein deutliches ›Ende‹ durch. In dem Fall weckt euch das Team, das die Modulation zusätzlich überwacht. Dieses Team greift auch ein, falls eure physischen und psychischen Funktionen außer Kontrolle geraten.«

O Gott, und was heißt das nun wieder? Absturz in eine Kritische Zone?

»Ich teile euch jetzt in Zweiergruppen ein. Im Vorbereitungsraum«, Xavier deutet auf die Tür, durch die er hereingekommen ist, »wartet ihr, bis man euch zur Prüfung abholt. Ein kleiner Tipp: Nutzt die Zeit und lernt euren Partner oder eure Partnerin kennen.«

Jetzt heißt es Daumen drücken, und zwar so fest, dass sie jeden Moment abbrechen. Wenn bloß Tilda meine Partnerin wird!

Manchmal kommt es mir so vor, als hätten wir aufeinander gewartet, während es mir gleichzeitig ein ewiges Rätsel bleiben wird, warum sich Tilda ausgerechnet für mich entschieden hat, als sie im letzten Herbst in unsere Klasse kam. Alle wollten sie kennenlernen; sie gehört zu diesen Menschen, mit denen du automatisch befreundet sein möchtest, weil sie so viel Energie versprühen. Doch Tilda hat alle links liegen lassen und sich mir zugewandt. Seither schleppt sie mich auf jede Party und jedes Konzert mit, während ich mit ihr lieber meinen Lieblingsplatz besuche: den Himmelsee, wo wir durchs Wasser kraulen und anschließend die Glückskekse essen, für die ich ungefähr einhundertzwölf Rezepte kenne. Wenn wir am Seeufer sitzen, sprechen wir, wie man spricht, wenn man miteinander allein ist. Tilda ist offen, lebhaft und laut, während ich eher ruhig, zurückhaltend und vernünftig bin. Ich schwimme gern und liebe die Natur, insbesondere die Krähe, die uns manchmal auf unserer Wiese besucht und ihre Freude an meinen Keksen hat. Tilda dagegen bevorzugt Clubs und Wellnesscenter, sofern sie sich das gerade leisten kann. Obwohl sie so zerbrechlich aussieht, ist sie stahlhart. »Durchatmen und weitermachen«, lautet ihre Devise. Sie ist eine, die sich durchs Leben boxt, und sie mag keine Leute, die jammern, also fange ich gar nicht erst damit an – auch wenn ich es gerade liebend gern tun würde, und zwar laut und anhaltend.

»Florentine Swann und Gemma Degano«, sagt Xavier.

Das war’s. Tschüss, Tilda. Mit einem letzten Blick auf meine Freundin steige ich langsam die Stufen zum Podium hinunter, wo mich meine Prüfungspartnerin schon erwartet.

Florentine Swann, groß und blond, mit heller, geradezu schimmernder Haut. Sie lächelt. Kategorie zwei. Eindeutig.

 

Der Vorbereitungsraum ist ein Saal ohne Fenster. Von den Mittagslichtlampen an den Wänden strahlt uns mattgoldenes Licht entgegen. Der Dacheinsatz imitiert einen blauen Sommerhimmel, wie ich ihn von alten Abbildungen kenne. Sofas zum Relaxen stehen im Raum verteilt, ein mit Früchten und Freetox-Sandwiches beladenes Buffet rundet das Luxusclub-Ambiente ab. An den Wänden leuchten Sätze wie Glück ist das Ziel des natürlichen Lebenswillens, daher muss Glück auch das Ziel unserer Zivilisation sein. Oder: Wer sich selbst optimiert, optimiert sein Glück.

Wir setzen uns. Es duftet nach Happinezz, einem superpotenten Glücksaroma aus Rose und Pfirsich. Zwischen uns plätschert ein Tischbrunnen. Tilda kommt mit ihrem Partner herein, einem Jungen mit asiatischen Gesichtszügen, die beiden reden und lachen, als würden sie sich seit hundert Jahren kennen. Tilda freundet sich immer binnen fünf Sekunden mit allen möglichen Leuten an, für sie geht das leichter als atmen. Auch Florentine und ich sollten mal loslegen mit dem Kennenlernen, doch vorläufig kann ich sie nur anschauen. Sie ist so schön, dass mein Blick förmlich an ihr kleben bleibt. Es ist nicht so, dass ich hässlich bin. Ich gehöre zum Typ Unauffällig; meine Haare – schokoladenbraun, dick und glänzend – sind sogar richtig hübsch. Doch Florentine sieht in ihrem von Silberfäden durchzogenen Kleid aus wie eine mit Raureif überpuderte Fee. Sie sitzt vollkommen reglos da, nur ihre Hände öffnen sich. Schließen sich. Öffnen sich.

»Scheiße, und wie soll das gehen?«, platzt die Fee plötzlich heraus. Ihre Stimme zittert. »Den Traum positiv verändern, aber kein Blickkontakt, hallo? Sollen wir ein paar rosa Hoppelhäschen vorschicken, oder was?«

Nicht auf ihren Stress einsteigen. Cool bleiben. Ich setze mich aufrecht hin und sage ruhig: »Das wäre mal eine Maßnahme.«

»Und wenn uns die Testperson angreift? Die sind doch alle komplett verdreht im Kopf. Keine Ahnung, was denen im Traum einfällt. Womöglich finden sie es toll, andere Leute anzustecken. Oder sie bringen dich gleich um.«

»Ich habe gehört, es kommt extrem selten vor, dass jemand in seinen Träumen zum Killer wird.«

»Ja, aber dieser Xavier sagt, dass sich der Traum in eine gefährliche Richtung entwickeln kann.« Mit beiden Händen harkt sie ihr blondes Haar nach hinten. »Was soll das heißen, was meinst du?«

»Magst du einen Orangensaft?«

»Wie bitte?«

»Saft. Für dich.«

Sie lächelt schwach. »Ja. Das wäre gut.«

Vom Buffet hole ich eine Karaffe und zwei Gläser und schenke uns ein.

»Ich wette, die haben richtig heftige Fälle für uns rausgesucht, Testpersonen, die davon träumen, dass sie andere foltern, so Horrorsachen mit rausgerissenen Zähnen und …« Als von einem anderen Sofa lautes und leicht überdrehtes Gelächter zu uns herüberdringt, hält sie inne. Offenbar haben die zwei Jungs dort ein ähnliches Thema am Wickel. Nur gehen sie eben auf Jungs-Art damit um.

Florentine beißt sich auf die Unterlippe. »Entschuldige. Ich klinge total negativ.« Sie trinkt einen Schluck und hat nun ein Saftbärtchen, wodurch sie noch bezaubernder wirkt. »Ich stelle mir das so vor«, sagt sie entschlossen. »Die Testperson, in deren Traum ich gleich reinmuss, war mal voller schöner Gedanken und Gefühle. Und dann hat sie einen Haufen Müll darübergekippt. Also helfe ich ihr, den Müll wegzuschaufeln. Die Dreier und Vierer haben nämlich ein Talent, Müll anzuhäufen, das ist ihr Problem. Sie halten sich ständig vor Augen, was alles schiefgehen kann. Das muss man aus ihnen rausschaufeln.« Bei dieser Aussicht gerät sie richtig in Fahrt. »Ich liebe mich, mein Leben wird von Tag zu Tag reicher, ich gestalte meine Zukunft, wie ich es will. Solche Sätze muss man in sie reinpflanzen. Das meint jedenfalls meine Mutter.« Sie stellt ihr Glas ab und zupft an ihren Fingernägeln. »Beatrix Swann«, sagt sie, wobei ihre Stimme plötzlich kaum noch gegen die Gespräche im Hintergrund ankommt. »Bestimmt hast du von ihr gehört.«

Allerdings. Beatrix Swann, die berühmteste Protektorin des Landes. Das Gesicht der Akademie. Wann immer sie über die Akademie berichten, steht sie vor dem Hauptgebäude oder sitzt neben einem Kamin, in dem ein goldenes Feuerchen tanzt, während ihr ein Journalist ein Mikrofon unter die Nase hält. Die Ähnlichkeit hätte mir gleich auffallen müssen.

»Alle erwarten von mir, dass ich so gut werde wie meine Mutter.« Florentines Stimme wird, während sie spricht, immer leiser. »Camps, Coachings, ich hatte das volle Programm. Man kann alles schaffen, wenn man nur will.«

Okay. Sieht so aus, als sollte ich ein bisschen Erste Hilfe leisten.

In den nächsten Minuten lenke ich unser Gespräch behutsam auf ein paar Filme, die mir auf die Schnelle passend erscheinen. Keine Liebeskomödien, sondern die einschlägigen Superheldinnenstreifen. Egal, ob da ein Mädchen in einem Dschungel voller fleischfressender Rieseninsekten feststeckt oder von einem Dämonenherrscher eingekerkert wird – sie kämpft, hat Ideen, kommt raus. Schafft es. So wie wir es schaffen. Allmählich entspannt sich Florentine. Und, angenehmer Nebeneffekt: Ich entspanne mich auch. Wenn du dafür sorgst, dass es anderen besser geht, hebt sich automatisch deine eigene Stimmung.

Und das funktioniert genau so lange, bis die ersten Paare zur Prüfung abgeholt werden.

Tilda, die begeistert mit ihrem neuen Freund plaudert, guckt schnell zu mir herüber. Über ihrer Stirn steht eine Locke senkrecht in die Höhe, ihre Nasenspitze sieht etwas blass aus. Es hat begonnen. Sogar für Tilda. Auch Florentine wird wieder nervös.

»Meinem Daddy ist es egal, ob ich bestehe.« Sie steckt einen zittrigen Zeigefinger in den Wasserstrahl des Tischbrunnens und bewegt ihn fahrig hin und her. »Er hat eine Firma für interaktive Meditationsprogramme, da könnte ich einsteigen. Und was machen deine Eltern?«

Ein Wassertropfen perlt von ihrer Fingerspitze und zerplatzt auf der Tischplatte. Kurz überlege ich, eine Lüge zusammenzubasteln, doch meine Fantasie sollte ich mir wahrscheinlich für die Modulation aufsparen.

»Mein Vater ist … war Apotheker. Er ist vor drei Monaten nach Cloverhill umgezogen.«

Cloverhill. Der nächstgelegene Quarantänebezirk. Der Ort für diejenigen, die in eine Kritische Zone abrutschen und sich den Aufenthalt in einem Kurzentrum nicht leisten können. Sozialwohnungen, Essensausgaben, Kleiderkammern. Doch vor allem: Sicherheitszaun und Kontrollposten, zum Schutz der gesunden Bevölkerung. Nichts steckt so schnell an wie ein negativer Gedanke.

»Willst du darum an die Akademie?« Über den Rand ihres Glases betrachtet mich Florentine halb erschrocken und halb mitfühlend. »Du willst deinen Vater rausholen, stimmt’s?«

»Ja«, sage ich schlicht.

Weil ich ihn retten muss. Manchmal würde ich gern schreien. Oder gar nichts mehr fühlen. Ohne Erinnerungen leben. Ein Kloß steigt mir in die Kehle. Nicht jetzt, bitte. Ich lege eine Hand an meinen Hals, spüre die Wärme meiner Haut, atme und lächle, denke gute Gedanken. Ich kämpfe für meine Ziele, bestehe die Prüfung, rette meinen Vater.

»Du darfst nie die Hoffnung aufgeben«, sagt Florentine entschieden. »Meine Tante Sofia ist schon zum dritten Mal in Cloverhill. Sie wohnt jetzt seit elf Monaten dort, aber bisher ist sie immer wieder rausgekommen. Und sie schafft es auch dieses Mal. Ich besuche sie ab und zu, und weißt du, was? Sie ist richtig gut drauf. Sie erfindet Rezepte für vegane Marshmallows, singt jeden Samstag in einer Karaokebar und leitet eine Selbsthilfegruppe. Und sie ist nur mit Leuten aus der Dritten zusammen, darauf achtet sie. Sie sagt, von denen unter dir, von den Vierern musst du wegbleiben, die sind Gift. Die Fünfer sowieso. Sie schafft es wieder hoch in die Zweite, das weiß ich. Du musst positiv bleiben. Dein Vater, der packt das.«

Ich verkneife mir die Frage, warum Florentines Mutter, die berühmte Protektorin, dieser Tante Sofia nicht hilft, schließlich dürfen die Mitarbeiter der Akademie alle vier Jahre einen Angehörigen ins Mandala-Zentrum holen. Für die Studenten gilt übrigens dasselbe – schon ab dem zweiten Semester. Und das ist genau der Grund, aus dem ich eine Protektorin werden muss. Das Mandala-Zentrum ist nicht irgendein Kurzentrum, sondern die berühmteste Einrichtung der Welt, und zwar genau hier, auf dem Gelände der Akademie. Wenn ich meinen Vater retten kann, dann, indem ich dafür sorge, dass er ins Mandala-Zentrum aufgenommen wird.

»Und was macht deine Mutter?«, fragt Florentine.

Der Tischbrunnen plätschert. Die Stimmen der anderen Mädchen und Jungen murmeln. Mit hoffentlich ausdrucksloser Miene sehe ich Florentine an, während der Kloß in meiner Kehle wieder anschwillt. Was soll ich ihr antworten?

Mein Vater hat mir erzählt, dass meine Mutter mich ebenso herbeigesehnt hat wie er. Trotzdem ist sie während ihrer Schwangerschaft bis in die Fünfte abgestiegen. Keine Ahnung, ob es an mir lag. Vermutlich schon. Vielleicht wollte sie mich doch nicht so sehr, wie sie geglaubt hatte. Die Aussicht, mich auf die Welt zu bringen, hat jedenfalls nicht genügt, um sie in einer höheren Zone zu halten. Ich habe nicht genügt. Kurz nach meiner Geburt hat der Glanz sie geholt.

»Sie …« Ich räuspere mich und setze erneut an: »Sie ist gestorben, als ich noch sehr klein war.«

»Oh. Das tut mir leid.« Florentine lächelt unbestimmt. »Aber das, was einen Menschen wirklich ausmacht, lässt er zurück, wenn er geht. Wir sollten nicht um das trauern, was hinter uns liegt, sondern uns über das freuen, was noch kommt.«

Sätze, wie ich sie im Laufe der Zeit oft gehört habe. Zum Glück will sie nicht wissen, ob meine Mutter vom Glanz getötet wurde. Mit einem Vater in der Dritten klingt es schon merkwürdig genug, dass ich mich an die Prüfung heranwage. Keiner, der noch alle Lollis in der Tüte hat, würde sich bei meiner Geschichte Chancen ausrechnen. Andererseits weiß die Akademie über meine Familie Bescheid – und hat mich trotzdem eingeladen.

»Und dein Vater ist seit drei Monaten weg?« Florentine mustert meinen Arkanit so intensiv, dass ich selbst nachgucke. Doch der flache, wie ein mandelförmiges Auge geformte Stein auf meiner Brust strahlt in reinem Gold. »Nicht ein grauer Faden. Wie machst du das? Irgendein Geheimnis?«

Ich schüttele den Kopf, schenke frischen Saft nach und drehe mich leicht von ihr weg. Schließe kurz die Augen. Weil es nicht anders geht.

Erst ist es dunkel. Doch mit dem nächsten Atemzug steigen aus meinem Inneren die Farben des Glanzes auf und beginnen ihren hypnotischen Tanz. Es ist wunderschön. Ein paar kostbare Sekunden gebe ich mich dem Anblick noch hin, bevor ich die Augen widerstrebend wieder öffne.

Es geht mir gut. Ich bin dort, wo ich sein möchte.

Die Tür öffnet sich. Xavier kommt herein und bittet die nächsten fünf Paare zu sich. Wir gehören dazu. »O Gott«, flüstert Florentine.

Tilda springt von ihrem Sofa auf, sprintet zu mir herüber wie ein flinkes Eichhörnchen, nimmt mir mein Glas ab und umarmt mich. Ich klammere mich an sie, rieche ihr Superparfum, spüre ihre Kringellocken an meiner Wange.

»Los jetzt, Gemma.« Mit einem Finger stupst sie von unten gegen mein Kinn. »Kopf hoch. Du schaffst das. Wenn du es willst.«

Hinter Florentine trete ich in den Gang hinaus. Auf der Schwelle drehe ich mich noch einmal um. Tilda formt mit Zeige- und Mittelfinger ein V. Ehe ich ihren Gruß erwidern kann, schließt sich die Tür zwischen uns.

Das Licht ist gedämpft, die roten Stahltüren zu beiden Seiten des Ganges sehen mehr nach Fabrik als nach Wissenschaft aus. Vor der dritten Tür links bleibt Xavier stehen, zieht kurz seine Liste zurate und liest zwei Namen vor, Christopher Irgendwas und Till Sonstwie. Die beiden treten vor. Xavier öffnet die Tür, hinter der ein Streifen bläuliches Licht schimmert, winkt die beiden hindurch und schließt die Tür wieder. Meine Zunge ist ein Streifen Sandpapier. Wir gehen weiter, den Gang hinunter, das hohle Tapp-Tapp unserer Schritte dröhnt mir wie Hammerschläge in den Ohren. Die nächste rote Tür, der nächste Blick auf die Liste.

»Florentine Swann und Gemma Degano.«

Obwohl Xaviers Stimme so sanft und freundlich klingt, als könnte uns schon die Andeutung eines kühlen Untertons in die Flucht schlagen, weiche ich zurück. Mein Magen flattert. Okay. Los jetzt.

Xavier drückt die Klinke herunter. Die Tür öffnet sich wie ein roter Mund. Wir treten hindurch.

»Florentine«, sagt eine weiche Stimme. »Gemma. Wie schön, euch kennenzulernen.« Eine Frau von etwa vierzig Jahren kommt auf uns zu. Sie sieht aus wie eine Elfenkönigin aus einem Fantasystreifen. Fehlt nur das weiße Wallegewand. Gut, aus ihrem honigfarbenen Haar ragen auch keine spitzen Ohren.

Gathea Klett, die Direktorin der Akademie und die Frau, die nicht nur die Modulation entwickelt, sondern sie auch perfektioniert hat, schüttelt uns höchstpersönlich die Hand und lächelt dabei so warm, als hätte sie unserem Kommen den ganzen Tag entgegengefiebert. Der Arkanit auf ihrer Brust leuchtet und glüht.

»Herzlich willkommen.«

»Ha-hallo«, stottere ich. Florentine gibt ein Geräusch von sich wie eine Maus. Mein Puls bockt, hastig schiele ich auf meinen Arkanit hinunter. Erste Zone. Ja, ich bin nervös, doch nervös ist gut, nervös kann ich nutzen, nervös hat mit negativ nichts zu tun.

Gathea winkt uns zu einer Liege. Stoffriemen an den Seiten, ein Bügel, an dem eine weiße Kunststoffmaske hängt. Die orangefarbenen Sitze rechts und links der Liege ähneln diesen Kinosesseln, in denen du stundenlang abhängen kannst, ohne dass ein einziger Muskel verkrampft. Am Kopfteil jedes Sessels ist eine Art Heiligenschein aus Metall befestigt, innen versehen mit zwei optischen Linsen. Ich muss sofort zwinkern, das Ganze sieht aus wie ein Folterinstrument. Von den Heiligenscheinen und der Maske führen unzählige Kabel zu einem silbernen Apparat. Mit seinen grünen Leuchtfeldern und den zahllosen Kippschaltern wirkt er rührend antiquiert, doch der Anblick täuscht. Der Modulator ist das Modernste, was die Glücksforschung zu bieten hat. Ein feines Summen geht von ihm aus, das sich wie eine Nadel in meine Ohren bohrt.

Ob es wehtun wird? Ob … Nein. Stopp. Ich habe keine Angst. Ich bin … was war ich? Nervös. Genau.

»Dann setzt euch mal«, sagt Gathea.

Ich versinke in meinem Sessel. Einige Zentimeter über mir schwebt das heilige Folterinstrument.

»Die Technik des Luziden Träumens lernt ihr bereits im Kindergarten«, beginnt Gathea. »Ihr wisst, wie ihr eure Träume verändern könnt. Heute beeinflusst ihr nun zum ersten Mal den Traum und damit das Unterbewusstsein eines anderen Menschen. Es ist noch keine echte Modulation, das ist bei vergangenen Prüfungen zu oft nach hinten losgegangen. Trotzdem sollt ihr versuchen, positiv auf den Traum eurer Testperson einzuwirken.«

Ich drücke mich in die Polster, am liebsten würde ich darin verschwinden. Prompt richtet Gathea ihren Blick auf mich. »Möchtest du den Anfang machen, Gemma?«

»Gern«, krächze ich.

»Du weißt, was ein Grenzgänger ist?«

Eine rhetorische Frage. »Ein … ein Grenzgänger …« Ich räuspere mich. »Ein Grenzgänger hat seinen Arkanit mit der Droge Silver Ice manipuliert. Silver Ice friert den Arkanit in der Zweiten Zone ein, sodass der Grenzgänger in die von ihm angestrebte Dritte Zone absteigen kann, während sein Arkanit weiter die Zweite anzeigt.«

Gathea nickt und seufzt leise. »Eure heutige Testperson ist Keno Reed, 18 Jahre.« Während sie spricht, kühlt ihre Stimme um mindestens zehn Grad ab. »Seine Eltern arbeiten mit großem Erfolg als Therapeuten. Sein Vater war Mitglied der Ethikkommission, die unsere Regierung in Gesetzesfragen berät. Er hat sein Amt vor einigen Jahren niedergelegt und widmet sich seither seiner Karriere als Buchautor. Die Mutter ist bundesweit mit ihren Glücksseminaren unterwegs. Bruder Benjamin studiert Komplementärmedizin. Im Gegensatz zu Benjamin hat Keno keine Pläne für die Zukunft entwickelt. Er ist lieber mit den Grenzgängern in Kontakt getreten und hat seinen Arkanit manipuliert. Glücklicherweise hat eine Lehrerin an seiner Schule Verdacht geschöpft und die Zentrale für Manipulation eingeschaltet. Eine Identifikation wurde angeordnet, das heißt, mit einem Eingriff in Kenos Unterbewusstsein wurde Silver Ice erfolgreich neutralisiert und Keno Reed als Grenzgänger überführt. Da er bereits volljährig ist und dem Strafrecht für Erwachsene unterliegt, wurde er als Testperson an die Akademie überstellt.«

Ich kann nicht verhindern, dass sich mein Gesicht kurz verzieht. Dieser Junge, von dem Gathea spricht … dieser Keno. Er ist absichtlich in die Dritte Zone abgestiegen – weil er neugierig war? Jedenfalls muss er völlig gleichgültig gegenüber den Menschen gewesen sein, die ihn lieben. Er hat nicht nur sich selbst, sondern seine Familie, seine Freunde, überhaupt alle in seinem Umfeld in Gefahr gebracht und in Kauf genommen, dass sie sich mit seiner negativen Energie infizieren.

»Du wirst nun an einem Traum von Keno Reed teilnehmen«, Gathea legt eine Hand auf meinen Unterarm, drückt ihn kurz und wendet sich Florentine zu, »während du Gemma als Observerin begleitest. Anders als der Protektor sieht ein Observer nur einzelne Traumbilder. Wie viele es sind, hängt vom Training ab. Anhand dieser Bilder musst du entscheiden, ob und wann der Traum Gemmas Energiezone gefährdet und wir ihn abbrechen müssen.«

Florentine nickt. Ihre Lippen zittern.

»Manche Protektoren«, Gathea dreht sich wieder zu mir hin, »nehmen den Observer als hellen Schatten wahr. Das kommt allerdings eher selten vor. Das Kontrollteam erhält keine Bilder, überwacht aber eure psychischen und physiologischen Werte.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Wenn Keno gleich hereingebracht wird, sprecht ihr ihn bitte nicht an und unterlasst jeden Blickkontakt. So reduziert ihr die Ansteckungsgefahr.«

Mit diesen Worten geht sie zu der roten Stahltür hinüber und entriegelt sie. Florentine schaut mich aus kugelrunden Augen an »Kein Schutzanzug?«, flüstert sie entsetzt.

Die Anzüge tragen wir üblicherweise beim Kontakt mit Menschen, die sich in einer Kritischen Zone befinden. Negative Gedanken und Gefühle senden Schwingungen aus, schmutzige, unsichtbare Energiewellen, die dich infizieren können. Manche Leute behaupten zwar, das sei nicht abschließend erwiesen, doch in Deutschland ist das Tragen der Anzüge bei Kontakt vorgeschrieben: eine transparente Haut, die mithilfe eines hochkomplizierten Verfahrens energetisch aufgeladen wird und dich eine Stunde lang gegen die negativen Schwingungen der Dreier, Vierer und Fünfer abschirmt.

»Gehört wohl zur Prüfung«, wispere ich zurück. »Ob wir uns ohne Schutzanzug in der Ersten halten können.«

Florentine ist käseweiß. Ich wahrscheinlich auch.

Ein junger und ein älterer Mann betreten den Raum, der Ältere hält den Jüngeren unter der Achsel gefasst. Wie Gathea trägt er keinen Anzug, wahrscheinlich sind die Akademieleute so stabil, dass sie solche Hilfsmittel nicht benötigen.

Und dann der Jüngere. Keno Reed ist ein ziemlich großer Junge, der Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Beruhigungsmittel, vermute ich. Gathea hat uns angewiesen, dass wir weggucken sollen, trotzdem bleibe ich kurz an seinen Augen hängen. Es sind die glänzendsten Augen, die ich je gesehen habe, in einer blauen Farbe, die Lagune heißen könnte und die man eigentlich nur mit Kontaktlinsen hinbekommt.

Keno Reed, denke ich. Und: ein Grenzgänger. Und: Ich verstehe solche Menschen nicht.

Entschlossen zwinge ich meinen Blick von seinen Augen weg und hinunter auf seine Brust. In seinem Arkanit schwebt der graue Nebel. Keno hat sich entschieden. Er hat in voller Absicht den Weg in die Dritte Zone gewählt. Ein Grenzgänger – und weil sie ihn geschnappt haben, ist er jetzt außerdem eine Testperson. Im Gegensatz zu mir ist er nicht freiwillig hier, doch das hat er sich selbst zuzuschreiben. Die Grenzgänger wissen, was ihnen bei einer Identifizierung blüht.