Gerächtigkeit - Kathrin Zippel - E-Book

Gerächtigkeit E-Book

Kathrin Zippel

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Beschreibung

Im Dezember des Jahres 2019 erreicht die globale MeToo-Bewegung den mittelhessischen Wetteraukreis. Ein unbekannter User eröffnet unter dem Pseudonym RfH2019 den Twitter #MeTooWetterau und beschuldigt einen hochrangigen Manager des Bankhauses Depot Isenberg der sexuellen Belästigung. Viele weitere Twitter-User schließen sich an. Kriminaloberkommissar Christian Lotz geht in einer SOKO den Vorwürfen, die in etliche Strafanzeigen münden, nach. Als ein Geschäftsmann aus Büdingen mit Verweis auf den #MeTooWetterau ermordet wird und eine junge Frau spurlos verschwindet, beginnt für Christian Lotz und sein Team ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Aktivitäten auf #MeTooWetterau geraten dabei zunehmend außer Kontrolle. RfH2019 postet Bilder des Getöteten und kündigt weitere Morde an. Im Zuge der Mordermittlungen begibt sich nicht nur Christian Lotz in Lebensgefahr.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Buch

Im Dezember des Jahres 2019 erreicht die globale MeToo-Bewegung den mittelhessischen Wetteraukreis.

Ein unbekannter User eröffnet unter dem Pseudonym RfH2019 den Twitter #MeTooWetterau und beschuldigt einen hochrangigen Manager des Bankhauses Depot Isenberg der sexuellen Belästigung.

Viele weitere Twitter-User schließen sich an.

Kriminaloberkommissar Christian Lotz geht in einer SOKO den Vorwürfen, die in etliche Strafanzeigen münden, nach.

Als ein Geschäftsmann aus Büdingen mit Verweis auf den #MeTooWetterau ermordet wird und eine junge Frau spurlos verschwindet, beginnt für Christian Lotz und sein Team ein Wettlauf gegen die Zeit.

Die Aktivitäten auf #MeTooWetterau geraten dabei zunehmend außer Kontrolle.

RfH2019 postet Bilder des Getöteten und kündigt weitere Morde an.

Im Zuge der Mordermittlungen begibt sich nicht nur Christian Lotz in Lebensgefahr.

Für mich

Inhaltsverzeichnis

PROLOG: DONNERSTAG, 12. Dezember 2019

6:00 Uhr: Peter

6:00 Uhr: Christian

6:00 Uhr: Anita

8:30 Uhr: Volker

9:00 Uhr: Christian

11:00 Uhr: Volker

11:00 Uhr: Jan

13:00 Uhr: Peter

14:30 Uhr: Jan

14:30 Uhr: Volker

14:30 Uhr: Peter

15:00 Uhr: Jan

Interview mit Anita Baumann

15:00 Uhr: Peter

15:00 Uhr: Kommissariat Friedberg

15:30 Uhr: Jan

16:15 Uhr: Christian

16:45 Uhr: Volker

16:45 Uhr: Peter

16:45 Uhr: Anita

18:30 Uhr: Christian

19:15 Uhr: Jan

19:15 Uhr: Christian

20:00 Uhr: Jan

20:00 Uhr: Christian

21:00 Uhr: Anita

21:15 Uhr: Christian

21:15 Uhr: Anita

21:15 Uhr: Jan

21:30 Uhr: Christian

22:15 Uhr: Volker

22:30 Uhr: Anita

22:45 Uhr: Christian

22:45 Uhr: Volker

23:30 Uhr: Jan

23:30 Uhr: Volker

Freitag, 13. Dezember 2019

05:30 Uhr: Christian

06:00 Uhr: Volker

06:00 Uhr: David

06:10 Uhr: Anita

6:00 Uhr: Polizeistation Kornwestheim

06:30 Uhr: Gerhardt Zimmermann

08:00 Uhr: Jan

8:00 Uhr: Christian

09:00 Uhr: Polizeistation Kornwestheim

09:00 Uhr: Christian

10:00 Uhr: Jan

10:45 Uhr: Anita Baumann

11:00 Uhr: Jan

11:00 Uhr: Christian

11:30 Uhr: Volker

12:30 Uhr: Christian

12:15 Uhr: Volker

12:30 Uhr: Anita

14:00 Uhr: Jan

15:30 Uhr: Christian

16:00 Uhr: Jan

16:00 Uhr: Christian

16:00 Uhr: Volker und Anita

16:15 Uhr: Christian

16:30 Uhr: Volker

16:30 Uhr: Christian

17:30 Uhr: Jan

18:00 Uhr: Christian

18:30 Uhr: Jan

19:00 Uhr: Volker

19:30 Uhr: Liesel

20:00 Uhr: Isabelle

20:15 Uhr: Christian

20:30 Uhr: Jan

20:30 Uhr: Christian

21:00 Uhr: Jan

21:00 Uhr: Christian

21:30 Uhr: Kommissariat Friedberg

22:15 Uhr: Christian

22:30 Uhr: Volker

23:00 Uhr: Isabelle

23:10 Uhr: Jan

Sechs Monate später

DANKE

PROLOG

DONNERSTAG, 12. Dezember 2019

6:00 Uhr

Peter

Zitternd hielt Peter an seinem Lieblingsplatz draußen am Thiergartenweiher inne. Angsterfüllt blickte er über die dampfende Wasseroberfläche in die Ferne. Während er die kalte Morgenluft einsog, war er nicht fähig, die wunderschöne Unberührtheit dieses anbrechenden Dezembermorgens zu genießen. Der Nebel, der noch am Waldrand hing, schien sich um seine Kehle zu legen.

Bleib ruhig, es ist noch nichts bekannt, du kannst es noch beeinflussen, flüsterten ihm die plätschernden kleinen Wellen zu, die das Ufer des Sees berührten.

Doch die brisanten Details, die ihm auf einem Papierfetzen zugespielt worden waren, beunruhigten ihn. Eine Veröffentlichung jetzt, in dieser aufgeheizten Stimmung, wäre fatal. Verdammt, ich hätte mich damals einfach nicht beteiligen dürfen. Aber diese Gedanken halfen ihm nun nicht weiter. Er brauchte eine Lösung, und zwar dringend. Es durfte nicht ans Licht kommen. Wie war das überhaupt ins Netz gelangt? Er hatte doch selbst für die sichere Verwahrung gesorgt.

Panik stieg in ihm auf. Er würde alles verlieren, wenn es ihm nicht gelänge, eine Verschlüsselung zu programmieren.

Dass ihn die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit in einen derartigen Stresszustand versetze, behagte ihm nicht.

Langsam las Peter die ihm zugespielte Nachricht noch einmal. Mit jedem Buchstaben nahmen ihn seine Gedanken mehr und mehr gefangen und drehten Pirouetten.

Doch plötzlich stoppte das Karussell und Peters Gesicht verzog sich zu einer Fratze.

Von einer rettenden Idee gepackt, zerriss der Unternehmer das Stück Papier. Zornig warf er die Fetzen ins Wasser und beobachtete vom Ufer aus, wie die Feuchtigkeit die Tinte verwischte und das Dokument endgültig auflöste.

Ein hässliches Lachen, das ihn beinahe selbst erschreckte, schallte über den menschenleeren Weiher.

Mit Blick auf seine Apple-Watch trat er den Rückweg an. Bald würden die ersten Jogger ihre Runde drehen. Peter verspürte nicht die geringste Lust, einer Menschenseele zu begegnen.

Über einen kiesigen Wanderweg, der von kahlen Bäumen gesäumt war, gelangte er zu seinem Wagen.

Mit quietschenden Reifen verließ er wenige Minuten später den Parkplatz und raste unangemessen schnell durch das Industriegebiet Büdingens auf die B457.

6:00 Uhr

Christian

„Was für eine gottverdammte Scheiße!“, jauchzte Christian, als der heiße Kaffee über seine Hand floss. Der Tag fing ja großartig an. Seine Laune war sowieso schon im Keller und jetzt auch noch das. Japsend schüttelte der Kommissar die schmerzende Hand und hielt sie rasch unter kaltes Wasser. Dann nahm er einen Lappen, wischte über den Rand seiner Tasse und stellte mit Blick auf seine Marlboro Lights Schachtel erleichtert fest, dass er gestern nicht alle Zigaretten aufgeraucht hatte.

Missmutig trat Christian vor die Tür und blies seine Rauchringe in den tiefhängenden Nebel, der den gepflasterten Hof einhüllte. Gedankenverloren und müde schnippte der Kommissar seinen Zigarettenstummel in den Blecheimer, der, im Sommer mit Blumen bepflanzt, nun lediglich mit Regenwasser gefüllt, neben der grünen Fußmatte am Hauseingang stand.

„Immerhin hab ich sie nicht einfach auf dem Boden zertrampelt“, murmelte er kopfschüttelnd, als sich ein kürzlich gelesener Zeitungsbericht über die umweltbelastende Entsorgung von Zigarettenstummeln in sein Gedächtnis schlich. Mit: „Die sollten lieber mal die wirklich wichtigen Dinge abdrucken“ schob er den Gedanken wieder fort.

Zerknautscht schlurfte Christian in Bademantel und Pantoffel zum Hoftor, um sein geliebtes Kreisblatt zu holen.

„Na super, nass. Wie ich das liebe“, zischte er zähneknirschend, als er den zusammengerollten Papierhaufen aus dem Rohr nahm. Christian zog seinen Bademantel enger, ging hinein und setzte sich mit dem mittlerweile lauwarmen Kaffee an seinen Küchentisch.

Die Frontseite der Zeitung war aufgeweicht, die Buchstaben durch die Feuchtigkeit verschwommen und das Papier dunkelgrau. Als Christian umblättern wollte, klebten die Seiten aneinander und durch sein ungeduldiges Zerren rissen sie in der Mitte durch.

„Das darf doch alles nicht wahr sein!“, schimpfte er.

Der Kommissar konnte sich kaum aufs Lesen konzentrieren. Seine Laune und das andauernde Summen seines Handys lenkten ihn ab. Kurz überlegte Christian, ob er sich in der WhatsApp-Dienstgruppe beteiligen und auch ein „Guten Morgen“ schicken sollte, entschied sich dann aber für den Lokalteil seines Kreisblattes. Er schob das Handy zur Seite.

Plötzlich begann er zu husten. Das Frühstück blieb dem Kommissar beim Blick auf die Überschrift fast im Hals stecken.

#MeTooWetterau spaltet die Region.

Warum zum Teufel drucken die weiterhin diese Story? Und wie kann ein bescheuertes Hashtag derartige Diskussionen lostreten? Weshalb lassen sich Menschen blos derart beeinflussen? Wie ist das möglich?

Christian verspürte nicht die geringste Lust, den aufgeschlagenen Bericht zu Ende zu lesen, obwohl Volker, sein bester Freund, den Artikel verfasst hatte.

Er blätterte um. Als die nächste Seite darüber informierte, dass in Büdingen und Friedberg für den morgigen Tag „Fridays for future“-Demonstrationen angekündigt waren, faltete er die Zeitung endgültig zusammen und warf sie in die Ecke. Auch das noch.

Ich sollte Volker mal wieder anrufen, sinnierte Christian.

6:00 Uhr

Anita

Anita Baumann war glücklich. Es hatte sich so viel bewegt. Die Heftigkeit der Resonanz überraschte sie, aber in erster Linie fühlte sie sich bestätigt. Endlich schienen die Menschen das Thema ernst zu nehmen. Endlich erhoben beeindruckend Viele ihre Stimme und ebneten damit den Weg für Veränderungen.

Obwohl der Wecker noch nicht geklingelt hatte, war sie bereits wach. Schon seit circa dreißig Minuten versuchte sie, sich nochmals zum Einschlafen zu bewegen und kuschelte sich in ihre Decke. Doch es war klar, dass daraus nichts werden würde. Waren ihre Gedanken erst in Gang, so zogen sie krachend die Türen hinter sich zu und verschlossen den Eingang zum Land der Träume. Anita wollte gerade auf Zehenspitzen das Schlafzimmer verlassen, als David im Halbschlaf nuschelte:

„Leg dich wieder hin. Es ist viel zu früh.“

„Ist schon gut. Schlaf du weiter, Schatz“, flüsterte sie liebevoll zurück.

Gähnend ging Anita ins Bad und band ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz. Das musste fürs Erste reichen. Duschen würde sie später. Ohne das Licht einzuschalten, tapste sie in die Küche, stellte Wasser auf und blickte aus dem Fenster. Es war noch nicht hell. Ein graues Nebelband hing in den kahlen Ästen der Bäume, die das Grundstück umschlossen. Voller Freude entdeckte Anita ein Eichhörnchen. Das flauschige Tier scharrte unter dem Haselnussstrauch.

Wie wunderschön wir es doch haben, schoss es ihr durch den Kopf, als das Klicken des Wasserkochers ihren Blick zum Garten trennte.

Auf nackten Füßen schlich Anita über den warmen Parkettboden in ihr Büro. Während das Laptop hochfuhr, nahm sie den ersten Schluck Tee und setzte sich in ihren ledernen Schreibtischstuhl. In angespannter Vorfreude wartete Anita auf das Erscheinen des Twitter-Symbols. Sie riss ungläubig die Augen auf. Unfassbar! #MeTooWetterau hatte erneut weitere Follower und Tweets unter sich. Wenn sie in ihrer Eile korrekt geschaut hatte, waren es nunmehr über 7000 Menschen, die sich geäußert hatten. Anita überflog die neuen Einträge.

Mir ist es letztes Jahr passiert. Erst hat Zimmermann mir eindeutige WhatsApps geschickt, als ich nicht drauf reagierte, hat er mir Schwanzbilder gesendet, und danach hat er mir an den Arsch gefasst.

Der Zimmermann ist bald wohl ziemlich einsam in seinem Gefängnis-Zimmer: mann, ist das aber traurig ;)karma is a bitch sag ich da nur ...

Bei mir auch: Und der Typ ist verheiratet. Sagt mir ins Gesicht, dass er mit mir vögeln will. Hab ihm eine gescheuert, seitdem Mobbing vom Feinsten.

Die Therapeutin strahlte. Ihr Thema ging durch die Decke. Sie klappte überschwänglich das Laptop zu und ging zurück ins Schlafzimmer.

„Komm her!“, hörte sie David flüstern, der sich aufgerichtet hatte. Als sie in seine Augen blickte, wusste sie, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war und lächelte ihren Mann vielsagend an. Sanft drückte sie seinen Oberkörper zurück aufs Kissen, beugte sich vor, fuhr mit ihren Händen durch sein Haar, streichelte sein Gesicht und verharrte eine Weile küssend auf seinem muskulösen Oberkörper. Etwas ungelenk versuchte Anita, sich ihrer Schlafanzughose zu entledigen. David half bereitwillig und ließ dabei seine Hände in ihren Slip wandern.

„Du machst mich verrückt!“, hauchte David und rollte sich neben seine Frau.

„Ich liebe dich!“

Mit einem Seufzer der Überwindung sprach David weiter: „Anita, sei vorsichtig bitte!“

Verwundert drehte die Angesprochene ihren Kopf und erwiderte schmunzelnd:

„Warum? Habe ich sonst bald einen Irren zum Ehemann?“

Ihre Stimme verriet liebevolle Ironie:

„Vielleicht ist das ja auch mein Ziel? Dann könnte ich dich nämlich jeden Tag in meiner Praxis therapieren.“ Ein leises Kichern umspielte Anitas Lippen.

Der besorgt klingende David nahm ihre Hand.

„Obwohl das natürlich ein unschlagbares Angebot ist: Das ist nicht der Grund für meine Warnung. Das weißt du auch!“ Trotz der Strenge, die seinem Ton innewohnte, fügte er schelmisch hinzu:

„Aber an das Verrücktwerden könnte ich mich gewöhnen, wenn du mich jeden Morgen so weckst.“

Sein Blick wurde ernst. Leichte Falten zierten die Augenbrauen.

„Deine Kampagne, Schatz. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Sache ist.“

Anita schaute skeptisch.

„Erstens ist es nicht MEINE Kampagne, zweitens ist es eine gute Sache und drittens weiß ich nicht, warum ich vorsichtig sein sollte“, entgegnete sie schnippischer als beabsichtigt.

„Schatz, ich weiß, dass du seit Jahren unermüdlich bist. Aber Twitter, Facebook und Co. Das ist doch nicht der richtige Weg. Ich habe einfach Angst davor, dass du stigmatisiert und instrumentalisiert wirst.“

David seufzte.

„Das hast du nicht verdient. Das hat deine Arbeit nicht verdient.“ Leise schob er nach:

„Außerdem würde es dir am Ende nur schaden.“ In einem kurzen Moment der Stille strich er seiner Frau eine Haarsträhne von der Stirn.

„Ich habe einfach kein gutes Gefühl bei der Sache.“

8:30 Uhr

Volker

Volker verließ gerade oberkörperfrei das Bad, als er das vibrierende Summen seines Handys vernahm. Wo lag das Ding denn schon wieder? Schnellen Schrittes folgte er der Richtung des Geräuschs. Und da, im Arbeitszimmer, unter etlichen Stapeln Papier, lugte es hervor. Natürlich hatte Volker das Telefon zu spät entdeckt. Der Anrufer hatte bereits aufgelegt. Mit Blick auf die entgangene Nummer huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

Mit dir habe ich schon vor drei Tagen gerechnet.

Grinsend drückte der Redakteur die Wahlwiederholungstaste und musste keine zwei Sekunden auf die Annahme des Gesprächs warten.

„Volker, hallo, ich bin’s Christian.“

„Guten Morgen, altes Haus. Was verschafft mir zu dieser frühen Stunde die Ehre?“

„Wie wäre es mit einem Bier in der Traube? Morgen Abend? Oder habt ihr schon was vor, du und Melanie?“

„Na, dann muss es ja dringend sein.“

Erneut musste Volker lachen. Diese ungezwungene Art der Kommunikation war einzigartig.

„Morgen müsste klappen. Melanie will Weihnachtsgeschenke besorgen und, wenn ich richtig liege, ist sie danach sowieso zur Chorprobe. Aber sag, was gibt’s?“

„Ich muss einfach mal wieder raus und mich mit vernünftigen Menschen unterhalten.“

Volker vernahm das wehmütige Seufzen in Christians Stimme und konnte es gut nachempfinden.

„Ist gut, geht mir genauso. Bringst du mir noch ein paar Infos zu euren MeToo-Zimmermann-Ermittlungen mit?“

„Damit du dann wieder eine reißerische Überschrift wie heute platzieren kannst und die Stimmung noch mehr anheizt, oder was?“, antwortete Christian harsch.

„Bleib ruhig altes Haus“, entgegnete Volker belustigt. „Dass sie ausgerechnet einen Dino wie dich an dem Fall arbeiten lassen, wundert mich sowieso.“

„Ha, ha Volker, ich lache mich tot. Das musst du mir nicht auch noch auf die Nase binden. Es reicht schon, dass ich meine Kollegin ständig um Hilfe bitten muss, wenn ich mir diese Twitter-Beiträge durchlesen will. Ich habe keinen Bock, mir dieses Programm runter zu laden und ich will überhaupt nicht wissen, wie das Zeug funktioniert.“

Mit „Sagen wir 19.30 Uhr?“ unterbrach Volker seinen Freund. Er wollte Christians Gejammer zum Thema Neue Medien nicht hören.

Die beiden plauderten noch weitere fünf Minuten über Belanglosigkeiten, bevor sie zufrieden das Telefonat beendeten. Dann zog Volker einen Rollkragenpullover über, steckte sein Handy auf die Ladestation und ging in die Küche, wo Melanie mit dem Rücken zu ihm am Thermomix stand.

„Guten Morgen, Schatz.“

„Na, wer hat denn da schon angerufen?“, wollte seine Frau wissen und löste sich aus der Umarmung. Sie sah müde aus und Volker machte sich Sorgen.

„Das war nur Christian. Wir treffen uns morgen Abend in der Traube. Passt das?“

Melanie drehte sich um, den Blick vorwurfsvoll auf ihren Gatten gerichtet.

„Du solltest eigentlich in deinen Rückenkurs gehen, anstatt mit Christian Bier zu trinken. Das wievielte Mal lässt du es denn nun schon ausfallen?“, stichelte sie mit diesem verständnislosen Blick, der Volker zur Weißglut bringen konnte.

Er hasste es, wenn sie die Augen derart hochzog, dass ihre Stirn in Falten lag und dabei auch noch einen Mundwinkel mit nach oben nahm. Es war ihm immer, als starre ihn eine Hyäne an.

Volker schluckte seine ihm eigentlich auf der Zunge liegende Antwort des Friedens willen herunter und sagte besänftigend:

„Was hältst du davon, wenn ich mich dafür heute eine Stunde aufs Rad setze?“

Melanies Miene veränderte sich überhaupt nicht, als sie sich ohne zu antworten wieder herumdrehte und mit unnötigem Kraftaufwand die vor ihr liegende Banane in Stücke schnitt.

„Welche Laus ist dir denn heute schon über die Leber gelaufen?“

Volker ließ seine Frau in der Küche stehen und ging auf den Balkon. Es war eh sinnlos, in dieser Stimmungslage mit Melanie reden zu wollen. Selbst durch die verschlossene Balkontüre vernahm er das Scheppern. Der Thermomix war unsanft in die Spüle befördert worden. Keine zwei Minuten später knallte die Haustüre zu und der Motor von Melanies Auto sprang an.

Na, herzlichen Glückwunsch. Depri-Schub vor Weihnachten. Vom Tisch des Wohnzimmers nahm Volker die leeren Rotweingläser und die halb volle Flasche Chianti mit in die Küche. Nach der Beseitigung der Obstreste räumte er die Spülmaschine ein, wischte noch einmal über die Arbeitsplatte und ging dann ins Arbeitszimmer.

Volkers Blick wanderte erschrocken über seinen Schreibtisch. Hier war das Chaos ausgebrochen. Der Redakteur überlegte kurz, dann packte er einen Wust aus vollgekritzelten, losen DINA4-Seiten in den gelben „Gedanken“-Ablagekorb neben dem PC.

Nun war vor der Tastatur wieder genügend Platz. Zufrieden stellte Volker fest, dass er erst um zwölf Uhr zum Interview mit Anita Baumann, der Psychotherapeutin, die als Begründerin des #MeTooWetterau galt, in Büdingen sein musste. Seit der Schaltung des ersten Tweets war viel passiert und Anita Baumann war in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Insbesondere nachdem Gerhardt Zimmermann, ein hochrangiger Manager der Depot Isenberg, mehrfach in Posts der sexuellen Belästigung beschuldigt und bei der Polizei angezeigt worden war. Das Depot Isenberg hatte Gerhardt Zimmermann daraufhin entlassen und seitdem spielte die ganze Region verrückt.

Volkers letzten Informationen zufolge war Anita Baumann von der Depot Isenberg damit beauftragt worden, eine Abteilung aufzubauen.

Eine Art Anlaufstelle für alle, die unter Belästigungen von Vorgesetzten oder Kollegen – in Gedanken setzte er ein */-innen dazu und musste über sich selbst den Kopf schütteln – zu leiden hatten.

Dazu würde er sie auf jeden Fall befragen. Generell hatte Volker sich vorgenommen, den Fokus von der #MeToo-Euphorie weg, hin auf das Geschehen beim Depot Isenberg zu lenken. Wie gern würde er tiefer in diese Geschichte einsteigen. Dort war sicher noch nicht alles ans Tageslicht befördert worden. Oder wie Christian es beschreiben würde:

„Die haben da noch ein paar Leichen im Keller.“

Das verriet ihm sein Instinkt. Eine unruhige Betriebsamkeit in seinem Innern sagte ihm, dass er dranbleiben musste. Dass es eine Schwachstelle gab, die nur darauf wartete, ausfindig gemacht zu werden.

Der Redakteur hakte die Finger ein und streckte seine Arme weit über den Kopf, bis die Glieder in Mittel- und Zeigefinger knackten. Dann schüttelte er die Hände und zog seine Aufzeichnungen über Anita Baumann aus der Ablage.

Sie war hübsch und wirkte nicht wie die typische Feministin, zu der sie in den letzten Tagen avanciert war. So eine stellte sich Volker eher altbacken in Wollpullover und Birkenstock vor. Anita Baumann wirkte freundlich, taff und doch aufgeschlossen. Es würde mit Sicherheit ein interessantes Interview werden.

Dem Redakteur war klar, dass er dieser Frau nicht unvorbereitet entgegentreten konnte. Sie hatte sicherlich bereits mit anderen Größen als ihm Gespräche geführt. Außerdem war sie fachlich im Vorteil.

Er musste gut vorbereitet sein, um nicht das Thema aus der Hand zu geben.

Anitas Vita entnahm er stichwortartig die wichtigsten Informationen: 1973 in Gedern geboren, also fünf Jahre älter, als er gedacht hatte. Abitur in Nidda, Studium der Medizin in Hamburg, Facharztausbildung und Weiterbildung in der Psychiatrie in Gießen, diverse Aufenthalte in den USA, begleitet von der Veröffentlichung etlicher Studien und Bücher. Im Jahr 2015 hatte sich Anita Baumann mit einer eigenen psychotherapeutischen Praxis in Büdingen niedergelassen.

„Nicht schlecht, Herr Specht“, pfiff Volker durch die Zähne.

Jetzt musste er sich aber langsam beeilen. Die neuesten Entwicklungen auf Twitter bedurften, ebenso wie der Zusammenhang zwischen der #MeTooWetterau-Kampagne und den Ermittlungen gegen Gerhardt Zimmermann, noch einer Aktualisierung. Der Journalist loggte sich bei Twitter ein und vernetzte seine Notizen.

9:00 Uhr

Christian

Während Christian in seinem knapp zwanzig Quadratmeter großen Büro saß und mit dem Kugelschreiber in seinen Händen spielte, starrte er auf Lindas Schreibtisch. Voll mit Akten. Kurz überlegte der Kommissar, ob er einen Blick auf die Arbeit seiner Kollegin werfen sollte, doch just in diesem Momentknarzte die Tür und sie trat ein.

„Moin, Chef“, sagte sie gut gelaunt, legte Ihre Tasche ab und drehte den Kopf auffordernd in Richtung Treppenhaus.

Dankbar nahm Christian die Einladung an. Wenige Augenblicke später standen die beiden vor dem Gebäude und rauchten.

„Seit wann bist du jetzt schon bei uns?“

„Januar. Warum?“, antwortete Linda.

„Nur so“, grummelte Christian.

„Und ich hatte schon gedacht, du planst eine kleine Überraschung für mich zum Einjährigen. Oder noch besser: Du lobst mich mal für meinen Einsatz in meiner ersten SoKo.“

Der vorwurfsvolle Ton war Christian nicht entgangen.

„Hör mal, junge Frau. Wenn dir die Arbeit in einer SoKo zu viel ist, dann lass dich doch einfach wieder zurück zur Bereitschaftspolizei versetzen.“

„Ach, so läuft der Hase hier.“

Lindas freundlich ironischer Ton kippte und sie zischte giftig in Richtung ihres Kollegen:

„Hör mal, alter Mann. Wenn dir die Arbeit mit Internet, Facebook und Twitter zu viel ist, dann lass dich doch einfach in den Ruhestand versetzen.“

Christian blieb für einen kurzen Moment die Luft weg. Hatte sie das eben tatsächlich gesagt? Noch bevor er etwas antworten konnte, schlugen ihm die nächsten Vorwürfe entgegen:

„Oder liegt es daran, dass ich, wie die meisten Zeugen in unserem Fall, ne Frau bin? Passt dir nicht, was? Ist wohl zu viel für deinen vergreisten Verstand, dass Frauen heutzutage ihre Meinung sagen können!“ Linda schnaufte.

„Fertig?“, fragte Christian, ohne auf Lindas Tirade einzugehen und drehte sich um.

Mit offenstehendem Mund und kopfschüttelnd folgte sie ihm zurück ins Büro. Auf den Guten-Morgen-Gruß ihres zwischenzeitlich eingetroffenen Kollegen Martin antworteten die beiden nicht, was Martin mit: „Das wird ja heute wieder ein geiler Tag mit euch“ quittierte.

Kaum hatten alle Platz genommen, steckte der Gruppenleiter der Sonderkommission #MeTooWetterau, Björn Markmann, neugierig seinen Kopf zur Tür herein.

„Guten Morgen, Björn. Unser Küken hat heute schon für gute Laune gesorgt, schön, nicht wahr?“, eröffnete der Kommissar das unerwünschte Gespräch und kassierte für seine Bemerkung einen bösen Blick von Linda.

„Das ist tatsächlich schön, werte Kollegen. Denn um euer derzeitiges Aufgabengebiet werdet ihr nicht beneidet, wie ihr sicherlich schon festgestellt habt. Da freut es mich doch, dass ihr die anstehenden Aufgaben gut gelaunt angeht.“ Ein breites Grinsen, welches Christian seinem Chef am liebsten um dessen aufgedunsenen Hals gedreht hätte, zierte Markmanns Gesicht.

„Wie weit seid ihr denn im Fall Gerhardt Zimmermann vorgedrungen? Gibt es strafrechtlich etwas Haltbares, für das man ihn belangen könnte?“

„Das ist nicht so einfach zu beantworten.“

Die junge Kommissarin griff sich eine rote Laufmappe und breitete etliche Papiere auf ihrem Schreibtisch aus.

„Bisher liegen uns in dieser Angelegenheit drei Anzeigen gegen Gerhardt Zimmermann vor. Zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Tatbestände waren zwei der ‚Opfer‘“ – Linda zeichnete mit Zeige- und Mittelfinger Gänsefüßchen in die Luft – „minderjährig und durchliefen ihre Ausbildung im Geldinstitut. Beide Frauen geben an, sich unmittelbar nach dem unrechtmäßigen Verhalten im Jahr 2017 über die Vorfälle beschwert zu haben. Die Befragung der Damen haben wir vergangene Woche durchgeführt. Das Protokoll schreibt Martin gerade noch. Beweismaterial wie Chatverläufe, E-Mails und Fotos, die die Aussagen möglicherweise stützen, haben wir gesichert, allerdings noch nicht ausgewertet. Zusätzlich wurden beim Betriebsrat die entsprechenden Dokumentationen der Beschwerden angefordert. Bis wir diese endgültig hier haben, kann es noch dauern. Mein Ansprechpartner im Bankhaus windet sich derzeit noch wegen eventueller Datenschutzprüfungen. Ich habe die Rechtsabteilung eingeschaltet, um herauszufinden, inwieweit wir die Akteneinsicht beschleunigen können.“

„Von welchen Anschuldigungen reden wir konkret?“, wollte Björn wissen.

„Die Vorwürfe reichen von sexistischen Bemerkungen, Aufforderungen, sich knapp zu bekleiden, bis hin zu anzüglichen E-Mails, Fotos und Stalking“, erwiderte Linda.

„Zu körperlichen Übergriffen ist es laut diesen beiden Aussagen nicht gekommen. Dass der Zimmermann von seinen Ämtern enthoben wurde, legt den Verdacht nahe, dass die Anschuldigungen zumindest nicht haltlos sind. Ob sie strafrechtlich relevant sind, kann ich derzeit noch nicht sagen.“

Sie blätterte in Ihren Papieren.

„Allerdings ist Anzeige Nummer drei heikel.“ Linda machte eine kurze Pause und blickte in die Runde, bevor sie fortfuhr:

„Die Frau, die sie aufgegeben hat, arbeitet mittlerweile nicht mehr bei der Depot Isenberg. Laut ihrer Aussage ist es auf einer Weihnachtsfeier vor – Achtung! – 18 Jahren zu einer Vergewaltigung durch Gerhardt Zimmermann gekommen. Es gestaltet sich allerdings schwierig, Zeugen zu finden.“

Christian meldete sich zu Wort.

„Keine der Frauen, die Anzeige gegen Herrn Zimmermann erstattet haben, war im Vorfeld auf #MeTooWetterau aktiv. Dennoch scheint die Betriebsamkeit dort sie zur Anzeige bewogen zu haben, was sie auch als Grund für die um Jahre verspätete Meldung bei der Polizei angaben. Gerhardt Zimmermann selbst ist vorgeladen. Er hat auf einen Termin mit seinem Anwalt verwiesen. Wir planen eine Vernehmung am kommenden Mittwoch, in der Hoffnung, bis dahin einen Blick auf die Aufzeichnungen des Betriebsrates werfen zu können.“

„Ich checke gerade die Weihnachtsfeiertussi“, brachte sich Martin auf einem Croissant kauend ins Gespräch ein. Das süffisante Lächeln des schlaksigen Kerls war trotz seines mit Krümeln vollgestopften Mundes nicht zu überhören.

„Wenn ihr mich nach meiner persönlichen Meinung fragt“, sagte er schmatzend, während er die Füße ausgestreckt auf seinem Schreibtisch ablegte und seine Stuhllehne nach hinten kippen ließ.

„Ich könnte hier genauso im Verdacht stehen, wenn sich jede meiner Ficks hier melden würde.“

Die Gesichter seiner Kollegen blickten verdutzt drein, was Martin allerdings nicht davon abhielt, weiter zu sprechen.

„Meiner Erfahrung nach reden nur die Weiber schlecht über einen One-Night-Stand, die unter normalen Umständen nicht zum Zug kommen würden. Um es mal vorsichtig auszudrücken. Die turnen dich an, lassen sich ordentlich durchvögeln und behaupten, wenn sie merken, dass es tatsächlich nur um Sex ging, sie hätten das nicht gewollt.“

Er lächelte selbstgefällig und fügte abschließend hinzu:

„Ich bin also mindestens genauso schuldig wie Gerhardt Zimmermann.“

Der Beamte ließ seine Stuhllehne wieder in Normalposition fahren. Die plötzlich eingetretene, schneidende Stille gebot ihm, nichts weiter zu sagen.

Mit einem wütenden „Arschloch!“ durchbrach Linda das betretene Schweigen und verließ türknallend den Raum.

Christian zog die Augenbrauen hoch, hüstelte und pfiff leise durch die Zähne:

„Ich würde sagen, mit deinen Kugeln spielt kommende Weihnachtsfeier niemand. Mach dich besser schon mal drauf gefasst, dass deine Kerze in der Hose bleibt.“

Er freute sich diebisch, dass ihm dieser Vergleich eingefallen war. Seine Äußerung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt.

„Ist doch wahr!“, schnaubte Martin und warf die zerknüllte Bäckertüte gegen die Tür.

Björn Markmann holte ein grau-blaues, frisch gebügeltes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit über die schwitzende Stirn. Sein Gesicht war puterrot. Es war offensichtlich, wie unangenehm ihm die gerade entstandene Situation war. Dass Martin und Linda im Juli das Sommerfest gemeinsam verlassen hatten, war ein offenes Geheimnis. Martins Aussage und Lindas Reaktion ließen keinen Raum für Spekulationen über den weiteren Verlauf des Abends.

„Never fuck the company“, bemerkte Christian zufrieden.

Prinzipiell gab er Martin allerdings recht.

„Was, wenn diese Frauen zu leichtfertig ihre Anschuldigungen auf Twitter lostrompeten? Müssen wir nicht eigentlich etwas sensibler mit den Beschuldigten umgehen?“, warf er daher in den Raum.

„Ich sage euch: Das war früher einfacher. Wie sollen Männer sich denn grundsätzlich verhalten, wenn sie stets damit rechnen müssen, für jeden Kuss, jede Berührung öffentlich verleumdet zu werden? Aber gut, meine Meinung tut ja hier nichts zur Sache. Lasst uns einfach unsere Arbeit machen.“

11:00 Uhr

Volker

Die Sonne kämpfte sich durch den tiefhängenden Nebel. Volker war auf dem Weg nach Büdingen und überlegte, Melanie anzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Es widerstrebte ihm zwar, dass seine Frau vor den Feiertagen offenbar einen Depri-Anfall bekommen hatte, er sah es allerdings nicht ein, besänftigend einzugreifen.

Je näher Büdingen rückte, desto klarer wurde die Sicht. An der Kreuzung in Büches spiegelten sich plötzlich Sonnenstrahlen auf dem nebelfeuchten Bodenbelag, sodass sich der Asphalt in flüssiges, glänzendes Gold zu verwandeln schien. Verrücktes Wetter.

Volker schaltete das Radio aus und ging im Kopf nochmals seine Strategie für das Interview durch. Langsam und quietschend zogen sich die Schubladen seines Hirns auf, um alle wertvollen Details sicher zu verwahren.

Der Journalist passierte die Ortsdurchfahrt Büdingens. Was für ein wunderschöner Fleck.

Zu seiner Rechten ragten ein neugebautes Kino, ein Rewe Center und das beliebte Bekleidungshaus Müller-Ditschler empor. Durch die Bahnhofstraße und Vorstadt zu seiner Linken konnten Besucher in Geschäften, Cafés und Bars einladend bis zur Altstadt und zum Jerusalemer Tor, das zu Büdingens Wahrzeichen avanciert war, flanieren. In der gesamten Region kannte jeder die mittelalterliche, aus rotem Sandstein gefertigte Doppelturmanlage, deren Stadttor eine Brücke vorgelagert war. Die Einkaufsstraße des kleinen Städtchens war gespickt mit liebevoll dekorierten Läden. Aber die Büdinger Promenade war lange nicht vergleichbar mit dem unschätzbar wertvollen Erhalt der mittelalterlichen Gassen und Häuser der Altstadt. Bei Anblick des historischen Stadtkerns schlugen die Herzen von Kunsthistorikern aller Gewerke höher.

Auch Volker war wie immer beeindruckt, als er seinen Wagen auf einer der Parkflächen am geschichtsträchtigen Marktplatz abstellte. Von hier aus waren es nur wenige Schritte in die Rathausgasse, die ihren Namen dem historischen Rathaus, einem gezierten Fachwerkhaus mit spätgotischem Treppengiebel, verdankte. Auch das Schloss, im 12. Jahrhundert einst eine Wasserburg, war fußläufig erreichbar.

Geprägt von den jeweiligen Herrschern ihrer Zeit vereinte das Bauwerk verschiedenste Baustile in sich. Kunsthistorie zählte definitiv nicht zu Volkers Fachgebiet, allerdings glaubte er, sich an eine Stadtführung zu erinnern, in der erzählt wurde, dass das Schloss romantische und auch barocke Muster miteinander verband. Aber selbst ohne korrekte historische Einordnung verlor das Gebäude nichts von seiner Imposanz.

Anita Baumanns Praxis befand sich hinter der Musik- und Kunstschule in einer Querstraße. Die Hauseingangstür ließ sich durch ein Klicksystem ohne vorheriges Klingeln öffnen. Der Redakteur betrat einen weiß gestrichenen Hausflur. Geradeaus im Parterre lag die Praxis. Eine Treppe links von ihm führte in eine darüber liegende Wohnung.

Ist das nicht unangenehm für die Patienten? Ihn würde es jedenfalls stören. Die Bewohner könnten gut einsehen, wenn jemand den Gang zu seinem Therapeuten antrat. Der Eingang zur Praxis öffnete automatisch.

„Ich komme sofort, kleinen Moment noch“, hörte er eine freundliche Stimme von rechts, noch bevor die Türe wieder ins Schloss gefallen war.

„Nehmen Sie bitte schon Platz!“

Volker ging auf einen Sessel zu, der vor einem bodentiefen Fenster ohne Gardinen stand. Erneut beschlich ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch schnell war klar, warum an diesem Fenster keine Gardine angebracht war.

Von hier aus hatte man einen beeindruckenden Blick auf das Schlossgelände Büdingens. Der Journalist blieb unvermittelt stehen und staunte. Anita Baumann brauchte sich keine Gedanken über die Einrichtung ihrer Praxis zu machen. Dieser Anblick fesselte.

„Wunderschön nicht wahr?“, fragte die Therapeutin, die unbemerkt herangetreten war. Sie streckte die Hand aus und stellte sich mit festem, sicherem Händedruck und freundlich weicher Stimme vor.

„Trefflicher kann man es nicht beschreiben. Volker Henrich. Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen, Frau Baumann“, erwiderte er die Begrüßung.

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“ „Ich bitte Sie“, sagte Anita bestimmt.

„Ich danke Ihnen und bin mir sicher, Ihnen ist bewusst, dass unser Treffen heute ebenso in meinem Interesse ist. Was darf ich Ihnen zum Trinken anbieten? Kaffee? Tee? Wasser?“

Die Gastgeberin stellte sich seitlich neben Volker und deutete mit ausgestreckter Hand auf eine Tür am Ende des Wartezimmers. Volker schritt, wie aufgefordert, voran und bestellte ein Wasser. Die beiden betraten einen 40 qm großen, hellen und freundlichen Raum.

Anita führte ihren Gesprächspartner zu einer Tischgruppe. „Bitte sehr, setzen Sie sich. Ich hole Ihnen noch das Wasser und dann kann es losgehen.“

Mit einem freundlichen Lächeln kam sie zurück und platzierte sich ihm gegenüber.

„Vielen Dank“, sagte der Journalist, der in der Zwischenzeit seinen Block, Kugelschreiber und das Diktiergerät bereitgelegt hatte. Volker nahm einen Schluck Wasser und inspizierte das prall gefüllte Bücherregal, das die komplette Länge des Raumes einnahm. Es war durchweg mit Fachliteratur bestückt.

„Frau Baumann, können wir beginnen?“

Seine Stimme war fest, freundlich und ermutigend.

„Ich würde Ihnen gern im Vorfeld meine Intentionen vorstellen, um eventuelle Missverständnisse zu vermeiden.“

Anita beschied Volker durch ihr bestätigendes Kopfnicken, weiter zu sprechen.

„Der Twitter #MeTooWetterau ist seit gut drei Wochen aktiv. Die öffentliche Diskussion, die dadurch ausgelöst wurde, hat mich sehr aufgewühlt und beschäftigt.“

Wieder nickte die Therapeutin.

„Nachrichten des #MeTooWetterau sind im Handumdrehen, bereits zwei Tage nach dem begründenden Tweet des Users RfH2019 derart in den Vordergrund gerückt, wie wir es in unserer Region selten bei Themen wahrnehmen.“

Er machte eine kurze Pause.

„Die hohe Resonanz wurde potenziert durch die vielfachen Beschuldigungen gegen Herrn Gerhardt Zimmermann, dessen Entlassung und die Vorwürfe gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber, Depot Isenberg.“

Volker räusperte sich:

„Auch Ihre Person ist im Zuge der Debatte in den Blickpunkt geraten. Ihre Tweets erfreuen sich einer besonderen Beachtung, werden überdurchschnittlich häufig beantwortet, geteilt und verlinkt. Mich interessiert, aus welchem Anlass Sie unter dem Synonym RfH2019 die Bewegung gegründet haben, woher Sie die Informationen über Zimmermann hatten und warum Sie sich derart intensiv einbringen. Zudem möchte ich jenen, die keinen Zugang zu Twitter haben, Ihre Person vorstellen. Und, auch das möchte ich Ihnen nicht vorenthalten“ – Volker machte eine erneute kurze Pause und nahm einen Schluck Wasser – „mich interessiert die Rolle, die Sie, wie ich gehört habe, seit Neuestem im Bankhaus spielen. Ich erhoffe mir einen Einblick in den Umgang der Unternehmensführung mit dem Skandal.“

Anitas Augen waren hellwach. Sie hatte den Ausführungen des Journalisten ohne deutbare Regung, abgesehen von zweimaligem Kopfnicken, gelauscht. Nun schlug sie die Beine übereinander und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Hände ruhten entspannt auf dem Oberschenkel.

„Gut, dass wir im Vorfeld sprechen. Ich möchte gleich zu Beginn drei wichtige Dinge klarstellen“, sagte die Therapeutin und lächelte ungezwungen.

„Erstens, grundlegend: Ich habe den ersten Tweet nicht abgesetzt. Ich bin nicht die Gründerin der #MeTooWetterau-Bewegung. Mir ist bewusst, dass eine Vielzahl der Nutzer und, allem Anschein nach alle anderen da draußen ebenso, davon ausgehen, ich sei RfH2019. Ich glaube, selbst mein Mann denkt das“, schob Anita erneut herzlich lachend ein.

„Dem ist aber nicht so. Ich bin, vermutlich genau wie Sie, durch die öffentliche Wahrnehmung auf den Hashtag gestoßen. Selbstverständlich aufgrund meines beruflichen Hintergrundes schneller als manch anderer, aber auf mich geht es nicht zurück. Wer hinter dem Nutzer RfH2019 steckt, müssen Sie anderweitig recherchieren.“

„Sie wissen es nicht?“, hakte Volker schnell ein.

„Nein, er oder sie ist mir unbekannt.“

„Und zweitens?“, fragte der Journalist.

„Zweitens werde ich Ihre Fragen bezüglich des Depot Isenberg eventuell nicht alle beantworten können, aber warten wir erst einmal, was sie überhaupt wissen möchten.“

Anita lächelte zuvorkommend und brachte ihre Klarstellung zu Ende:

„Und drittens: Ich bitte Sie, mir vor der Veröffentlichung unseres Interviews eine Abschrift zur Verfügung zu stellen.“ Schnell schob sie hinterher: „Nicht, weil ich Sie zensieren möchte.“

Volker fiel unwillkürlich in Anitas Lachen ein und fragte:

„Sondern?“

„Ich möchte bitte im Bilde sein, was auf mich zukommt. In Zeiten wie diesen ist es ratsam, sich einen Panzer wachsen zu lassen.“ Anita kniff ein Auge zusammen und legte den Kopf leicht schief.

Volker musste unwillkürlich an einen Tweet denken, den er heute Morgen noch unter Anitas Account gelesen hatte:

Ich höre hier nur mimimimi. Wenn sich abgrundtief hässliche Therapeutinnen wie @AnitaBaumann daran machen, über Sex und Anmache zu diskutieren, drängt sich mir die Frage auf, woher solche Frauen ihren Erfahrungswert haben wollen? Das Ganze ist eine miese Nummer! Ihr gehört doch alle in die Klapse! #MeTooWetterau.

Volkers Blick senkte sich und er spielte mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. Dann durchbrach er die eingetretene Stille.

„Können wir anfangen?“

11:00 Uhr

Jan

Jans Kopf schmerzte. Er rieb sich mit den Fingern die Schläfe und kramte in seiner Tasche nach einer Schmerztablette.

„Na, gestern gelumpt?“, fragte Julia, seine Arbeitskollegin, mit einem verschmitzten Lächeln.

„Seh ich so scheiße aus?“

„Mmmh, nein wäre gelogen, wenn ich ehrlich bin. Ist alles okay?“

Jan überlegte kurz. „Nein“, sagte er trocken und spülte die Tablette mit einem großen Schluck Wasser hinunter.

Julia sah ihn besorgt an. „Willst du drüber reden?“

Jan zuckte mit den Achseln. „Geht schon, ich hab gestern mit meinen Kumpels drüber gesprochen. Ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch machen soll.“

„Isabelle?“

„Ja, im Moment ist es echt schlimm.“

„Du weißt, dass ich da nicht wirklich objektiv bleibe, mein Lieber. Ich find es scheiße, wie sie sich dir gegenüber verhält. Ich an deiner Stelle würde mir das nicht gefallen lassen.“

„Ich liebe sie über alles. Ich lass sie jetzt nicht einfach fallen, nur weil es mal bisschen schwierig ist im Moment.“

„Im Moment?“ Julia schüttelte verständnislos den Kopf.

„Jan, seit nem halben Jahr macht diese Frau nichts anderes, als an dir herumzunörgeln. Wenn ich nur die Hälfte von dem aushalten müsste, was du dir jeden Tag gibst – ich würde ausflippen.“

Jan ließ den Kopf resigniert sinken.

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“

„Doch, ist es! Die ruft hier jeden Morgen an, jammert erst mal rum und dann keift sie dich an. Alter, die zählt, wie viele Flaschen Bier du getrunken hast. Manchmal habe ich den Eindruck, sie stellt dich als Säufer dar.“

Nach einer kurzen Pause schob sie aufgeregt hinterher.

„Hätte ich fast vergessen: Oder sie fängt an, über diesen Hashtag-Bericht ihres Vaters zu schimpfen.“

Jan schluckte. „Stimmt schon. Im Moment ist sie nicht gerade belastbar. Aber du verstehst das nicht.“

„Will ich auch gar nicht. Ich finde es ne Frechheit. Du hast dein Zuhause für sie aufgegeben. Du bist, weil sie mit deiner Mutter nicht zurechtkam, 150 km von deinen Freunden weggezogen, hast dir und deiner Familie hier alles neu aufgebaut und die zieht so ne Monstershow ab. Sorry, das verstehe ich wirklich nicht.“

„Lass gut sein“, versuchte Jan das Gespräch zu beenden.

„Und ich wette, die lässt dich nicht mal mehr ran.“

Jan blickte verärgert in das Gesicht seiner Kollegin.

„Das geht dich nen Scheißdreck an!“

„Siehste, wusst ich’s doch!“, entgegnete Julia triumphierend.

„Ich gebe dir nen guten Rat: Andere Mütter haben auch hübsche Töchter. Schnapp dir deine Kinder und lass dir das nicht bieten. Das hast du nicht verdient. Andere nehmen dich mit Handkuss. Ich hätte gern einen Freund, der kocht, wäscht und mir jeden Wunsch von den Augen abliest.“

„Hör auf!“, erwiderte Jan in scharfem Ton.

„Ja, ja schon gut“, war die abwehrende Antwort.

„Gestern musst du jedenfalls mit deinen Kumpels ziemlich über die Stränge geschlagen haben. Prinzessin auf der Erbse hat ja noch nicht mal angerufen.“

Jan sah auf die Uhr. Tatsächlich. Isabelle hatte sich nicht gemeldet. Das war unüblich. Normalerweise rief sie jeden Morgen gegen halb neun an. Jan nahm sein Handy aus der Tasche. Keine WhatsApp zu sehen. Kein Anruf in Abwesenheit.

13:00 Uhr

Peter

Peter hatte sich gefangen. Die Konkretisierung seines Vorhabens war innerhalb der letzten beiden Stunden effizient vorangeschritten. Zufrieden drückte er die delete-Taste und beobachtete wie eine Videosequenz seiner Überwachungskamera in den digitalen Papierkorb wanderte. Einige wenige Klicks und Programmierungen später fuhr er seinen PC herunter. Er war von seiner eigenen Genialität berauscht. Auf sein intrigantes, gut vernetztes Gehirn konnte er sich verlassen. Und das, obwohl er diese Fähigkeit seines Geistes die vergangenen zwei Jahrzehnte nicht benutzt hatte.

Dass er sich heute nicht im Geringsten um geschäftliche Belange kümmerte, fiel nicht auf. Dass sein Telefon auf nicht angemeldet geschaltet war, ebenso nicht. Das machte er immer, wenn wichtige Meetings anstanden oder komplizierte Gedankengänge keinesfalls unterbrochen werden durften. Er schloss die Türe ab und lief über den Parkplatz zu seinem Maybach.

Peter saß im Wagen und öffnete seine „I know“-App.

Darüber sollte man sich mehr Gedanken machen als über die Vergangenheit, dachte er schelmisch.

„I know“ war zwar nicht der ganz große Wurf, weshalb es nie in das Portfolio der Firma übernommen worden war, für seine privaten Zwecke allerdings hatte der IT-Spezialist die Anwendung optimiert und stets auf die technischen Neuheiten angepasst. Wie dankbar er nun für diesen Geistesblitz war.

„I know“ ermöglichte es ihm spielend, den Standort x-beliebiger Personen, ohne deren Wissen oder vorherige Zustimmung, zu bestimmen. Die Mobilfunknummer war alles, was dazu von Nöten war. Das annähernd gleiche Prinzip nutzte Apple mit seiner Freunde-Funktion. Peter hatte sich, als dies vor ein paar Jahren auf den Markt kam, geärgert, seine Grundidee nicht ausgereift zu haben.

Er checkte die Nummer seiner Frau. Peter hoffte, Sabine treffen zu können, bevor der schwierigste Teil seines Unterfangens begänne. Die andere Person, die Peter auf dem Schirm hatte, war just in diesem Moment in Friedberg.

Von Bad Homburg aus, dem Standort seiner Firma, könnte er in gut zwanzig Minuten dort sein. Und bis dahin wäre hoffentlich die letzte, noch fehlende Nummer, eingetrudelt.

Peter hatte Glück. Die A5, auf der um die Mittagszeit normalerweise immer Staugefahr herrschte, war frei. Er kam gut durch, verließ die Autobahn ohne Verzögerung in Rosbach und ging im Kopf noch einmal alles durch.

Dass Gerhardt Zimmermann sich im Golfclub aufhielt, war geradezu perfekt. Hier würde es niemandem auffallen, wenn sie sich über den Weg liefen.