Genug - Louise Juhl Dalsgaard - E-Book

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Louise Juhl Dalsgaard

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Beschreibung

Nach einem mit Bravour absolvierten Schulabschluss entgleist das Leben einer jungen Erwachsenen, die sich in der Obsession verfängt, weniger werden zu wollen. Innerhalb eines Jahres verliert sie mehr als die Hälfte ihres Körpergewichts. Was folgt, sind wiederholte Aufenthalte in Kliniken und ein mühevoller Weg zurück. Louise Juhl Dalsgaards poetische und wunderbar verwickelte Erinnerungstableaus erzählen von dem problematischen Verhältnis zu den Eltern, von Enttäuschungen, aber auch von herzerwärmenden und komischen Momenten. Anhand nüchterner Krankenakten skizziert sie das durchaus hoffnungsvolle Bild einer Genesung. Zugleich unsentimental und gefühlsgeladen, voll Wärme und Leben: Ein eindrucksvoller und immer wieder erstaunlich humorvoller Roman über eine Frau, der das Leben beinahe entgleitet.

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Seitenzahl: 88

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Die Übersetzung wurde vonStatens Kunstfond in Kopenhagen gefördert.

© 2017 Louise Juhl Dalsgaard und EC Edition, Aarhus

Titel der dänischen Originalausgabe:

Det dér og dét der

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe:

Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Vanessa Skotnitsky/Arcangel Images

ISBN 978-3-7117-2105-1

eISBN 978-3-7117-5440-0

Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Louise Juhl Dalsgaard, geboren 1973, ist ausgebildete Bibliothekarin. Sie schreibt Lyrik und Kurzprosa und unterrichtet kreatives Schreiben. Sie hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht. Ihr Romandebüt »Det dér og dét der«, »Genug«, erschien 2017 in Dänemark, 2019 folgte »Alle dage tilbage«. Louise Juhl Dalsgaard lebt und arbeitet in Skanderborg bei Aarhus.

Gerd Weinreich studierte Psychologie, Germanistik und Pädagogik. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Dänemark lebt er heute als Autor, Redakteur und Übersetzer aus dem Dänischen und Norwegischen in Hamburg. 1993 erhielt er den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

LOUISE JUHL DALSGAARD

GENUG

ROMAN

Aus dem Dänischen vonGerd Weinreich

PICUS VERLAG WIEN

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

Ich vertraue meine Geheimnisse einem Stein an, dann grabe ich ihn ein, weit weg, ich habe Angst, dass er sich verplappert.

Ich habe kein Gefühl in den Fingerspitzen. Es ist die Jahreszeit, gemischt mit der Angst, gemischt mit plötzlichen Krämpfen. Ein Körper hat sich in Haut und Haar eingepackt, er ähnelt etwas, was mir ähnelt. Wäre da nicht gerade die Gefühllosigkeit in den Fingerspitzen und so weiter.

Wie beschreibt man eigentlich etwas, das man nicht spüren kann – eine Phantomleere?

Ich schreibe:

»Da ist etwas tief innen in der Mitte, das nicht wehtut.«

Am 24. August 1992 schreibe ich auf einen Zettel: »Ab heute will ich gesund leben, Sport treiben und abnehmen.«

Ich bin gerade mit dem Gymnasium fertig, ich habe einen lieben, Saxofon spielenden Freund, meine Eltern sind weder gewalttätig noch auf andere Weise rabiat. Ich möchte Literaturwissenschaft studieren und klug sein, nicht nur im Kopf, sondern auch mit dem Herzen, und werde die Liebe so sehr einfordern, dass sie wirklich wird. Ich möchte die Welt spüren, nicht auf Abstand und mit Vernunft; nein, ich möchte mit dem Feuer spielen, bis ich nach Pisse rieche. Das sind natürlich hardcoremäßige Vorhaben, schwer anzupacken. Also schreibe ich stattdessen diesen kleinen Zettel und hefte ihn an meine Pinnwand: »Ab heute will ich gesund leben, Sport treiben und abnehmen.« Im Laufe von neun Monaten nehme ich vierzig Kilo ab, werde von einer Hochschule nach Hause geschickt, weil man es nicht wagt, die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, ziehe in eine Dachgeschosswohnung in Kopenhagen, lese Herbjørg Wassmos »Dina« und weine, weil sie so hässlich und liebenswert zugleich ist. Eine Ärztin weist mich ins Krankenhaus ein, weil sie eine Latenzzeit von mehr als fünfzehn Sekunden zwischen ihrer Frage und meiner Antwort feststellt. Nicht weil ich meine Antwort abwägen müsste, sie fragt mich nur nach meinem Namen, sondern weil mein Gehirn auf Stand-by geschaltet ist. Ich komme im Frederiksberger Krankenhaus auf eine somatische Station mit Aidskranken, Krebskranken – und dann ist da noch Hanne, so heißt sie, glaube ich. Hanne war plötzlich gelähmt. Von heute auf morgen konnte sie nicht mehr gehen. Es war Stress, wie sich zeigte. Sie hatte über einen längeren Zeitraum ein Verhältnis mit einem Prominenten, er liebte sie sehr, wollte aber seine Frau nicht verlassen. Dieser Druck – heimlich und portionsweise zu lieben – lähmte sie. Nach sechs Wochen im Krankenhaus kann sie wieder gehen. Ich weiß nicht, was aus Hanne und ihrem heimlichen Verhältnis geworden ist, aber ich habe in Ud & Se gelesen, dass dieser Prominente immer noch mit seiner Frau verheiratet ist.

Während die Menschen um mich herum sterben, lahm oder gesund werden, werde ich rund um die Uhr von Medizinstudenten überwacht, die derart eifrig bestrebt sind, Verständnis für mich zu zeigen und Rücksicht auf mich zu nehmen, dass ich sie um meinen kranken kleinen Finger wickeln kann. Ich schaffe es, Essen in Jacken- und Hosentaschen und im Schlüpfer zu verstecken, Saft aus dem Fenster zu kippen und mich in die Krankenhausküche zu schleichen und meine kalorienreiche Kost gegen Diabetikerkost auszutauschen. Schließlich werde ich entlassen – auf einen Reiterhof in Hundested. Das hat mir gerade noch gefehlt. Es ist kalt und langweilig und wahnsinnig einsam, ich habe wenige Erinnerungen daran, ich bin dünn und müde und mein Gehirn ist auf Sparflamme. Aber ich kaufe mir eine Katze, Aishaa, für dreitausend Kronen, und die bekommt all die Liebe, die ich mir selbst nicht gönne. Ich esse schimmeliges Brot in der Hoffnung, dass ich krank werde und daran sterbe. Irgendwann komme ich weg von dort, fange an, Literaturwissenschaft zu studieren, hier erinnere ich mich unter anderem an Tue, Silberhose und Locken, wahnsinnig schlau. Ich hingegen bin nicht besonders schlau, denn ich konzentriere alle meine Kräfte darauf, auf leeren Magen jeden Morgen zwei Kilometer zu schwimmen und nach der Vorlesung zehn Kilometer zu laufen. Ich esse Tomaten aus der Dose, lutsche Brühwürfel, trinke Southern Comfort, ziehe um nach Aalborg, studiere Bibliothekswissenschaft, habe einen Heimtrainer und einen Stairmaster in meiner Einzimmerwohnung. Ich muss ja in Bewegung bleiben. Esse mich nachts satt, wenn die Vernunft aussetzt und der Körper sprechen darf, überlebt, spindeldürr, sich sehnt, fertig ausgebildet wird.

Was war das denn nun mit Feuer und Pisse, was anfangs so wichtig war?

Ich ziehe nach Aarhus und studiere weiter (weiter, immer weiter), ende im Zentrum für Essstörungen, zehn Monate, mit einer Sonde gefüttert und so nah dran an einer Persönlichkeitsspaltung, wie man es nur sein kann, ohne es eigentlich zu sein. Mein Gehirn möchte gesund sein, mein Körper beharrt darauf, dass ich es nicht wert bin. Jede Nacht, in der ich dort bin, nehme ich einen Bürostuhl als Hantel und stemme ihn, hoch, runter, hoch, runter, und mache dabei jede Nacht drei Stunden lang Kniebeugen. Und trinke Wasser vor jeder Gewichtskontrolle. Erreiche schließlich die famosen fünfzig Kilo, werde zur Dauerbehandlung in eine Einrichtung auf einem Acker in Mitteljütland überwiesen. Hier haben wir Gruppensitzungen: Ob ich mir nicht neue Socken kaufen kann, denn einer der Bewohner kann die, die ich anhabe, nicht leiden, und »übrigens knirschen deine Schuhe«.

Dann denke ich, nun musst du dich aber verdammt noch mal zusammenreißen, sonst musst du noch den Rest deines Lebens damit verbringen, auf einem Acker in Mitteljütland über Strümpfe und Schuhe zu diskutieren. Und ich reiße mich zusammen, langsam, aber sicher. Albere mit Männern herum, lese Bücher und denke verwirrte Gedanken, bekomme eine Arbeit, mache Dinge, die man auch macht, wenn man nicht krank ist, ich funktioniere.

Voruntersuchung 12.01.98

Pat. ist überwiesen von Oberarzt XXX, Abschnitt B14, Ålborg, zwecks Behandlung.

Kurz zusammengefasst ist Pat. in Ålborg geboren und aufgewachsen. Die Mutter das erste Jahr Hausfrau, danach Arbeit als Krankenhauslaborantin. Der Vater ist Professor für Sprachtechnologie und war Gastprofessor in Kanada, wo die Familie ein Jahr wohnte, als Pat. ganz klein war.

Pat. beschreibt ihre Schulzeit als glücklich, war sozial aktiv, extrovertiert, kam schulisch gut zurecht. Hat das Abitur mit einem Schnitt von 1,5 bestanden. Datiert ihre Essstörung präzis auf den 24.08.92 im Zusammenhang mit dem Abitur. Fühlte sich leer und hatte Schwierigkeiten, ohne Schule einen Lebenssinn zu sehen. Fühlte sich auch etwas zu dick, wog 72 kg, was bei einer Größe von 164 cm BMI 27,1 entspricht. Beschloss daher, Sinn in einer Gewichtsreduktion zu finden, und verfiel dem anorektischen Verhalten, das Pat. seitdem zeigt.

Symptome von Unterernährung: Frösteln, Müdigkeit, Schlafstörungen, Bauchschmerzen, Amenorrhö, Gliederschmerzen, verminderte Konzentrationsfähigkeit, Ödeme an Händen, Knien und Füßen und in der Augenregion.

XXX, 1. Assistenzarzt/dr

1

»Sollen wir einen Spaziergang machen«, fragt meine Mutter, »sollen wir einen Hefeteig ansetzen?«

Ich weiß nicht, wie lange sie noch zu fragen gedenkt, und ich weiß nicht, ob sie erwartet, dass ich antworte.

»Alles gut?«, fragt sie und geht zur Tür hinaus, ohne sich umzudrehen.

Ich kann die ganze Zeit ihre Schritte, ihr Gerede hören.

Schließlich schlägt sie vor, dass wir uns einen Hund anschaffen sollen, genau das sagt sie. Dass wir uns einen Hund anschaffen sollen!

»Ich will keinen Hund«, antworte ich.

»Dieses Herumgewedele halte ich nicht aus, ich habe keinen Schwanz, mit dem ich ihm antworten könnte.«

Im Fernsehen sehen wir eine Sendung über die unsterbliche Qualle Turritopsis nutricula. Das Tier ist theoretisch unsterblich, da es sich von einem geschlechtsreifen Stadium in ein unreifes Stadium zurückentwickeln kann.

Als würde ein Mensch sich vom Erwachsenen zum Kind entwickeln.

Es ist Juli und die kräftigen Sonnenstrahlen fallen so, dass alles im Zelt in der Farbe des Zelttuchs leuchtet.

Ich sitze drin und denke: So ist es, sich orangefarben zu fühlen.

Später: Fühlt es sich so an, ein Mensch zu sein?

In meiner Klasse ist ein Mädchen. Monique. Sie ist wie ein Edelstein und hat eine Zahnspange.

Ich sage meiner Mutter, dass ich auch eine Zahnspange möchte, aber sie faltet ein Geschirrtuch in der Mitte, einmal, und dann noch einmal. Dann schaut sie mich an und sagt:

»So hängen die Dinge nicht zusammen.«

Ich frage:

»Wie dann?«

Ich liebe Lieder wie zum Beispiel »Tom Dooley« und »Mariechen saß weinend im Garten«, aber mein Musiklehrer verbietet mir zu singen, denn ich singe zu laut, so ist es mit mir, zu laut, zu liebebedürftig, zu viel. Ich liebe die Sommer, die heißen, und ich laufe herum und gieße in allen angrenzenden Gärten, als wäre das eine Art Strafe für etwas, von dem ich nicht so recht weiß, was es ist. Und ich liebe die langen Abende, an denen ich derart die Klappe halte, dass es meinem Vater auffällt und meine Zähne vor Freude prickeln.

Es gibt auch Tage, an denen ich aufwache und alles vergessen habe – irgendwie ALLES. Zum Beispiel, wozu Schuhe eigentlich gut sind.

In einem Winter bekomme ich ein Sonnenekzem und Fieber, und in meiner Verwirrung stelle ich mir vor, dass ich eine Eidechse bin, die den Schwanz verliert. Ich liege in meinem Bett und rufe: »Ich verschwinde, ich verschwinde.«

Später fange ich an zu zweifeln. Vielleicht, weil ich aufhöre zu essen, so in der Art »wenn A, dann B«, »wenn Haut, dann Knochen«.

Es vergehen auf jeden Fall viele Jahre, bevor ich erkenne, dass kein Trost darin liegt, irgendwie zusammenzuhängen, sondern dass man auch so leben kann wie eine Eidechse ohne ihren Schwanz.

Als ich acht bin, wünsche ich mir ein Pferd.

Meine Mutter sagt, so was macht viel zu viel Arbeit. Stattdessen gibt sie mir Geld. Davon kann ich mir eine Schildkröte kaufen.

Ich taufe die Schildkröte im Waschbecken.

Kaninchen nenne ich sie.