gerade mal Halbzeit - Sandra Sommer - E-Book

gerade mal Halbzeit E-Book

Sandra Sommer

0,0

Beschreibung

Ellen Herbst ist Ende 40 und wird von Selbstzweifeln und der Frage nach dem Sinn ihres Lebens und ihrer Ehe geplagt. Ihre lebenshungrige, egozentrische Freundin Louise überredet sie zu einem Kurztrip nach Wesum, auf die Insel, auf der beide zusammen aufgewachsen sind. Nach etlichen Ansprachen und Bemerkungen ihrer überheblichen Freundin ist sich Ellen schnell sicher, dass ihre Ehe am Ende und sie hoffnungslos alt und überflüssig ist. Dann trifft sie ihre Jugendliebe wieder. Die Gefühle flammen sofort wieder auf. Auf beiden Seiten. Ist das eine glückliche Fügung für einen wunderbaren Neuanfang? Oder spielt ihr nur die Torschlußpanik einen Streich, die viele Frauen nach der `Halbzeit´ überfällt? Der Hunger nach Abenteuer und Leidenschaft macht es ihr schwer, klar zu sehen. Dann überschlagen sich die Ereignisse und schließlich beginnt auch Louises Fassade zu bröckeln. Womöglich ist doch nicht alles Champagner, was sprudelt...?!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 200

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

-1-

„Nee, oder?“, schimpfte Ellen. Kaum hatte sie ihre Finger in die Hackfleischmasse gesteckt, klingelte das Telefon.

Unbeeindruckt knetete sie weiter.

Es klingelte wieder.

„Mist!“, fluchte Ellen, „warten die Leute mit dem Anrufen eigentlich extra auf einen unpassenden Moment?“

Noch ein Klingeln.

„Ja doch!“ Mit dem Ellbogen öffnete sie den Hebel des Wasserhahns und spülte ihre Hände ab.

Energisch klingelte das Telefon noch einmal.

„Wo ist jetzt das blöde Handtuch?“

Sie fand es hinter der Schüssel, in der sie die eben die Zutaten für die Frikadellen zusammengeknetet hatte, zog gehetzt daran und riss damit eine offene Milchtüte zu Boden.

Und die Schüssel mit der Hackmasse.

Diese verteilte sich nun großflächig auf die Fliesen während das Telefon wieder klingelte.

„Oh, Mist!“ Ellen stieg über Hackfleisch und Milchpfütze und griff wutentbrannt zum Hörer.

„Was ist?“, brüllte sie hinein.

„Oha, meine Liebe! Das ist ja eine nette Begrüßung!“

„Lou, tut mir leid! Es ist gerade etwas unpassend.“

„Ach was! Wenn du nicht gerade einen Liebhaber dahast, kann ich mir nicht vorstellen, was eine Hausfrau vom Telefonieren abhalten könnte.“

Genervt rollte Ellen mit den Augen.

„Was gibt´s denn, Louise?“

„Hör zu, Schätzchen! Ich halt´s nicht mehr aus hier. Ich brauche mal wieder frischen Wind um die Nase. Ich will auf die Insel. Du warst doch schon seit Jahren nicht mehr da. Kommst du mit?“

„Äh, ich denk drüber nach, ok?“, antwortete Ellen und versuchte dabei vergeblich die beiden Katzen von der Hackmasse fernzuhalten.

„Ich ruf dich heute Abend zurück!“

„Da sitzen wir doch längst auf der Fähre!“

„Was soll das jetzt wieder heißen“

„Dass du nicht nachdenken brauchst, meine Liebe! Das habe ich schon für dich getan. Es ist alles gebucht.“

Ellen überließ den Katzen resigniert das Feld und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen.

„Wie stellst du dir das immer vor, Louise? Ich muss das doch erst mal mit Holger besprechen.“

„Mensch Ellen! Das ist dem doch egal. Der arbeitet doch eh den ganzen Tag. Die Kinder sind groß. Die kommen schon klar. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du nicht mal da raus willst aus deinem langweiligen, grauen Alltag!“

„Also, was heißt hier...also so langweilig…“, wollte Ellen eigentlich widersprechen. Da sie aber zu gut wusste, dass Louise nun mal ihre feste Meinung hatte über das traurige Hausfrauendasein im Allgemeinen und über Ellens im Besonderen, ergab sie sich gleich und antwortete:

„Also gut. Jetzt mal von vorne. Wann soll`s denn losgehen?“

„Ich habe uns ein Zimmer in diesem neuen Spa am Westufer gebucht. Erst mal für drei Nächte. Wenn wir die Fünf-Uhr-Fähre nehmen, können wir noch schön was essen gehen und kehren danach bei Juppi ein. Da ist donnerstags immer Live-Musik. Das wäre dann mal was für dich!“

Beeindruckt von der Tatsache, dass Louise bei der Planung auch an ihre Interessen gedacht hatte, antwortete Ellen überzeugt:

„Ist zwar etwas spontan, aber ich werde mal sehen, was sich machen lässt, ok?“

„Na gut! Ich rechne mit dir, Schätzchen! Zu halb vier schicke ich dir ein Taxi zum Hafen.“

„Schaff ich!“, rief Ellen und legte hastig auf.

Tatsächlich sprach überhaupt nichts gegen ein paar Tage Auszeit. Seitdem die Kinder groß waren, beschränkte sich Ellens Arbeit eigentlich nur noch aufs Putzen. Und selbst das wurde immer weniger nötig, weil kaum noch jemand etwas dreckig machte. So schaffte es selten ein Staubkorn, sich länger als zwei Tage auf einem der hochglanzpolierten Möbel aufzuhalten.

Das stilvoll gestaltete Haus hätte jederzeit für eine neue Ausgabe der `schöner Wohnen´ fotografiert werden können. Obwohl die Einrichtung durchaus gemütlich war, fehlte es doch inzwischen ein wenig an Leben, was Ellen durch Pflanzen und ständig frische Schnittblumen auszugleichen versuchte. Diese zog sie selbst in ihrem ebenso durchgestylten Garten, der wie das Haus eher puristisch in Farbe und Form gehalten war. Es gab viele Gras- und Grünpflanzen mit gezielt gesetzten weiß- oder roséfarbenen, kleinblütigen Blumen für den passenden Hauch von Romantik.

Holger und Ellen hatten das Haus vor fast zwanzig Jahren gebaut und sie hatte mit liebevoller Hingabe daraus ihr Zuhause gestaltet. In all der Zeit lag Ellens Fokus auf diesem Nest, das sie hegte, pflegte und beschützte.

Jetzt war ihre Brut bestmöglich gediehen und flügge geworden. Ellens Arbeit wurde immer überflüssiger und somit verlor ihr Lebensinhalt immer mehr an Bedeutung.

Manchmal überkam Ellen ein Anfall von Panik. Auf keinen Fall wollte sie einen Lebensabend in totaler Bedeutungslosigkeit. Dann lief ihr Gedankenkarussell auf Hochtouren. Sie wägte ihre Möglichkeiten ab, googelte `Ausbildung Ü 40´ und `Studium im Alter´.

Meistens endete das aber wieder nur in Frustration, weil bestimmte Voraussetzungen fehlten oder die Bedingungen nicht passten oder einfach doch der Ehrgeiz fehlte, den Alltag komplett umzukrempeln.

So fristete sie in letzter Zeit häufig ein Dasein in Langeweile.

Im Grunde hatte Ellen sich auch schon länger wieder nach Wesum gesehnt. Sie vermisste auch nach so langer Zeit noch diesen Geruch der Freiheit, den das Meer über die Dünen wehte, während die Insel selbst sie in eine tiefe Geborgenheit hüllte. Wesum war ihre Heimat und würde es immer bleiben.

Früher, als Ellen und Louise noch im Sandkasten zusammenspielten, war das kleine Dorf noch längst kein Touristenmagnet. Heute reihte sich eine Gaststätte an die nächste. Alle immer randvoll. Zumindest in der Hauptsaison platzte das romantische Friesendorf aus allen Nähten.

Dann hatten alte Bekannte, die hier neue Geschäfte eröffnet oder die Betriebe der Eltern übernommen hatten, oft kaum Zeit für einen Plausch mit Ellen und Louise. Ellen kam daher auch nur noch sehr selten und dann gern mal zu anderen Jahreszeiten zurück nach Hause. Louise, deren Mutter noch immer dort lebte, lockten die prall gefüllten Bars, die Beachpartys und was sonst noch so alles veranstaltet wurde, öfter mal auf die Insel zurück.

Dann tanzte, trank und flirtete sie meist, was das Zeug hielt. Lou liebte früher das Bad in der feiernden Menge und genoss es noch heute. Nicht nur darin unterschieden sich die Freundinnen inzwischen sehr.

Ellen flitzte in den Keller, kramte den kleinen Rollkoffer aus dem Schrank und lief zurück nach oben. Auf der Hälfte der Treppe drehte sie um, rannte zurück zum Schrank und tauschte den kleinen Rollkoffer gegen den großen Rollkoffer.

Auf dem Weg zum Kleiderschrank im Schlafzimmer fiel ihr Blick kurz in die Küche. Die Katzen hatten inzwischen den Großteil des Frikadellenteigs weggeputzt, dafür aber die Milch mit ihren Tatzen weiträumiger verteilt.

„Ach ja, Mist! Das hätte ich fast vergessen.“, murmelte Ellen.

Sie kratzet den Rest des Hackfleischs zusammen und wollte eben die Milch aufwischen, als die Haustür ins Schloss fiel.

„Hi Mom!“, hörte sie von Weitem.

Gleich darauf stand Jan in der Tür.

„Gibt´s heute kein Essen?“

„Doch, natürlich. Ich bereite es jetzt immer auf dem Fußboden zu. Da hab ich einfach mehr Platz…“, zischte Ellen.

„Hä?“

„Nein! Es gibt heute kein Essen!“

„Ok, hab´ eh jetzt Fahrstunde.“, sagte Jan teilnahmslos und drehte gleich wieder um.

„Tschüss!“, rief Ellen hinterher.

Als der Boden sauber war, war es fast halb eins. Schnell griff Ellen zum Telefon und wählte die Nummer der Praxis.

„Praxis Dr. Herbst. Sie sprechen mit Birgit Baumann…?!“, hörte sie am anderen Ende.

„Hallo Birgit. Hier ist Ellen. Kann ich meinen Mann sprechen?“

„Hallo Ellen. Tut mir leid, dein Herr Doktor ist im Gespräch. Soll ich was ausrichten?“

„Ja, sag ihm doch bitte, er soll nicht zum Mittag nachhause fahren. Ich komme gleich bei euch vorbei und würde gern mit ihm in der Stadt was essen gehen.“

„Alles klar! Bis gleich!“

Schnell warf Ellen noch einen Blick in den Spiegel, kämmte einmal kurz durchs mittellange, dunkele und inzwischen leicht graugesträhnte Haar und zog eine Strickjacke über.

Wieder ging die Haustür auf.

„Anna?“ Ellen sah ihre Tochter fragend an. „Was machst du denn hier?“

„Hi Mama! Gibt´s kein Essen?“ Anna erntete einen bösen Blick. „Willst du weg?“

„Ich bin auf dem Weg zur Praxis. Und du? Ist eurer neuen WG die Fertigpizza ausgegangen?“ Sie drückte Anna einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Sehr witzig! Ähm, also ich wollte noch ein paar Klamotten holen. Die meisten Schränke haben wir jetzt endlich zusammengeschraubt.“

„Das ist doch super! Dann kann Papa dir die restlichen Kisten ja auch bald mal bringen.“, murmelte Ellen während sie nach dem Autoschlüssel kramte.

„Tja, dafür fehlt mir leider noch eine Kommode. Die steht aber noch im Möbelladen.“

„Warum das? Ist was mit dem Transport schiefgelaufen?“

„Nein. Mit der Bezahlung. Die Kommode ist total schön und ich brauche sie wirklich. Aber ich bin völlig blank!“, erklärte Anna mit süßem Lächeln.

„Ach so! Daher weht der Wind! Ich dachte schon, du hast uns vermisst.“

„Das natürlich auch!“

Als Ellen den Schlüssel endlich gefunden hatte, wand sie sich Anna zu.

„Was soll das Ding denn kosten?“, fragte sie.

„250 Euro!“, antwortete ihre Tochter schnell.

„Was? Wie groß ist die denn?“

„Naja, ok, 150 Euro. Aber ich dachte, bevor ich euch die Tage wieder anpumpen muss…“

„Ja, danke! Sehr rücksichtsvoll!“ Ellen wühlte in ihrer Tasche. „Na gut, ich denke, deinem Vater hättest du noch mehr abgeschwatzt.“

Sie gab Anna die erhofften 250 Euro.

„Jetzt muss ich aber los, sonst ist Papas Mittagspause gleich wieder vorbei!“

„Danke Mama! Du bist die beste. Ich hab dich lieb!“

„Ja, das kann ich mir vorstellen! Grüß deine Mitbewohnerinnen!“

Ellen sprang ins Auto und sah Anna noch kurz winken und dann im Haus verschwinden.

Eine schöne Zeit, die da auf Anna zukommt, dachte Ellen. Die Studienzeit, die erste eigene Wohnung. Sie freute sich sehr für ihre Tochter, auch wenn sie oft eine große Wehmut und manchmal sogar etwas Neid überkam. Sie selbst hatte diese Zeit auch so genossen.

Als Teenager war sie damals mit ihren Eltern und ihrem Bruder von der Insel Wesum in den kleinen Hamburger Vorort gezogen. Ihr Vater arbeitete schon lange in Hamburg und bis dahin hatte er oft einige Tage in der Stadt bleiben müssen, weil die Fährverbindung schlecht war. Damals hatten ihre Eltern ihr nicht recht verständlich machen können, warum sie unbedingt jetzt, kurz vor ihrem Schulabschluss noch umziehen mussten. Heute war sie davon überzeugt, dass die Wochenendbeziehung ihrer Eltern in dieser Phase wohl derbe auf der Kippe stand. Sie war stolz und dankbar, dass ihre Eltern diesen Schritt gegangen waren und so allem Anschein nach ihre Ehe retten konnten.

Genau wie jetzt Anna war auch Ellen nach dem Abi zwar in Hamburg geblieben, aber in eine Wohnung in der Stadt gezogen.

Vielleicht würde auch Anna den Mann ihres Lebens im Studium kennenlernen. Allerdings würde Ellen ihr dann raten, unbedingt das Studium durchzuziehen, wenn der Wunsch, eine Familie zu gründen auch noch so groß sein würde.

-2-

In der Praxis angekommen, wurde Ellen herzlich von Sprechstundenhilfe Birgit empfangen.

„Schön, dich mal wieder zu sehen. Dein Herr Doktor hat noch eine Patientin, dann könnt ihr gleich los.“

„Alles klar, vielen Dank! Ich bin auch etwas in Eile.“, erwiderte Ellen. „Ich möchte heute noch nach Hause auf die Insel fahren und Holger weiß noch gar nichts davon.“

„Oha, ist was passiert? Oder warum muss das so plötzlich sein?“

„Nein. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Das ist mal wieder eine von Louises Spontanaktionen.“, erklärte Ellen, setzte sich auf einen Stuhl im leeren Wartezimmer und wühlte in den Zeitschriften.

Birgit lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme.

„Also, beim besten Willen, kann ich nicht verstehen, dass du mit dieser schrecklichen Person befreundet bist.“

„Ich weiß, Birgit. Aber, wie ich schon so oft erzählt habe, ist sie nun mal meine älteste Freundin und die einzige, die ich noch von der Insel habe. Als sie damals nach der Schule auch nach Hamburg gekommen ist, habe ich mich riesig gefreut. Sie hatte hier nur mich. Wir hatten eine Wohnung zusammen und auch das hat wirklich gut geklappt.“

„Ja klar!“, sagte Birgit und ging wieder hinter ihre Theke.

„Weil du zu gut bist für diese Welt.“

Ellen lachte. „Das nehme ich jetzt mal als Kompliment!“

Die Sprechzimmertür ging auf. Arzthelferin Helene und die Patientin kamen heraus und begrüßten Ellen freundlich.

„Das ist übrigens auch so eine!“, flüsterte Birgit Ellen zu. „Bei der müssen wir auch vorsichtig sein. Die ist scharf auf deinen Doktor!“

Ellen lachte und verdrehte die Augen. Birgit tratschte für ihr Leben gern und sah überall Skandale. Außerdem, so glaubte Ellen, war sie selbst schon seit Jahren ein bisschen verliebt in ihren Chef und daher grundsätzlich auf jede neue Kollegin eifersüchtig.

Dann folgte auch Holger. Ellen liebte seinen Anblick, wenn er den weißen Arztkittel trug. Er war immer noch ein attraktiver Mann. Bis auf einen leichten Bauchansatz hatte er seine gute Figur erhalten und auch sein Haar war zwar leicht grau, aber keines Falls weniger geworden.

Er holte seine Jacke aus dem Schrank, gab Ellen einen Kuss und schob sie mit einem „Bis gleich!“ aus der Tür.

„Du hast es aber eilig.“, wunderte sich Ellen, „Hast du so großen Hunger?“

„Allerdings! Und ich freu mich riesig, mal wieder mit dir essen zu gehen.“, antwortete Holger und nahm sie in den Arm.

Als die beiden im Restaurant ihre Bestellung aufgegeben hatten, erklärte Holger seiner Frau noch einmal, wie sehr er sich freute, dass sie diese Idee gehabt hatte.

„Vielleicht sollten wir diese Mittagssache sowieso mal überdenken. Es kommt meistens doch eh keiner mehr zum Essen nach Hause.“, meinte er.

Ellen durchfuhr ein kurzer Stich, den sie sich eigentlich nicht wirklich erklären konnte. Und obwohl sie selbst auch schon den Gedanken hatte, das tägliche Kochen aufzugeben, stieg Wut in ihr auf.

„Also, heute haben sich gleich zwei Leute beschwert, dass es kein Essen gab und außerdem … noch geht Jan zur Schule und braucht eine vernünftige Mahlzeit, wenn er nachhause kommt. Wenn du dich lieber rumtreibst, statt bei deiner Familie zu essen: Bitte!“ Beleidigt nahm sie einen hastigen Schluck aus dem Glas.

Holger sah sie verwundert an.

„Ich dachte, du freust dich, wenn du kein Essen mehr machen musst. Eigentlich dachte ich sogar, dass du nur darauf wartest…“

„Um dann was zu tun?“

„Ja, keine Ahnung! Was Frauen so machen… ähm…“

Ellen sah Holger erwartungsvoll an. Oder vorwurfsvoll? Er konnte es nicht deuten.

„Mehr Zeit für dich selbst? Oder ein nettes Hobby?“

„Ich hab kein Hobby!“, brummelte Ellen.

„Na, da lässt sich ja drankommen. Was machen denn die anderen so, mit denen du gern zusammen bist?“

„Die arbeiten oder haben sonst irgendwelche sinnvollen Aufgaben.“

„Also, wenn du willst, such dir einen Job. Ich hätte nichts dagegen.“

„Mit Ende vierzig?“

„Du wärst nicht die erste, die in dem Alter wieder in den Beruf einsteigt.“

„Wenn ich einen hätte, würde ich das gerne tun. Ich könnte natürlich kellnern gehen. Das wäre ein Traum!“

„Ach Ellen, dass du damals dein Studium abgebrochen hast, war deine freie Entscheidung.“

„Ich weiß. Ich dachte irgendwie, ich hätte noch so viel Zeit…“

Das Essen kam. Eine Zeit lang aßen beide still vor sich hin.

„Warum genau habe ich heute die Ehre, dass du mich zum Essen abholst?“, fragte Holger dann vorsichtig.

„Das mit dem Kochen hat heute … zeitlich alles nicht so gepasst. Und ich habe was mit dir zu besprechen. Louise will mit mir auf die Insel. Heute Nachmittag.“

„Tse typisch! Da hätte sie dich nicht vorgestern schon mal nachfragen können?“, meinte Holger amüsiert.

„Du kennst sie doch! Was sie sich in den Kopf setzt muss gleich passieren. Sie hat alles schon gebucht. Für drei Tage. Was sagst du?“

„Natürlich kannst du mitfahren. Von mir aus gerne. Ich komm schon klar.“

Als Ellen keine Miene verzog, schob er schnell hinterher:

„Jan kann doch vielleicht bei deinen Eltern essen und wenn mein Hunger zu groß wird, lade ich mich auch einfach da ein. Und in drei Tagen können wir im Haushalt auch nicht so viel Schaden anrichten.“

Um die Stimmung etwas aufzulockern, erzählte Holger von seiner Arbeit. Er erzählte viel und Ellen hörte zu.

Er war ganz süß, wenn er so redete. So gut gelaunt. Erzählte er zuhause auch so viel? Wahrscheinlich nicht, weil Ellen immer irgendwas zu tun hatte und weil immer jemand kam oder ging. Oder hörte sie zuhause einfach nicht so zu? Vielleicht sollte man sowas doch mal öfter machen. Sich woanders treffen. Ob sie Holger dann wieder ganz anders wahrnehmen würde? Vielleicht würden ihre Gefühle zu ihm wieder leidenschaftlicher. Waren sie denn überhaupt noch leidenschaftlich? Wenn Ellen ihren Alltag verändern würde, wäre das gut für die Beziehung? Oder würden am Ende Missstände aufgedeckt, die besser unerkannt geblieben wären?

„…oder warum will sie jetzt so plötzlich auf die Insel? Ellen? Hörst du mir überhaupt zu?“

Ellen schreckte aus ihren Gedanken: „Was? Ja klar. Wie war die Frage?“

„Ob Louise und Martin wieder Stress haben.“, wiederholte sich Holger.

Ellen verteilte den Rest aus der Wasserflasche gerecht auf ihre beiden Gläser.

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie will einfach mal wieder unter andere Leute.“

„Hoffentlich nicht im wahrsten Sinne des Wortes!“ Ellen sah ihren Mann böse an.

„Wirklich!“, sagte Holger weiter, „Manchmal habe ich Martin gegenüber immer noch ein schlechtes Gewissen, dass wir ihm Louise damals vorgestellt haben. Er hatte auch einige treue und pflegeleichtere Mädels zur Auswahl. Aber sie hat ihn sich einfach genommen. Jetzt hat er den Salat.“

„Naja, da gehören ja immer zwei zu“, antwortete Ellen.

„Nicht bei Louise. Die nimmt sich immer, was sie will.“

„Ich glaube, bei ihm lief das auch nicht ganz selbstlos. Für ihn war die Heirat mit Lou immerhin ein riesiger Karrieresprung.“

„Ich weiß nicht.“, meinte Holger, „so ganz ist der Plan noch nicht aufgegangen, soweit ich weiß. Die Anwaltskanzlei von Louises Vater heißt auch nach seinem Tod noch `Hambacher und Partner´ und nicht `Kramer´, wie er und Louise. Ich glaube, er ist nach wie vor nur angestellt.“

„Am Hungertuch nagen sie jedenfalls nicht. Außerdem arbeitet Louise ja auch noch erfolgreich als Galeristin. Er hat schon in eine sehr angesehene Familie geheiratet. Ein gemachtes Nest, würde ich sagen.“

„Das stimmt.“, sagte Holger, als ihm die Rechnung vorgelegt wurde. „Außerdem sieht sie ja auch echt immer gut aus. Und, auch wenn´s ne Stange Geld kostet, sie wirkt zehn Jahre jünger als sie ist.“

Holger blätterte in seinem Portemonnaie, suchte das Geld zusammen und führte dabei fort:

„Da geht sicher auch eine Menge Zeit bei drauf. Da braucht man dann kein Hobby. Immer top gestylt, die Haare schön, die Nägel gepflegt…aber hübsch war sie ja schon immer…Da wird eben auch jetzt noch so mancher Kerl mal schwach.“

Jetzt hatte er das Geld zusammen und sah zum Kellner auf.

„65 Euro, bitte. Stimmt dann so!“

„Danke!“, sagte der Kellner leise und deutete mit seinen Augen auf Ellen. Darauf sah Holger in ihr fassungsloses Gesicht.

„Was ist?“, fragte er.

„Soll das ein Vorwurf sein? Oder ein Geständnis?“ Der Kellner drehte schnell ab.

„Hä? Was soll ich wem denn jetzt vorwerfen? Und was gestehen?“ Holger war sich keiner Schuld bewusst.

„Jetzt tu nicht so blöd. Willst du mir damit sagen, ich sollte auch mal mehr Wert auf mein Äußeres legen? Reicht dir das hier jetzt nicht mehr?

„Hä?“

„Oder soll mir das sagen, dass du bei Louise auch schwach werden könntest?“

„Jetzt wird´s aber echt albern, Ellen. Eben hast du doch selbst noch in den höchsten Tönen von ihr gesprochen.“

„Das ist ja wohl was ganz Anderes!“

„Was? Ob du gut über sie redest oder ich?“

„Ja klar!“

„Du brauchst echt Urlaub! Früher warst du nicht so empfindlich. Ich muss jetzt zurück in die Praxis.“

Stumm liefen die beiden nebeneinander her, bis sie Ellens Auto erreichten.

Versöhnlich zog Holger sie zu sich, gab ihr einen Kuss und sagte:

„Ich wünsche euch viel Spaß!“

„Danke!“, antwortete Ellen. „Ich melde mich.“ Damit stieg sie ein.

-3-

Es war schon fast drei Uhr. Noch duschen und Kofferpacken. Die Zeit wurde knapp.

Zuhause sprang Ellen gleich unter die Dusche.

Mit kräftig eingeschäumtem Haar wollte sie eben beginnen, sich die Beine zu rasieren, da hörte sie wieder das Telefon.

Oder? Sie schob die Duschtür ein wenig auf, um besser hören zu können….

Natürlich! Es klingelte.

Hastig warf sie den Rasierer auf die kleine Ablage. Der fiel aber gleich wieder runter. Schnell bückte sich Ellen, um ihn aus dem Wasser zu fischen, kam aber dabei mit dem Kopf unter den Wasserstrahl, der ihr den Schaum in die Augen spülte.

Das Telefon klingelte weiter.

„Aua! Scheiße!“, schimpfte Ellen, tastete sich aber weiter aus der Dusche, fand irgendwie ein Handtuch, warf es sich um und lief fast blind weiter Richtung Telefon.

Pock! Da blieb sie mit dem kleinen Zeh an einer Kiste hängen.

„Autsch! Wer hat denn…“

Noch ein Klingeln. Ellen griff über die Kiste zum Telefon.

„Ellen Herbst! Wer ist denn da?“, rief sie schmerzerfüllt in den Hörer.

„Ich bin´s nur, Schätzchen!“

„Louise! Ich hoffe, es ist wichtig!“, antwortete Ellen leicht säuerlich.

„Ich denke doch! Pass auf! Ein Kollege von mir eröffnet genau an diesem Wochenende auf der Insel eine Galerie. Da würde ich mich gerne sehen lassen.“

„Und?“

„Und … dafür musst du natürlich einen schicken Fummel einpacken!“, erklärte Louise.

„Dafür rufst du jetzt an, oder was?“ Ellens Zeh pochte fürchterlich und immer noch arbeitete sie daran, den letzten Seifenschaum aus den Augen zu reiben.

„Wie ich dich kenne, hättest du sonst deinen Koffer wieder nur mit deinem - ich sag mal -“ Casual look“ vollgepackt.“

„Ach so! Ja, super. Vielen Dank! Bis gleich!“, erwiderte Ellen beleidigt.

Sie hörte Louise noch: „… und denk dran … halb fünf!“, in den Hörer rufen und legte auf.

Als sie endlich wieder richtig sehen konnte, schob sie die Kiste mit der Aufschrift: `Anna-Fotoalben und Bücher ´ aus dem Weg und setzte sich zurück im Bad erst mal auf die Toilette, um sich den schmerzenden Zeh genauer anzusehen.

Er war leicht blau, schien zum Glück aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Also wieder unter die Dusche, um die Haare auszuwaschen und die Rasur zu beenden.

„`Casual look´ … was sollte das wieder heißen? Bin halt nicht so lackiert wie `Miss Perfekt´“

Louises Worte hatten sie doch schwer getroffen. Fest entschlossen auf der Galerieeröffnung auch neben Lou umwerfend auszusehen, kramte Ellen nach der Dusche im Kleiderschrank. Weit hinten, nach den Kleidern, mit denen sie noch vor einigen Jahren glanzvolle Auftritte hingelegte. Wann hatte das eigentlich aufgehört? Früher hatten Holger und sie so gut wie jede Gelegenheit genutzt, vor die Tür zu kommen. Ellen hatte immer viele Komplimente bekommen und das natürlich sehr genossen...

Irgendwann kamen so viele hübsche, junge neue Frauen nach. Auf jeder Party, auf jedem Ärztebankett, selbst im Theater oder in der Cocktailbar. Überall tauchten auf einmal jüngere Frauen auf, die ihr schonungslos klarmachten, dass Ellen so langsam in die Jahre kam. Aber diese Frauen sahen nicht nur gut aus. Sie hatten auch was zu erzählen. Sie stellten was dar, hatten meist selbst studiert… zu Ende!

Wenn Ellen damals wenigstens mit ihrer Reife und Erfahrung hätte punkten können. Aber von ihrer langjährigen Erfahrung als Hausfrau waren die wenigsten beeindruckt. Und Ellens Hauptjob, das Kinderkriegen, erledigten diese Biester einfach so nebenbei.

Gedanken an diese Zeit der grausamen Erkenntnis, vielleicht doch nicht alles richtiggemacht und so manche Chance vertan zu haben, weckten in Ellen immer noch Wut und Enttäuschung.

Da ist es ja, das rote Kleid! Ellen zog es vorsichtig aus dem Schrank. Hm, ob der Schnitt noch so aktuell war?

Vielleicht doch besser das hellgrüne. Das hatte sie auch so gern getragen.

Etwas enger war es geworden, merkte Ellen beim Überziehen.

Vorsichtig sah sie in den Spiegel. Ach du Scheiße! Da war ja so einiges passiert, körpermäßig. Oder war ihr das nur früher nicht so aufgefallen? Nein! Unmöglich! So konnte man nicht rumlaufen. Was war denn nur mit dem Dekolletee los? Vielleicht mit ´nem anderen BH? Aber mal ganz ehrlich, der Bauch müsste schon die ganze Zeit eingezogen werden…

Na gut, das Ding konnte weg!