Gerächt - Dirk Tolksdorf - E-Book

Gerächt E-Book

Dirk Tolksdorf

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Beschreibung

Das Buch beruht auf wahren Begebenheiten! Ein Kind wird über mehrere Monate von einer Gruppe Männern unter Drogen gesetzt und sexuell missbraucht. Karin Küster ist eine noch junge Polizeihauptkommissarin. Ihr aktueller Fall ist geständig und steht blutverschmiert vor dem Polizeirevier. Die Hintergründe der Tat erschüttern nicht nur die Polizistin. Sie muss lernen, wozu Menschen fähig sind. Immer tiefer schaut sie in die Abgründe von menschlichem Abschaum. Ebenfalls erkennt sie, wie schnell eine Familie an einer Tat zerbrechen kann.

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2022

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WARNUNG

Der Inhalt dieses Buches kann empfindliche Menschen

triggern. Sollte das bei Ihnen der Fall sein, dann melden

Sie sich bitte sofort an eine entsprechende Stelle, wie z. B.

einem Therapeuten oder der Telefonseelsorge.

Triggernde Inhalte können u.a. sein:

- sexuelle Gewalt an Kindern

- Gewalt an Erwachsenen und Kindern

- Drogenkonsum

HINWEIS

Einige Passagen in diesem Buch beruhen auf wahre Begebenheiten!

Die Namen zu den Personen sind frei erfunden und haben nichts mit real existierenden Personen gemeinsam. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen realen Personen, Handlungen und / oder Orte sind rein zufällig!

SIE HELFEN!

Von jedem verkauften Exemplar geht eine Spende an ein Projekt für Opfer von sexuellem Missbrauch. Hinweise zum Projekt und zu den Spenden finden Sie auf meiner Homepage www.dirktolksdorf.de/spenden

Für Yaël und Jannis

Ich Liebe Euch!

Inhaltsverzeichnis

PERSONENÜBERSICHT

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

NEUES KAPITEL

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHSZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREIßIG

EINUNDDREIßIG

ZWEIUNDDREIßIG

DREIUNDDREIßIG

VIERUNDDREIßIG

FÜNFUNDDREIßIG

SECHSUNDDREIßIG

SIEBENUNDDREIßIG

ACHTUNDDREIßIG

NEUNUNDDREIßIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

ACHTUNDVIERZIG

NEUNUNDVIERZIG

DANKE

ANMERKUNG DES AUTORS

ÜBER DEN AUTOR

KONTAKT ZUM AUTOR

PERSONENÜBERSICHT

Bjarne Strauss, *1978, Notfallsanitäter im Rettungsdienst, verheiratet mit Julia

Julia Strauss, *1982, Kellnerin, verheiratet mit Bjarne

Süntje Strauss, *2018, gemeinsame Tochter von Julia und Bjarne

Ute Strauss, *1957, Mutter von Bjarne, mehrfach Geschieden

Stephan Strauss, *1986, Bruder von Bjarne

Anke Früh, *1975, Rechtsanwältin und gute Freundin von Bjarne und Julia

Karin Küster, *1995, Kriminalhauptkommissarin

Ralph Lange, *1982, Psychologe

Tom Pfeffer, *1971, Staatsanwalt

Dr. jur. Paul Biermann *1955, Richter

Jens Kappel, *1955, Staatsanwalt

Niklas Wirtz, *1980, Chefredakteur Süddeutsches Tageblatts

PROLOG

„Hier ist der Polizeinotruf! Wo ist der Notfallort?“, meldete sich der Polizist Bernd Rothmann am Telefon der Polizeileitstelle, der sogenannten LFZ – dem Lage- und Führungszentrum Freiburg.

„Ich habe jemanden getötet und möchte mich stellen. Ich bin nicht bewaffnet und ich werde keinen Widerstand leisten“ bekam Bernd zur Antwort. Bernd glaubte erst an einen üblen Jungenstreich. Dies kommt mit den unterschiedlichsten Geschichten mehrfach am Tag vor. Oft sind es Jugendliche, die unter Alkohol eine Mutprobe durchführen sollen und einen Polizeieinsatz auslösen. Gerne wird dann auch das Anfahren der Polizeistreifen mit dem Handy gefilmt und auf verschiedenen Social-Media-Plattformen veröffentlicht. Im Laufe der Jahre hat Bernd genügend Erfahrungen sammeln können und hatte ein gutes Gespür für Fakeanrufe. Diesmal störte ihn etwas an der Theorie eines Streiches. Die Stimme des Anrufes war zu gefestigt und nicht so zittrig, wie wenn man versucht, stimmlich sehr streng zu wirken.

„Wie heißen Sie“, fragte Bernd.

„Ich bin vor dem Polizeirevier in Bad Säckingen. Ich knie bereits auf dem Boden und werde kooperieren. Bitte kommen Sie raus!“, sagte der Anrufer. Bernd versuchte weiterhin den Anrufer zu identifizieren und schaltete die Ortung der Handynummer ein. Der Punkt auf dem Monitor verriet den genauen Standort des Anrufers.

„Tatsächlich“ sprach Bernd mit sich selbst, „der steht genau vor dem Revierin Bad Säckingen“. Die Örtlichkeit ist auf der Karte gut zu erkennen, denn das Polizeirevier in Bad Säckingen liegt mitten in der Fußgängerzone. Er schaltete das Mikrofon des Telefons wieder ein und sagte zum Anrufer „Bitte bleiben Sie erst mal da, wo sie sind. Ich werde die Kollegen informieren und man wird sich um sie kümmern! Ich bleibe so lange für Sie am Telefon. Auch wenn Sie mich nicht hören, werde ich Sie hören. Verstehen Sie das?“ sagte Bernd.

„Ja, alles klar“, erwiderte der Anrufer.

Bernd rief auf der anderen Leitung auf dem Revier in Bad Säckingen an. Dort im Wachraum hat Christin Pfeffer heute Dienst. Am Wachraum meldet man sich an und schildert kurz sein Anliegen, wenn man als Bürger die Polizeiwache betritt. Wenn die LFZ anruft, klingelt das Telefon anders, damit man weiß, dass es wichtig ist. Auf dem Telefondisplay erkennt man auch sofort den Anrufer. Deswegen verzichtete Christin auf die förmliche Begrüßungsformel am Telefon, sondern meldete sich wie üblich freundlich und gut gelaunt mit „Hallo, hier ist Christin“.

„Hi Christin, hier ist Bernd vom LFZ. Schau mal bitte unauffällig aus dem Fenster. Ich habe einen Anrufer in der Leitung, der sagt, dass er vor Eurem Gebäude ist und jemanden umgebracht hat. Die Ortung der Nummer passt zum Standort. Siehst Du jemanden?“

Christin tat, wie Bernd wünschte und schaute aus dem Fenster. „Verdammte Scheiße, wie sieht der denn aus?“, sagte sie sofort, als sie auf dem Kopfsteinpflaster einen Mann sah, der am ganzen Körper mit Blut überströmt war. „Schicke mir sofort Verstärkung, ich bin hier allein. Und alarmiere sicherheitshalber den Rettungsdienst. Ich habe keine Ahnung, ob das ganze Blut von ihm ist. Außerdem bildet sich bereits eine Menschenmenge um ihn herum. Ich werde zusätzlich den Hausalarm drücken“ sagte Christin sichtlich geschockt von dem Anblick des Mannes. Der Hausalarm ist ein internes Alarmzeichen, damit bei bestimmten Lagen alle in den Büros alarmiert werden und sich am Empfang melden.

„Alles klar!“, sagte Bernd. „Ich habe eine Streife im Nachbarort frei, die kommt sofort zu Dir. Zwei weitere kommen von außerhalb, den Rettungsdienst schicke ich auch mit, lasse die aber zunächst im Hintergrund, bis die Situation sicher ist.“ Christin beobachtete die Situation weiter vom Fenster aus. Der alarmierte Streifenwagen brauchte nur wenige Minuten. Die beiden Polizisten haben die Sicherung der Dienstwaffe gelöst, um auf jede Situation vorbereitet zu sein.

„Ich bin nicht bewaffnet und leiste keinen Widerstand!“, sagte die Person am Boden.

Während die per Hausalarm herbeigerufenen Zivilpolizisten sich mit Hilfe der gelben Polizeiweste erkennbar machten, die Passanten von der Einsatzstelle verwiesen und den Bereich weiträumig absperrten, versuchten zwei andere Polizisten den Mann in ein Gespräch zu verwickeln, um die Gefahrenlage abschätzen zu können.

EINS

„Bald werde ich zu alt für diesen Mist“, sagte Bjarne zu Ulrich. Die beiden Notfallsanitäter im Rettungsdienst gehören bereits zu den alten Hasen. Bjarne ist seit 28 Jahren im Beruf und Ulrich immerhin seit 20 Jahren. Der Rettungsdienst hat beiden viel abverlangt in den vergangenen Jahren. Kaum menschliche Abgründe sind ihnen unbekannt und es gibt nahezu keine Verletzungen, die die beiden noch nicht gesehen haben. Seit 20 Jahren sind beide ein Team und auch privat sehr eng befreundet. Sie können auf viele Einsätze zurückblicken. „Da sagst Du was. Der zweite Coronaeinsatz in dieser Schicht. Das zweite Mal den Rettungswagen komplett ausräumen und desinfizieren. Da merkt man mal, wie viel in so einer Kiste überhaupt drin ist. Die Gerätschaften wie EKG und Beatmungsgerät ist da ja noch das offensichtlichste. Dann dürfen wir uns umziehen und dann kommt sicherlich der nächste Coronaeinsatz und der Spaß geht von vorn los. Aber unser Chef sagt ja immer ´Ihr habt freie Berufswahl und dürft jederzeit gehen` - als ob er jemals was von diesem Job verstanden hätte“ ergänzt Ulrich noch. „Jetzt sei nicht so undankbar, wir werden immerhin ordentlich bezahlt und es wurde für uns vom Balkon applaudiert“ lacht Bjarne. „Das, was der Alte als ´ordentliche Bezahlung` bezeichnet, geht in anderen Jobs nicht mal als Schmerzensgeld durch“. Beide lachten und putzen weiter ihren Rettungswagen. Ein sauberes Arbeitsumfeld ist wichtig und für die zukünftigen Patienten Überlebenswichtig. Das ist beiden klar, deswegen benötigt man auch für die unschönen Momente eine gute Portion Galgenhumor. Dieser Beruf ist für Bjarne und Ulrich ein Traumberuf, bereits seit Kindheitstagen. Ein Beruf, der zwischen Ekel und medizinischem Wunder hin und her pendelt.

„Gib Gas, Bjarne, nur noch zwei Stunden bis die Ablösung endlich kommt. Hoffentlich verpennt Christoph nicht wieder seinen Tagdienst“ merkt Ulrich an. Ein leises Seufzen unterstützt die Hoffnung durch Bjarne. „Hau rein und Grüße Katrin von mir“, sagt Bjarne zum Feierabend. Sie hatten Glück, kein weiterer Einsatz kam in dieser bisher anstrengenden Nacht. So konnten die beiden Freunde einander die Planung für das bevorstehende Weihnachtsfest erzählen. Wegen der anhaltenden und besorgniserregenden Pandemie wird es für beide im wahrsten Sinne des Wortes ein stilles Fest. Jeweils nur im engsten Kreis der Familie und voller Hoffnung, dass die Pandemie bald vorbei ist.

„Nur noch zwei Dienste und wir haben es für dieses Jahr geschafft!“, freut sich Ulrich bereits und winkt noch im Vorübergehen mit der rechten Hand, um sich von Bjarne zu verabschieden. Beide machen sich auf den Heimweg. Endlich ins Bett und Schlaf aufholen.

In dieser verrückten Zeit scheint die Welt durchzudrehen. Einerseits kämpfen Ärzte, Pfleger und Rettungsdienste Hand in Hand und mit voller Kraft, um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Zahlen, die das Robert Koch-Institut täglich veröffentlichen, sprechen aber eine andere Sprache. Scheinbar ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Täglich steigen die Zahlen der Infizierten und der Verstorbenen. Und dann gibt es die Menschen, die das alles für einen Spaß halten und sich an keine Vorgaben halten und weiter in großen Ansammlungen behaupten, dass die Grundrechte beschnitten seien und vergleichen sich unter anderemmit Sophie Scholl. Der Volksmund bezeichnet diesen Menschenschlag ´Aluhutträger` oder ´Coronaleugner`, Bjarne findet da andere Worte zu. Seine Lieblingsbezeichnung ist ´Vollidioten`, die unter anderem im Schulfach Geschichte offensichtlich zu oft gefehlt haben. Vielleicht ist die Sichtweise eines in der Medizin tätigen Menschen eine andere. Wenn man aber die ersten kerngesunden Menschen gesehen hat, die verstorben sind, stellt sich nicht die Frage, ob diese MIT Corona oder AN Corona gestorben sind. Der Anblick eines beatmeten Patienten an der Herz-Lungen-Maschine ist auch für alte Hasen oft nicht leicht zu ertragen.

Es bleibt die Hoffnung, dass dieser ganze Spuk bald vorbei ist und wieder ein ansatzweise normales Leben stattfinden darf.

ZWEI

„Was ist heute für ein Tag? Ist Tag oder Nacht? Welche Jahreszeit ist heute? Bitte sag mir doch was! Wer bist Du? Wo bin ich hier?“ Weinerlich stellt Ute immer wieder dieselben Fragen. Der Raum, in dem sie sich seit unzähligen Tagen befindet, ist dunkel, man kann nicht mal Schemen erkennen. Es ist nicht kalt, aber auch nicht besonders warm. Zweimal am Tag öffnet sich eine Klappe und wortlos kommt etwas zu Essen und zwei Flaschen Wasser. Meistens handelt es sich bei dem Essen um Brot und etwas Wurst, sporadisch gibt es etwas Süßes dazu. Selten ist es warmes Essen. Einmal gab es eine Cola. Sie versucht ständig zu ermitteln, welcher Tag heute ist. Aber sie hat jegliche Orientierung verloren und schafft es bei bestem Willen nicht, den aktuellen Tag in Erfahrung zu bringen.

Sie erinnert sich nur Dunkel, wie sie hergekommen ist, es gibt einige Erinnerungslücken: Sie ging ihre tägliche Runde spazieren. Auch an diesem 29.11.2019. Täglich um 18:00 Uhr verließ sie das Haus in Aachen in der Maria-Theresia-Allee, bog rechts ab in die Schillerstraße, um dann links in den Nelson-Mandela-Park zu gehen. Dort fand sie stets ihre Ruhe und konnte die Wege entlang schlendern. Meistens setzte sie sich auf eine Bank und schaute im Sommer den spielenden Kindern zu und im Winter genoss sie die Stille. An einem Tag wurde sie von einem fremden Mann angesprochen. Er fragte sie, ob sie wisse, wo die FH Aachen sei. ´Der Dialekt des Mannes stammt eindeutig nicht aus Aachen`, dachte sich Ute. In einer Studentenstadt wie Aachen sei dies aber nichts Ungewöhnliches. Wenn man mit offenen Ohren durch die Stadt geht, kann man jeden Dialekt der Republik hören. Dies macht den Charme der Stadt aber auch aus. Neben Dom und Altstadt ist die Vielfalt, die Grenznähe zu den Niederlanden und Belgien und die Weltoffenheit eines der Zeichen der Stadt Aachen. Ute erklärte dem Mann den Weg und genoss dann wieder die Ruhe. Pünktlich um 19:00 Uhr machte sich Ute wieder auf den Weg nach Hause. Am Ausgang des Parks sah sie den Mann wieder, der vor einer halben Stunde erst nach dem Weg gefragt hat. „Weit sind Sie ja nicht gekommen“ merkte Ute an und der Mann sah sie an und grinste. „Ja, das stimmt. Ich dachte, ich warte hier auf Sie“ und während er das sagte, schaute er ihr tief in die Augen. Ute wusste nicht, was er damit meinte und sie fühlte sich sichtlich unwohl. Der Mann näherte sich an Ute ran, bis sie seinen Atem riechen konnte. Eine unangenehme Mischung aus Tabak und schlechter Zahnpflege. Plötzlich sagte er zu ihr: „Nicht erschrecken, wird mal kurz dunkel!“ und schon spürte sie einen harten Schlag auf den Hinterkopf und sie war auf der Stelle bewusstlos. Ein zweiter Mann half dabei, Ute in den Van zu setzen und anzuschnallen. Die Hände haben die Herren vorsichtshalber gefesselt. Ein Knebel, für den Fall der Fälle, haben die Männer erst einmal griffbereit an die Seite gelegt.

Als Ute wach wurde, war sie in dem Raum, in dem sie sich jetzt befindet. Dunkel. Kalt. Sie lag auf einem Bett. „Ok, jetzt behalte die Nerven. Und versuche, die Situation zu erkennen.“ Sagte sie zu sich selbst. „Du liegst offensichtlich auf einer Matratze.“ Sie tastete mit den Händen einmal um sich herum, in dem sie nur die Arme bewegt. „Die Wände sind kalt. Was ist das denn für eine Wand? Ist das eine alte abgegriffene Tapete oder ein glatter Putz? Zumindest ist es trocken. Das Bett ist aus hartem Gummi. Obendrauf liegt die Matratze. Die Breite des Bettes spricht für ein Jugendbett. Die Matratze hat keinen Bezug. Der Geruch im Raum ist nach altem abgestandenem Wasser. Etwas modrig, könnte man meinen.“ So Analysiert Ute ihr direktes Umfeld. Sie überprüfte nun ihren eigenen Körper. Bereitete etwas Schmerzen? Nein. Konnte sie alle Gliedmaßen bewegen? Ja. Spürte Sie Fesseln? Nein. Kleidung? Ja, offensichtlich fehlen Socken. Aber sie trug eine weite Hose und ein weites Oberteil. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie zuletzt im Park für Kleidung trug. Sie konnte sich noch so sehr anstrengen, es fällt ihr einfach nicht mehr ein. Vielleicht kommt die Erinnerung später wieder. Langsam tastete sie mit der rechten Hand Richtung Boden. Ohne sich groß zu bewegen und mit bedachten Bewegungen konnte sie die Hand langsam auf den Boden senken. Auch hier ertastete sie alles, so gut es ging. Der Boden war gefliest. Standardgröße, 15 auf 15 cm, vermutlich.

Soweit sie tasten konnte, war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Sie versuchte jetzt auf den Hörsinn zu achten. Minutenlang lag sie still im Bett. Die Atmung auf ein Minimum reduziert. Nichts. Kein Ton. Lediglich ein Rauschen, was im Innenohr produziert wird und nichts anderes als das zirkulierende Blut im Körper ist, kann sie hören. Sie hoffte auf Stimmen und war sichtlich enttäuscht, dass keine zu hören waren. Nun haben sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Aber dennoch war nirgends eine Lichtquelle zu entdecken. Vielleicht war jetzt auch nachts und somit alles extra erschwert? Sie plante in einigen Stunden erneut genau zu schauen. Vielleicht ist es dann einfacher. Langsam und vorsichtig, wie eine Katze auf der Jagd, stand sie aus dem Bett auf. Sie konnte auf jeden Fall schon mal aufrecht stehen. Also ist der Raum circa 2 Meter hoch. Sie tastete sich am Bett entlang. Das Kopfkissen liegt also nicht an der Stirnseite zur Wand, sondern in den Raum. Sie beugt sich runter, um das Bett zu kontrollieren. Es fühlt sich eigenartig an. Wie ein Gummi, nur etwas härter. Auf jeden Fall kein Stahl oder Holz wie ein normales Bett. Es bietet eine gewisse Stabilität, aber trotzdem elastisch. Sie ging weiter an der Wand entlang, entgegen dem Uhrzeigersinn. Sie riecht Mörtel oder Klebstoff. Ein beißender Gestank wie aus der Klebstofftube. Sie versucht, einen Unterschied zu ertasten. Die Wände fühlten sich weich an. Das war nicht gemauert, sondern scheinbar eine Gummimasse. So wie sie es aus Filmen kannte, wenn jemand in der Irrenanstalt in eine Gummizelle eingesperrt wurde. An der Ecke erschrak sie. Was ist das da am Knöchel? Sie ging in die Hocke und versuchte zu ertasten, was da ist. Sie stellte fest, dass es etwas Metallenes ist. Es fühlt sich kälter an als die Wand. Ringsum scheint eine Silikondichtung zu sein. Alles in allem vermutlich so 20 cm hoch. Auch diese Wand roch nach Klebstoff. Ein kleines Stück links von demMetallteil war eine Fuge zu ertasten. Nicht breit, ungefähr ein Finger dick. Ute tastete sich wieder heran und herum und kam, wegen der Form der Fuge, zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Tür handeln müsste.

Ungefähr ein Meter breit und rund 2 Meter hoch. Allerdings gab es keine Klinke und die Türe ist scheinbar auch mit diesem Gummi beklebt. Sie musste sich ordentlich anstrengen, um nicht mit den Fäusten dagegen zu hämmern und laut um Hilfe zu rufen. Aber sie presste ihr Ohr gegen die Türe und hoffte diesmal auf eine Stimme. Wieder war sie enttäuscht, nichts zu hören, außer dem bekannten Rauschen im Innenohr. Weiter tastet sie sich durch den Raum. Die Größe des Raumes versucht Ute an den bisherigen Erkenntnissen zu ermitteln. Maximal 2 Meter lang, dies konnte Sie durch das Bett feststellen. Viel länger als das Bett war der Raum nicht. Auf Höhe vom Fußende des Bettes war ein Loch im Boden. Dies war auch umringt von Gummi. Weiter entgegen dem Uhrzeigersinn an der Wand entlang. Bis zur nächsten Ecke des Raumes spürte sie nichts. Also weiter und dann war das Bett schon da.

„Fassen wir zusammen: ein dunkler Raum, wahrscheinlich knapp über zwei Meter lang und etwas über einen Meter breit. Ein Bett aus Gummi, ein Loch im Boden, soll wahrscheinlich das WC darstellen. Eine Tür und ein Ding, dessen Sinn ich noch nicht erkannt habe. Es gibt Wände, die vermutlich frisch gemacht sind. Einen Lichtschalter habe ich nicht gefunden. Ebenso keine Stimmen. Wie gehe ich nun weiter vor? Wie komme ich hier raus? Aus welchem Grund bin ich hier? Wem habe ich denn was angetan, das ich hier lande?“ Sie versuchte die Fassung zu behalten, aber es gelang ihr nicht und sie brach in Tränen aus. Sie sank auf das Bett und war der Verzweiflung nahe. Ute wusste, dass sie entführt wurde und die Situation jetzt sehr aussichtslos ist. Aber was führte dazu?

Plötzlich gab es ein Quietschen, gefolgt von einem schabenden Geräusch. „Hallo? Wer ist da? Bitte redet mit mir! Was habe ich getan?“ Und wieder ertönte das quietschende Geräusch, aber diesmal gefolgt von einem dumpfen Schlag. Niemand redete mit ihr oder gab Antworten. Ute weinte weiter und kauerte auf ihrem Bett. Sie versuchte, die Gedanken zu sortieren. Sie versuchte das Geräusch von eben zu erkennen. Ist jemand hereingekommen und steht jetzt einfach da? Sie folgte dem Geräusch und durch vorsichtiges Tasten erkannte sie dann, dass plötzlich etwas auf dem Boden stand, was vorher noch nicht da war. Sie ertastet den Gegenstand. Es fühlt sich an wie ein Tablett und darauf standen weitere Gegenstände. Sie merkte, dass es extrem schwierig ist, wenn man ausschließlich auf den Tastsinn angewiesen ist. Nach einigen Minuten und vielen Tastversuchen erkennt Ute, dass auf dem Tablett etwas zu Essen und zu trinken steht. „Aha! Also ist das wohl der Versorgungsschacht. Oder wie auch immer das heißen mag. Zumindest gibt es Essen und etwas zu trinken“ sagte Ute zu sich selbst. Sie versuchte weiterhin mit der Dunkelheit umzugehen. Sie hoffte aber auch darauf, dass die Tür endlich aufgeht und die Polizei oder jemand anderes endlich diese Situation beendet.

DREI

Bjarne betritt sein Haus im Südschwarzwald. Ganz nah zur Grenze der Schweiz haben sich Julia und er kurz nach der Hochzeit 2016 ein Bauernhaus gekauft und damit ihrer Tochter Süntje ein sicheres Heim geboten. Süntje wurde 2018 geboren und war ein absolutes Wunschkind. Die Familie fühlte sich nun komplett. Wegen der Größe des Hauses konnte eine zweite Wohnung eingebaut werden, in der Julias Eltern eingezogen sind. So hat man ein Mehrgenerationenhaus geschaffen, in der es für alle viele Vorteile gab. Süntje konnte auf kurzem Weg zu den Großeltern, die Großeltern konnten abends auf die Enkeltochter schauen, wenn Julia und Bjarne mal ins Restaurant gingen. Die Arbeit rund ums Haus haben sich alle geteilt. Wer momentan Zeit hatte, mähte den Rasen oder schaufelte Schnee beiseite und was sonst noch so angefallen ist.

Die Wohnung von Julia und Bjarne hatte fast 150 m2 Wohnfläche. Kinderzimmer, Gästezimmer und Büro konnten jetzt gut untergebracht werden. Vorher war das alles in der alten Wohnung im Wohnzimmer integriert. Das alte Bauernhaus hatte Charme und sprühte diesen auch aus. Man merkte sofort, wenn man hereinkam, dass dieses Haus viel zu erzählen hätte, wenn es denn reden könnte. Bei der Hausbesichtigung damals haben Bjarne und Julia das sofort gemerkt, sich in das Haus verliebt und sofort einen guten Kaufpreis angeboten haben. Man war sich schnell einig und so kam es, dass man nun plötzlich Hausbesitzer ist. Die Idee zum Mehrgenerationenhaus kam beiden dann beim Umbau.

Julias Eltern waren davon auch umgehend angetan und stimmten dem Plan zu. Also wurde aus dem Plan dann eines Tages Wirklichkeit. Erst machten die beiden ihren Wohnbereich fertig. Eine Mischung aus alt und neu kam in jedem Zimmer zur Geltung. In der Küche wurde die alte Holzdecke belassen, dafür eine top moderne Küche, die keine Wünsche übrigließ, eingebaut. Im Wohnzimmer blieb der alte Kachelofen, aber zusätzlich wurde ein modernes Lichtsystem verbaut. Lediglich das Bad musste kernsaniert werden. Nach 9 Monaten Umbau konnten die beiden dann in das neu geschaffene Reich einziehen. Eine Form von Glück, die sie vorher so auch noch nicht kannten. Nach kurzer Erholungsphase wurde dann das Projekt mit der zweiten Wohnung gestartet. Auch hier wurde auf lange Sicht geplant. ´Modern und Seniorengerecht´ war das Motto, obwohl Julias Eltern noch keine Senioren waren. Aber eines Tages werden sie welche und dann würden die Probleme von vorn beginnen. Also musste es ordentlich werden. Durch die Arbeit im Rettungsdienst wusste Bjarne, was man bedenken soll. Zu oft sieht er, wie alte Menschen in Winkeln jeglicher Art abgeschoben werden. Der Rettungsdienst hat dann immer die Problematik, wie man diese Menschen aus dem Haus rausbekommt, um in ein Krankenhaus zu bringen. Nicht selten musste dann die Feuerwehr mit der Drehleiter anrücken und helfen. Das floss alles in die Planung ein. Die Schwiegereltern sollen so lange wie möglich ein selbständiges Leben führen können. Dies betrifft auch das Verlassen des Hauses ohne fremde Hilfe. Insgesamt war das Ergebnis des Umbaus genauso, wie es sich alle vorgestellt haben.

Bjarne kam mit seinen Schwiegereltern gut aus. Dies war ihm auch immer wichtig gewesen. Er erinnerte zu gerne daran, dass er durch andere Beziehungen vor Julia, auch durchaus anderes erleben musste. Die Welt war für alle in Ordnung und es lief rund, wie man so schön sagt.

VIER

Das klickende Geräusch, bevor sich die Klappe neben der Tür öffnet, kennt Ute schon. Sie bekommt nun ihre Mahlzeit. Sie ist mittlerweile ziemlich ausgehungert und würde auch eine halb tote Ratte verspeisen. Ute merkt, dass es an den Kräften zerrt und so zwingt sie sich zumindest eine Kleinigkeit zu essen. Sie weiß in der Regel nicht, was sie isst. Es ist zu dunkel, um es zu erkennen. Und sie musste schnell lernen, dass ohne Licht und die Sehkraft vieles nicht zu ermitteln ist. Der Hunger treibt das Essen rein und bisher hat sie selten davon erbrechen müssen. Oft lag etwas Süßes dabei. Offensichtlich achtet man darauf, dass sie stets von den wichtigen Nahrungsmitteln etwas bekommt, um keine Mangelerscheinungen zu erleiden. Man will sie auf jeden Fall am Leben halten. Sie hat am Anfang ihrer Gefangenschaft mal versucht, einen Hungerstreik durchzuführen. Nach zwei Tagen Nahrungsverzicht kamen zwei Männer in ihre Zelle. Alles ging rasant und einer der beiden Männer packte sie mit gekonnten Griffen fest an Kopf und Oberkörper, zerrte sie auf einen Stuhl, den die beiden mitgebracht haben, und fesselten Ute an den Stuhl, bis sie bewegungsunfähig war. Sie merkte auch, dass sie viel zu geschwächt war, um sich zu wehren. Einer der Männer stellte sich hinter ihr und zog mit Gewalt den Kopf nach hinten und presste ihre linke Wange zwischen die Zahnreihen. Sie wurde damit gezwungen, den Mund zu öffnen und offenzulassen. Wenn sie jetzt den Mund zupressen würde, dann würde sie sich in die eigene Wange beißen und sich damit selbst empfindliche Schmerzen zufügen. Ute entschied sich dazu, die Prozedur über sich ergehen zu lassen. Sie wusste, dass sie keine Chance gegen die beiden Männer hat.

Der zweite Mann presste ihr durch den Mund einen Schlauch bis zum Magen ein. Durch die Schutzreflexe des Körpers hat sie ab einer bestimmten Position des Schlauches automatisch durch Schlucken dafür gesorgt, dass der Schlauch über die Speiseröhre in den Magen gelangt. Der automatisch einsetzende Würgereiz hat die beiden Männer auch nicht davon abgehalten, den Schlauch weiterzuführen. Ute konnte sich nicht dagegen wehren und ihr wurde so Nahrung zugefügt. Ute erkannte, dass sie die Situation mit einem Hungerstreik nicht beenden kann.

Nachdem die Nahrung, vermutlich eine Suppe, eingeführt wurde, wurde der Schlauch wieder herausgezogen, sie wurde entfesselt und auf das Bett gestoßen. Die beiden Männer gingen zur Tür und bevor der zweite den Raum verlassen hat, drehte er sich noch mal um und sagte: „Das machen wir nun jeden Tag, wenn Du nicht freiwillig essen möchtest! Du hast die Wahl!“ Bevor sie etwas sagen konnte, war die Tür bereits fest verschlossen.

Es waren die ersten Worte, die sie in ihrer Gefangenschaft gehört hat. Ute wusste nicht, wie lange sie bereits hier drin ist. War es eine Woche? War es ein Monat? War es ein Jahr? Beim besten Willen konnte sie es nicht ermitteln. Es war rund um die Uhr dunkel. Keine Geräusche drangen in den Raum. Lediglich das Klicken der Klappe, wenn neues Essen reinkam. Sie wusste, dass sie bald durchdrehen wird, wenn es so weitergeht. Jetzt aber hat sie eine neue Aufgabe. Sie hat eine Stimme gehört. Ute stellt sich inzwischen die Aufgabe, diese Stimme nicht mehr zu vergessen und sich zu erinnern, zu wem diese Stimme passt. Hat sie die Stimme schon mal gehört? Wenn ja, wann und wo. Ebenfalls wusste sie, dass sie nicht sterben soll. Jemand achtet darauf, dass sie genügend isst. Ist das bereits Grund zur Hoffnung?

Sie konzentrierte sich auf die Stimme. Sie versuchte, den Dialekt zu erkennen. War es hochdeutsch? Oder schwang ein Dialekt mit? „Eindeutiges Hochdeutsch“, sagte sie zu sich selbst. In den letzten Tagen der Gefangenschaft hat sie sich überlegt, mit sich selbst zu reden, um Geräusche zu haben. Immer wieder stellte sie sich Rechenaufgaben oder erzählte sich eine Geschichte. Sie erhoffte sich, mit Hirnaktivität die weiße Folter zu lindern. „Männlich war die Stimme auch auf jeden Fall. Die Stimme gab auch eine gewisse Entschlossenheit wieder. Da schwang kein Zittern mit. Ich glaube, das waren Profis. Die haben nicht zum ersten Mal jemanden was angetan. Haben die beiden mich auch entführt? War die Stimme identisch mit dem Typen im Park? Nein… Warte mal. Der im Park, der sprach doch einen Dialekt. Was war das doch gleich für einer? Bayrisch? Nein, eher nicht, aber auch nicht aus dem Osten oder norddeutsch. Das klang doch alles anders. Vielleicht spielt mir meine Erinnerung nun auch einen Streich und ich werfe alles durcheinander?“ Ute tat alles, um sich an den Mann im Park zu erinnern. „Ungefähr 180 cm, sportliche Figur, dunkles krauses Haar. Höchstens 30 Jahre alt, relativ dunkle Haut, aber nicht wie bei einem Ausländer.“ erinnerte sie sich dunkel Es half aber alles nichts, die Erinnerung verblasste bereits.

Plötzlich leuchtet in der Zelle etwas rot auf. Ute schloss sofort die Augen. Es verursachte ihr sehr starke Schmerzen. Wegen der vielen Tage Dunkelheit benötigten die Augen eine lange Zeit, um sich zu regenerieren. Ebenso dauerte es, bis Ute wusste, was das rote Licht ist.

FÜNF

Erster Weihnachtstag im Jahr 2020. „Was für ein komisch-interessantes Weihnachtsfest. Es ist nahezu ungewöhnlich ruhig und still. Wie kann es denn sein, dass man plötzlich kein Stress hat? Hat dieser Coronawahn denn auch etwas Gutes?“ merkte Bjarne fragend an. Er war sichtlich froh, dass es dieses Jahr gar keinen Weihnachtsstress gibt. „Immer dieser Marathon, wen man alles besuchen muss, nervt mich schon immer. Eigentlich sollte man diese Entschleunigung jedes Jahr an Weihnachten machen. Was sagt ihr dazu?“ fragte er rhetorisch Julia und Süntje. Julia schaute ihn an und merkte, dass er eigentlich recht hat. Diese Ruhe hat etwas, was man sich viel zu selten gönnt.

„Aber mit meinen Eltern war es doch echt nett heute, oder?“, fragte Julia.

„Ja natürlich! Es ging mir auch nicht um Deine Eltern, sondern eher um das Prinzip. Mit Deinen Eltern ist es immer nett. Wir wohnen schließlich auch im gleichen Haus. Wenn ich das nicht aushalten würde, wäre ich schon lange weg“ sagte Bjarne schmunzelnd. Julia weiß, wie er das meint. Julia stammt aus einem guten Elternhaus. Eltern wie es im Buche steht und wie man es eigentlich jedem gönnt. Aber Julia weiß auch, dass es anders geht. Wie bei Bjarne zum Beispiel. Sie weiß, dass er es nicht leicht hatte als Kind. Aber er redet auch nicht gerne darüber. Deshalb weiß sie nur das Nötigste aus der Kindheit. Unter anderem, dass Bjarne bei seinen Großeltern aufgewachsen ist, weil es Stress mit seiner Mutter und ihren Liebschaften gab. Julia war sich sicher, dass Bjarne eines Tages sagen wird, was ihn belastet oder warum er das mit dem Familienleben nicht so kennt. Sie konnten sich immer alles sagen und erzählen, aber bei dem Thema Kindheit blockte er ab. Für Bjarne ist zu viel Familie manchmal sehr anstrengend und er wird dann immer sehr still. Für die Familie von Julia ist es allerdings völlig normal in großer geselliger Runde zusammen zu sein und gemeinsam zu essen und zu reden. Ein Zustand, an den Bjarne sich zunächst gewöhnen musste. Im Laufe der Jahre hat er es geschafft, sich damit zu arrangieren. Die Aufnahme in die Familie war für ihn auch erst mal ungewohnt – man akzeptierte ihn, wie er war. Man machte sich nichts aus seinem Übergewicht. Dass er im Rettungsdienst nicht die größten Mengen an Geld verdient, war auch egal. Man interessierte sich für ihn.

Fragen wie „Erzähl mal, wie ist es denn so im Rettungsdienst und was macht es mit Dir, wenn die Einsätze beendet sind. Kann man denn so einfach abschalten bei Feierabend? Wie war es für Dich bei den Großeltern aufzuwachsen?“ und so weiter. Man war nicht darauf aus, zu wissen, was die schlimmsten Einsätze waren. Man interessierte sich an seiner Person. Man wollte wissen, wer hinter der Fassade steckt. Das war etwas Ungewöhnliches und er wusste, dass es gut werden kann. Er freute sich über jede einzelne Frage. Die ganze Familie unterstützte Julia und Bjarne als die beiden zusammenkamen. Immerhin ist eine Fernbeziehung nicht für jeden was und es erfordert ein hohes Maß an Vertrauen. Da sich die beiden bereits 2006 kennengelernt haben und vorerst gute Freunde waren, kannten sich beide schon genau und wussten, wie der jeweils andere über eine Beziehung denkt. So kam es dann 2015, dass aus der Freundschaft plötzlich Liebe wurde. Eine Liebe, die sich quer durch Deutschland streckt. Er wohnt in Schleswig-Holstein und sie am Hochrhein im Süden von Baden-Württemberg. So oft es ging, besuchten sich die beiden. Alle Reisemittel wurden getestet, vom Flieger über Fernbus und Auto war alles dabei. Und immer unterstützte die Familie diese Liebe. Auch als Julia in Hamburg in den Fernbus Richtung Heimat stieg und abends um 22 Uhr in Lörrach ankommen sollte. Die Autobahnen hatten aber sichtlich andere Pläne und es kam ein Stau nach dem anderen. So kam es, dass Julias Eltern sie nachts um 2 in Freiburg abholten und noch über eine Stunde nach Hause fahren mussten, damit alle um 6 Uhr wieder aufstehen mussten, um zur Arbeit zu gehen. Ein Trip, den niemand so schnell vergessen wird. Heute, nach einigen Jahren, können alle Beteiligten darüber lachen. Es war eine anstrengende Zeit, die aber zur Beziehung und zur Festigung derselben dazu gehörte.

Nach rund einem Jahr Fernbeziehung beschloss Bjarne, dass es so nicht weitergehen konnte. Er wusste, dass Julia sicherlich nicht zu ihm nach Norddeutschland ziehen würde. Warum auch? Sie hat hier eine intakte Familie und einen guten Job in der Schweiz. Dies alles könnte Bjarne in Norddeutschland nicht bieten. So wusste er, dass ein Umzug nur in eine Richtung vollzogen werden kann: Richtung Süden. Er besprach es mit Julia und sie hatte nichts dagegen, dass Bjarne zu ihr zieht. Bewerbung geschrieben und sofort eine Stelle bekommen und dann den Job im Norden gekündigt. Umzug geplant und durchgeführt. Abschiedstour über den Hamburger Kiez mit guten Freunden. Und plötzlich war Bjarne Süddeutscher am Hochrhein. Er wusste, dass es ein richtiger Schritt war und so musste er sich nur an die neue Umgebung gewöhnen. Und Julias Familie verhalf ihn, sich zu akklimatisieren. Bei dem neuen Arbeitgeber im Rettungsdienst fand er auch schnell Anschluss. Er genoss ein hohes Vertrauen bei Kollegen und Vorgesetzten, wurde in den Betriebsrat und dort in den Vorsitz gewählt. Alles in allem lief es gut für ihn. Die Hochzeit 2016 und die Geburt von Süntje 2018 waren seine größten Höhepunkte. Allein dafür hat sich ein Wechsel in den Süden auf jeden Fall gelohnt.

Dennoch war er immer wieder mal froh, wenn er seine Ruhe hatte. Die norddeutsche Mentalität gehörte zu seiner Persönlichkeit und machte ihn aus. Familienfeste empfand Bjarne als anstrengend, wenn es über mehrere Stunden hinweg ging. Und dies war leider die Regel in seiner neuen Familie. Aber er wird sich schon dran gewöhnen, machte er sich immer wieder Mut und grinste in die Situation. Julia kannte ihn aber dafür zu gut und gab ihm kleine Aufgaben, wie Geschirr in die Küche räumen, damit er mal aus der Situation und kurz zur Ruhe kommt. Dann ging es auch wieder weiter. Alles in allem, aber überhaupt kein Grund zu schlechter Laune. Es war doch eigentlich schön, nur ungewohnt für einen wie Bjarne.

Zur späten Stunde klingelte dann wieder das Handy von Bjarne. „Hi, hier ist Bjarne“ meldete er sich nur bei Leuten, die er in seinen Kontakten hatte und entweder Freunde oder Arbeitskollegen sind. „Ja …verstehe … Ja, ich komme vorbei und schau mir das mal an“.

„Wirklich?“, fragte Julia sichtlich enttäuscht, „auch an Weihnachten rufen Deine Kollegen nach Dir und Du musst so spät abends los?“

„Es tut mir leid. Es ist ein Kollege ausgefallen und ich habe nun mal Rufbereitschaft. Ich werde aber schauen und zwischendurch mal einen von den jungen Kollegen anfragen, ob der weitermachen will. Kann sein, dass ich bald wieder zu Hause bin. Stell den Rotwein also nicht zu weit weg“ grinste Bjarne. Julia wusste jedoch, wen sie geheiratet hat und in welchem Job er arbeitet. Und besonders im Rettungsdienst wird eine hohe Flexibilität nicht nur von den Angestellten gefordert, sondern auch von den Familienangehörigen. Aus genau diesem Grund gehen bei Rettern regelmäßig Ehen in die Brüche. Bei Julia ist er aber guter Hoffnung, sie denkt da anders drüber nach und akzeptiert die Situation.

Bjarne ist also auf dem Weg zur Arbeit und Julia macht es sich auf dem Sofa gemütlich, in der Hoffnung, dass es Bjarne schafft einen anderen Kollegen zu finden, der die Schicht weiter übernimmt.

SECHS

Identifizieren Sie sich stand da in roten Buchstaben oberhalb der Tür. Ute hatte bisher keine Ahnung, dass dort solch ein Gerät hängt. Die ganze Zeit, in der sie sich in ihrer Zelle befindet, hat dieses Teil nicht einen Buchstaben von sich gezeigt. Ute wusste nicht recht, was das alles zu bedeuten hat. Muss sie nun die Antwort irgendwo eintippen oder einfach reden? Sie entschied sich für Reden

„Ute“, sagte sie nahezu schüchtern.

Nachname forderte das Gerät jetzt ein.

„Strauss. Ute Strauss“ sagte sie nun sicher und wusste nun, dass ihr offensichtlich jemand zuhört „Wer bist Du und warum bin ich hier? Was ist heute für ein Tag?“ fragte sie weinend. Es ist der 25.12. und Du wirst schon noch herausfinden, wer ich bin!

„Der 25.12.? Oh mein Gott, das bedeutet, dass ich ja erst knapp einen Monat hier bin. Wo genau bin ich eigentlich?“ fragt Ute sehr fordernd.

Es war schwer, Dich zu finden, aber es ist mir geglückt. Du wirst jetzt eine Zeit lang in diesem Raum bleiben. Versuche nicht zu fliehen. Schreien bringt auch nichts, dieser Raum wurde speziell für Dich gebaut, ist schalldicht isoliert und der nächste Ort 15 km entfernt. Das Gelände um diesen Raum ist gesichert und solltest Du fliehen, wirst Du erschossen!

Eine eindeutige Ansage, dachte sich Ute. „Aber Du hast dafür gesorgt, dass ich esse. Du willst nicht, dass ich sterbe“ merkte sie an. Ich will nicht, dass Du JETZT stirbst, kam als Antwort.

„Also werde ich sterben?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

Dieser Prozess ist in mehrfacher Hinsicht unumgänglich! Erwarte den 12.06.2021

„Wer bist Du?“, fragte sie fordernd. Aber auf dem Gerät lief immer nur der letzte Satz in Dauerschleife. Es kam keine Antwort auf diese Frage. Ute traute ihren Augen kaum. Sie weiß jetzt, dass sie hier drin sterben wird. Sie weiß auch, dass dies noch etwa ein halbes Jahr dauern wird. Was wird in dieser Zeit alles geschehen? Gelingt ihr vielleicht doch noch die Flucht? Warum der 12.06? Sie konnte sich noch so sehr anstrengen, sie hat mit dem Datum keine Verbindung. Niemand, den sie kennt, hat an dem Tag Geburtstag. Niemand gestorben. Bei diesem Datum klingelt es bei ihr einfach nicht. So steht die Antwort auf den Namen ihres Peinigers auch immer noch aus. Diese Frage wurde von dem Gerät auch nicht beantwortet. Sie zermartert sich den Kopf und kann sich nicht eine Frage beantworten. Sie starrte immer wieder auf das Gerät und liest denselben Text immer wieder. Offensichtlich war ihr Gesprächspartner nun wieder weg. Sie stand langsam aus ihrem Bett auf und ging Richtung Türe. Sie erkannte, dass das Gerät in die Wand eingebaut wurde und hinter Glas ist. Das Gerät scheint nicht gelogen zu haben, offensichtlich wurde dieser Raum für sie gebaut. Oder zumindest umgebaut auf die Bedürfnisse des Peinigers. „Es ist der 25.12. Das bedeutet also, dass ich seit 27 Tagen hier bin. Zumindest kann ich mich an den 29.11. als letztes Datum erinnern. Das Jahr hat er nicht genannt. Wie wahrscheinlich ist es denn, wenn ich schon über ein Jahr hier drin wäre? Hmmmm, eher unwahrscheinlich. Ich denke, dass die 27 Tage gut hinkommen. Hat man mir das Datum mit Absicht genannt? Hat das Datum eine Relevanz für meine Situation? Aber außer, dass es sich dabei um den ersten Weihnachtstag handelt, verbinde ich mit dem Tag gar nichts.“